Herz des Südens - Billy Remie - E-Book
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Herz des Südens E-Book

Billy Remie

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Beschreibung

Verlassen und verraten von der eigenen Familie, seiner Heimat und seines Erbes beraubt, bleibt ihm nur die Flucht. Er ist ein Gigant, ein Südländer, ein Mann aus den Bergen. Zum Lord geboren, zum Regieren erzogen, kennt sein Herz nur eine einzige Sehnsucht: Über den Süden, seine geliebte Heimat, zu herrschen. Deshalb bereitet er sich darauf vor, sein Recht zurückzufordern. Sein einziger Verbündeter: Ein blutjunger Söldner, der ebenfalls vor seinen Feinden auf der Flucht ist. Von Anfang an fühlt sich der Gigant magisch angezogen von der exotischen Schönheit, die den anderen Mann umgibt. Und während sie wie Hunde durch eisige Winde und tiefe Wälder gejagt werden, wird aus ihrer notgedrungen Zweckgemeinschaft lodernde Begierde. Zwischen Gefahren und Geheimnissen entfacht jedoch eine Leidenschaft, die ihren Mut stählt. Doch scheint ihre Liebe unter keinem guten Omen zu stehen, denn der Gigant ist mit einem finsteren Fluch belegt, der jeden in seiner Nähe in Gefahr bringt, und auch der junge Söldner scheint nicht der zu sein, der er zu sein vorgibt. Hohe Mächte erwachen und versuchen, die beiden Gefährten auseinander zu reißen. Ihre Liebe scheint zum Scheitern verurteilt. Eine abenteuerliche Liebschaft und eine Entscheidung zwischen Heimat und Pflicht und der Liebe des Lebens.

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Billy Remie

Herz des Südens

Der letzte Gigant

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Vor-Vorwort

Prolog

Teil Eins - Der Pferdeherr

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Teil 2 – Der letzte Gigant

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Epilog

Nachwort

Impressum neobooks

Vor-Vorwort

»Schlussendlich war nichts so, wie es den Anschein hatte. Es begann mit Liebe, das schwöre ich. Alles was geschah, tat ich aus Liebe. Aus blinder und alles verzehrender Liebe. Ich musste es tun, vergib mir.«

Prolog

»Beschützt meinen Sohn!«

Ehvon stürzte aus seiner Kammer, als das Brüllen des Lords durch die Flure hallte. Seine Stoffsandalen rutschten beinahe auf dem glatten und dunklen Gestein der Festung aus, während er durch die Burg eilte.

Metall, das aus ledernen Scheiden gezogen wurde, sang das Lied des Todes, und das Klimpern schwerer Rüstungen erfüllte die Gänge.

Ehvon beschleunigte seinen Schritt, wobei er den schweren Stoff seiner weißen Robe anheben musste, um nicht über den Saum zu stolpern. Ein ekelerregendes Geräusch drang aus dem Schlafgemach des Lords. Es klang weich und nass, beinahe wie ein Fuß, der aus klebrigem Matsch gezogen wurde. Ein erstickter Laut folgte auf einen Schmerzensschrei.

Der Lord!

Als Ehvon endlich um die Ecke bog und durch die offene Tür der Gemächer seines Herrn blicken konnte, taumelte er erschrocken zurück. Er schlug die Hand vor den Mund, um nicht zu schreien.

Schwerter klirrten, als das Chaos in dem schmucklosen Raum ausbrach. Leibwächter gegen Leibwächter. Der Lord kniete mitten unter den Kämpfenden auf dem Boden, hielt sich den Bauch und krümmte sich. Blut floss aus einer Wunde in seinem Leib über seine zittrige Hand, seine Lippen färbten sich rot.

Vor ihm stand Zareth, der Bruder des Lords, und hielt ein Langmesser in der Faust. Von der Klinge tropfte rotes Blut zu Boden.

Flehentlich hob der Lord eine Hand, um seinen Bruder aufzuhalten, doch da erblickte er durch den Vorhang seines schneeweißen Haars Ehvon in der Tür. Seine Augen weiteten sich und er schrie ihm befehlend entgegen: »Rettet meinen Sohn! Bei den Göttern, rettet ihn!«

Der Verräter drehte sich um, seine dünnen Lippen waren noch schmäler als sonst, und das Licht aus den Flammen des offenen Kamins ließen seinen ohnehin schon spitzen Nasenzinken in seinem unscheinbaren Gesicht noch gewaltiger wirken. Man nannte ihn nicht umsonst hinter vorgehaltener Hand »Das Narrengesicht«. Doch Humor hatte der Bruder des Lords noch nie besessen, er war schon immer ein Griesgram gewesen. Allerdings hätte Ehvon es nicht für möglich gehalten, dass Zareth irgendwann im Stande wäre, Verrat an seinem eigenen Bruder zu verüben.

»Ehvon«, knurrte Zareth und drehte sich zu ihm um, die blutige Waffe auf ihn richtend. »Bleib hier, alter Freund …«

Doch Ehvon fuhr herum und eilte davon. Er hob die Robe dabei so hoch, dass man fast seinen alten Hintern sehen konnte, und flitzte durch die Flure wie ein junger Novize, der dem tadelnden Stock des Lehrmeisters entwichen wollte.

Zareths schrilles Lachen wehte ihm hinterher. »Seht ihn euch an! Zeigt uns seinen faltigen Arsch!« Die Leibwachen, die ihre Kameraden niedergestreckt hatten, lachten atemlos.

Während Ehvon über die Böden der Burg schlitterte, hörte er aus allen Winkeln und Zimmer Kampfgeräusche. Scharfe Klingen wurden gezogen, Männer grunzten und brüllten auf, Frauen und Mädchen rannten kreischend davon, als sei ihnen ein Dämon auf den Fersen.

Doch es waren einfache Männer mit einfachen Trieben, die ihnen nachjagten und grölend und lüstern lachten. Die Krieger warfen die Weiber dort wo sie sie zufassen bekamen zu Boden und nahmen sie an Ort und Stelle. Die Frauen schrien, die Mädchen weinten. Die Schändungen waren hart, gnadenlos und allein beim Anblick Übelkeit erregend.

Ehvon huschte durch all das Chaos hindurch, sprang über Blutlachen, die sich auf dem Boden der düsteren Eingangshalle gebildet hatten, und bahnte sich suchend und voller Angst einen Weg durch die Kämpfer. Bruder gegen Bruder. Die Götter würden erzürnt sein über diesen Verrat!

Er fand den Sohn des Lords dort, wo er ihn vermutet hatte.

Bei den Ställen kämpfte er Seite an Seite mit seinen gepanzerten Leibwächtern. Die Krieger seines Onkels mussten ihn kurz vor seinem Ausritt abgefangen haben.

Er war ein stolzer Mann, ein starker und großer Mann, der nicht leicht zu besiegen war, genau wie sein Vater in seinem Alter. Ehvon verspürte warmen Stolz durch sich hindurchfluten, hatte er zu ihm doch stets eine innige Beziehung gepflegt.

»Mein Lord!«, rief Ehvon.

Sein Herr sah hinauf zu dem Weg, auf dem Ehvon stand. Ein Gatter und der Sattelplatz trennten sie voneinander. Er musste einen Gegner abwehren und niederschlagen, ehe er sich erneut dem Priester zuwenden konnte.

»Lauft!«, rief Ehvon ihm zu. »Ihr müsst fliehen! Flieht!«

Doch der Sohn des Lords schüttelte wie erwartet trotzig seinen dunkelhaarigen Kopf. Er würde seine Burg niemals kampflos aufgeben, dafür hatte er zu lange darauf gewartet, sie endlich übernehmen zu dürfen. Fast sein ganzes Leben wartete er auf sein Erbe, da sein Vater für einen Menschen ungewöhnlich alt geworden war.

