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Eigentlich hält Beate das Ganze für eine grandiose Schnapsidee: Dr. Praetorius, den sie durch ihre Verbesserungsvorschläge kennen gelernt hat, bittet sie, an Weihnachten vor seiner (grässlichen) Familie seine unpassende Freundin zu spielen. Beate ist leider der Typ, der einem guten Joke nicht widerstehen kann, also lässt sie sich darauf ein. Sogar zweimal - obwohl Dr. Praetorius´ Mutter sich die größte Mühe gibt, Beate aus dem Haus zu ekeln. Bei diesen Wochenenden auf dem Land kommt sie ihrem angeblichen Freund näher, was sie eigentlich nicht will: Wie sieht das aus, wenn man eine Affäre mit dem Chef hat? Wer soll einem da noch glauben, dass man sich eine Beförderung ehrlich verdient hat? Und dann finden sie vor dem Haus eine Leiche... LESEPROBE: "Ich hab Hunger", maulte Wenzel, "wann gibt´s denn was zu futtern?" "Wenzel, bitte!", mahnte seine Mutter, "drück dich nicht so ungeschliffen aus." "Das heißt ´Wann dürfen wir denn zu Tisch gehen?´", belehrte Jasper ihn und erntete einen Tritt gegen das Schienbein. "Unser Weihnachtsengelchen", kommentierte ich halblaut, und Albert verschluckte sich an seinem Sherry. Die Mutter sah auf ihre winzige goldene Uhr: "Gut, dann bitte ich alle zu Tisch." Den aufwendig gedeckten Tisch hatte ich schon erspäht – es gab sogar Tischkarten. Ich landete zwischen Wenzel und Albert in der Mitte: Das war dann wohl der minderste Platz? Wenzel gegenüber saß Tante Amalie, Albert gegenüber, neben seinem Vater, Jasper, der über diese Aufteilung nicht sehr glücklich wirkte. Weil er mich so nicht steuern konnte oder weil sein Vater ihn mit dem Familienbetrieb nerven würde? Als erstes wurde eine klare Ochsenschwanzsuppe serviert. "Man benutzt das Besteck von außen nach innen", belehrte mich die gnädige Frau huldvoll. "Oh, vielen Dank", freute ich mich sofort, "ich wollte es gerade mit dem Dessertlöffel probieren." Jasper zog ein steinernes Gesicht, und von Tante Amalie kam ein winziges Prusten.
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Seitenzahl: 645
Veröffentlichungsjahr: 2015
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Alles frei erfunden!
Imprint Familienfeste. Kriminalroman
Elisa Scheer published by: epubli GmbH, Berlin
www.epubli.de Copyright: © 2015 Elisa Scheer
„Wo ist denn der Vorgang Schlesinger schon wieder hin? Frau Landmann!“
Ich stöhnte innerlich. Wieso war immer ich schuld, wenn jemand eine Akte verschlampt hatte? Und dieser Fall Schlesinger – ich wusste schon, das war das angeblich gestohlene sündteure Reisegepäck, das höchst wahrscheinlich friedlich im Keller des Versicherungsnehmers ruhte. Mein Fall war das nicht, ich hatte mit den ins Klo gefallenen Kontaktlinsen, zwei vom Balkon auf ein Auto gestürzten Blumentöpfen und anderem Privathaftpflichtkram genug zu tun. Reisegepäck ging mich nichts an.
„Frau Landmann!“
„Ja doch! Ich weiß es auch nicht.“
„Warum nicht?“
Dieser dämliche Gundler! Wie konnte es jemand, der so blöd war, zum Abteilungsleiter bringen? „Weil ich mit Reisegepäck nichts zu tun habe. Fragen Sie doch mal den Herrn Grasmeier!“
Gundler trug seinen Bierbauch knurrend zum nächsten Schreibtisch. Reinhold Grasmeier wusste es auch nicht, und Gundler schlich noch eine halbe Stunde zwischen unseren Schreibtischen herum und hielt uns von der Arbeit ab, bis er den Fall Schlesinger in seiner eigenen Ablage entdeckte und ihn erleichtert an sein verfettetes Herz drückte.
„In der Abteilungsleiterkonferenz soll der Fall besprochen werden!“
Ich versuchte vergeblich, beeindruckt zu schauen, und notierte mir weiter, was alles im Kontaktlinsenfall unklar war. Dass der gemeine Versicherungsnehmer nicht imstande war, einen verständlichen Schadensbericht zu verfassen? Die Geschichte hatte doch nicht Hand und Fuß! Und mir knurrte der Magen. Gab´s nicht bald Mittagspause? Nein, erst zehn nach elf... Und wenn man so früh essen ging, zog sich der Nachmittag endlos hin. Außerdem ging die Nachbarabteilung früher zum Essen, und die hatten einen furchtbar schnöseligen jungen Chef, wenn ich den schon sah! Den Appetit wollte ich mir damit nicht verderben.
Ich tröstete mich einen Moment lang damit, dass die Nachbarabteilung im Allgemeinen die fieseren Fälle aufgehalst bekam, die, die sich zu Versicherungsbetrug im großen Stil auswuchsen oder richtig teuer wurden. Wir hatten den Kleinkram, aber auch nur Haftpflicht (fünf Leute), Reisegepäck (drei Leute) und Hausrat (vier Leute).
Zwölf Sachbearbeiter und der doofe Gundler – dreizehn, das konnte ja nicht gut gehen. Der Drucker neben meinem Schreibtisch knurrte auf sehr bedenkliche Weise: Er würde doch nicht schon wieder kaputt gehen?
Ich begann einen Brief an den Kontaktlinsenheini, in dem ich um nähere Aufklärung zu folgenden Punkten bat... Neue Lügen würde ich zu lesen kriegen, da war ich sicher, aber es war ein Bagatellschaden, also würden wir wohl doch am Ende zahlen.
Die Sache mit den Blumentöpfen dagegen – konnte man da auf grobe Fahrlässigkeit plädieren? Wenn mir alles so egal wäre...
Zwei Wochen vor Weihnachten, und ich ärgerte mich mit Blumentöpfen herum! Ich klappte den Akt zu und kuvertierte lieber den Kontaktlinsenbrief, dann trug ich ihn zum Ausgangskorb und blieb auf dem Rückweg vor dem Kantinenplan stehen.
Panierte Hackkoteletts mit Kartoffelbrei und Sauce, hinterher Vanillepudding mit Schokoladensauce – hatten die einen Knall? Das deckte ja den Energiebedarf für eine ganze Woche, und aller Kaffee dieser Welt würde mich hinterher nicht wach halten! Lieber an die Salatbar, wenn die auch nicht gerade viel taugte. Dietlinde stellte sich neben mich. „Scheißfraß“, kommentierte sie. „Morgen bringe ich mir Brote mit.“
„Das kündigst du seit Jahren an“, konnte ich mir nicht verkneifen.
„Ich hab´s ja auch seit Jahren vor, weil das Essen hier seit Jahren eine Katastrophe ist.“
„Und seit Jahren bist du morgens viel zu müde und zu knapp dran, um noch Brote zu schmieren“, fügte ich hinzu.
„Na, und du? Stellst du dich morgens in die Küche?“
„Nein“, gab ich zu, „aber ich gehe beim Bäcker vorbei. Zwei Brezen und ein schlapper Salat vom Buffet, dann halte ich notdürftig bis fünf Uhr durch. Könnten die nicht mal jemanden anstellen, der auch kochen kann?“
„Wahrscheinlich zu teuer. Für uns ist doch alles zu teuer. Das Weihnachtsgeld war angeblich auch zum letzten Mal komplett, nächstes Jahr soll es nur noch das halbe Gehalt sein.“
„Was hast du erwartet? An wem sollen die Herren Chefs denn sonst sparen? Etwa an sich selbst? Nein, wozu gibt es Kunden und Fußvolk!“
Ich kehrte lustlos an meinen Schreibtisch zurück, auf den mir der Bote einen Stapel Umschläge geworfen hatte. Na prima. Immerhin lenkte mich das von den albernen Blumentöpfen ab; bis ich alle Briefe geöffnet, durchgelesen, mit ersten Anmerkungen versehen und in frisch angelegten Aktendeckeln verstaut hatte, war es tatsächlich Zeit für die Mittagspause.
Als ich mit Dietlinde – wir gingen immer zusammen – den Gang hinunterschlappte (mein linker Absatz schien sich zu lösen), begegnete uns der Schnösel der Nachbarabteilung, tipptopp in Schale, wie immer. Herr Bertolt, Stephan Bertolt. Höchstens dreißig, wenn überhaupt, graue Hosen, dunkelgraues Tweedsakko, blütenweißes Hemd, dunkelrote, teuer aussehende Krawatte, korrekt geschnittenes und zurückgekämmtes braunes Haar, amtliches Gesicht, Hornbrille. Mr. Superwichtig...
„Der war in der Schule sicher der Oberstreber“, murmelte Dietlinde, sobald wir im Treppenhaus waren. „Und hat dem Lehrer die Tasche zum Lehrerzimmer getragen“, fügte ich hinzu. „Wir hatten mal so einen. Das könnte er glatt sein, zumindest ein Bruder im Geiste.“
Nicht mal Gundler takelte sich so auf, man konnte ja meinen, Bertolt säße im Vorstand. Das Fußvolk trug Sweatshirts und einigermaßen unzerrissene Jeans, und die ordinären Abteilungsleiter liefen im Allgemeinen in Chinos und verbeulten Blazern herum. Erst eine Stufe drüber, bei den Leitern der Abteilung, war Krawatte Pflicht. Scheißbürokratie, bei uns ging es ärger zu als in jeder Behörde. Jedenfalls stellte ich mir Behörden genau so vor.
