Vielleicht ist es nur Liebe - Olaf Hauke - E-Book

Vielleicht ist es nur Liebe E-Book

Olaf Hauke

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Beschreibung

Alexander ist wirklich nicht der Typ, der es nötig hat, sich eine Frau im Ausland zu suchen und nach Deutschland zu holen. Seine Geschäfte laufen ausgezeichnet, er hat seine Unternehmen genauso im Griff wie sein Leben, zumindest wirkt es nach außen so. Er findet für sich hundert Erklärungen, warum er Evelin ein Ticket schickt und sich von seinem besten Freund eine Legende für sie einfallen lässt. Allerdings durchschauen seine Tochter und seine Haushälterin schnell die Geschichte. Und auch Evelin ist nicht die, die sich Alexander in seinen geheimen Fantasien vorgestellt hat. Nach dem ersten Toten muss Alexander begreifen, dass man Liebe nicht erzwingen kann, weil sie ihre ganz eigenen Wege geht. Doch so ganz allein steht er nicht, auch wenn es ihm bisher entgangen ist. Und Evelin hat mehr als nur ein großes Herz.

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Epilog/Ein Jahr danach

Ende

Vielleicht ist es nur Liebe

Olaf Hauke

2022

Copyright 2022

Olaf Hauke

Greifswalder Weg 14

37083 Göttingen

Cover: prettysleepy1

T. 01575-8897019

[email protected]

Prolog

Die Musik hatte längst ihre Bedeutung verloren. Es gab nur einen hämmernden, monotonen Rhythmus, der nicht endete und mit jedem Schlag ihren Körper weiter in die Bewegung trieb.

Dazu zuckten Licht-Speere über und neben ihr in ständig wechselnden Farben, die die Umgebung in ein leuchtendes Spektakel in eine düstere, schwarze Wand verzauberten, dies im Wechsel von Sekunden.

Sie merkte nicht mal, dass sie vor Lust und Vergnügen schrie. Sie hatte ihren Kopf in den Nacken gelegt, den Mund geöffnet, spürte eine Vibration in der Kehle, ohne jedoch in der Lage zu sein, auch nur einen Ton aus ihrem Mund zu vernehmen.

Alles wurde von dem Lärm verschluckt, der um sie herum wie ein wirres, heißes Meer tobte. Sie wusste nicht, ob sie lachte oder weinte, doch die Tränen strömten aus ihren Augen und spritzten, wenn sie den Kopf ruckartig hin und her bewegte, in alle Richtungen, vermischt mit dem Schweiß, der über ihr Gesicht lief und wie flüssiges Feuer brannte.

Die Haare verklebten sich, Schweißtropfen tanzten um ihren Körper. Das Kleid klebte an ihr wie eine zweite Haut.

Sie spürte weder ihre Füße noch den Rest ihres Körpers, war überrascht über die Hand, die plötzlich vor ihren Augen tanzte, bis sie verstand, dass es ihre eigene Hand war, die sich dort bewegte.

Irgendwann fühlte sie eine Berührung, die sie langsam nach vorne schob. Sie prallte gegen Körper, die ihr im Weg waren, doch denen das nichts auszumachen schien. Erst nach einer gefühlten Ewigkeit war niemand mehr da, der sich ihr in den Weg stellte. Sie machte einen taumelnden Schritt, überrascht von der plötzlichen Freiheit vor sich.

„Komm endlich, du hast mehr als genug”, hörte sie eine Stimme an ihrem Ohr.

„Nein, nein, nein!”

Sie schrie, lachte und weinte wie ein kleines Kind, drehte sich weiter. Starke, bestimmende Arme packten sie, hielten sie fest und stützten sie auf dem Weg nach draußen.

Die kühle Nachtluft traf sie wie ein Hammer mitten auf die Stirn. Sie fing an zu taumeln, verlor jede Kontrolle über ihre Beine. Ehe sie verstand was geschah, war sie zu Boden gegangen und lag auf dem nassen Asphalt.

Mühsam suchten ihre Hände Halt. Sie spürte Nässe und kleine Steine, die sich in ihre Handflächen bohrten. Jemand stieß sie hart in die Seite, sie war nicht in der Lage, sich zu halten und kippte wie ein wackliges Spielzeug auf den Gehweg.

„Gott, was hast du geschluckt?”

Sie sah hoch und blickte in das Gesicht ihrer Freundin. Es sah seltsam verzerrt aus, der Mund war riesig, wie eine rote Seifenblase, kurz bevor sie platzt, die Augen wie mit schwarzer Tusche auf ein weißes Blatt Papier gemalt.

Ann-Marie musste lachen, sie konnte sich nicht zurückhalten.

„Nichts, ich habe nichts genommen, nichts!”

Ihre Stimme hallte wie in einer langen, dunklen Röhre nach. Verwundert lauschte sie in den Klang und fühlte, dass sie sich verirrte.

Ihre Freundin sagte etwas, doch sie verstand den Sinn nicht. Es klang hoch und quiekend, wie in einem Cartoon, sie fand es witzig. Auf dem Boden war es bequem, sie musste gähnen. Niemand würde sie von hier fortbringen, sie musste sich dringend für ein paar Minuten ausruhen.

„Hör jetzt auf, so ein Theater zu machen!”

Sie fühlte ein hartes, kräftiges Reißen in der Schulter, wurde vom Boden hoch gerissen, stieß einen grunzenden Protest aus. Doch sie war nicht in der Lage, sich zu wehren.

Im nächsten Moment stand sie aufrecht, obwohl sich die Erde unter ihren Füßen beinahe im Kreis drehte. Sie lehnte an einer Hauswand, doch auch die war nicht stabil, drohte, in der nächsten Sekunde in sich zusammenzufallen.