Bis der Lord schließlich seinem Bruder zum Opfer fallen musste, dachte Ehvon bedauernd.

»Bringt ihn weg von hier«, rief Ehvon stattdessen den beiden Leibwächtern zu. Er wusste, dass sein Herr nicht freiwillig fliehen würde. Niemals. »Befehl des Lords! Bringt ihn weg von hier!«

Sie zögerten nicht, den Erben an den Armen zu packen und ihn wegzuzerren. Ehvon sah traurig dabei zu, wie dieser sich wehren und befreien wollte. Doch als immer mehr in braunes Bärenleder gekleidete Krieger auf sie zuströmten, sah er sich gezwungen, seinen Leibwächtern zu folgen.

Sie sprangen auf ihre bereits gesattelten Pferde und schlugen wild die Fersen in die kräftigen Flanken der stämmigen Tiere. Der weiße Hengst des Erben bäumte sich noch einmal auf, ehe er durch eine Mauer sich aufgereihter Krieger hindurchgaloppierte und durch das Tor preschte, sodass der Matsch hochflog und den Feinden die Augen spritzte.

Ehvon legte sich die gefalteten Hände auf die Brust und schickte ein Stoßgebet an die Götter, auf dass sie seinen Herrn beschützen würden.

Teil Eins - Der Pferdeherr

»Sie können mir alles rauben. Mein Haus, mein Land, meine Heimat. Aber sie können mir nicht meinem Willen nehmen. Sie können mich verraten und mich verfolgen, aber sie können mir nicht meine Stärke rauben. Und ich werde für das kämpfen, was ich liebe, weil sie mir nicht meinen Stolz nehmen können.«

Kapitel 1

»Wir haben ihn im Wald verloren, Herr«, verkündete der Kommandant der Reiterei verlegen.

Zareth umklammerte seinen Becher, den er bereits zu seinen Lippen geführt hatte, mit solcher Wut, dass seine Knöchel weiß hervortraten. Er drehte sich zu dem Mann um und senkte dabei den Wein in seiner Hand. »Wie konnte das passieren?«

»Sie flohen in die Wälder, Herr.« Der Kommandant wagte bei seiner Erklärung nicht, Zareth in die Augen zu sehen. Er hatte zu viel Angst vor der Strafe, die ihn wegen seines Versagens erwarten konnte. »Wir verloren sie, als sie die Grenze des Westfrosts überquerten und dann den Nadelhang hinabgaloppierten. Wir verfolgten sie noch eine Weile, doch die dichtstehenden Bäume verschluckten sie im Zwielicht. Und zwei unserer Pferde brach der Abwärtsritt die Beine. Wir mussten sie töten und haben sie für die Wölfe liegen lassen.«

Zareth schickte ihn mit einer ungehaltenen Handbewegung nach draußen. So gerne er auch jemanden dafür verantwortlich gemacht hätte, es wäre seiner Macht abträglich, wenn er jene hinrichten ließe, die ihm treu bei seinem Verrat beigestanden hatten. Der Kommandant verneigte sich ehrerbietig und wandte sich dann ab.

»Ich wette, du hast, was du wolltest. Das muss dir ja unheimlich Genugtuung verschaffen.« Zareth drehte sich zu dem Priester um, der gefesselt auf einem Stuhl saß und ihm gelassen entgegenblickte.

»Damit werdet Ihr nicht durchkommen, Zareth«, schwor Ehvon ihm. Der alte Mann war seitjeher seinem Bruder treu ergeben gewesen. Er war eine Belastung, eine Schwachstelle. »Der König wird davon erfahren und Euch für Euer Verbrechen zur Rechenschaft ziehen.«

Zareth lächelte müde und ging um den Tisch seines Bruders herum. Die Götter mögen dem alten, armen Narren gnädig sein. »Der König würde wohl kaum einen Krieg mit mir riskieren«, warf Zareth ein und setzte sich in den gepolsterten Stuhl seines Bruders. »Diese Burg ist uneinnehmbar, Ehvon. Der König wird nicht riskieren, vor meinen Toren zu scheitern. Dann stünde es mir vielleicht sogar frei, ihn herauszufordern.«

Ehvon sah ihn entgeistert an. »Ihr seid größenwahnsinnig.«

Zareth lächelte ihn humorlos an. »Wohlmöglich. Aber das tut nichts zur Sache. Ich werde natürlich mit dem König in Kontakt treten und einige Einzelheiten mit ihm besprechen müssen. Aber seit unbesorgt, Ehvon, alter Freund, es wird zu keinem Kampf kommen.«

Ehvon verzog angewidert das Gesicht. »Ihr seid verachtenswert! Die Götter werden über Euch richten!«

»Ich fürchte Ihren Zorn nicht«, gab Zareth kalt zurück. »Und Ihr seid ein Narr, wenn Ihr glaubt, die Götter würden sich einen Dreck um uns scheren.« Er ignorierte für einen Moment den giftigen Blick aus den alten Augen des Priesters und pfiff nach seinem treuen Gefolgsmann Gigdion, der sogleich die Tür öffnete und eintrat.

Er war ein Bulle von einem Mann. Groß und grobschlächtig. Zahlreiche Narben schlängelten sich über sein Gesicht, tiefe Krater zogen sich über seine Wangen. Sein schwarzes Haar war fettig und im Nacken zusammengebunden, graue Strähnen durchzogen es wie ein silberner Fluss ein grünes Tal.

»Mein Neffe ist verschwunden, Gigdion«, sagte Zareth scheinbar besorgt. »Wir wollen doch nicht, dass er sich zum König verläuft, richtig?«

Gigdion nickte, als habe er einen Befehl erhalten. Zareth lächelte er zufrieden. Gigdion wandte sich wieder ab und verschwand.

Fassungslos fuhr Ehvon zu Zareth herum. »Ihr wollt sogar Euren eigenen Neffen töten? Und dann schickt Ihr auch noch einen Wilden nach ihm? Einen Heiden!«

»Ich würde anders darüber denken, wäre mein Neffe noch ein Bursche«, stimmte Zareth dem schockierten Priester zu. »Aber seine Jugend liegt fast so weit zurück wie meine eigene. Also kann er auch wie ein Mann gejagt und getötet werden.« Zareth seufzte gespielt bedauernd und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Und was machen wir nun mit dir, alter Freund?«

Ehvon ließ kein Fünkchen Furcht erkennen, er lächelte sogar ein wenig. »Ich bin ein Diener der Götter und ein Diener der Kirche. Wenn Ihr mich tötet, Zareth, wird die Kirche Eure Tore einrennen. Und sie hat weit mehr Anhänger als Ihr oder der König. Also werdet Ihr wohl meine Fesseln lösen müssen, damit ich mich wieder meiner Arbeit zuwenden kann. Die Götter lässt man nicht warten.«

Zareth verdrehte genervt die Augen, doch in einem hatte Ehvon recht: er konnte ihn nicht töten.

»Alsdann«, Zareth erhob sich aus seinem Stuhl, zückte das Langmesser, mit dem er seinen Bruder ermordet hatte, und dessen Blut sogar noch auf dem Boden eintrocknete, und schnitt Ehvons Fesseln durch. »Geh, Priester. Finde dich im Lichttempel von Südspitze bei deinen Brüdern ein. Aber sei dir dessen gewiss«, warnte Zareth und lehnte sich mit einem scharfen Flüstern zu dem Priester hinab, »dass ich dich im Auge behalten werde. Also denk nicht einmal daran, dich gegen mich zu verbünden.«

Kapitel 2

»Das ist alles ein großer Haufen Scheiße!«

Der Bote zuckte unter dem barschen Ausruf zurück, sodass man für einen Moment wahrlich Mitleid mit dem zarten Kerlchen haben konnte. Er sah sich nervös zu beiden Seiten der engen Gasse um, als fürchtete er, jemand könnte sie gehört haben. Doch die Gauner, die sich unweit von ihnen entfernt in den Straßen tummelten, nahmen nicht einmal Notiz von ihnen. Allerhöchstens interessierte sie die feine und schillernde Seide der Kleidung, die der Bote des Königs am Leib trug. Ihm schien der gleiche Gedanke in den Sinn zu kommen, denn er zog den langen Wollumhang zusammen.