Es war sogar festgelegt, dass man kein größeres Auto fahren durfte als der Chef. Ich hatte – mein ganzer Stolz – einen ziemlich großen BMW. Gut, er war Baujahr 1982 und ich brauchte dringend eine neue Beifahrertür, die alte war von der Unterkante bis zur Mitte der pure Rost, aber sonst war er ziemlich gut in Schuss, und die Tür würde ich bei meinen Streifzügen über die Schrottplätze schon noch finden. Nur war er erheblich größer als die besseren Mittelklassewagen, wie sie Gundler und Bertolt zustanden, und fast genauso groß wie ein Siebener, den man frühestens als Leiter der Abteilung fahren durfte. Darüber gab es Firmenwagen mit Chauffeur. Für so einen Mist schmiss die Firma Geld raus, als hätten unsere Obermotze und Aufsichtsräte nicht alle selbst einen Führerschein!
Außerdem hatte mein Schlitten hinten einen saublöden Aufkleber gehabt, als ich ihn gekauft hatte. Und dieser Aufkleber (Ich habe sieben Hobbies... Sex und Saufen) war nicht zu entfernen, nicht mit dem Fön, nicht mit Fett – da half nur Überkleben. Jetzt prangte dort Dienstwagen – bis die Kurse wieder steigen. Ich fand das lustig, aber auf dem Firmenparkplatz hätte man mich damit wahrscheinlich gelyncht.
Also fuhr ich mit dem Bus, was meine morgendliche Laune auch nicht verbesserte, aber immerhin kam ich so beim Bäcker vorbei.
Das Salatbuffet sah trübsinnig aus. Welkes Grünzeug, Mayonnaisesaucen, die schon ein bisschen gelb wurden, Tomaten mit Schweißtröpfchen... Resigniert füllte ich meinen Teller mit Mais, grünen und weißen Bohnen, Gurke und kaltem Brokkoli, der bestimmt wieder zerkocht war. Etwas Vinaigrette dazu, viel Pfeffer, dazu ein Mineralwasser, eine Orange und ein scharfes Messer. Und eine Plastikgabel. Ökologisch sehr zweifelhaft. Gut, dass die hier keinen Kummerkasten hatten – alleine ich hätte täglich zehn Beschwerden eingeworfen!
Ich sah mich um, nach Dietlinde und einem freien Tisch, und blickte in lauter missvergnügt kauende Gesichter – und ich entdeckte verdammt viele Biergläser auf den Tischen. Wahrscheinlich schliefen ganze Abteilungen nach Tisch am Schreibtisch ein!
Dietlinde schoss an mir vorbei an einen freien Fenstertisch. Ich folgte ihr hastig und knallte mein Tablett einen Moment früher auf den Tisch als dieser Beyerle aus der Nachbarabteilung, der Dietlinde anbetete und ihr zutiefst unsympathisch war. Muffig schob er ab, und sie sah ihm nach. „Wie kommt der eigentlich darauf, dass er bei mir landen kann? Jetzt guck ihn dir an, der hat doch schon wieder zugelegt! Wie ihm der Hals aus dem Kragen quillt!“
„Außerdem müffelt er. Ich glaube, der trägt Polyesterhemden. Jede Woche ein frisches.“
„Verdirb mir nicht mein letztes bisschen Appetit! Kannst du mir verraten, warum hier so viele so dick sind? Den Fraß kann man doch kaum essen, da vergeht es einem ja!“
„Die ziehen sich panierte Hackkoteletts rein. Du weißt ja, warum man Hackfleisch paniert, nicht?“
„Damit der Gast nicht sieht, dass es a) total fett und b) schon ein bisschen grünlich ist. Ich bin Mensa-erprobt, genau wie du.“
Ich rührte meinen Salat um, dann zerschnitt ich die Orange und quetschte sie über dem Mineralwasser aus, damit es wenigstens ein bisschen Geschmack hatte. Der Salat war fad, trotz des Pfeffers, man merkte, dass er schon seit Stunden herumgestanden hatte. Die Bohnen hatten keinen Biss mehr, der Brokkoli war matschig, nur der Mais, direkt aus der Dose, war okay, an dem hatten sie sich ja auch nicht weiter vergriffen.
„Außer uns wird hier niemand den Nachmittag wach erleben“, prophezeite ich und klaute Dietlinde ein lasches Tomatenachtel. Sie schnappte mir dafür ein Stück Gurke weg. „Ist doch eh ein total verschnarchter Laden. Wir sollten mal an die Geschäftsführung schreiben, alleine schon wegen des Essens.“
„Au ja!“ Die Idee war im Prinzip gut, aber dann kamen mir Bedenken: „Glaubst du, das würde irgendwas ändern? Glaubst du, die Geschäftsleitung interessiert sich auch nur im Geringsten dafür, ob und wie die Arbeit gemacht wird, solange die fetten Managergehälter stimmen und sie eine ordentliche Abfindung kassieren, wenn sie dann endlich wegen Unfähigkeit gefeuert werden?“
„Wahrscheinlich nicht. Man sollte in einem kleineren Unternehmen arbeiten, da kriegt man auch mal den Chef zu sehen und kann ihm die Wahrheit sagen.“
„Tja, es gibt nur keine kleinen Versicherungen. Und da wir nichts Richtiges gelernt haben, kommen wir hier auch nie weg.“
„Bis uns einer wegheiratet“, ergänzte Dietlinde deprimiert. „Vom Regen in die Traufe“, fügte ich hinzu. „Komm, zurück in die Tretmühle!“
Wegheiraten, dachte ich später an meinem Schreibtisch – das war ja wohl auch keine Lösung. Ich ließ meine diversen Verflossenen Revue passieren, Wolfi, Alex, Flo und Daniel. Wenn ich einen von denen geheiratet hätte – was wäre dann anders?
Müßig Überlegung, ich hatte von keinem einen formellen Antrag bekommen (gab´s das heute überhaupt noch?), und selbst wenn: Hätte ich ihn denn angenommen? Vielleicht im richtigen Moment, kurz nach dem Sex, wenn man schlapp und zufrieden herumlag und zu allem ja und amen sagte...
Also bei Flo bestimmt nicht, da war ich hinterher nie schlapp und zufrieden, sondern stinksauer und zum Streiten aufgelegt, weil er schon wieder nicht auf mich gewartet hatte. Mit Wolfi gab es keine schlappen, zufriedenen Momente danach, er neigte dazu, mir auf den Hintern zu klatschen und zu rufen: „Auf, zieh dich an, jetzt gehen wir was trinken. Ich bin mit den Jungs im Schnapsglas verabredet.“
Alex tendierte hinterher zu sehr tief schürfenden Gesprächen – mit ihm war allerdings der Sex wirklich gut gewesen. Nur hatte ich danach keine Lust, die Frage zu diskutieren, ob man Goethes Wilhelm Meister adäquat verfilmen konnte, oder darüber, wie gut oder schlecht die Exponate in der neuesten Ausstellung in Ludwigskron (vorzugsweise zu Themen wie Der Fettfleck im 19. Jahrhundert) gehängt waren.
Ein guter Liebhaber, aber ein Kulturschwätzer ersten Ranges – der guckte sich ja auch ernsthaft Aspekte an und erwartete es auch von mir! Nein, da hatte nur demonstrativer Konsum von Seifenopern und Kitschromanen geholfen. Die Krönung war, als ich Ludwigskron vor einem abstrakten Gemälde, das mir eigentlich ganz gut gefiel, albern gekichert und dann verkündet hatte: „Das könnte ich auch!“ Angewidert, aber taktvoll hatte er mir dann versichert, dass wir vielleicht doch nicht ganz so gut zusammen passten...
Und Daniel, der letzte? Vielleicht nicht in jeder Hinsicht. Mein kleiner Pascha! Der war richtig schwer loszuwerden gewesen – wie er sich in meiner Wohnung breit gemacht hatte! Und diese dämliche Frage, Was gibt´s zu essen? – woher sollte ich denn das wissen? War ich seine Mutter? Ich nähte auch keine Knöpfe an, und als er einmal stirnrunzelnd seine Schuhe betrachtete und wieder sagte: „Meine Mutter hat aber immer -“, hatte ich ihn energisch vor die Tür gesetzt. Ab und zu tauchte er noch auf, mit süßen Worten und dann einem hausfraulichen Anliegen. Sehr lernfähig war er nicht, er tropfte jedes Mal ab und versuchte es ein paar Wochen später wieder. Mittlerweile diktierte ich ihm Anweisungen durchs Telefon, wie man einen Knopf annähte, ein Hemd bügelte, den Toaster entkrümelte...
Und wenn ich nun wirklich einen von ihnen geheiratet hätte? Allgemein frustrierte Stimmung wäre mir sicher, und den Job hätte ich trotzdem noch. Verheiratet mit
- Wolfi: jeden Abend im Schnapsglas, mit den Jungs. Ich wüsste alles über die Regionalliga und den Weltmeister im Mittelschwergewicht – oder wie das hieß.
- Alex: nur noch das Feuilleton lesen dürfen, jede Ausstellung, jede umstrittene Inszenierung bis zum Erbrechen diskutieren, nie meinem Hang zu hirnloser Unterhaltung nachgeben dürfen... Jedes Stück in unserer Wohnung hätte eine Aussage, aber ich dürfte es abstauben.
- Mit Flo: Langeweile im Bett, Langeweile im Gespräch. Aber viele Diaabende!
- Mit Daniel: Ich wäre das totale Hausmütterchen, er konnte sich ja kaum die Schuhe selbst zubinden. Ich sah mich schon ihm morgens Autoschlüssel, Brotzeit und Aktentasche hinterher tragen.
Und keiner würde mich von diesem Job befreien, denn keiner wollte Kinder haben. Wollte ich welche? Vielleicht, das war nicht so eilig. Aber wenn ich ohnehin tagaus, tagein Versicherungsfälle zu begutachten hatte, musste ich mir zu Hause nicht noch weitere Lästigkeiten halten.
Das klang so bitter... War ich verbittert? Nein, man konnte es zwar werden, wenn man solchen Blödsinn wie eben las: Die Waschmaschine war von einem Moment auf den nächsten komplett ausgelaufen, obwohl die Dame des Hauses ununterbrochen daneben gestanden hatte? Da wollte ich aber ein Gutachten vom Kundendienst sehen – die Alte war doch einkaufen gegangen, und als sie wieder gekommen war, hatte es schon durch die Decke getropft!