„Kaia!”

Die Nennung dieses Namens ließ sie aus ihrer Trance, ihrem angenehmen, müden Dämmerzustand schrecken. Es war ein Kübel Eiswasser, den man über ihren Kopf schüttete.

Sie musste weg von hier, das wurde ihr schlagartig klar. Sie zog ein Bein vor das andere, spürte, wie sie jemand an der Seite stützte. Sie bekam jedoch keine Kontrolle über ihre Glieder.

„Reiß dich endlich zusammen”, schrie ihre Freundin direkt in ihr Ohr. Die aufkommende Panik war selbst durch die wabernden Nebel zu hören, die noch immer durch ihren Kopf zogen und alles mit einem Schleier überzogen, der noch vor wenigen Minuten warm und träumerisch gewesen war und sie nun blockierte, eine vernünftige Bewegung auszuführen.

Sie hatte vier oder fünf Schritte machen können, doch urplötzlich verschwand die Stütze an ihrer Seite, sie geriet ins Taumeln.

„Scheiße”, hörte sie noch und wusste nicht, ob sie oder ihre Freundin es gesagt hatte. Sie prallte mit dem Ellenbogen gegen die Hauswand, hörte schnelle Schritte und wusste im gleichen Moment, dass sie verloren war. Starke Arme rissen sie in die Höhe.

„Geil, das enge Kleid steht dir, meine Schöne!”

Sie fühlte die skrupellosen Hände über ihren Körper gleiten, aber den Schmerz, als sie zugriffen, konnte sie nur dumpf wahrnehmen. Sie versuchte, ihnen zu entkommen, doch ihr sinnloser Versuch war von vornherein zum Scheitern verurteilt. Der Mann schlug ihr einfach und ohne jeden Skrupel ins Gesicht.

„Das wird auf jeden Fall ein netter Abend”, hörte sie eine dunkle Stimme, die einen widerlich scharfen Geruch nach Zwiebeln oder Knoblauch verströmte. „Macht euch bereit, Männer, es ist genug für alle da!”

Sie machte eine abwehrende Bewegung und begriff nicht, dass genau das die Männer noch mehr erregte.

Kapitel 1

„Zumindest liegt der Fall hier ganz eindeutig!”

Der Geschäftsführer nickte bekräftigend zu seinen Worten, entweder um sich selbst zu bestätigen oder um ihnen gegenüber Alexander Nachdruck zu verleihen. Er zeigte keine Scheu vor dem Mann, dem immerhin nicht nur diese Filiale, sondern sämtliche Filialen der Schneemann-Kette gehörten.

Die junge Frau vor deren Spind sie standen, machte bei der ganzen Aktion keine sonderlich glückliche Figur. Zuerst hatte Alexander sogar den Eindruck gehabt, als wolle sie Herrn Meise, dem Filialleiter, mit ihren Fingernägeln quer über das Gesicht kratzen. Doch im letzten Moment schien sie es sich anders überlegt zu haben.

Alexander nickte und warf noch einmal einen Blick in den Spind. Die Flacons mit den teuren Duftwässern, von deren Unterseite man die Magnetstreifen entfernt hatte, damit sie beim Hinaustragen keinen Alarm auslösten, sprachen eine deutliche Sprache. Sie waren in zwei dunkelbraune Handtücher eingewickelt worden, bereit, in der Tasche der Angestellten zu verschwinden.

Im Internet konnte man für eine einzelne Flasche dieses Parfüms leicht achtzig bis hundert Euro erzielen.

Die junge Frau mit den asiatischen Gesichtszügen riss ihren wütenden Blick von Meise los und starrte Alexander an, der die Hände in den Taschen seiner dunkelblauen Stoffhose vergraben hatte. Sein Sakko hing noch über dem Stuhl im Büro des Marktleiters.

„Hören Sie, Herr Schneemann, ich habe keine Ahnung, wie die Ware in meinen Spind gekommen ist”, brachte sie mit mühsam unterdrückter Wut hervor. Ihr Blick flackerte, nein, sie war sich schon jetzt sicher, dass niemand ihre Geschichte glauben würde. Jedes Wort war im Grunde verschwendet, stand in ihren Augen zu lesen.

Herr Meise stand nur dabei, sein Gesicht hatte jeden Ausdruck verloren, vielleicht zeigte es noch einen Hauch verstohlener Wut, aber der Mann tat alles, um sie nicht nach außen dringen zu lassen.

„Aber als Herr Meise Sie eben bat, das Schloss zu öffnen, da war es unbeschädigt, nicht wahr? Und nur Sie haben den Schlüssel zu diesem Schloss, das aus Ihrem Privatbesitz stammt, ist es nicht so?”

Alexander sprach kühl und überlegt. Er hasste diese Szenen, er erlebte sie nicht zum ersten Mal. Die Menschen, die für ihn arbeiteten, wussten, dass der oberste Boss nicht zu den Leuten gehörte, die sich hinter ihrem Schreibtisch in einem weit entfernten Büro vergruben.

Er tauchte immer wieder in den Filialen der Drogeriekette auf, sprach mit den Leuten, nahm sie beiseite oder ermittelte, wie in diesem Fall, auf einen Diebstahl.

Die junge Frau, Frau Shun, fuhr sich über die halblangen, dunklen Haare. Sie standen im Personalraum, wo jeder Mitarbeiter der Filiale einen eigenen Spind hatte, in dem er seine privaten Sachen aufbewahren konnte. Hinter den grauen Metall-Schränken war ein zweiter Raum mit einem Kühlschrank, einer kleinen Küchenzeile, einem Tisch und sechs Stühlen.