Lord Silberlöwe fuhr sich frustriert durch das kinnlange, dunkle Haar und zerknüllte die Botschaft. »Ist das alles, was der König dazu zu sagen hat?«

Der Bote neigte entschuldigend sein gelbes Haupt. »Ich überbringe nur die Nachricht, mein Lord. Es tut mir leid. Der König kann Euch nicht mehr anbieten.«

»Ist ihm bewusst, dass mein Onkel damit rechnet?« Er sah den Boten wütend an, als hätte dieser die Nachricht selbst verfasst. »Sobald ich einen Fuß aus dieser Stadt setze, bin ich ein toter Mann! Wie soll ich die Hauptstadt erreichen, ohne mein Leben zu gefährden? Und was soll das überhaupt bedeuten, er braucht mehr Informationen? Mein Vater wurde von meinem Onkel ermordet und übernahm unsere Burg und unsere Ländereien – unrechtmäßig! Ich will mich nicht mit dem König unterhalten, ich will, dass er mir seine Unterstützung zusichert!«

Der Bote neigte noch tiefer sein Haupt, sodass seine makellose Stirn beinahe den Boden vor seinen Füßen berührte. »Aber Herr, Ihr könnt Euch sicher ausmalen, dass der König wohl kaum einem Treffen mit Euch zustimmen kann, solang … solang Ihr hier in dieser … dieser Stadt verweilt.«

Natürlich war ihm der Gedanke schon von Anfang an gekommen. Außerdem könnte jeder seinen Namen und Titel benutzen, um sich an den König zu wenden. Ein persönliches Gespräch war unablässig, bevor er mit Unterstützung rechnen konnte, jedoch war der König nicht willens, die Schwarze Stadt zu betreten. Und Lord Silberlöwe war nicht willens, sie zu verlassen.

Hier konnte er zwischen den geschwärzten, morschen und eingefallenen Häusern, unter all den Halunken untertauchen. An jenem Ort würde sein Onkel ihn am allerwenigsten erwarten, weshalb er hier zuletzt suchen würde. Trotzdem lief ihm die Zeit davon.

Mehrere Wochen hatte er gebraucht, um herzukommen. Scharf waren sie geritten, er und seine Leibwächter, bis ihre Pferde vor Erschöpfung zitterten. In der Stadt trafen sie sich dann mit Tranis, einem Spion und engen Vertrauten seines Hauses. Weitere Wochen waren vergangen, in jenen sie sich wie Ratten versteckt hatten und darauf warteten, dass er, Lord Silberlöwe, eine Antwort aus der Hauptstadt erhielt, nachdem er einen Botenvogel losgeschickt hatte.

Die Antwort ernüchterte ihn.

Er packte den Boten in seiner ihm eigentümlichen rauen Art an seinem Umhang, drehte ihn um und beförderte ihn mit dem Rücken an die Wand. »Sprich dem König meinen Dank aus – und lass mein Gefluche außenvor. Ich werde versuchen, ihn baldmöglichst zu treffen. Er soll mir derweil den Gefallen erweisen, jedes Ersuchen seitens meines Onkels zu ignorieren.«

Der Bote zitterte zwar wegen der groben Behandlung, doch seine Miene hellte sich wegen dieser überraschenden Einsicht auf. Er nickte eifrig. »Ich werde mich umgehend auf den Weg begeben.«

»Ja …« Der Silberlöwe seufzte und ließ den Boten davoneilen. Er sah dem Mann belustigt nach, der gar nicht schnell genug aus der Stadt verschwinden konnte.

Aber wer würde ihm sein Unbehagen verübeln? Diese Stadt war die Hochburg aller Gesetzlosen, und es hatte eine Zeit gegeben, als auch Lord Silberlöwe sich lieber Gift einverleibt hätte, als auch nur in ihre Nähe zu kommen. Und doch bot sie ihm nun den Schutz, den er in keiner anderen Stadt gewährt bekommen hätte.

Er war der Sohn eines hohen Lords, viele Menschen kannten sein Gesicht, viele würden ihn wiedererkennen, wodurch die Schergen seines Onkels ihn leicht verfolgen konnten.

Er runzelte die Stirn und sah sich in der stillen Seitengasse um. Eskern, Tranis und Ilstat waren schon ziemlich lange fort, dabei sollten sie eigentlich die Eingänge der Gasse bewachen, doch jetzt konnte er sie nirgendwo entdecken.

Unbehagen breitete sich in ihm aus, als er ein paar Schritte ging und zu der angrenzenden Straße starrte. Hinter ihm befand sich der überfüllte Markt, doch vor ihm lag nur das stille und düstere Wohnviertel, aus dem der süßliche Gestank verwesender Leiber gekrochen kam.

Ein Schatten tummelte sich in einem Hauseingang und zog sich ein Stück in die Dunkelheit zurück, als er bemerkt wurde.

Groß und schlank war er, mehr konnte Lord Silberlöwe nicht erkennen.

Er drehte sich um und ging zurück, bevor er noch überfallen wurde. Nicht, dass er sich nicht wehren konnte, aber er wollte es auch nicht darauf ankommen lassen. Er hatte ohnehin kein Silber mehr bei sich, die letzten Taler hatten für das Frühstück den Besitzer gewechselt. Nun war er zu allem Überfluss auch noch mittellos. Und Eskern, Tranis und Ilstat würden mit ihm hungern müssen, da er ihren Sold erst wieder zahlen konnte, wenn er seine Burg von Zareth zurückerobert hatte.

Doch zu viert konnten sie wohl kaum eine Burg stürmen, die uneinnehmbar galt. Sie brauchten dringend Verbündete. Gute, starke Verbündete.

Letztlich lag ihre ganze Hoffnung bei der Unterstützung Königs.

Als er auf die überfüllte Markstraße einbiegen wollte, sprang ihm plötzlich ein Mann in den Weg und hielt ihn auf. Erschrocken wich er zurück, doch da erkannte er ihn erleichtert.

»Eskern! Verdammt, du hast mich erschreckt«, maulte er. Sie waren doch keine Kinder mehr, was sollte also dieser Unsinn? »Wo sind Ilstat und Tranis? Wir sollten uns langsam überlegen, wie wir zu Silber kommen.« Ihm stand nicht gerade der Sinn danach, Ställe auszumisten oder Teller in irgendeiner Küche zu waschen, aber was getan werden musste, musste eben getan werden. Er machte sich lieber die Finger schmutzig, als zu hungern oder seine Kameraden hungern zu lassen.

»Nun …« Eskern ging auf ihn zu und schien ihn wieder in die Gasse zurücktreiben zu wollen. »Bevor Tranis zu uns stieß, wurde ihm ein Angebot unterbreitet, das er nicht ausschlagen konnte. Und er setzte mich und Ilstat gerade darüber in Kenntnis. Wenn wir ihm helfen, will er uns reich machen.«

Lord Silberlöwe stockte argwöhnisch. »Ach …?« Seine Hand wanderte zu seinem Schwert, dessen Heft über seiner linken Schulter herausragte.

»Tut uns leid, Lord Silberlöwe«, hörte er auch schon Ilstats raue Stimme hinter sich erklingen.

»Ja«, grollte er seine beiden einstigen Freunde an. »Mir auch.«

Eskern machte den ersten Schritt. Er zog sein Schwert, dessen metallisches Lied durch die stille Gasse schwebte. Die Hymne des Verrats.