Ich vermerkte, was ich an Fakten brauchte, bevor wir vielleicht daran denken konnten, den Schaden zu regulieren, und kehrte in meine privaten Gedanken zurück. Bitter – nein. Nur realistisch!
Hatte ich diese Flops eigentlich jemals geliebt?
Verliebt war ich schon gewesen, sonst hätte doch nie etwas mit ihnen angefangen... Und Alex sah wirklich atemberaubend gut aus, den musste man sich schon schnappen, damit alle anderen Frauen grün anliefen. Dekorativ und ermüdend. Und eitel, er sah sich schon als Kulturstaatsminister. So schön wie der amtierende war er allemal, so klug daherreden konnte er auch, nur kannte ihn eben noch keiner, er war bloß Kulturredakteur bei einem Stadtteilblättchen, und seine spitzfindigen Kritiken umhüllten so manchen Salatkopf und wurden in vielen Haushalten beim Streichen untergelegt.
Was für einen Kerl wollte ich eigentlich? Daniel hatte ich im Frühjahr entsorgt, langsam wurde es wieder mal Zeit... Einen vernünftigen wollte ich, nett, harmlos, alltagstauglich und mit durchschnittlichen, aber breit gefächerten Interessen. Gab´s das überhaupt? Wahrscheinlich nicht – aber zwischen Regionalliga und Documenta musste doch noch ein Mittelding existieren? Einigermaßen gut im Bett sollte er sein, kein Pascha, einfach zeitgemäß eben.
Wo sollte ich nach so was suchen? Ewiges Problem... Dietlinde, die mir leicht verzerrt zugrinste, hatte auch immer solche Flops und war im Moment so solo wie ich.
Ich verbannte das Männerproblem vorübergehend in den hintersten Winkel meines Hirns und arbeitete mich durch den Packen Schadensberichte, bis ich alles erledigt hatte: Eine Auszahlung konnte veranlasst werden, in sieben Fällen waren Nachfragen nötig und die entsprechenden Briefe landeten im Ausgang, in zwei Fällen musste jemand schnüffeln gehen, einer hatte eine Schadenssumme, für die eindeutig die Nachbargruppe zuständig war, und der letzte Fall wurde auf der Stelle abgewiesen: Gegen eigene Blödheit konnte man sich nicht versichern.
Fünf... Feierabend. Noch drei Tage, dann war Wochenende. Noch eine Woche, dann stand Weihnachten vor der Tür.
Auch kein guter Gedanke – ich hatte noch kein einziges Geschenk. Und backen wollte ich doch auch noch! Als Köchin war ich mäßig, aber Weihnachtsplätzchen konnte ich, sehr gut sogar, so gut, dass ich regelmäßig über die Feiertage drei bis vier Kilo zulegte. Also gab es im Januar ebenso regelmäßig viel Gymnastik und eine Rohkostwoche, das half.
Also, der Countdown lief. Weihnachtskarten hatte ich auch noch keine – sollte ich heute mal in die Stadt gehen? O Gott, dort ging es sicher entsetzlich zu! Andererseits war heute bloß Dienstag. Am Samstag wäre es wahrscheinlich dreimal so voll, und in der nächsten Woche war alles nur noch dringender...
Ich winkte Dietlinde zu, die noch mit der Auffrischung ihres Make-up beschäftigt war, schloss meinen Schreibtisch ab, obwohl sich darin nichts Klauenswertes befand, wich Gundler aus, der sicher noch irgendetwas Oberwichtiges auf Lager hatte, das genauso gut bis morgen warten konnte, und erwischte tatsächlich an der Ecke einen Bus, der über den Markt fuhr.
Mit zehn mehr oder weniger geschmackvollen Weihnachtskarten, den entsprechenden Briefmarken und einer Supermarkttüte voller Backzutaten stieg ich zwei Stunden später wieder in einen Bus, müde und plattfüßig.
Heute fing ich nicht mehr mit den Plätzchen an, beschloss ich, an einer Halteschlaufe hängend. Die Tüte schnitt mir schmerzhaft in die Finger, und die Leute sahen alle sehr unweihnachtlich aus, erschöpft, säuerlich und verfroren.
An der Haltestelle wäre ich fast noch ausgerutscht – in Selling war es deutlich kälter als in der Innenstadt, und zwischen den schmucklosen Wohnblocks aus den Fünfzigern war genug Platz, dass der Wind so richtig durchpfeifen konnte.
Fröstelnd, mit klammen Fingern und übler Laune, angelte ich nach dem Hausschlüssel und schleifte dann alles in den dritten Stock.
Oh, und heute morgen hatte ich keine Zeit gehabt, aufzuräumen – das Nachthemd lag noch verknüllt auf dem Boden vor der Badezimmertür, auf der Kommode stand ein halb ausgetrunkener Kaffeebecher, und es roch muffig. Seufzend verräumte ich meine Einkäufe, riss dann die Fenster kurz auf und warf das Nachthemd aufs Bett. Das reichte erst einmal!
Was gab´s denn heute im Fernsehen? Nichts Brauchbares, wie immer.
Ich fiel auf mein Sofa und sah mich missmutig um. Eigentlich war die Wohnung recht nett, zwei Zimmer, Küche, Bad, sogar einen kleinen Balkon hatte ich – mit Blick auf den Hof voller Teppichstangen und Mülltonnen, und abends auch mit Blick in die Fenster des gegenüberliegenden Wohnblocks. Manchmal kam ich mir vor wie eine biedere Hausfrau aus den Fünfzigern – das musste die Atmosphäre sein. Samstagmorgens klopften tatsächlich noch einige mittelalterliche Damen, ein Tuch um den Kopf, ihre falschen Perser auf diesen Stangen. Immerhin gab es keine Ofenheizung mehr, sonst hätte ich noch dauernd Kohlen aus dem Keller in den dritten Stock schleifen dürfen.
Nein, die Wohnung war zwar spießig, aber in Ordnung. Außerdem hatte ich einen günstig geschossenen Teppichbodenrest über das schauerliche Linoleum gelegt und mich mit IKEA-Regalen und allerlei Flohmarktkram ganz gemütlich eingerichtet.
Die Küche war vorsintflutlich, aber sie funktionierte zur Not, und das Bad war in Ordnung, wenn man von den zum Teil gesprungenen pastellgelben Kacheln absah und von den altmodischen getrennten Hähnen, die aber einen gewissen nostalgischen Charme versprühten.
Lästig war allerdings der Boiler, der dauernd verkalkte, und die Tatsache, dass es nur im Nachbarhaus eine Waschmaschine gab, so dass man mit dem Wäschekorb ganz hübsche Wege zurückzulegen hatte und manchmal bei unwilligen Bewohnern klingeln musste, weil die Haustür zugeschnappt war. Meist zog ich es vor, den Waschsalon vorne in der Düsseldorfer Straße zu frequentieren, da gab es wenigstens einen Trockner. Wenigstens war die Miete niedrig. Und die Nachbarn waren erträglich, bis auf die Machls im Erdgeschoss, die in ihrer Wohnung exzessiv rauchten, mit altem Fett frittierten und sich zum Ausgleich selten zu waschen schienen. Den Mief ließen sie dann ins Treppenhaus abziehen, wo er zielstrebig nach oben wanderte. Auch heute hatte es draußen wieder ziemlich gestunken, aber die Machls wohnten seit 1966 hier und waren nicht loszuwerden.
Wenn ich so weiter machte, würde ich eines Tages auch unkündbar sein, weil
ich seit 1997 hier wohnte. Und bis zur Rente säße ich bei der Union Securé fest und würde geringfügige Schadensmeldungen bearbeiten. Aber was konnte ich sonst tun? Abitur, fünf Semester Jura, einige Fortbildungskurse in Buchhaltung, Personalverwaltung und Schadensrecht – mir blieben nur Versicherungen, und die waren ja wohl alle gleich.
Was täte ich lieber? Schwer zu sagen... Am liebsten wäre ich so reich, dass ich gar nichts tun müsste. Das war natürlich kein vernünftiges Ziel. Ich machte mir ein Salamibrot – einkaufen musste ich auch mal wieder – und dachte weiter missmutig nach, an dem Brot herumkauend.
Gab es keinen Traumberuf für mich? Irgendwie nicht, ich wusste nur, was mir keinen Spaß machte, der ganze Kulturkrempel, alles Mathematische, alles Soziale. Dann blieb eigentlich nur noch die Wirtschaft – und warum dann nicht eine Versicherung? Blöde Routine – aber Routine langweilte wohl immer. Nur ein Hausfrauendasein wäre wohl noch öder, überlegte ich. Obwohl – morgens eine Stunde Arbeit, den Rest des Tages schmökern, fernsehen, spazieren gehen, shoppen – und kurz bevor der Alte aus der Arbeit kommt, noch eine halbe Stunde Arbeit. Nein, so lief das ja nun auch wieder nicht. Ein Mann, der sich auf so etwas einließ, wollte wahrscheinlich gebügelte Hemden, anständiges Essen und ein poliertes Namensschild an der Tür.
Apropos – ich war mit Treppenputzen dran, fiel mir dabei ein. Die alte Nüssle von gegenüber machte so etwas richtig traditionsbewusst mit einem grauen Lumpen, auf den Knien – ich hatte mir, faul wie ich war, natürlich Wegwerfbodentücher und einen passenden Schrubber besorgt. Also holte ich mein Equipment und wischte die Treppenstufen mehr schlecht als recht einmal durch, wobei ich darauf achtete, auch bestimmt gesehen zu werden, nicht, dass es wieder hieß Die Landmann putzt nicht ordentlich – jaja, die heutige Jugend, kein Pflichtbewusstsein mehr...
Die Nüssle nahm mein Herumwischen mit beifälligem Knurren zur Kenntnis.