„Ich weiß selbst, wie es für Sie aussehen muss. Aber ich schwöre auf was Sie wollen, dass ich weder diese Handtücher kenne noch die Flaschen klauen wollte.”

„Wie kommen Sie dann in Ihren Schrank, Frau Shun?” fragte Herr Meise. Er trug das typische weiße Hemd der Filialleiter mit dem kleinen roten S am äußersten Rand des Kragens.

„Keine Ahnung”, fauchte die junge Frau und griff sich hilflos an den Kopf.

Alexander war gerade dazugekommen als Herr Meise die Frau in seinem Büro verhört hatte. Er war den beiden gefolgt, als sie an den Spind getreten waren und die junge Frau mit einem Achselzucken die Tür öffnete.

„Das klingt völlig unglaubwürdig, Frau Shun”, stellte Herr Meise ruhig fest. Er streckte seine Hände aus.

„Ich denke, wir sollten die Polizei rufen, oder wollen Sie die Sache intern bereinigen, Herr Schneemann?”

Er wandte sich zum Gehen, rechnete vermutlich damit, dass der oberste Boss am liebsten diskret zu Werke gehen würde.

Alexander jedoch blieb stehen.

„Tatsächlich bin ich nicht ganz zufällig heute hier”, sagte er mit einem nachdenklichen Unterton. „Hier in der Filiale ist es in den letzten Monaten verstärkt zu Diebstählen gekommen, die so entstandenen Verluste liegen um fast vierzig Prozent über dem Durchschnitt im Vergleich zu anderen Filialen.”

Er sah Frau Shun dunkel an, die zierliche Frau hob abwehrend die Hände.

„Was soll das?” Ihr Blick flackerte, sie machte einen Schritt nach hinten. Herr Meise stand sofort direkt vor ihr und wirkte so, als würde er sofort zugreifen, wenn sie die Flucht ergreifen sollte.

Alexander warf einen nachdenklichen Blick in den Spind. Er schwieg einen Moment, was sie falsch deutete.

„Hören Sie, das lasse ich mir nicht in die Schuhe schieben.” Sie sah von Alexander zum Filialleiter und wieder zurück, dann machte sie ansatzlos einen Satz nach hinten.

Ehe Herr Meise zugreifen konnte, hatte sie auf dem Absatz kehrt gemacht und lief mit schnellen Schritten an den Männern vorbei aus dem Raum. Der Filialleiter stieß einen Fluch aus, wollte ihr nachsetzen, doch Alexander rührte sich nicht.

Er hörte die Schritte, dann folgte ein Fluch und nur Sekunden später wurde die zierliche Asiatin zurück in den Personalraum gestoßen. Ihr folgte eine sportliche, junge Frau mit einem blonden Bob und trainierten, breiten Schultern, die sich im Türrahmen aufbaute und jede weitere Flucht unmöglich machte.

Herr Meise schob sich an ihr vorbei. „Ah, Frau Salzmann, gut, dass Sie aufgepasste haben!”

Jetzt strahlte er, als hätte er die junge Frau eigenhändig zurück zu Alexander gebracht. Die blonde Frau brummte nur, sie sah Alexander an, der ihr stumm zunickte.

„Wenn ich kurz vorstellen darf, das ist nicht Frau Salzmann, sondern Helena Jäger, eine private Ermittlerin, die ich engagiert habe”, sagte Alexander und sah Frau Shun an, die sich gegen einen der geschlossenen Spinde gedrückt hielt als erwarte sie, dass man sie jeden Moment angriff. Ihr Blick zuckte zwischen den Anwesenden hin und her, auf ihrer Oberlippe hatten sich kleine, runde Schweißperlen gesammelt. Sie war nicht in der Lage, sie fortzuwischen.

Auch Herr Meise wirkte verwirrt.

„Ich bin verwundert, dass Sie ... “

Alexander trat an den Spind und betrachtete mit einer gewissen Neugierde das Schloss.

„Wie hat er das gemacht, Frau Jäger?” Seine Züge zeigten zum ersten Mal den Anflug eines Lächelns.

Frau Jäger trat näher und zog einen weiteren Schlüssel hervor, mit dem sie ohne Probleme das einfache, kleine Hängeschloss öffnete und wieder schloss.

„Ist aus dem Baumarkt, kostet drei oder vier Euro. Wenn man vier oder fünf von ihnen kauft, kann man fast sicher sein, dass einer der Schlüssel passt. Man kann sich auch einen Abdruck besorgen und nachmachen lassen, das kostet dann einen Zehner beim Schlüsseldienst auf der anderen Straßenseite.”

Frau Shun biss sich vor Aufregung auf den Daumennagel.

„Dann ... aber wieso ... ich habe wirklich nicht ... “

„Was? Nein, nein, haben Sie auch nicht. Herr Meise, Sie geben einfach zu viel Geld aus für Ihre zu junge Freundin. Aber Ihre Diebstähle auf diese Art zu vertuschen, das finde ich widerlich!”

Er richtete sich auf, drehte sich um und sah den Filialleiter offen und düster an.

„Nein, hören Sie, es ist nicht so wie Sie vielleicht denken.”

Helena Jäger stellte sich neben Alexander. Sie war fast eins achtzig, hatte fünfzehn Jahre bei der Polizei gearbeitet, ehe sie sich selbstständig gemacht hatte.

„Doch, es ist genauso”, stellte sie trocken fest.

„Gut, Herr Meise, dann gehen Sie jetzt bitte in Ihr Büro. Ich komme gleich, dann unterschreiben Sie mir ein Schuldanerkenntnis mit einer Aufstellung der gestohlenen Waren des letzten halben Jahres. Frau Jäger, am besten Sie begleiten ihn.”