Der Silberlöwe zog ebenfalls blank und wartete gar nicht erst ab, bis auch Ilstat seine Waffe in den Händen hielt. Er wirbelte halb herum, trat nach den Knöcheln seiner Leibwache und duckte sich unter Eskerns ersten Hieb hinweg. Er wich zur Seite aus und wollte an Eskern vorbei, um beide Angreifer vor sich zu haben, doch Eskern hatte es kommen sehen, denn er griff nach seinem Arm und erwischte ihn an der Schulter.

Der Silberlöwe fuhr herum und wollte mit dem Schwert ausholen, als Eskern ihm den Knauf seiner Klinge schon auf das Handgelenk schlug.

Aufbrüllend ließ Lord Silberlöwe das Schwert fallen, der Schmerz durchzuckte und lähmte ihn.

Eskern riss ihn herum und stieß ihn zu Ilstat, der seine Balance wiedergefunden hatte und das Schwert hob, um seinen Lord aufzuspießen. Genau in jenem Moment wurde Ilstat jedoch von einem großen Schatten gerammt, der wie aus dem Nichts auftauchte.

Lord Silberlöwe taumelte durch die Leere. Wo eben noch Ilstat gestanden hatte, war nur noch Luft. Er kam hart auf Händen und Knien auf, ohne sich überhaupt richtig bewusst zu sein, wie ihm das hatte widerfahren können.

Er hatte sein Schwert verloren? Er hatte noch nie sein Schwert verloren! Nicht nachdem er die Prüfung des Bären gemeistert und zum Mann geworden war. Und das war wahrlich schon eine gefühlte Ewigkeit her.

Das hatte er alles Zareth zu verdanken! Wegen des Verrats seines Onkels war er derart ohnmächtig vor Wut, dass er nicht einmal mehr kämpfen konnte. Und dann auch noch Eskern und Ilstat! Er war mit den beiden aufgewachsen, hatte sie immer wie Brüder behandelt, aber jetzt verrieten sie ihn ohne jegliches Schamgefühl für eine Handvoll Silber, oder was auch immer Zareths Schergen ihnen sonst noch geboten haben mochten.

Sie sind hier, stellte er fest, hier in der Stadt. Sie hatten ihn gefunden, weil sie Tranis vermutlich schon vor dem Verrat bezahlt hatten. Wut und Furcht vermischten sich zu einem tödlichen Sturm in seinem Inneren, doch sein Körper war seltsam betäubt. Er war nicht in der Lage, aufzustehen. Wenn er es versuchte, wurde ihm schwindelig.

Hatte er sich den Kopf angeschlagen? Er konnte sich jedenfalls nicht daran erinnern, und doch drehte sich alles, als würde die Welt schwanken. Plötzlich wurde ihm übel und er warf sich zur Seite, übergab sich in die dunkle, nasse Gasse.

Er hörte den Kampflärm nur gedämpft, trotzdem blickte er verwundert auf.

Beinahe hielt er es für einen Traum, einen albernen Traum, der sich verlangsamt vor ihm abspielte, als führten die beteiligten Personen ein Bühnenstück für den langsamen Verstand eines Tattergreises auf.

Ein junger Mann hielt Eskern und Ilstat von ihm fern. Er war von katzenhafter Gewandtheit, wie er ihren Schwerthieben und Stichen auswich oder sie parierte, aber nie weit von ihnen Abstand nahm, sodass er ihnen immer weiter zusetzen konnte, und sie keine Gelegenheit bekamen, zu ihrem eigenetlichen Ziel durchzudringen.

Mehr Schritte näherten sich. Schwere Schritte. Klackernde Eisenpanzerrüstungen mischten sich in den Kampf ein – Tranis und Zareths Gefolgsmänner – doch der Fremde kämpfte unermüdlich weiter. Er hatte einen Vorteil, er kämpfte nicht wie ein Ritter, er besaß keine Ehre. Ein Meuchler vielleicht, oder ein Assassine. Die Krieger kannten einen solchen Feind nicht, er war zu schnell für sie, zu unberechenbar. Er warf ihnen Dreck – Geröll aus den brüchigen Hauswänden, die ihn umgaben – in die Augen. Wie eine stürmische Böe glitt er durch die Angreifer, schlitzte und hakte, Blut beschrieb seinen Weg.

Lord Silberlöwe sah ungläubig dabei zu, wie der junge Mann Tritte und Schläge verteilte und mit seiner kurzen Klinge – sie glich mehr einem Messer – Eskern das Schwert aus der Hand entwand. Dann wirbelte er herum, lief eine Wand hoch, drehte sich in der Luft und traf mit beiden Füßen einen von Zareths Männern am Kopf. Lord Silberlöwes kleiner Retter landete behände auf den Füßen und schlug sofort nach dem nächsten Angreifer. Er wehrte einen Schwertstreich ab und lenkte ihn an sich vorbei, schlug mit dem Knauf seiner Dolchklinge Tranis gegen den Kopf, dass sein Helm davonflog, und fiel ihn mit Zähnen und Klauen an, biss ihm das Ohr ab und schickte ihn mit einem raschen Schnitt über die Kehle in die Nachwelt. Anschließend schlitterte er über den Boden zwischen den anderen beiden gepanzerten Rittern hindurch, hob Eskerns Schwert auf, wonach dieser sich gerade bücken wollte, und trieb es mit einer einzigen, fließenden Aufwärtsbewegung in Eskerns Brust.

Er hielt sich nicht weiter mit diesem auf, ließ das Schwert stecken, woraufhin Eskern sterbend umkippte, und sprang auf die Füße. Zwei Ritter attackierten ihn noch, während Ilstat die Gelegenheit nutzte und auf sein Ziel losging.

Lord Silberlöwe sah ihm hasserfüllt entgegen und versuchte, sich aufzurappeln, doch der Boden unter seinen Füßen schien immer noch zu schwanken, als stünde er auf einem wellenbewegten Floß.

Oder als sei er sturzbetrunken.

Es gelang ihm nicht, auf die Beine zu kommen, weshalb er recht erbärmlich über den Boden von seinem Feind davonkroch.

Ilstat grinste hämisch und hob das Schwert für einen Überkopfschlag, als ihm das Grinsen plötzlich auf dem Gesicht gefror. Etwas durchstieß seine Brust und ließ einen warmen Blutregen auf Lord Silberlöwe rieseln.

Der Angreifer zog die Klinge heraus, Ilstat sackte auf die Knie und kippte zur Seite um. Er zuckte noch einige Male, verlor aber den Todeskampf.

Dann war es vorbei.

Schwer atmend und blutüberströmt stand der Fremde vor ihm, eine scharfkantige Gestalt von schlanker Anmut, die ein grausiges Bild der Gewalt abgab. Seinen leicht zusammengekniffenen Augen hing ein verwegener Schleier an. Sein Schädel war an den Seiten bis hinab auf die blanke Haut kahlgeschoren, das rabenschwarze Deckhaar trug er gerade lang genug, um es auf dem Hinterkopf zusammen zu binden, der Zopf war recht kurz und wie eine Palme gefächert.

In ihrem Königreich war es Sitte, den Jungen die Haare abzuschneiden, wenn sie zum Mann wurden, dieser Bursche schien sie wieder wachsen zu lassen. Er konnte demnach nicht besonders alt sein. Vielleicht siebzehn oder achtzehn Winter. Seine Wangen waren glatt wie der Popo eines Säuglings, doch aus seinem Kinn sprossen bereits schwarze Haare. Das kleine Bärtchen erinnerte an einen Ziegenbock.

Einen wahrlich attraktiven Ziegenbock.

Eine unheimliche Stille legte sich in die finstere Gasse, während sie sich ansahen.

»Meinen besten Dank, Junge.« Lord Silberlöwe versuchte, aufzustehen.