Vielleicht sollte ich über ein Haustier nachdenken, am besten eine Katze... die könnte jetzt schnurrend auf meinem Schoß liegen. Alternde Büroangestellte mit Katze – das passte doch zu dieser Wohnung, oder? Leider war Tierhaltung hier strengstens verboten, sie hatten sogar den armen alten Pautz gezwungen, sein Aquarium abzuschaffen, und als ich diesen fiesen Hausverwalter gefragt hatte, ob sich denn jemand über den Lärm beschwert hätte, hatte es nur geheißen, ich sollte nicht frech werden, sonst könnte es sein, dass mein Mietvertrag nicht mehr verlängert würde. Kotzbrocken!
Das waren alle keine Perspektiven – aber was hatte es jetzt für einen Sinn, so tief schürfende Gedanken zu wälzen? Ich brauchte schleunigst einen Schwung Weihnachtsgeschenke, das war weiß Gott dringender. Eine Liste wäre hilfreich. Ich schrieb mir auf: Mama, Papa, Achim, Gundula, Cora, Hannah, Dietlinde, Gundler. Äh – so viele? Da wurde ich ja arm!
Mal sehen – was wusste ich denn schon? Gundler war am einfachsten, der kriegte einen Schokoladennikolaus, den kriegte er immer, und er war ein firmenbekannter Süßschnabel, da musste man nicht einmal auf gute Schokolade gucken, sondern konnte zum Sonderangebot greifen.
Für Gundula ein gutes Buch. Nicht einmal unsere Lehrerinnen früher waren so lehrerinnenhaft wie meine liebe große Schwester – und sicher würde sie mir die Feiertage wieder damit versüßen, dass sie mich nervte, ob ich wirklich bis an mein Lebensende in dieser Versicherung... Nein, so drehte ich mich doch nur im Kreis.
Gundula unterrichtete Latein und Englisch am Albertinum und lebte wirklich nur für ihren Beruf – nie hätte sie etwas gelesen oder auf Video aufgenommen, was nicht für den Unterricht einsetzbar war. Shakespeare in Love? Nein, das war sicher zu frivol und wurde dem großen Barden nicht gerecht. Aber vormerken konnte ich es mir mal, und das Video war wenigstens nicht so wahnsinnig teuer.
Für Achim fand sich schnell etwas, er sammelte immer noch Modellautos, und ich wusste, wo man schöne und ausgefallene bekam. Vielleicht einen kleinen Maserati? Oder irgendwelche StarTrek-Devotionalien, das freute ihn auch immer noch; seine letzte Freundin hatte sich immer furchtbar geniert, wenn er irgendwo in der korrekten Uniform der Sternenflotte aufgetreten war. Irgendwann würde ich ihn doch noch in diesem Aufzug auf ein Betriebsfest mitnehmen!
Also, Achim wusste ich, Gundula – naja. Für Cora vielleicht ein richtig schönes Schaumbad, passend zu ihrem Parfum, das liebte sie sehr, für Hannah – hm. Ihre Leidenschaften waren Büroorganisation, absurde Rätsel, ihr autobastelnder Freund Roland und das Leben in WGs. Da hatte ich doch vor kurzem – genau, ich wusste ein geniales Buch für sie, einen Krimi, der in einer WG spielte. Und wirklich spannend. Ich schrieb mir Wohngemeinschaft mit dem Tod auf – den Autor hatte ich im Moment vergessen – und wandte mich Mama zu. Das war wirklich schwierig, ich wusste nie, was sie schon gelesen hatte, Parfum liebte sie nicht, Klamotten kaufte sie lieber selbst, bei Filmen schlief sie ein, Sportkleidung hatte sie genug. Sport... Wandern... Skifahren - etwas zu diesem Thema? Einen ganz aktuellen Reiseführer durch die besten Skigebiete der Alpen? Vielleicht... Und Papa verbrachte den größten Teil seiner Freizeit im Keller bei seiner wirklich zauberhaften Modelleisenbahn. Ich würde mal zu Spiel und Spaß schauen, ein Häuschen... kleine Menschlein... Platz war genug, er baute ja dauernd an.
Mitten in meine Gedanken hinein klingelte das Telefon, Achim war´s. Ob ich schon Urlaub genommen hätte? „Urlaub? Wann? Wofür?“
„Na, Mensch, für den Skiurlaub. Die ganze Familie, vom dreiundzwanzigsten bis zum zweiten, in Corvara. Total schneesicher, das wird irre, wetten?“
„Klar wird das irre – und wieso erfahre ich davon erst jetzt?“
„Was soll das heißen – ich hab dir doch schon vor zwei Wochen gesagt, dass Papa und Mama eine Ferienwohnung von den Neumeisters gekriegt haben. Mensch, Beate – die beste Saison!“
„Achim, du spinnst – du hast mir kein Wort gesagt, und jetzt kriege ich natürlich keinen Urlaub mehr - alle, die Kinder haben, waren logischerweise schneller.“
„Kein Wort? Aber – das kann doch gar nicht sein, wir haben doch noch darüber geredet, und du hast gesagt, was du in den Ferien alles nebenbei – Scheiße.“
„Aha. Du hast mit Gundula gesprochen, was? Und mich hast du vergessen.“
„Ja“, gab er zerknirscht zu. „Jetzt weiß ich´s wieder. Bei dir ging keiner ran, und dann hab ich´s vergessen. Wieso hast du auch keinen Anrufbeantworter?“
„Wozu denn? Vor zwei Wochen hätte ich auch keinen Urlaub mehr gekriegt, die anderen haben sich schon im Sommer eingetragen. Wieso kriegst du eigentlich welchen?“
„Betriebsferien. Na, und Gundula hat doch sowieso dauernd Ferien. Und den halben Tag frei, egal, wie sehr sie einen auf gestresst macht.“
„Wir haben eben den falschen Job. Tja, schade, während ihr im Tiefschnee herumtobt, kann ich Schadensmeldungen bearbeiten.“ Ich blätterte im Kalender herum. Ich müsste am Montag, den dreiundzwanzigsten arbeiten, ebenso am Freitag, am folgenden Montag und am Donnerstag. Diese vier Tage – nein, die kriegte ich nicht bewilligt.
„Bloß vier Tage!“, sagte Achim in diesem Moment, und ich musste lachen. „Hab ich auch gerade ausgerechnet, aber genau die sind für das Fußvolk gesperrt. Sag mal, dann hocke ich an Heiligabend alleine zu Hause? Ihr Ratten!“
„Naja – wir dachten doch, du kommst mit! Mensch, Beate – kannst du nicht krank sein?“
„Nein, kann ich nicht. Ich brauche den Job, von irgendwas muss sogar ich leben, und ich hab sonst nichts gelernt.“
„Gundula würde dir jetzt einen Vortrag halten, über Ziele und Werte und so´n Kram.“
„Wenigstens das bleibt mir erspart. Man muss eben lernen, für Kleinigkeiten dankbar zu sein.“
„Ich werd´ es Papa und Mama sagen. Und was machst du dann an Weihnachten?“
„Na, nichts! Glaubst du, ich kann, während ich mit dir telefoniere, was anderes ausmachen?“ Frustriert saß ich danach wieder auf dem Sofa. Jetzt hatte ich nicht einmal ein gemütliches Familienweihnachten, weil sich alle nach Südtirol davon machten! Aber ich würde feurige Kohlen auf ihr Haupt sammeln und meine Geschenke schon vorher abliefern, am Sonntagmorgen am besten...
Dann schrieb ich eben Weihnachtskarten, an halb vergessene Freunde, meine Patentante – hoppla, was machten sie eigentlich mit Opa? Schleiften sie den mit nach Corvara? Ich rief Achim sofort noch einmal an. Ja, Opa fuhr mit, er wollte schön im Schnee spazieren gehen und den einen oder anderen Glühwein trinken.
Das konnte ich mir vorstellen – und sich über Frauen in Hosen aufregen. In seiner Jugend waren die Frauen offenbar in bodenlangen Röcken Ski gelaufen, mit Holzski (echtes Hickory-Holz!) und nur einem Stock. So etwas fand sich nur noch in Stummfilmen.
Ich schrieb die Karten fertig, adressierte und frankierte sie und trug sie durch gerade einsetzendes Schneetreiben auch brav zum Briefkasten. Sollte ich Cora anrufen? Die würde Heiligabend sicher mit ihrem Freddy im Bett verbringen – seitdem Freddys angeblich herzkranke Mutter auf wundersame Weise genesen war und sich einen vergleichsweise jugendlichen Freund zugelegt hatte, hatte Freddy plötzlich viel freie Zeit. Und Hannah machte sicher einen in Familie. Oder sie besuchten Rolands Vater, der ausgerechnet Pfarrer war. Nein, da wollte ich mich auch nicht aufdrängen. Aber auf ein Bierchen im Ratlos, vor Weihnachten, sollten wir uns schon noch treffen. Ob sie dort wieder so einen krassen Weihnachtsbaum hatten wie im letzten Jahr? Und an Heiligabend den Ball der einsamen Herzen? Mit Geschenke-Flohmarkt? Das blieb mir immer noch, als letzter Ausweg. Natürlich konnte ich mir auch einen Stapel Krimis aus der Bücherei... und viele Plätzchen... und eine große Schachtel Mon Chérie... und die Fernbedienung griffbereit. Gar nicht so übel, nur ein bisschen langweilig vielleicht, Sissi hatte ich schon so oft gesehen.
Sollte ich die Wohnung noch weihnachtlich dekorieren? Ach, wozu! Ein paar Kerzen hatte ich noch irgendwo... ich kramte sie heraus, arrangierte sie auf einem Teller und zündete sie an. In besinnliche Stimmung kam ich dadurch auch nicht so recht.
Am nächsten Morgen war ich kaum besser gelaunt. Mit einer Einkaufsliste in der Tasche stieg ich in den Bus und fuhr zur Union Securé. Totale Routine, einige neue Vorgänge auf dem Schreibtisch, einige andere hatten nach Überprüfung wieder zu mir zurückgefunden, teils gebilligt, teils abgelehnt. Ich arbeitete den Kram ab und leitete ihn weiter; daneben überlegte ich, was ich Dietlinde wohl zu Weihnachten schenken konnte. Ein Parfum? Schminkkram? Echt scharfen Nagellack? Ein Seidentuch, wie sie es heute wieder lässig geschwungen über ihrem Jeanshemd trug? Irgendwie schaffte sie es immer, wie eine Dame auszusehen. Ich nicht. Ich hatte meine kurz geschnittenen Haare ja auch karottenrot gefärbt und sah jetzt aus wie Pumuckl. Und graue Jeans und ein genauso graues Sweatshirt (mit besticktem Kragen, immerhin) waren auch keine besonders elegante Kluft, aber ich trug am liebsten grau, es passte zu meinen Augen und hob die roten Haare schön hervor.