Meise sagte keinen Ton mehr, mit hängenden Schultern folgte er der Ex-Polizistin. Aus seinem Gesicht war jede Farbe gewichen.

Alexander drehte sich an die junge Frau mit den asiatischen Gesichtszügen. Sie öffnete zweimal den Mund, war jedoch nicht in der Lage, auch nur ein Wort über ihre Lippen zu bringen.

„Sieht so aus, als bräuchte ich eine neue Filialleitung”, stellte Alexander Schneemann trocken fest. „Ihnen dagegen würde ein Cognac ganz gut tun.”

„Aber haben Sie nicht eben ... tut mir leid, Herr Schneemann, ich habe das alles noch nicht so ganz verdaut, ich ... Sie meinen doch nicht etwa mich, oder?”

„Doch, eigentlich schon, ich dachte an Sie.”

Die Frau rieb sich über die Wangen, kleine Schweißperlen hatten sich jetzt auch auf ihrer Stirn gebildet. Ihre Hände zitterten, sie hielt sich am Spind neben ihr fest.

„Sie spinnen”, sagte sie, obwohl sie ihren obersten Chef vor sich hatte. Alexander konnte es ihr nicht mal verdenken.

„Ja, manche Leute behaupten das”, gab er trocken zurück und betrachtete sich noch einmal das Schloss.

„Das ist der verrückteste Tag in meinem ganzen Leben, ich schwöre!”

Kapitel 2

„Ein bisschen boshaft war das schon, Herr Schneemann!”

Die Privatermittlerin sah den Unternehmer mit einem abschätzigen Grinsen an. Herr Meise hatte nach seinen Unterschriften längst das Weite gesucht.

„Frau Jäger, das war über alle Maßen boshaft”, korrigierte Alexander sie. „Aber wie konnte ich ahnen, dass er sie genau in dem Augenblick des Diebstahls beschuldigt, wenn ich die Filiale besuche.”

„Er hat schon gestern gewusst, dass Sie kommen”, antwortete sie und warf einen Blick aus der Tür in den Verkaufsraum. Inzwischen war es später Nachmittag, das Geschäft hatte sich deutlich gefüllt. Alexander stieß nur ein fragendes Brummen aus, auf das sie nicht weiter einging.

„Frau Shun scheint noch immer ziemlich verwirrt zu sein”, sagte Helena Jäger, da Alexander nicht antwortete.

„Er wusste es schon gestern?” griff er ihre Bemerkung wieder auf.

„Herr Schneemann, was haben Sie denn gedacht? Ich habe hier zwei Wochen Undercover gearbeitet – Meise war vielleicht ein Dieb, aber kein Idiot. Er ist viele Jahre im Unternehmen gewesen, kannte viele Leute.”

„Und wer hat ihn mit internen Informationen versorgt?” Alexanders Blick wanderte über die Schränke mit den sauber beschrifteten Aktenordnern. Kein Zweifel, trotz der Diebstähle und Unterschlagungen hatte Meise seinen Laden im Griff gehabt – nein, genau deshalb hatte er ihn im Griff gehabt, um seine eigenen Geschäfte in aller freundlichen Stille abzuwickeln.

Alexander stand auf und griff wahllos einen der Ordner heraus. Natürlich kannte er die Formulare, die man dort abgeheftet hatte, er selbst hatte sie mit erstellt. In einigen der Filialen war bereits der gesamte Papierkram auf Computer umgestellt, aber eine solche Umstellung nahm eine Weile in Anspruch, bestimmte Dinge wurden noch immer mit Listen erfasst und erst danach, reichlich umständlich, vom Papier in die Datenverarbeitung übertragen. Diese Schwachstelle hatte sich auch Meise zunutze gemacht.

Ich muss noch schneller als bisher dafür sorgen, dass diese Papier-Flut der Vergangenheit angehört, ging es Alexander durch den Kopf, während sein Auge ziellos über mit der Hand ausgefüllte Listen glitt.

„Ich habe nicht die geringste Ahnung – aber ich vermute, dass es einige Mitarbeiter gibt, die solche Nebengeschäfte betreiben.”

Alexander stieß ein müdes Schnaufen hervor.

„Dann wäre es gut, wenn ich Namen bekommen könnte”, meinte er halblaut.

Helena Jäger zog die Tür hinter sich zu. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und sah ein wenig herausfordernd aus. Wie hatte Meise nur annehmen können, dass sie aus dem Einzelhandel kam? Alexander hätte ihr eher einen beliebigen militärischen Rang abgekauft.

Sie war unbedingt zuverlässig, klug, mit einer raschen Auffassungsgabe. Er hatte sie zweimal als Leibwächterin gebucht für größere Veranstaltungen, auf denen er sich allein alles andere als wohl gefühlt hätte. Sie konnte mit Schusswaffen umgehen und beherrschte die moderne Technik, die man für ihre Art von Ermittlungen benötigte.

„Ich kann mich darum kümmern”, sagte sie und klang dabei eine Spur zu locker. Doch ein bisschen Show gehörte zu jedem Handwerk, so auch zu ihrem.

„Sie kennen meinen Satz”, sagte sie ruhig.

„Ich dachte, mittlerweile bekomme ich Mengenrabatt”, gab Alexander mit einem Scherz zurück, doch er erntete dafür nur einen vernichtenden Blick. Schlagartig wurde er wieder ernst und wog den Ordner in den Händen.

„Außerdem nehme ich dieses Mal ein Erfolgshonorar”, fügte sie hinzu. Äußerlich blieb sie völlig ungerührt, aber Alexander war sein ganzes Leben lang Geschäftsmann gewesen, er konnte ihre innere Unruhe förmlich wittern.