»Ich bin schon lange kein Junge mehr, alter Mann.« Der Fremde kam auf ihn zu und reichte ihm die Hand. »Ihr schuldet mir übrigens einen Beutel Silber.«

Schnaubend schlug er in die blutgetränkte Hand ein und ließ sich von dem jungen Mann auf die Beine helfen. »Ich habe nicht um Eure Hilfe gebeten.« Er schwankte noch, hielt sich aber aufrecht.

»Aber ohne mich wäret Ihr jetzt tot.« Der Fremde grinste ob seines gerissenen Konters.

Lord Silberlöwe betrachtete ihn eingehend. Er war jung, gewiss, aber in seinen stechendgrünen Augen lag eine Gewitztheit, die ihn umgehend in ihren Bann zog. Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus, und nach einem flüchtig aufflammenden Argwohn, lächelte der Jüngere zurück.

»Ich trage leider keine Taler bei mir«, entschuldigte sich Lord Silberlöwe, »aber wenn Ihr mir helfen könnt, werde ich Euch reich belohnen, sobald ich meine Ländereien zurückerobert habe.«

Der Fremde betrachtete ihn geringschätzig, während er sich die schmutzigen Hände an den Umhängen der Leichen abwischte. »Wobei helfen?«

»Zunächst bräuchte ich jemanden, der mich bis zum Morgengrauen beschützt.«

»Ja, mir scheint, als hättet Ihr ein paar Freunde verärgert.« Er drehte sich hin und her und sah die Leichen an, die er zu verschulden hatte. Es schien ihn nicht zu kümmern. Und seine kalte, berechnende Art imponierte Lord Silberlöwe umgehend. Mit Weicheiern hätte er nichts anfangen können.

»Eben deshalb«, konterte er.

Ein Moment verstrich, während der Fremde ihn wieder mit gesunder Skepsis betrachtete. Schließlich musterte er ihn noch einmal von Kopf bis Fuß und erfasste deutlich seine massige Statur. Er verdrehte die Augen, als habe man ihn Tagelang überredet, einen Streich mitzuspielen, und sackte ein Stück in sich zusammen, als wolle er zeigen, dass er kleinbeigab.

»Wer seid Ihr eigentlich?«, wollte er wissen.

»Man nennt mich den Silberlöwen. Oder besser gesagt: Lord Silberlöwe.«

Der Fremde gab einen zynischen Laut von sich. »Großartig. Mich nennt man den Vagabunden. Den Dieb. Den Nichtsnutz. Den Bastard«, zählte er auf. Dann lächelte er wieder auf eine geradezu ironische Art. Frech. Spöttisch. Schief. »Habt Ihr auch einen Namen? Ich wüsste gern, wer mir einen vollen Sack Silber schuldet.«

Bei dem Wort Sack, packte er sich beherzt in den Schritt und lachte schmutzig.

»Mein Name ist Rahff«, gab Lord Silberlöwe zähneknirschend zu. Der Verrat seiner Freunde hatte ihn erkennen lassen, dass er von nun an vorsichtig seinen Namen verwenden sollte. »Wahrer Erbe der Schwarzfelsburg, zu Euren Diensten.«

»Lasst gut sein, ich benötige keiner Eurer Dienste.«

Lord Silberlöwe ließ die Schultern hängen. »Das sagt man so. Ich bin Rahff, Sohn des Lord Rahff Youri aus dem Schwarzfelsgebirge. Achter seines Namens.«

Der Fremde schien nicht zu wissen, wer er war. Oder es interessierte ihn schlichtweg nicht. Er zuckte gleichgültig mit den Schultern. »Schön für Euch.«

»Und wer seid Ihr?«, fragte Lord Silberlöwe wirklich höchst interessiert. Er schmunzelte und machte einen Schritt auf sein wahrlich anziehenden Gegenüber zu. »Ich wüsste gern, wem ich einen vollen Sack schulde.«

Bei dem Wort Sack ahmte er die Geste des Fremden nach.

Der Jüngere grinste verschmitzt, dabei blitzten lange und messerscharfe Fänge auf. »Ich bin Desiderius. Der Sohn einer Hure.«

Kapitel 3

Mit hochgezogenen Augenbrauen beobachtete er seinen Gegenüber.

Dieser Mann sah nicht nur aus wie ein Tier, er fraß auch wie eines.

Und diese Tatsache stellte ausgerechnet ein Dieb und Vagabund fest, der tagtäglich mit Männern wie ein wilder Hund um sein Essen kämpfen musste.

Dieser Silberlöwe, wie er sich selbst betitelte, inhalierte förmlich die wässrige Rübensuppe, die Desiderius ihm gekauft hatte.

»Ihr müsst hungrig sein.« Es war nicht zu übersehen…

Der Fremde hielt mit dem Holzlöffel vor seinem Mund inne und starrte über die Schüssel hinweg Desiderius finster an. Er hatte wohl herausgehört, dass dies kein Ausdruck der Besorgnis gewesen war. Seine vollen Lippen glänzten warm im Kerzenschein unter der Kapuze seines Mantels hervor, die er auf Desiderius` Rat hin hochgezogen hatte.

Es war klüger, wenn vorerst niemand Lord Silberlöwen erkannte. Auf einen weiteren Kampf konnte Desiderius wahrlich verzichten, ihm taten immer noch die Gelenke weh. Es war gar nicht so leicht, gegen Ritter zu anzutreten. Glücklicherweise waren sie recht langsam und ziemlich überrascht von ihm gewesen. Ansonsten wäre der ganze Spaß wirklich übel für ihn ausgegangen.

Suppe tropfte von dem wulstigen Mund seines neuen Bekannten zurück in die winzige Tonschale, die angesichts der Statur des Mannes niemals ausreichen würde, um ihn mit genügend Nahrung zu versorgen.

»Du kannst mich duzen.«

Desiderius schnaubte mit einem schiefen Lächeln. »Das entscheide ich immer noch selbst.« Ihm war jedoch nicht entgangen, dass Rahff von der höflichen Anrede in ein freundschaftliches »Du« gewechselt war, als Desiderius ihn auf einen Becher Wein einlud. Gebirgsmenschen waren wirklich leicht zu gewinnen. Gib ihnen was zu Saufen, und du hast einen Freund fürs Leben, so sagt man.

Desiderius war schwerer zu überzeugen. Er wahrte vorerst einen gewissen Abstand.

Nachdem Rahff sicher war, dass Desiderius nichts mehr dazu sagen würde, aß er weiter. Er hielt sich nicht mit Förmlichkeiten auf und schlang die Suppe ungeniert in sich rein.

Desiderius konnte nicht aufhören, ihn anzustarren. Er war unter Männern aus dem Volk der Menschen aufgewachsen, aber darunter waren keine aus dem südlichen Gebirge gewesen. Alle Geschichten über ihre Größe erwiesen sich als wahr. Diese Männer waren Riesen! Kolosse! Vor ihm saß ein Gigant, sodass er sich um die knacksende Bank der dunklen Schenke sorgte, auf jener Rahff saß. Die gesamte, zwielichtige Absteige, in der sie sich eingefunden hatten, schien zu klein für diesen Mann. Er musste sogar beim Essen geduckt sitzen, weil sein Kopf sonst zwischen zwei morschen Deckenbalken verschwunden wäre.

Dabei war Desiderius keineswegs klein, im Gegenteil, für sein Volk – die langlebigen Luzianer – war er recht hochgewachsen. Aber Rahff übertraf ihn um mehrere Kopflängen.

Erstaunlich.

Und beunruhigend, wenn man ihn sich zum Gegner machte.

Noch ein Grund mehr, ihm sein Gehör zu schenken. Es konnte schließlich nicht schaden, in der Schuld eines Giganten zu stehen.