So saß ich über meine Unterlagen gebeugt und versuchte, mich auf die albernen Fälle zu konzentrieren, die da auf meinem Schreibtisch gelandet waren. Zwischendurch schrieb ich dann doch einen Brief an die Geschäftsleitung und empfahl ihnen, für leichteres Essen und ein Ende des mittäglichen Bierverkaufs zu sorgen, wenn sie wollten, dass die Belegschaft nachmittags noch imstande war zu arbeiten. Dietlinde kam zu mir und sah mir über die Schulter. „Sehr gut! Ich unterschreibe es gerne mit.“ Wir kritzelten unsere Namen darunter, kuvertierten es und leiteten es sofort weiter. Mal sehen, was dabei herauskam!
„Heute gibt es Hühnerfrikassee in Sahnesauce und klumpigen Reis dazu“, verkündete Dietlinde nach einem Abstecher zum Kantinenaushang. „Steht das so da?“
„Fast. Der Reis ist doch immer klumpig.“
„Egal, ich esse eh bloß Salat. Und du auch. Na, vielleicht ändert sich jetzt war – obwohl ich´s nicht glaube.“
Heute jedenfalls sah das Essen genauso grausig aus wie immer; Dietlinde und ich wählten zimperlich aus den ältlichen Salaten aus, ignorierten die Fertigsaucen und trugen unsere klägliche Ausbeute an einen Tisch direkt vor der Ausgabe. Die Bohnen waren von gestern. Oder von Montag. Und die Tomaten waren auch schon sehr reif.
„Guck mal, was ist das denn?“
Ich drehte mich um. „Oh, welch Glanz in unseren Elendsquartieren? Hat der nicht das Recht, von gedeckten Tischen à la carte zu speisen?“
„Eben. Das ist doch unser Obermotz, der, vor dem Bertolt und Gundler solchen Schiss haben, oder?“
„Stimmt. Ich hab ihn erst zweimal gesehen, aber das muss er sein. Wie heißt der gleich wieder? Pe-Pre- vergessen.“
„Praetorius. Wie in dem alten Film.“
„Welcher alte Film?“
„Mit Heinz Rühmann. Dr. med. Hiob Praetorius. “
„Hiob? Meinst du, der hat auch so einen schrägen Vornamen?“
„Keine Ahnung. Irgendwas mit J.“
„Joseph, Johannes, Jakob... mir fällt nichts Schrägeres ein. Was will der hier?“
„Keine Ahnung – Mensch, guck! Der stellt sich an!“
Ich fuhr wieder herum. Tatsächlich – und niemand ließ ihn vor, die meisten kannten ihn wohl gar nicht. Da stand er mit seinem Tablett (er hatte eins mit besonders abgesplitterten Ecken erwischt) und guckte nach einiger Zeit ziemlich konsterniert auf das, was man ihm da auf den Teller geklatscht hatte. „Ist das Casino abgebrannt?“, flüsterte Dietlinde, und ich hob ratlos die Schultern. Meinen laschen Salat hatte ich vergessen, das hier war ja wie im Kino!
Praetorius suchte sich mühsam einen Platz und ergatterte schließlich auch einen, ziemlich in unserer Nähe. Jetzt hatte ich einen besseren Blick als Dietlinde, die sich anstandshalber ja nicht pausenlos umdrehen konnte.
Er sah für einen der Götter aus der Chefetage ziemlich normal aus. Reichlich jung zwar, höchstens – na, Mitte dreißig, schätzte ich. Die übliche Brille, die übliche Cheffrisur. Allerdings hatten seine braunen Haare einen ziemlich deutlichen Rotstich und glänzten, als habe er Arsen gegessen. Gut gekleidet, in dunklem Grau. Ob er Bertolts Styling-Vorbild war? Der sah ihn sicher öfter, bei den Abteilungskonferenzen. Ziemlich scharfes Profil, aber mit Kinn.
Ha, jetzt! Der erste Bissen Frikassee, mit Reis! Er führte die Gabel zum Munde, wie ich Dietlinde im Reportagestil flüsternd mitteilte, kaute mit schreckgeweiteten Augen und schluckte schließlich angewidert herunter. An seiner Stelle hätte ich den Rest stehen gelassen und mir von der Feinkost-Oase was an den Schreibtisch liefern lassen! Nein, er aß fast den ganzen Teller leer, mit offenkundiger Überwindung, aber immerhin.
„Jetzt hält er sich erschrocken die Hand vor den Mund“, flüsterte ich aufgeregt, „ich glaube, das Frikassee will wieder raus!“
„Oder er muss ein Bäuerchen machen“, schlug Dietlinde vor und biss in ihre Gabel, bis es gefährlich knackte. Etwas blass um die Nase stand Praetorius wieder auf und sah sich suchend um, dann trug er doch tatsächlich wie wir Fußvolk sein Tablett zu einem der Transportkarren.
„Das gibt ein feines Nickerchen am Nachmittag“, murmelte Dietlinde, und jetzt konnte ich endlich richtig lachen – die Schwingtüren schlugen gerade hinter Mr. Wichtig zu.
„Warum macht so einer das?“, fragte ich mich halblaut.
„Wo haben wir unseren Brief eigentlich hingeschickt?“
„An die Geschäftsleitung, Abt. Privatversicherungen, warum?“
„Weil ich glaube, dass er bei ihm gelandet ist.“
Ich staunte. „So schnell? Ich hab das Ding vielleicht um zehn in den Korb geworfen!“
„Ja, und um Viertel nach war der Bote da. Das kann schon hinhauen.“
„Respekt“, murmelte ich, „der arbeitet aber wirklich schnell! Ich hätte gedacht, der Brief liegt tagelang rum, bevor ihn jemand aufmacht.“
„Und dann schmeißen sie ihn sofort weg, was?“
„Genau. Und der kommt und guckt sich das selber an! Und pennt sicher selig an seinem Schreibtisch!“
„Das würde ich ja gerne sehen...“, kicherte Dietlinde.
„Ich auch. Hast du eine Ahnung, wo er sitzt?“
„Ich glaube, im siebten Stock.“ Woher wusste Dietlinde immer solche Sachen?
„Aber da bräuchten wir einen Vorwand – und außerdem würde ihn seine Sekretärin wecken, bevor wir hineindürfen.“
„Wahrscheinlich. Schade, was?“
„Jammerschade. Aber dem schreiben wir öfter, der kümmert sich wenigstens.“
„Weißt du, was peinlich wäre? Wenn ihm das Essen nun doch geschmeckt hat und er denkt, wir sind die letzten Querulanten?“ Dietlinde runzelte die Stirn, und ich wedelte kühn mit der Hand.
„Der soll doch froh sein, wenn sich jemand kümmert! Die meisten roboten hier doch nur dumpf vor sich hin, keiner macht jemals einen Verbesserungsvorschlag!“
„Ja, aber ausgerechnet wir?“
„Warum nicht wir? Wir blicken doch durch, oder?“
„Schon. Na, zurück in die Tretmühle“, seufzte Dietlinde und öffnete die Tür zu unserem Großraumbüro.
Ah, neues Material, und zwar reichlich. Ich ging erstaunlich beschwingt an die Arbeit, weil ich mir so effizient vorkam – die einzige weit und breit, die wirklich Ideen für das Wohl der Firma hatte. Naja, eine Idee. Eine einzige.
Dietlinde schien es ähnlich zu gehen, jedenfalls sah sie aus, als würde sie bei der Arbeit innerlich pfeifen. Wir arbeiteten alles weg, umgeben von der üblichen schläfrigen Nachmittagsstimmung – Gundler in seinem Kabuff pennte allen Ernstes, und Grasmeiers Kopf sackte auch dauernd auf die Papiere auf seinem Schreibtisch. Zwischendurch warf ich einen Stapel fertiger Briefe in den Ausgangskorb, stieß an Grasmeiers Stuhl, der mit einem verlegenen Grunzlaut hochfuhr und sofort hektisch in seinen Papieren herumwühlte (ich habe keinesfalls geschlafen!) und öffnete kurz ein Fenster, was nicht auf Gegenliebe stieß.
Lahme Bande! Schließlich ging ich Gundler aufstöbern, um von ihm Entscheidungen bezüglich zweier strittiger Fälle zu verlangen. Auch er hatte winzige Äuglein und täuschte vergeblich vor, wach und aufnahmebereit zu sein. Wenigstens ergatterte ich zwei wenig durchdachte Genehmigungen und konnte wieder zwei Schreiben weiterleiten.
Und jetzt? Mein Schreibtisch war leer, aber es dauerte noch fast zwei Stunden bis Arbeitsschluss! Die Schubladen mal gründlich aufzuräumen, dauerte eine Viertelstunde; der Schreibwaren- und Formularvorratsschrank war sogar noch schneller auf Vordermann gebracht, weil Dietlinde mir half – sie hatte ebenfalls nichts mehr zu tun. Zwanzig vor vier – und jetzt?
Die vergammelten Blumen konnten wir noch gießen – und in der Teeküche abspülen, aber nicht einmal unser Geklapper riss die übrige Belegschaft aus ihrem Frikasseedösen.
Grauenvoll, dieser Praetorius musste unbedingt den Speisezettel ändern!
„Kann er das überhaupt?“, fragte Dietlinde mutlos, als wir uns im Büro umsahen – alles sauber, alles fertig, nichts zu tun. Wenn das jemand merkte, flogen wir wahrscheinlich als überflüssig raus!