„Wie hoch?” fragte er und verkniff sich eine weitere Lockerheit.

„Sagen wir als Aufschlag im Erfolgsfall zehn Prozent. Dafür liefere ich Ihnen das Netzwerk und die Hintermänner. Die kleinen Fische hier in den Filialen interessieren Sie ja sowieso nicht.”

„Ich würde jeder Verkäuferin in den Hintern treten, wenn ich sie erwische, wie sie eine Flasche Nagellack klaut.” Entschlossen stellte er den Ordner zurück an seinen Platz und drehte sich um. Die Luft in dem kleinen Büro war erstaunlich muffig, die Klimaanlage aus dem Verkaufsraum reichte nicht bis hierher.

„Wissen Sie, dass jemand, den man zum Beispiel bei einem Diebstahl erwischt hat, möglicherweise ein viel loyalerer Mitarbeiter ist als ein vermeintlich ehrlicher Angestellter?”

Die Privatermittlerin schien davon nicht sonderlich beeindruckt.

„Oder er hält Sie für schwach und versucht es bei der erstbesten Möglichkeit erneut, dann aber noch raffinierter.”

Alexander zeigte die Andeutung eines Lächelns während er an den Schreibtisch trat, an dem eine Stunde zuvor noch Herr Meise als Filialleiter gethront hatte.

„Ja, auch das ist möglich – die Kunst ist, das Richtige bei der jeweiligen Person zu entscheiden.”

„Sie sind mit meinen Bedingungen einverstanden?”

Alexander zögerte eine Sekunde, dann nickte er.

„Ja, das bin ich – brauchen Sie Geld?”

Die Ermittlerin blieb ihm die Antwort schuldig, lächelte nur schmal, nickte und drehte sich um.

„Sie hören von mir unter der üblichen Adresse”, sagte sie ruhig und verließ das Büro. Alexander, der nicht wirklich mit einer Antwort gerechnet hatte, zuckte mit den Achseln. Gute Arbeit hatte ihren Preis, das hatte er in den Jahren gelernt, die er im Geschäft verantwortlich war.

Schon sein Vater hatte es ihm so beigebracht. Er hatte das Geschäft aufgebaut, buchstäblich aus dem Nichts in einer kleinen Lagerhalle, wo er nach dem Krieg zu den Ersten gehört hatte, die Kosmetika und Drogeriewaren außerhalb der üblichen Vertriebswege zu günstigen Preisen ohne den Schnick-Schnack einer Apotheke anboten.

Inzwischen hatte sich das Sortiment stetig verbreitert, es gab verschiedene Ketten, die jeweils andere Angebote präsentierten, für unterschiedliche Kundengruppen.

Diese Filiale gehörte zu den Hochpreisigen. Sie gehörte natürlich zur Schneemann-Kette, aber lief unter dem Namen ‚Herz’. Es war kein Geheimnis, aber das Angebot war völlig anders als das der gewöhnlichen Schneemann-Drogerie, die ein Stück weit die Fußgängerzone hinunter lag. Es gab eigene Werbe-Etats, eigene Designs, eine eigene Kundenansprache.

Es klopfte, Alexander Schneemann schreckte aus seinen Gedanken hoch. Manchmal, besonders in Phasen, in denen der Adrenalin-Spiegel wieder sank, fragte er sich, wie lange er noch das Ruder fest in der Hand halten konnte. Zwar hatte er mehrere Gebietsleiter, jedes Geschäft hatte außerdem einen Filialleiter und es gab eine Zentrale mit rund vierzig Mitarbeitern.

„Ja?”

Frau Shun steckte schüchtern ihren Kopf zur Tür herein.

Alexander musste lachen. Er wusste, dass die junge Frau normalerweise alles andere als schüchtern war, doch die letzten Stunden waren für sie zu viel gewesen. Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn er von Anfang an mit offenen Karten gespielt hätte.

„Kommen Sie nur herein, von jetzt ab gehört das Büro Ihnen.”

Frau Shun trat ein und zog bedächtig die Tür hinter sich zu.

„Vor einer Stunde war ich mir noch sicher, dass ich in hohem Bogen hinausfliegen würde, und nun soll ich das Geschäft leiten? Das ist hart, ich muss das erst einmal verdauen.”

„Ja, das verstehe ich – am besten, Sie nehmen Kontakt mit der Zentrale auf. Es gibt eine Schulung für Filialleiterinnen, die dauert, soweit ich es weiß, eine Woche. Sie melden sich für den nächsten Termin an.”

Er trat auf sie zu und reichte ihr die Hand, die sie zögernd ergriff. Doch in ihrem schüchternen Lächeln lag bereits derart viel Selbstvertrauen, dass Alexander wusste, die richtige Entscheidung gefällt zu haben.

Er verabschiedete sich und ging durch den Laden nach draußen, reichte dabei auch den beiden anderen Mitarbeitern die Hand und bedankte sich noch einmal. Er erklärte ganz kurz, dass Herr Meise nicht mehr für das Unternehmen tätig wäre und Frau Shun nun die Leiterin dieser Herz-Filiale sein würde.

Mit einem gewissen Erstaunen nahm er zur Kenntnis, dass man dem schneidigen Herrn Meise ganz offenbar kaum eine Träne nachweinte – umso besser.

Diese Filiale lag zentral mitten in der Fußgängerzone, sie war eine der Profitabelsten des gesamten Schneemann-Unternehmens. Alexander hoffte, dass sich die Aufregung recht bald legen und einem entspannten Geschäftsbetrieb Platz machen würde.

Seinen Wagen hatte er am Rande der Fußgängerzone geparkt, so dass er noch einige Minuten durch die Nachmittagssonne an den verschiedenen Geschäften vorbei schlendern konnte.