Doch wenn Desiderius ehrlich war, konnte er sich selbst nicht erklären, was ihn zu seiner ersten und wohl auch letzten großen Tat aus Nächstenliebe getrieben hatte. Er war einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen.

Dabei hatte Desiderius lediglich den hageren Mann in dem schicken Umhang verfolgt, der sich mit dem Silberlöwen in einer dunklen Gasse getroffen hatte. Desiderius war darauf aus gewesen, den Kleineren zu überfallen, sofern dieser allein weiter gehen würde, weshalb er gewartet hatte. Der unbewaffnete Mann wäre leichte Beute gewesen, hätte Desiderius der Anblick des Giganten nicht derart fasziniert, dass er lieber diesen beobachtete, statt gleich der leichten Beute nachzujagen. Deshalb hatte er mitbekommen, wie Rahff angegriffen wurde, und aus einem reinen Bauchgefühl heraus, hatte er diesem … diesem Bären aus der Patsche geholfen.

Bär, genau! Es traf ziemlich deutlich die Statur und das Auftreten Rahffs. Groß. Mächtig. Bärig.

Auch jetzt noch konnte Desiderius nicht die Augen von ihm abwenden, obwohl er instinktiv spürte, dass der Kerl Ärger bedeutete.

Das Unglück haftete an dem Giganten, wie die Motte, die um die heiße Flamme der Kerze herumschwirrte, die auf ihrem Tisch stand und sie sanft beleuchtete.

Rahff war unübertrieben groß und breit, wie ein Berg. Die massiven Muskeln der Arme und Brust konnten nicht unter all den Schichten aus Bärenleder, Pumapelzen und schwarzer Wolle verschwinden, die er am Leibe trug. Eine hübsche Rüstung hatte er an, dunkel und robust, dick und warm für kalte Tage. Die Schultern besaßen polierte Eisenplatten, ebenso seine Garmaschen, die bei jeder Bewegung leise klimperten. Er trug einen beschlagenen Rundschild mit Stahlbuckel auf dem Rücken, das lange Heft eines Zweihänders ragte über seiner linken Schulter empor, und an seiner Hüfte baumelte eine runenverzierte Axt.

Alles an ihm schrie heraus, dass er ein Krieger war. Von Kopf bis Fuß. Es stand ihm sogar deutlich auf die kantigen Züge geschrieben. Die einzig weichen Gegebenheiten in seinem Gesicht waren seine vollen Lippen, die blass aus einem dichten, dunklen Bartschatten heraus schimmerten, und die dunkelbraunen, dicken Haarlocken, die seine breite Stirn kaschierten und im Widerschein der Kerze rötlich schimmerten. In seinen honigbraunen Augen lauerte eine Kampferfahrung und Rachelust, die sogar einen gestandenen Gauner wie Desiderius den Atem stocken ließen.

Und noch mehr, er bekam eine Gänsehaut. Aber keine der unangenehmen Sorte.

Es wäre doch eine Schande gewesen, ein solches Prachtexemplar von einem Giganten sterben zu lassen, hinterrücks abgestochen von den eigenen Leuten, in den Gassen der Schwarzen Stadt, Hochburg der Gauner, wo er wochenlang vor sich hin gestunken hätte, bis er letztlich über die Klippen in das Tobende Meer geworfen und für immer verschwunden wäre.

Desiderius liebte sein Zuhause bedingungslos, aber Rahff hatte hier gewiss nichts verloren, wenn er sein Leben behalten wollte. Dieser verkommene Ort, die Violetten Küsten – ein stürmischer, kalter Küstenabschnitt Nohvas, der immerwährend nach salziger Seeluft roch und schmeckte – war die einzige Zuflucht, die Desiderius und Seinesgleichen kannten, weshalb es sofort auffiel, wenn sich Fremde hierher verirrten. Vor allem, wenn sie blaublütig waren.

Es war dem Silberlöwen leider recht deutlich anzusehen, dass er keiner von ihnen war. Und offensichtlich wollte er es auch nicht sein, wenn Desiderius ihn richtig verstanden hatte.

»Euer Onkel hat also Euren Vater ermordet und sich Eure Burg unter den Nagel gerissen«, wiederholte Desiderius das, was er aus der Unterhaltung mit Rahff entnommen hatte.

Der bärige Gigant nickte lediglich, er war zu sehr mit dem Essen beschäftigt, um zu antworten.

Desiderius musterte das Gesicht unter dem Umhang, einige dunkle Strähnen verhingen die finstere Miene darunter, trotzdem waren die tiefen Lachgrübchen und die Krähenfüße in den Augenwinkeln schwerlich zu übersehen. Silberne Strähne durchzogen Bart und Haar.

»Nehmt es mir nicht übel, aber … nun ja, ich hätte nicht erwartet, dass Ihr … dass Ihr noch einen Vater habt …« Vielleicht hatte der Gigant sich bei seinem Fall in der Gasse den Kopf am Boden angeschlagen und einige Dinge durcheinandergebracht. Soweit Desiderius wusste, wurden Menschen nicht sonderlich alt. Fünfzig, sechzig Sommer? Und Rahff … nun ja, er schätzte Rahffs Alter auf mehr als vierzig Sommer. In diesem Alter sollte er längst das Erbe seines Vaters übernommen haben. Wie viele Jahrzehnte blieben ihm noch? Zwei oder drei? Wie alt sollte also dessen Vater bei seiner Ermordung gewesen sein…?

Einige Dinge passten für Desiderius nicht zusammen.

»Mein Vater erfreute sich eines sehr langen Lebens«, nuschelte Rahff mit dem Holzlöffel im Mund. »Er hat … er hatte sechsundsechzig Winter überlebt. Den diesjährigen Schnee wird er nicht sehen.«

Desiderius hörte die Trauer und ebenso die Wut aus Rahffs Stimme, was ihm doch tatsächlich ein Quäntchen Mitleid empfinden ließ. Da er allerdings keinerlei Liebe für seinen eigenen Vater aufbrachte, fiel es ihm schwer, Rahffs Verlust gänzlich zu verstehen.

»Tja«, er rutschte unbehaglich auf seinem Platz hin und her, »das ist ja richtig scheiße für Euch gelaufen, hm? Erst will der Vater nicht abkratzen und dann bringt Euch Euer Onkel um das langersehnte Erbe. Mein Beileid.« Desiderius` Mitgefühl klang alles andere als aufrichtig, was Rahff jedoch unkommentiert ließ, sofern es ihn denn überhaupt kümmerte, ob ihm wegen seiner Situation Mitleid entgegengebracht wurde. Rahff wirkte auf den ersten Blick dann doch recht abgebrüht.

»Und wie soll ich Euch helfen? Klingt mir eher danach, als bräuchtet ihr dringend eine verdammt große Armee«, fuhr Desiderius skeptisch fort. »Und ich bin nur ein einfacher Vagabund.«

Rahff brummte, was wohl bedeuten sollte, er würde gleich darauf antworten, sobald er die Schüssel ausgeleckt hatte. Nachdem er damit fertig war, blickte er ziemlich betrübt in die leere Schale, als erhoffte er sich, sie wäre auf magische Weise wieder aufgefüllt.

Frustriert warf er die Schale auf den Boden, wo sie laut klirrend in tausend Teile zersprang. Köpfe drehten sich nach ihnen um. Desiderius blickte unruhig durch die Schenke. Sein schiefes Lächeln sagte: »Er ist aus dem Gebirge, was erwartet ihr?«

Glücklicherweise befanden sie sich in Gesellschaft fragwürdiger Halunken, sodass sich niemand weiter um sie scherte, als Rahff sich den Rest der Suppe mit dem Unterarm von den vollen Lippen wischte. Solang kein Streit entfachte, in den sie sich mit ihren Fäusten einmischen konnten, würden die anderen Gäste Desiderius und seinen Begleiter nicht weiter beachten. Wobei dieser sich für einen Adeligen wahrlich unsittlich benahm.