„Weiß ich nicht. Aber wenn nicht, stänkern wir einfach weiter. Ich wüsste eh noch was – diese bescheuerte Einteilung, nach der die Fälle hier nach Schadenssummen verteilt werden. Nach Versicherungsart wäre doch viel einfacher. Über einer bestimmten Grenze brauchen wir ja ohnehin eine Genehmigung.“
„Das hat vielleicht irgendwelche juristischen Gründe“, versuchte Dietlinde zu kneifen. „Dann sollen sie uns die mal anständig erklären“, murrte ich, „so wirkt das nur total albern und selbstherrlich.“
„Okay, wenn beim Essen nichts vorangeht, nehmen wir uns das Thema vor. Nächste Woche!“
Damit war ich einverstanden. Wir trödelten noch eine Zeitlang herum, und als unsere Kollegen langsam wieder munter wurden, schenkten wir starken Kaffee aus, täuschten noch ein bisschen Arbeit vor und gingen dann betont pünktlich nach Hause – wir waren schließlich fertig!
Ich musste leider in die Stadt. Lästig, lästig, welcher Idiot hatte bloß die Weihnachtsgeschenke erfunden?
Na, dann am besten zuerst in die Rathausbuchhandlung, da ging es meist am fürchterlichsten zu. Ich schob mich durch die Massen, die sich um die Tische mit reduzierten Bildbänden (machte viel her, kostete wenig) und die Titel der Bestseller-Listen drängten, und erklomm schließlich die schmale Wendeltreppe. Oben war das kleine Reservat der Gebildeten, und schon nach einer halben Stunde frustrierten Blätterns hatte ich das ideale Buch für Gundula gefunden – eine abstruse Abhandlung darüber, dass Shakespeare bei – nein, nicht bei Marlowe, das wussten wir ja nun alle schon aus dem Film – sondern bei Hans Sachs abgekupfert hätte! Das reichte, um Gundula in Raserei zu versetzen – und es sollte bloß vierzehn Euro kosten. Gekauft! Im nächsten Regal fand ich einen prachtvollen, reich bebilderten Reiseführer durch Südtirol – falls die Lifte mal ausfielen, konnten Papa und Mama sämtliche kunsthistorisch wichtigen Kirchlein besichtigen und nachschlagen, wo man den besten Speck kaufen und den besten Wein trinken konnte. Plus jede Menge abwegiger Jagertee-Rezepte, damit konnten sie Opa auf längere Zeit ruhig stellen. Ich trug meine Beute glücklich zur Kasse, konnte auch noch einer Riesenrolle Geschenkpapier mit strippenden Nikolausis drauf nicht widerstehen (samt zehn passenden Anhängern und roten Schleifchen) und trug die Tüte hochzufrieden zu Spiel und Spaß.
Es gab doch tatsächlich einen kleinen Puff für die Modelleisenbahn, komplett mit rotem Licht und Herzchen-Leuchtreklame (Sauna-Club), sofern man noch eine Minizelle einbaute. Nein, das fände Papa nun weniger komisch, leider. Schade, dass Achim nicht den Modelleisenbahn-Vogel hatte, der hätte sich scheckig gelacht und das Häuschen sofort zusammengebaut! Dafür entdeckte ich für Achim einen maßstabsgetreuen BMW V 8 und eine genau dazu passende Isetta – warum sollte seine Sammlung nicht auch um eine historische Dimension erweitert werden?
Und bei den Modellhäuschen gab es auch eine putzige Berghütte mit einem Satz Skifahrer und einer Miniaturbedienung, deren Busen den kleinen Maßstab etwas zu sprengen schien. Aber das Dirndl war zu nett!
Und für den großen Bahnhof fand ich einen kleinen – nicht realistischen – Beschwerdekiosk, den man auf den Bahnsteig stellen konnte. Es gab auch einen entsprechenden Satz wütender Bahnkunden und kleine Täfelchen für die elektronischen Anzeigen: 45 Minuten Verspätung, Zug entfällt und ähnliche erfreuliche Nachrichten.
Papa liebte seine Eisenbahn, hasste aber den realen Bahnbetrieb und besuchte Bahnhöfe nur, um sich Deko-Anregungen zu holen – einen Zug hatte er in den Siebzigern zum letzten Mal bestiegen. Musste ein Schockerlebnis gewesen sein, vielleicht sollte ich da mal nachbohren...
Im La Soie gab es wie immer die edelsten Krawatten weit und breit und ein bildschönes Seidentuch in verfließenden Gelbtönen zwischen Vanille und Orange – das sah zu Jeanshemden und zu Dietlindes schokoladenbraunem Haar bestimmt klasse aus. Gekauft!
Wer fehlte noch? Cora und Hannah – für Cora das Schaumbad zu ihrem Lieblingsparfum... ich eilte mit langen Schritten davon, aber bis ich vor der Discountparfümerie ankam, war es glücklich acht und die Scherengitter rasselten herunter. Mist!
Ach, egal. Das meiste hatte ich immerhin schon, ich konnte doch ganz zufrieden sein: Fünf echt gute Geschenke in drei Stunden, keine üble Quote!
Das Schaumbad war eine meiner leichtesten Übungen – und diesen WG-Krimi: Ich Trottel, denn hätte ich in der Rathausbuchhandlung auch gleich aufgetrieben! Ich war so aufgedreht, dass ich aus dem Bus nach Hause schon am Bahnhof wieder ausstieg und dort nicht nur den Krimi, sondern auch das Schaumbad (zu deutlich überhöhtem Preis) ergatterte.
Hungrig und müde kam ich heim, und mittlerweile war wirklich nichts mehr zu essen im Haus. Ganz hinten fand ich noch eine Dose Baked Beans – Ablaufdatum Ende 2002, dann wurde es ja mal Zeit! Sie schmeckten nicht gerade aufregend, trotz aller Gewürze, die ich etwas wahllos hineinkippte, und nach einem halben Teller trug ich den Rest in die Küche zurück und machte mich lieber daran, die Geschenke sorgfältig zu verpacken, richtig traditionell – Preis abknibbeln (eine Eins davor zu malen galt in unserer Familie als gemein), Papier knapp zuschneiden (Kinder, verschwendet doch nicht immer soviel gutes Papier!), exakt falten, keinen Tesafilm verwenden, das war für Weicheier (und man musste ihn mühsam wieder herunterbügeln), das Band exakt über Kreuz und die – maximal doppelte – Schleife natürlich auf der Vorderseite. Dann wurden Albernheiten auf die Anhänger gekritzelt und die wiederum sorgfältig am Schleifenknoten festgebunden, auf keinen Fall an einer Schlaufe, die zog sich dann womöglich auf!
So hatten wir drei das von Mama gelernt, wie das Basteln von Goldpapiersternen, und so hatte Mama das von ihrer Mutter gelernt, wenn die wiederum auch in ihrer Kindheit kriegsbedingt mit alten Nummern des Völkischen Beobachters statt mit strippenden Nikoläusen auskommen musste. Das war unsere Familienvariante von Iss schon auf, damals im Krieg wären wir froh gewesen, wenn wir so feine Hafergrütze gehabt hätten!
Ich lehnte mich zurück und betrachtete befriedigt mein Werk, dann stellte ich die Geschenke, der Größe nach geordnet, ins Regal, wo sie sich sehr nett machten.
Die ganze Familie erledigt – Himmel noch mal, Opa!! Was sollte ich bloß Opa schenken? Jedes Jahr der gleiche Stress, ich konnte ihm ja schlecht ein Bild malen wie früher.
Ich zog aufs Sofa um und zappte ein bisschen herum. Nichts... Was konnte Opa brauchen? Mama würde sagen, neue lange Unterhosen, aber so was freute ihn nicht. Und sein Buchgeschmack ging mehr in Richtung Wie wir beinahe Moskau erobert hätten, das musste man nicht noch unterstützen. Ärgern durfte man ihn auch nicht zu sehr, sonst kippte er noch um; der Katalog der Wehrmachtsausstellung verbot sich damit leider von selbst.
Mensch, Opa! Ein Schnäpschen? Ein Schnäpschen! Prima Idee, ein richtig guter Tropfen freute ihn, er verbrauchte sich und vielleicht kriegten die anderen auch etwas ab... Williamsbirne oder Kirschwasser, das hatte er am liebsten.
Und wieder ein Problem gelöst. Nun noch Plätzchen backen und rechtzeitig vor den Feiertagen in die Bücherei!
Ha, und am Vierundzwanzigsten morgens, wenn sich alle im Haus angifteten, wenn die Bäume beim Schmücken umfielen und die Schlangen beim Bäcker und beim Metzger, von denen an den Supermarktkassen ganz zu schweigen, rund um den Block reichten, würde ich mit Mandelmakronen, Zimtsternen und Spitzbuben auf dem Sofa liegen und schmökern. Oder hämisch grinsend aus dem Fenster hängen, ein Kissen unter dem Busen, und den anderen zuschauen, wie sie sich abstressten. Keine schlechte Aussicht – aber vor diesen gemütlichen Tag hatten die Götter leider noch sieben Arbeitstage gesetzt.
Als ich am nächsten Morgen unser Büro betrat, konnte ich nur hoffen, dass mit der Post etwas Neues gekommen war – wie sollte ich sonst Arbeit vortäuschen?
Wenigstens drei Kuverts – besser als nichts. Dietlinde, die einen Moment nach
mir kam, hatte auch nicht viel mehr. Vor zehn gab es nichts Neues, da war sorgfältiges Einteilen angesagt.
Ich öffnete die Umschläge und sah den Inhalt durch. Drei recht simple Fälle, einer konnte sofort genehmigt werden, bei einem fehlten Belege, also schrieb ich einen Brief, und beim dritten wurde ich unterbrochen, weil Gundler herumkrähte und wieder einmal nach einem Vorgang suchte, von dem keiner von uns jemals gehört hatte. Und wenn einer gegen eine Mauer fuhr und die Mauer daraufhin einstürzte – das war ja wohl Kfz-Haftpflicht, oder? Nicht unser Ressort!
Dietlinde übernahm es, ihm das taktvoll klar zu machen, und ich half ihm, seinen überquellenden Schreibtisch zu durchsuchen, bis wir den Akt schließlich entdeckt hatten.