Aber schon nach wenigen Schritten fühlte er wieder die innere Unruhe, die ihn überfiel, sobald er den unmittelbaren Kontakt zur Arbeit verloren hatte. Alexanders Herz begann schneller zu schlagen.

Als wäre dies ein Zeichen, klingelte sein Handy. Es war die Zentrale.

„Ich bin in ungefähr in einer halben Stunde zurück”, erklärte Alexander kurz angebunden, während er um ein Haar eine junge Frau samt Kinderwagen umgelaufen hätte. Er fing sich einen wütenden Blick und eine schnippische Bemerkung ein.

„Sie sollen einfach ein Angebot machen, wie es mit dem Preis aussieht, wenn sie uns mit unseren Wünschen wegen der Verpackung entgegenkommen. Genau, legen Sie es dann einfach auf meinen Schreibtisch. Ach ja, machen Sie die Papiere für Herrn Meise fertig, der Verdacht wegen Unterschlagung hat sich bestätigt. Genau, die Aufstellung als Anhang für das Schuldanerkenntnis sollte so präzise wie möglich sein, auch wenn ich nicht glaube, dass er dagegen vorgehen wird.”

Über das Gespräch hatte er seinen Wagen erreicht. Er steckte sein Telefon weg und stieg in die dunkle Limousine. Als er sich anschnallte, den Motor startete und das Fahrzeug zurücksetzte kam ihm zum zweiten Mal dieses beunruhigende Gefühl, das sich immer dann einstellte, wenn es nicht mit Arbeit betäubt wurde.

„Nein”, sagte er leise zu sich selbst, „das ist alles viel zu verrückt, um es wahr werden zu lassen. Ich habe so viele Aufgaben, außerdem mache ich mich nur zum Idioten.”

Mit diesem Gedanken nahm er einem Kleinwagen die Vorfahrt und hätte um ein Haar einen Unfall verschuldet. Erschreckt hob Alexander die Hand und bremste scharf ab.

Es war höchste Zeit, eine Entscheidung zu fällen, die für ihn noch wichtiger war als die Diebstähle in seinen Filialen. Allerdings wusste er tief in seinem Inneren, dass er sie längst getroffen hatte.

Kapitel 3

Die Trauer stellte sich erneut ein, als Alexander die Haustür hinter sich ins Schloss zog. Er hängte das Sakko an den Ständer neben der Tür und hätte sich am liebsten sofort aufs Sofa fallen lassen. Doch er hatte noch zwei Akten dabei mit Angeboten, die er gegenlesen wollte. Auf diese Weise konnte er die Entscheidung noch eine Stunde oder zwei aufschieben.

„Ah, Herr Schneemann!”

Frau Brühl, die ihm das Haus in Ordnung hielt, kam aus der Küche. Alexander nickte ihr lächelnd zu.

„Sie sind noch da? Bestimmt hat Ihr Mann Spätschicht?”

Ihr folgte ein angenehmer Geruch nach frisch gekochtem Essen. Die rundliche, kleine Frau in Jeans und einer schreiend bunten Bluse nickte.

„Ich habe einen Auflauf im Ofen, da ich ahnte, dass Sie mal wieder keine Zeit hatten, etwas Vernünftiges zu essen”, sagte sie mit einem freundlichen Tadel in der Stimme.

„Darauf freue ich mich jetzt wirklich”, sagte Alexander.

„Die Fenster mache ich morgen, heute ist es mir zu spät.”

„Ich werde damit klarkommen”, stellte Alexander trocken fest und ging in die Küche, nachdem er seine Haushaltskraft verabschiedet hatte. Neben Frau Brühl hatte er für die Außenanlage des Hauses noch einen Gärtner, der sich nebenbei auch noch als Hausmeister betätigte und dafür sorgte, dass weder das Wasser ausfiel noch die Heizung streikte.

„Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend”, rief Frau Brühl, die Haustür fiel nur Sekunden später ins Schloss, Alexander war allein.

Hatte er noch Sekunden zuvor einen mächtigen Appetit verspürt, so war es ihm jetzt, als hätte er bereits gegessen. Trotzdem nahm sich Alexander einen Teller und füllte ihn mit dem deftigen Auflauf. Er nahm ihn mit in das untere Arbeitszimmer und verbrachte die kommende Stunde damit, Listen zu studieren, nachzurechnen und dabei immer wieder nebenbei ein wenig zu essen.

Immerhin vergaß er dabei die Gedanken, die ihn seit einigen Wochen umtrieben. Wenn er in der Arbeit feststeckte, war er wie in einem Tunnel gefangen, dessen Wände nur dann wie Glas zersprangen, sobald etwas von Außen auf sie traf. In diesem Fall war es der Klingelton für einen Video-Anruf auf seinem privaten Mobiltelefon.

Sofort wusste Alexander, wer ihn da anrufen wollte. Und sofort brachen all die Überlegungen der letzten Wochen wie ein Sturzbach über seinem Kopf zusammen. Es ist zu verrückt, du kannst es unmöglich tun, schrie die Stimme hinter seiner Stirn.

Er nahm das Gespräch an und fühlte, wie sein Herz einen Schlag aussetzte, als das Lächeln der jungen Frau ihn förmlich ansprang.

„Hallo, wie geht es dir?”

Ihre Lippen bewegten sich noch, als die Stimme längst verklungen war. Auf die große Distanz waren die Sendesignale nie völlig synchron.

„Eine Menge Arbeit”, sagte er zögernd. „Ich musste heute eine Filiale besuchen.” Er hörte sich selber reden und begriff, dass er lediglich versuchte, mit den vielen Worten seine eigene Unsicherheit zu überspielen. Wie konnte es sein, dass ausgerechnet er in dieser Situation so nervös war? Das war albern, aber alles an der Geschichte war albern, daher kam es darauf auch nicht mehr an.