Nicht, dass es Desiderius abgeschreckt hätte. Das Verhalten des Giganten irritierte ihn lediglich ein wenig.

Rahff rülpste ungeniert.

Desiderius blickte ihm wieder ins Gesicht. »Ihr seid ein Tier«, sagte er trocken.

»Danke.« Rahff hielt die Bemerkung tatsächlich für ein Kompliment. Er griff nach seinem Weinbecher und leerte ihn in einem Zug, wobei ihm rote Rinnsale über die vollen Lippen tröpfelten.

Nachdem auch der Wein geleert war, landete der Becher ebenso wie die Schale auf dem Boden. Es war wohl Sitte in ihrem Haus, das Geschirr auf dem Boden zu zerschellen. Scheint, als hätten die Gebirgsmenschen einen Überfluss an eifrigen Töpfern.

»Wir stammen eindeutig aus verschiedenen Welten«, murmelte Desiderius kopfschüttelnd. Dabei war er der Gesetzlose, und Rahff der Adelige.

»Ich brauche jemanden, der mich nach Dargard bringt«, verkündete Rahff schließlich. Seine honigfarbenen Augen funkelten warm im Widerschein der Kerzenflamme, als sie sich in Desiderius` bohrten. Die Iris flimmerte wie die Oberfläche eines Honigtopfs. Weich und sinnlich.

»Zur Hauptstadt?«, hakte Desiderius verwundert nach. Er konnte sich kaum von Rahffs Blick losreißen. Noch niemals hatte er sich auf eine derart unangenehme Art gefangen gefühlt.

Rahff nickte. »Ja.« Er schien Desiderius` blickloses Starren nicht zu bemerken.

»Wisst Ihr denn nicht, wo sie sich befindet? Guter Mann, kennt Ihr denn keine Karten im Gebirge? Jedes Kind könnte Euch den Weg weisen.«

Der Gigant ließ die Schultern mitsamt seinen Mundwinkeln hängen. »Veralberst du mich, Bursche? Oder bist du wirklich so begriffsstutzig?«

»Pah!« Desiderius verschränkte trotzig die Arme vor der Brust. Jeder Zauber aus den honigwarmen Augen war dahin, als er sich angegriffen fühlte. »Für jemanden, der meine Hilfe in Anspruch nehmen möchte, werdet Ihr mir eindeutig zu frech.«

Tatsächlich grinste der andere Mann. Er grinste! Desiderius hätte ihm den dämlichen – deutlich zu arroganten – Gesichtsausdruck gerne aus dem Gesicht geschlagen. Er fühlte sich beleidigt.

»Mein Onkel lässt nach mir suchen, er hat sogar meine ältesten Freunde gegen mich aufgebracht!«, erinnerte Rahff ihn anschließend ernst. »Und er ist nicht einfältig, er konnte mich sogar hier, in der Schwarzen Stadt, aufspüren! Natürlich rechnet er mit meinem Versuch, Hilfe von der Krone zu erbitten!«

Desiderius begann zu verstehen …

»Ich kann nicht einfach nach Dargard reinspazieren! Spätestens, wenn ich durch eines der Stadttore schreite, wird man mich verfolgen und bei der ersten Gelegenheit töten. Um jeden Preis! Ich brauche Hilfe, um ungesehen von hier bis hin zum Palast des Königs zu gelangen.«

Einen Moment lang dachte Desiderius über Rahffs Worte nach. Er nagte nachdenklich auf seiner Wange und runzelte skeptisch seine Stirn. »Hm.«

Rahff blinzelte irritiert. »Hm?«, wiederholte er Desiderius` geschnaubten Laut. »Mehr hast du nicht dazu zu sagen?«

»Doch.« Desiderius zuckte mit gekreuzten Armen gelassen die Schultern. »Scheiße.«

Rahff war für einen Moment sprachlos. Er hatte sich statt dieser Teilnahmslosigkeit wohl mehr Gefühlsregung erhofft. Doch was kümmerte es Desiderius, ob irgendein Mensch von einem anderen Menschen um seine Burg gebracht wurde? Was hatte das mit ihm zu tun? Nichts! Wenn er es recht bedachte, klang die ganze Geschichte danach, sich so weit wie möglich von dem Silberlöwen fernzuhalten, wenn man denn nicht mit aufgeschlitzter Kehle in irgendeiner Abwasserrinne enden wollte. Und Desiderius hing sehr an seinem bescheidenen Leben. Es war nicht gerade ein ruhmreiches Leben, aber er würde es trotzdem gern behalten.

Außerdem wagte er zu bezweifeln, dass Rahff seine Burg je zurückbekam. Er war allein! Wie sollte ein Mann allein eine Armee aus Verrätern besiegen? Dieser Rachefeldzug war bereits in diesem Moment, während sie hier saßen und darüber sprachen, zum Scheitern verurteilt. Und Desiderius würde nicht den Fehler begehen, sich da hineinziehen zu lassen.

Oh nein, er hatte damit nichts zu tun! Gar nichts!

»Na prima«, seufzend rieb Desiderius sich den verspannten Nacken, »ich werde meinen Beutel Silber also nicht bekommen.« Und dafür hatte er einen Taler über die Theke wandern lassen, um dem Silberlöwen eine Suppe zu spendieren. Für nichts! Stunden des Geredes und es kam doch nichts dabei herum. Außer dem Tod. Und der wunderbaren Geschichte, wie Desiderius einst einen Giganten traf.

Immerhin etwas, das er am Lagerfeuer zum Besten geben konnte. Falls er jemals Gelegenheit haben sollte, mit jemand anderen, außer einsamen Schatten dort zu sitzen.

»Du bekommst dein Silber«, versicherte Rahff, »und sogar noch mehr. Ich werde dir einen edlen Hengst mit Satteltaschen voller Taler schenken. Alles, was du dafür tun musst, ist, mich ungesehen zum Palast zu bringen. Für einen Dieb sollte es dir doch möglich sein, mich ungesehen in die Stadt zu schmuggeln.«

»Nein, das ist nicht alles«, hielt Desiderius dagegen, »ich muss mehrere Wochen nach Süden reisen, mit einem Mann im Schlepptau, der von niemanden gesehen werden darf, aber so groß wie ein verdammter Oger ist!«

Rahff zog unter der Kapuze arrogant eine Augenbraue in Richtung Haaransatz. »Ich rieche jedoch angenehmer.«

»Das bleibt zu bezweifeln.«

Der Silberlöwe lachte über den Seitenhieb. Er lachte! Da, wo Desiderius herkam, hätte man ihm für diese Bemerkung eine Ohrfeige verpasst. Oder schlimmeres. Die Fußsohlen hätten sie ihm ausgepeitscht.

Aber das war eine andere Geschichte, die er in den letzten Jahren aus seinen Erinnerungen verbannt hatte. Er war nur ein Vagabund von Nirgendwo, der Sohn einer Hure. Mehr wollte er nicht sein. Und er würde auch nichts anderes werden!

»Vergebung«, Desiderius trank seinen Becher aus und knallte ihn geleert auf den Tisch, »aber ich hänge an meinem Leben. Sucht Euch einen Mann, der verzweifelter ist.«

Rahffs Hand preschte so schnell wie der Biss einer Schlange über den Tisch und legte sich schwer auf Desiderius` Arm, als dieser aufstehen wollte. Halbaufgerichtet hielt Desiderius inne und starrte auf die Stelle, wo die Pranke des Silberlöwen ihn festhielt. Selbst durch das Leder seiner Garmaschen fühlte er die Wärme des anderen Mannes.