„Und wie es hier aussieht!“, jammerte Gundler, dass seine Kinne zitterten. „Heute findet die Besprechung hier statt, ich weiß auch nicht, warum, und so kann ich doch Bertolt und den Chef“, ehrfürchtig wiederholte er: „den Chef nicht empfangen!“
„Wir helfen Ihnen schnell“, versprach ich, weil mir das angstbebende Häufchen Fett Leid tat. Er war nicht gerade ein guter Chef, aber er konnte es eben nicht besser. Wir räumten die Akten auf, nahmen einige immer noch unbearbeitete Fälle unauffällig an uns, verteilten den Rest ansprechend auf die diversen Körbe, knallten die Aktenschränke zu, stellten Kaffeetassen, Zucker und Milch bereit – Dietlinde stiftete sogar Kekse aus ihrem privaten Vorrat - , kochten anständigen Kaffee (meine Bohnen, frisch gemahlen), gingen mit einem feuchten Lappen über die sichtbaren Flächen, hängten den Vorhang wieder richtig auf, gossen die Blumen und klopften den Staub aus den beiden Besuchersesseln, auf denen wohl noch nie jemand gesessen hatte.
„So, sieht doch gar nicht so übel aus, oder?“
Gundler war den Tränen nahe. „Danke, vielen Dank. Aber hatte ich hier nicht vorhin viel mehr Vorgänge liegen?“
„Nein“, log Dietlinde sofort.
„Das sah nur wegen der Unordnung so aus“, sekundierte ich.
„Ja, meinen Sie? Na gut. Und wo ist jetzt diese Mauer-Sache?“
„Hier, Herr Gundler. Und hier ist auch Ihr Terminkalender!“ Ich schlug schnell die aktuelle Woche auf, die leider in völlig jungfräulichem Weiß prangte.
„Schreiben Sie noch was rein, wie sieht denn das sonst aus“, riet Dietlinde, dann verzogen wir uns und nahmen im Hinausgehen die Akten mit, die wir für uns erobert und eben versteckt hatten. Gundler, der eifrig seinen Terminplaner bekritzelte, merkte nichts davon.
Draußen ließen wir uns glücklich mit den geklauten Schadensfällen an unseren Schreibtischen nieder. Grasmeier las Zeitung, zwei Mädels unterhielten sich halblaut, der Gestik nach über die Frage, ob BHs mit oder ohne Bügel besser saßen, jemand starrte so konzentriert auf seinen Bildschirm und klickte so regelmäßig, dass man ihm das Spiel schon von weitem ansah... Wieso war die Union Securé (bescheuerter Name) eigentlich nicht längst pleite?
Die Beute von Gundlers Schreibtisch war etwas angestaubt, die Fälle hätten schon längst bearbeitet werden müssen. Das meiste war bloße Routine und schon fertig, als der Bote endlich kam und uns neue Arbeit brachte.
Gegen halb elf – Gundler hatte es sicher schon wieder geschafft, Chaos zu verbreiten – öffnete sich unsere Tür und Bertolt, heute in Rehbraun mit blassblauem Hemd und Krawatte Ton in Ton, beehrte uns. Wir nickten höflich, als er sich Gundlers Glaskabuff näherte. „Schick, unser Börtie“, murmelte Dietlinde.
„Mal sehen, wie das Original aussieht“, murmelte ich zurück – und siehe da: Dr. Praetorius himself! Heute in Graublau und mit einem professionellen Zeitplaner in der Hand.
Er ließ seinen Blick kurz über uns schweifen, registrierte unser korrektes, aber betont desinteressiertes Nicken, und strebte dann ebenfalls dem Glaskabuff zu. Wir arbeiteten im Prinzip weiter, aber in Wahrheit passten wir höllisch auf: Würde Gundler in Ohnmacht fallen? Hatte er die Unterlagen schon wieder verschlampt? War der Kaffee in der Thermoskanne noch heiß? Würde Gundler vor Aufregung jemanden mit Kaffee begießen (am liebsten Bertolt, den eitlen Affen)?
Also fertigte ich einen eindeutig getürkten Schadensfall unkonzentriert summarisch ab und verfasste einen entsprechenden Brief. Die entsprechenden, halb höflichen, halb versteckt drohenden Makros hatten wir ja alle auf der Festplatte.
Drinnen schien die Besprechung recht friedlich zu verlaufen, Gundler fuchtelte nicht mehr herum als sonst, hatte den Kaffee noch nicht umgeworfen, hielt den blauen Aktendeckel griffbereit – was nicht hieß, dass er im entscheidenden Moment wusste, wo er war – und schien sich noch recht tapfer zu halten. Bertolt zog die übliche arrogante Miene, Praetorius wirkte eher gelassen, leicht gelangweilt. Schließlich öffnete sich die Tür wieder. Na prima, Gundler lebte noch und es war vorbei.
Halt, nein – nur Bertolt kam heraus, sichtlich schmollend. Ich hätte zu gerne gewusst, was da passiert war, aber wenn man ab und an Arbeit vortäuschen musste, verpasste man natürlich leicht das Beste.
Ich rief die nächste Versicherungsnehmerin an, bei ihr fehlte nur eine Bestätigung, die in der Anlagenliste aber aufgeführt war. Sie versprach, den Beleg sofort bei mir vorbeizubringen und beschwerte sich auch nicht über unser langsames Arbeiten – die Meldung war von Mitte November!
Gundler und Praetorius unterhielten sich, Gundler zeigte wild in die Luft, Praetorius nickte ab und zu und schrieb sich dann etwas auf. „Man müsste das Kabuff mal verwanzen“, flüsterte ich Dietlinde zu.
„Au ja, dann haben wir alle Infos aus erster Hand. Kannst du so was?“
„Nicht wirklich. In der Schule haben wir´s mal versucht. Schade, dass das illegal ist. Was treiben die da drin eigentlich?“
„Sieht man doch. Praetorius fragt die Namen ab und Gundler zeigt ihm die Gesichter. Siehst du das nicht?“
„Nö“, musste ich zugeben, unwillkürlich beeindruckt. „Kannst du Lippenlesen?“
„Nein, aber logisch denken. Was soll das denn sonst sein?“
Praetorius nickte, sprang auf, drückte Gundler die Hand und durchquerte unser Büro. Ich tippte schnell am nächsten Brief weiter und schielte nur ganz vorsichtig nach ihm. Hatte der mich gerade angeguckt?
„Hat der uns gerade angeguckt?“, zischelte Dietlinde.
„Ich glaub´s auch. Weil wir diesen frechen Brief geschrieben haben. Aber das
musste ja wohl mal sein, oder?“
„Eben. Ich nehme nichts zurück.“
„Ich auch nicht!“ Wir machten High Five, obwohl jetzt eher Eine für alle, alle für eine angesagt gewesen wäre, aber das gab mit zwei Händen optisch nichts her.
Etwas gelangweilt arbeiteten wir die Reste ab. Die anderen im Büro hatten sich nicht gerührt, nicht den Hals verdreht, genau genommen auch nicht viel gearbeitet - waren die eigentlich schon tot? Oder Schaufensterpuppen? Der Obermotz – jedenfalls für den Privatversicherungsbereich ohne Kranken und Auto – kommt vorbei und die wachen nicht mal auf?
Doch, Grasmeier erhob sich in Zeitlupe, seufzte tief und schritt gemessen zum Kantinenplan. „Mhm, Gulasch mit Salzkartoffeln und Wirsing! Und Mousse au chocolat!“
„Das –e spricht man nicht mit“, brummte ich.
„Bitte?“
„Man sagt Muss, nicht Musse“, erklärte ich unlustig und kam mir vor wie Gundula. Grasmeier knurrte und setzte sich wieder hin; jetzt kam der Lokalteil dran. „Immer noch der selbe Pampfraß“, schimpfte ich. „Auch dieser Praetorius kann nicht hexen“, murmelte Dietlinde, „wart´s doch mal ab!“
Es war wirklich dieselbe Pampe, schwer, zerkocht und lähmend. Und die Salate waren seit Montag die gleichen! Heute konnte man überhaupt nur noch den Kopfsalat nehmen, der sah einigermaßen frisch aus. Kopfsalat und eine halbe Breze, das war sogar mir zu wenig – ich stellte das Tablett zurück und holte mir an dem Obststand auf der anderen Straßenseite ein Pfund Trauben und vom Bäcker eine Zehnkornsemmel. Das war doch wenigstens etwas Anständiges! Dietlinde guckte nachher allerdings so hungrig drein, dass ich ihr die Hälfte abgeben musste. Wir hatten die Trauben gerade fair geteilt, als der Bote hereinkam. Um diese Zeit? „Frau Landmann und Frau Schäfer sollten bitte zu Dr. Praetorius kommen.“
Mir fielen die Trauben aus der Hand; hastig sammelten wir sie wieder ein.
„Jetzt kriegen wir Stress“, flüsterte Dietlinde mir zu. „Soll er doch!“ Jetzt kam ich in kriegerische Stimmung. „Ich steh zu meiner Meinung!“
„Ich auch“ – aber das klang ein bisschen hohl. Wir klatschten die Trauben wieder auf den Teller und machten uns auf den Weg in den siebten Stock.
Schicker als bei uns – Teppichboden statt Plastikbelag, die Pflanzen waren gegossen: Ah, Hydrokultur, das war für uns wohl zu teuer?
Wir irrten ein bisschen herum, bis wir das Vorzimmer fanden. Ein Drachen hauste dort. „Was wollen Sie?“
„Schäfer und Landmann, Privatschaden Eins, Dr. Praetorius wollte uns sprechen“, entgegnete ich beleidigt. Wir trieben uns doch nicht zum Spaß hier herum!