Er war sich nicht sicher, ob sie ihn und seine Tirade über die Arbeit verstand. Normalerweise war er sehr zurückhaltend, was das anging, hielt sie immer über sich und seine Vermögensverhältnisse im Unklaren. Auch heute stockte er einige Male, wenn er hätte erklären müssen, dass sämtliche Geschäfte, von denen er erzählte, ihm gehörten. Genau diese Erklärung, dieses Geständnis wollte er vermeiden.

Sie lächelte in die Kamera, strich sich die langen Haare hinter die Ohren, die ihr schmales Gesicht wie einen Rahmen umspielten. Es konnte unmöglich mehr als ein Abenteuer sein, es war nur ein reichlich sinnloser Zeitvertreib, ähnlich einem Video-Spiel oder einem Spaziergang am Fluss.

„Ich habe über das nachgedacht, was du beim letzten Mal gesagt hast”, meinte sie nach einer Weile.

Alexander schaffte es endlich, seine Worte halbwegs in den Griff zu bekommen. Oh Gott, ich weiß noch immer keine Antwort, schoss es ihm durch den Kopf. Seine Hände wurden feucht, fingen leicht an zu zittern, seine Lippen trockneten schlagartig aus.

„Es ist keine gute Idee, wenn ich tatsächlich nach Deutschland komme”, sagte sie mit einer nicht zu überhörenden Entschlossenheit. Er brauchte sie nur anzusehen um zu begreifen, dass es kein Spiel für sie war, dass sie nicht damit kokettierte, dass er sie bitten würde.

„Warum nicht?” Seine Stimme kam fremd und dumpf von der anderen Seite des Raumes an sein Ohr.

„Ich kann mich nicht auf ein solches Abenteuer einlassen, das musst du verstehen. Hier ist meine Heimat, hier ist mein Zuhause. Ich weiß überhaupt nichts von dir, verstehst du? Es war ... es ist nur ein verrückter Traum, das habe ich inzwischen begriffen.”

Sie zeigte ein zerbrechliches Lächeln mit weißen Zähnen zwischen ihren vollen Lippen in die Kamera.

Alexander hatte das Gefühl, als würde ihm ein Stück seines eigenes Lebens aus den Händen gleiten, zu Boden fallen und in tausend Teile zerbrechen. Ein heißer, trüber Strahl drang durch seinen Kopf in seine Gedanken.

„Das ist kein Problem, ich schicke dir ein Ticket für einen Flug nach Deutschland und ein undatiertes Rückflugticket, das du jederzeit benutzen kannst.”

Es dauerte einen Moment, doch dann hörte er ein leises Lachen aus der Weite des Internets.

„Sei lieber vorsichtig, das kostet eine Unsumme Geld. Das solltest du lieber sparen. Du wirst in Deutschland einen netten Menschen finden, dessen bin ich mir absolut sicher.”

„Nein, hör mal, ich war mir nicht ganz sicher, ob es eine gute Idee ist. Aber jetzt will ich dich unbedingt kennenlernen. Ich schwöre dir, du wirst keine Probleme bekommen und ... “

Alexander starrte auf den leeren Bildschirm seines Handys, die Leitung war tot.

„Das darf doch nicht wahr sein”, stammelte er und brauchte einen Moment, ehe er wieder einen klaren Gedanken fassen konnte.

Da machte er sich wochenlang Gedanken, spielte in seinen Überlegungen die wildesten Szenarien durch, und dann erklärte sie ihm einfach, dass es besser wäre, wenn sie keinen Kontakt mehr hätten.

Er wählte sie an, bekam jedoch keine Antwort. Das war völlig verrückt, noch verrückter als es ohnehin schon war. Alexander erhob sich und räumte in einer mechanischen Geste den benutzten und halb leer gegessenen Teller in die Küche.

Zum ersten Mal kam ihm der Gedanke, dass in dieser eigenartigen Beziehung, wenn man es überhaupt so nennen konnte, nicht er derjenige war, der das Sagen hatte.

„Ich brauche einen Rat”, stellte er für sich selbst fest, „ich brauche dringend einen Rat!”

Kapitel 4

Als die dumpfen Schläge gegen die Veranda-Tür durch den Raum klangen, schoss Alexander in die Höhe als hätte ihn jemand auf eine glühende Herdplatte gesetzt. Er sprang aus dem Sessel, in dem er gesessen hatte, stolperte nach vorne und wäre um ein Haar gestürzt. Im letzten Moment fand er sein Gleichgewicht zurück und erwischte die Lehne des breiten Sofas, das mitten im Raum stand und dadurch wie eine Art Teiler wirkte.

Für einen Moment dachte Alexander an einen Einbrecher, doch dann erkannte er den Schatten, der dort neben dem breiten, bis zum Boden reichenden Fenster stand und winkte.

„Andere Leute benutzen die Klingel”, schnaufte Alexander als er seinem Freund und Anwalt die Tür öffnete.

„Andere Leute schalten die Klingel nicht aus”, entgegnete Florian Voss mit einem müden Kopfschütteln und trat, ohne eine Aufforderung abzuwarten, in das Haus, das er so gut kannte.

Alexander fuhr sich durch die dunklen Haare, die sich wirr an seinem Kopf verklebt hatten. Sein Nacken schmerzte, er war tatsächlich eingenickt. Es war stickig im Raum, die kalte Nachtluft tat ihm gut.

„Was machst du hier?” fragte er, sein Blick wanderte hinüber zur Kaminuhr, die kurz nach zwei in der Früh zeigte. Der Garten lag im Dunkeln, man konnte nur die Umrisse des Pools erkennen.