Ich wurde mit einem strengen Blick gestraft, Dietlinde dagegen wurde freundlich gemustert – die sah ja auch nicht aus wie Pumuckl. Und einen Rock trug sie auch, genau genommen ein wadenlanges Jeanskleid. Bei Dietlinde war alles aus Jeansstoff, sogar die Umhängetasche. Ich dagegen war schon wieder grau in grau unterwegs, nur trug mein Sweatshirt heute eine unanständige Aufschrift, glücklicherweise auf Gälisch – Achims letzte Guinnesstour. Ich wusste, was der unaussprechliche Satz hieß, aber ich würde mich hüten! „Warten Sie dort drüben!“ Der Zeigefinger erinnerte an „Ab in dein Körbchen, Hasso!“ Ich verbiss mir ein Kichern und folgte Dietlinde in den Wartebereich.
Nach einigen Minuten schaute Praetorius aus seiner Tür. „Frau Treml, sind die beiden Damen – ah, gut. Frau Treml, warum lassen Sie meine Besucher unnötig warten?“ Frau Treml färbte sich unter ihrer goldblonden Dauerwelle rosafleckig und antwortete nicht.
„Kommen Sie bitte mit?“
Etwas beklommen folgten wir ihm in ein riesiges Büro, halb leer, nur ein großer Schreibtisch, penibel aufgeräumt, zwei Schränke und dazwischen ein Regal. Von dem Schreibtisch zwei Stühle für niedrige Lebensformen wie uns, dahinter ein Ledersessel. Keine Pflanzen, aber ein toller Blick über die Stadt.
„Setzen Sie sich doch bitte!“
Wir taten wie geheißen und kamen uns vor wie früher beim Schulleiter. Das konnte nichts Gutes werden, ich verlor allmählich auch allen Rebellionsgeist. „Was haben Sie heute Mittag gegessen?“, fragte er dann. Ich starrte ihn verblüfft an. Er hatte klare graue Augen, etwas heller als meine, die mehr schieferfarben waren.
„Kopfsalat. Und dann haben wir uns Trauben gekauft. Die wollten wir gerade teilen, als uns der Ruf ereilte.“
„Der Ruf?“
„Na, hierher, ins Allerheiligste.“ Ich verstummte erschrocken. Konnte ich denn nicht einmal meine Klappe halten? Praetorius lachte. „Tun Sie mir nicht zuviel der Ehre an, ich bin nicht der liebe Gott, nur der Stellvertreter.“
„Also der Papst?“
Dietlinde trat mich ans Schienbein. „Entschuldigung“, murmelte ich und starrte auf den blassgrauen Teppichboden.
„Wofür denn, wenn ich Ihnen eine solche Vorlage liefere? Nein, ich wollte mich bei Ihnen beiden bedanken. Ihr Brief war sehr aufschlussreich, und ab Januar werden in der Kantine andere Sitten einziehen, die Leiter der übrigen Abteilungen sind ganz meiner – Ihrer – Meinung. So beschneiden wir ja unnötig die Arbeitskraft unserer Mitarbeiter! Und gesund ist dieser Fraß auch nicht.“
„Wir haben Sie gestern in der Kantine gesehen“, platzte Dietlinde heraus.
„Ich weiß. Schließlich habe ich zumindest Frau Landmann schlecht übersehen können, oder?“
Er grinste frech und ich grinste versuchsweise zurück. „Und, haben Sie hinterher auch ein Nickerchen eingelegt?“ Dietlinde trat mich wieder. Sie hatte doch damit angefangen! „Nein, aber ich war knapp davor. Von der Wirkung abgesehen, war das Essen auch geschmacklich eine Zumutung.“
„Stimmt. Wenn wenigstens die Salate einigermaßen frisch wären, und wenn man nur noch alkoholfreies Bier ausschenken würde – ich meine, Bier am Mittag, da muss man ja einschlafen! Und Obst statt der ewigen Puddings, Kompott meinetwegen oder ein kleines Eis mit Früchten, Joghurt oder Quark...“ Mein Eifer erstarb schon wieder, aber nein: Praetorius schrieb sich das tatsächlich auf. „Sehr vernünftig. Man begegnet hier selten einem kritischen Geist – und jetzt gleich zweien!“
Dietlinde errötete sanft und sah anbetend drein. Verguckte sie sich jetzt in den? Kerle in dieser Position waren verheiratet, gerne mit der Tochter des Aufsichtsratsvorsitzenden. Zwei Kinder, eine Freundin, und sie treibt es mit dem Golftrainer. Lass das, Dietlinde!
„Tja, ich hatte mich nur bei Ihnen bedanken wollen.“ Er stand auf, und sofort sprangen wir auch auf. Wir waren schon fast wieder im Vorzimmer, da sprach er wieder. „Frau Landmann, mit Ihnen hätte ich noch etwas anderes zu besprechen – wenn Sie noch einen Moment Zeit haben?“
„Sicher.“
Dietlinde zog ein erschrockenes Gesicht und machte, dass sie wegkam. Ich konnte mir schon denken, was jetzt kam – die taktvolle Frage, ob meine Haarfarbe wirklich so sehr rot sein musste? Echt war das doch nicht, oder etwa doch? Konnte ich nicht etwas diskreter – dem Ansehen der Firma angemessener -? Jaja, das hatte Gundler schon stotternd versucht, und ich hatte es ignoriert, aber wenn sich der Papst persönlich einmischte, konnte ich wohl nicht umhin...
„Okay“, sagte ich also ergeben, „ich färb drüber. Zufrieden?“
„Was?“
„Na, es geht doch um meinen Pumucklkopf, oder?“
„Indirekt ja. Färben Sie das bloß nicht um, das ist perfekt.“
Ich schwankte und musste mich setzen. „Worum geht es dann?“
Praetorius stand auf und trat ans Fenster. Er spielte ein bisschen mit der Jalousieschnur herum, sah hinaus und drehte sich dann um, so dass ich im Gegenlicht nur noch seine Umrisse erkennen konnte.
„Das ist ein bisschen heikel...“
Lieber Himmel! Roch ich schlecht? Hatte ich einen großen Schadensfall vermasselt? Grasmeier verarscht und der war der Neffe vom Aufsichtsratsvorsitzenden? Wuchsen mir plötzlich Haare aus der Nase?
„Immer raus damit, es kann nicht halb so schlimm sein wie das, was ich mir jetzt einbilde! Was hab ich angestellt?“
„Sie haben gar nichts angestellt. Im Gegenteil, Sie scheinen mir – und Ihre Freundin auch – auf Ihren jetzigen Positionen etwas unterfordert zu sein.“
Das stimmte allerdings, aber wenn das heikel war - ?
„Wollen Sie uns feuern, weil wir überqualifiziert sind?“
„Großer Gott, sind Sie aber misstrauisch! Nein, es hat mit Ihrer Arbeit gar nichts zu tun.“
Also hatte mein Deo doch versagt! Musste der sich seine Trauerbotschaft derartig aus der Nase ziehen lassen? Ich beschränkte mich auf ein höflich fragendes Gesicht und dezent ungeduldiges Füßescharren.
„Ich bin sonst nicht so weitschweifig, aber ich habe Ihnen einen mehr als blöden Vorschlag zu machen, der – nein, ich glaube, ich lasse es lieber, es ist wirklich eine Schnapsidee.“
„Kommt nicht in Frage! Jetzt haben Sie mich neugierig gemacht, jetzt können Sie mich nicht so abspeisen.“
„Sie werden ablehnen.“
„Das wissen Sie doch noch gar nicht. Und wenn, sind Sie doch nicht schlimmer dran, als wenn Sie´s gar nicht versucht hätten. Los, ich verspreche, ich lache nicht. Oder nur ganz leise.“
Er grinste schief. „Was machen Sie an Weihnachten?“
„Keine Überstunden!“, entgegnete ich scharf.
„Nein, natürlich nicht – obwohl, in gewissem Sinne. Himmel, so habe ich seit dem Abitur nicht mehr gestottert! Ich meine – haben Sie über die Feiertage schon etwas vor? Ach, was frage ich, natürlich haben Sie schon was vor, entschuldigen Sie bitte.“
„Wie es der Zufall will, habe ich noch nichts vor. Meine liebe Familie fährt zum Skifahren und hat vergessen, mich rechtzeitig zu informieren, so dass ich keinen Urlaub habe. Und für zwei Tage fahre ich da nicht runter, das lohnt sich nicht.“
„Verständlich. Nun...“
„Darf ich raten? Sie fahren weg, mit Frau und Kinderchen, und brauchen jemanden, der das Haus hütet?“
„Nein, Unsinn. Das könnte ja wohl die Putzfrau machen. Und Frau und Kinderchen habe ich nicht, aber damit kommen wir dem Problem schon näher. Ich muss über die Feiertage zu meinen Eltern.“ Er seufzte.
„Und das ist so furchtbar?“
„Ziemlich. Sie haben sich in den Kopf gesetzt, dass ich heiraten soll. Warum ich, weiß ich auch nicht, ich habe noch zwei Brüder, die könnten doch auch dran glauben, aber nein, sie haben sich auf mich eingeschossen.“
Ich sah ihn ratlos an. Was sollte ich dabei tun? Wozu breitete er sein Privatleben vor mir aus? Als Papst?
„Und inwiefern kann ich Ihnen dabei helfen?“
„Kommen Sie mit und spielen Sie meine Freundin.“
Ich hielt mich im letzten Moment an der Schreibtischkante fest. „Was?“
Er seufzte wieder. „Meine Eltern haben da schon ein, zwei Kandidatinnen im Auge, und immer wenn ich sage, die sind nicht mein Geschmack, kommt dieses Totschlagargument Du hast ja auch keine andere!“
„Und ich soll jetzt die andere spielen? Aber wie lange soll das denn funktionieren? Ich meine, wir können natürlich einen prachtvollen Krach mit Schlussmachen und allen Schikanen inszenieren, aber dann geht der ganze Ärger doch bloß von vorne los! Das hilft doch auf Dauer nichts!“
„Doch. Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll, aber meine Eltern – wenn sie Sie sehen -“
„Ich soll sie erschrecken?“
„Nicht direkt. Ihnen nur zeigen, dass mein Geschmack so ganz, ganz anders ist als diese beiden tadellosen jungen Damen, die sie da für mich ausgegraben haben.“
„Ah ja – weil ich keine tadellose junge Dame bin...“