„Wenn ich eine Nachricht von meinem besten Freund erhalte, dass er morgen Früh ganz dringend mit mir reden will, dann bekomme ich Panik, setze mich ins Auto und fahre die dreißig Kilometer, wobei ich vermutlich geblitzt wurde. Ach ja, für dich würde ich das übrigens auch machen!”

Er lachte und nahm seinen Freund beiläufig in den Arm. Alexander merkte, wie sich sein pochendes Herz langsam wieder beruhigte. Erst jetzt erinnerte er sich wieder, tatsächlich eine Kurznachricht verschickt zu haben. Florian trat an den Lichtschalter und riss den riesigen Wohnraum mit einem Griff aus der Düsternis der Nacht.

Alexander schloss geblendet die Augen.

„Großer Gott, hast du sie noch alle? Der Schalter hat auch einen Dimmer!”

„Hat er, und ich habe ihn nicht benutzt. So, und nun holst du deinen alten Cognac, nicht das Zeug, das du sonst immer deinen Gästen andrehst, und erzählst mir, was dir so dringend auf den Nägeln brennt.”

Er ließ sich in einen der Ledersessel fallen und betrachtete Alexander mit neugierigen, hochgezogenen Augenbrauen.

„Hast du nicht schon geschlafen?” fragte Alexander und füllte großzügig zwei Schwenker. Er überhörte die Frechheit wegen des Alkohols, die völlig aus der Luft gegriffen war und vermutlich lediglich dazu dienen sollte, seine Stimmung zu heben.

„Ich?” Florian sah an sich herunter. Er trug einen etwas ausgeleierten Pullover zu einer Stoffhose und wirkte in diesem Outfit nicht wie einer der teuersten Anwälte der Stadt. „Ein wenig, aber das tut nichts zur Sache. Die Sache mit deinem Filialleiter weiß ich übrigens schon, aber ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass es sich darum dreht.”

Alexander ließ sich ihm gegenüber nieder und musste leise lachen. Erst jetzt kam ihm die Szene im Laden an den Spinden wieder ins Bewusstsein.

„Nein, das hätte mir kaum den Schlaf geraubt – er ist einfach ein Idiot, der es mal versucht hat.” Alexander merkte erst jetzt, dass er vermutlich am nächsten Morgen kaum in der Lage gewesen wäre, mit seinem Freund über das zu reden, was ihn seit Wochen beschäftigte und von dem niemand auch nur den Hauch einer Ahnung hatte, zumindest nicht in Deutschland.

„Du hättest dich wirklich nicht auf Weg machen sollen”, versuchte er eine letzte Ausflucht vor der Wahrheit. „Ich mache mir Sorgen um das Geschäft, es hat einige Diebstähle gegeben, und ich ... “

„Und du hast Helena Jäger darauf angesetzt – das weiß ich ebenfalls längst, alter Freund. Was glaubst du, wen du hier vor dir hast? Nein, es hat nichts mit dem Business zu tun, darauf würde ich jeden Eid schwören.”

Er sah Alexander durchdringend an.

Alexander erhob sich und zögerte. Nein, schrie alles in ihm, er wird dich für verrückt halten. Und damit hat er absolut Recht!

Er ging zum Tisch neben dem Sessel und griff nach seinem Mobiltelefon, entsperrte es und suchte sich kurz durch die Bilder, die er gesondert gesichert hatte. Nachdem er das passende Foto gefunden hatte, zeigte er seinem Freund sein Handy, ohne einen weiteren Kommentar abzugeben.

Florian betrachtete das Bild für einen Moment.

„Da ich Anwalt bin, muss ich zunächst fragen, ob ihre Reste in deinem Keller liegen? Dann hätten wir ein ernstes Problem.”

Er lachte, doch als er Alexanders Zucken bemerkte, wurde er schlagartig ernst.

„Okay, kein Keller, aber eine hübsche, junge Frau mit braunen, langen, glatten Haaren, braunen Augen und schmalen Schultern, mehr kann ich nicht erkennen. Sie ist vermutlich nicht eine flüchtige Bekannte, nehme ich an?”

„Ich kenne sie gar nicht.”

Alexander nahm das Telefon wieder an sich.

Florian nahm einen Schluck Cognac und ließ ihn nachdenklich über die Zunge rollen.

„Dann wäre etwas Kontext angebracht und hilfreich”, meinte er schließlich, da Alexander es nicht über sich brachte, etwas zu erläutern. Er suchte verzweifelt nach einem halbwegs plausiblen Einstieg in eine Erklärung. Er, der normalerweise nie um Worte verlegen war, flüchtete sich ins Schweigen.

Florian ließ sich Zeit und sah sich im Zimmer um, als würde er es zum ersten Mal sehen.

„Ich kenne sie aus dem Internet. Sie heißt Evelin und kommt aus Bolivien.”

Falls Florian überrascht war, ließ er es sich nicht anmerken.

„Du weißt, dass Julia jetzt über drei Jahre tot ist. Ich habe mich immer ins Geschäft gestürzt, aber die Nächte in diesem Haus können erdrückend sein. Also setzte ich mich irgendwann an den Computer und surfte ohne Ziel, bis ich sie in einem sozialen Netzwerk entdeckte. Ich schrieb sie an, einfach so, eher aus einer Mischung aus Einsamkeit und Langeweile heraus.”

Alexander versuchte, eine passende Erläuterung nachzuschieben, doch ihm versagten die Worte.

„Und dann habt ihr angefangen, regelmäßig zu chatten”, schob Florian den stockenden Gesprächsfluss seines Freundes an.

---ENDE DER LESEPROBE---