»Auf der Reise werde ich selbstredend für deine und meine Sicherheit sorgen. Aber ein zweites Paar Augen und ein guter Überlebenskünstler wäre von Vorteil für mich. Sobald du mich unbemerkt in Dargard reingebracht hast, kannst du wieder deiner Wege gehen.«

»Woher wollt Ihr wissen, dass ich ein Überlebenskünstler bin?«

Rahff lächelte schief, als er Desiderius musterte. »Du siehst nicht aus, als wärest du ein Bettler. Und irgendwie scheinst du ganz gut genährt für einen Mittellosen. Vagabunden sind doch recht bekannt für ihre Fähigkeiten, in der Wildnis zu überleben. Komm schon, Bursche! Es wird sich für dich lohnen.« Das seltsame Aufblitzen in Rahffs Augen sprach die Sprache aller Habgieriger. Es erzählte von vielen fetten Säcken Reichtümern.

Offenbar hielt er Desiderius für einen Geier.

Warum ihn das verletzte, wollte Desiderius lieber nicht tiefer ergründen. Er schob es seinem Übermaß an Stolz zu, dass er es nicht leiden konnte, wenn man ihn für nichts weiter als einen habgierigen Gauner hielt.

Ein Gesetzloser war er gewiss, doch niemals habgierig. Er nahm sich nur das, was er zum Überleben brauchte. Niemals mehr! Aber ein Edelmann würde das nie verstehen, seien seine Sitten auch noch so fragwürdig.

Desiderius schüttelte Rahffs Hand ab und stieg von der Bank. »Und wie wollt Ihr mich entlohnen? Wenn ich Euch in Dargard verlasse, habt Ihr immer noch kein Silber.«

»Ich werde dich finden! Oder du kommst zu mir auf die Burg«, konterte Rahff. »Mach dir darüber keine Sorgen, ich vergesse meine Schulden nicht. Ich vergesse dich nicht. Du hast mein Wort!«

Desiderius warf sich seinen Umhang über die Schultern und verknotete ihn unter seinem spitzen Kinn. »Was zählt das Wort eines Fremden? Ich kenne Euch doch gar nicht.«

»Ich halte immer mein Wort!«, behauptete der Silberlöwe.

Desiderius lächelte spöttisch. »Ja … sicher … aber wie gesagt, ich kenne Euch nicht. Und ich werde mich nicht in die Intrigen und Spiele blaublütiger Edelmänner einmischen. Wir wissen doch beide, dass ich der erste bin, der dabei drauf geht. Nein, danke.«

Die Verzweiflung in Rahffs Augen war beinahe im Raum spürbar. Er sah mit einer Mischung aus Ratlosigkeit und Wut zu Desiderius auf. »Du willst dir ein gutes Geschäft durch die Finger gehen lassen?«

»Ihr verwechselt mich mit jemanden, der alles für ein paar Taler Silber tut«, konterte Desiderius, während er die Riemen seines leichten Harnischs enger zog, »aber so jemand bin ich nicht. Ich habe Prinzipien. Und Regeln. Ich halte mich von Intrigen fern und riskier meinen Kopf nicht für etwas Silber, wenn ich in der Wildnis schlafen und essen kann. Sucht Euch einen anderen.«

Der Gigant knirschte verbissen mit den Zähnen. Er war es augenscheinlich nicht gewohnt, abgewiesen zu werden. »Ich kann niemanden bezahlen. Und du warst schon einmal hilfsbereit. Ich dachte …« Er verstummte ärgerlich, als Desiderius zu lachen anfing.

»Vergebung«, er gluckste weiterhin amüsiert und wischte sich eine Lachträne aus dem Auge, »aber verwechselt den Umstand, dass ich zur richtigen Zeit am richtigen Ort war, nicht mit Nächstenliebe. Ihr hattet lediglich Glück, dass ich Euch interessant genug hielt, um Euch nicht einfach hier in den Straßen verrotten zu lassen. Ich wollte Eure Geschichte erfahren, mit einem Giganten speisen und reden. Ich war neugierig, mehr nicht. Euer Schicksal könnte mir nicht weniger am Herzen liegen.«

»So, so.« Statt von Desiderius` fragwürdigen Beweggründen angewidert zu sein, grinste Rahff schelmisch. »Meine Gestalt ist also interessant für dich, Bursche?«

Hatte der Gigant nicht mehr aus dem Vortrag entnommen?

Desiderius schnaubte wie ein Pferd. »Habt Ihr je Euer Spiegelbild erblickt? Ihr seid ein wandelnder Bär auf zwei Beinen! Das wird mir niemand glauben!«

Rahff lachte leise in sich hinein, er schüttelte dabei über Desiderius` Naivität den Kopf.

Verärgert kreuzte Desiderius wieder die Arme vor der Brust. »Was ist?« Er konnte es nicht ausstehen, wenn sich jemand über ihn lustig machte!

Rahff sah amüsiert zu ihm auf. Dabei leuchteten seine braunen Augen wieder im Kerzenschein. Warm. Einladend. Verlässlich …

Lügen! Desiderius war zu zynisch, um sich von vertrauenswürdigen Augen einlullen zu lassen.

»Alle Menschen aus dem Gebirge sind fast so groß wie ich«, erklärte Rahff schließlich belustigt.

Desiderius geriet ins Stocken. »Ehrlich?«

Der Silberlöwe nickte. »Ja! Warst du nie dort?«

»Nein.«

Interessant! Es wäre doch eine Reise dorthin wert, um diese Behauptung zu prüfen. Aber gewiss nicht zu dem Preis, seinen Kopf zu riskieren. Er würde ein paar Jahre warten, bis im Süden wieder Ruhe eingekehrt war.

Obwohl, sollte dort zur Zeit Chaos herrschen, würde Desiderius leicht Beute machen können. Andererseits war er gewiss nicht der Einzige, der auf diese glorreiche Idee gekommen wäre, womit er es dann mit habgierigen Plünderern zu tun hätte, die einen einsamen, jungen Dieb nur zu gerne die Ohren stutzten, anstatt ihm etwas von ihrer Beute zu überlassen.

»Nun gut«, er blickte wieder auf Rahff hinab, »ich wünsche Euch gutes Gelingen und …« Er winkte ab. »Ach, was man eben noch so wünscht, bevor man geht. Gehabt Euch wohl … und so …«

Rahff verzog genervt das Gesicht, er versuchte nicht noch einmal, Desiderius aufzuhalten. Vermutlich hatte er endlich erkannt, dass er den falschen Mann in seine Dienste rufen wollte. Immerhin war ein Vagabund kein Söldner. Ein Vagabund war ein Herumtreiber und Taugenichts, dem Ehre und Loyalität nichts bedeuteten. Zumindest definierte Desiderius sein Dasein auf diese Weise.

»Falls du deine Meinung änderst«, setzte Rahff noch hoffnungsvoll hinterher, »ich bleibe noch eine Weile hier und halte mich bedeckt. Du findest mich sicher.«

Mit einem angedeuteten, spöttischen Knicks wollte Desiderius sich geschmeidig vom Acker machen, wie man so schön sagte, als jedoch die Vordertür aufflog und er beim Anblick der neu eingetroffenen Gäste erbleichte.

Sie kamen mit viel Lärm und Gegröle hereingestolpert. Abgehalfterte Banditen in dreckigen, abgefressenen Umhängen, die niemals nüchtern waren und an jeder Ecke Ärger machten. Männer, vor denen sogar die widerwärtigsten Huren flohen. Sie brachten eine Grabeskälte und den Gestank von feuchtem Moor und Tod mit in die Schenke.

Oh nein, warum ausgerechnet er …

Ohne den Silberlöwen noch einmal anzusehen, wirbelte Desiderius herum, bevor der Neuankömmling ihn erblicken konnte, und eilte an der Bar vorbei. Der Schankwirt rief ihm erbost nach, dass er hinten nichts zu suchen hatte, doch Desiderius blieb nur der Weg zur Hintertür hinaus, wenn er entkommen wollte.

Kalte Luft schlug ihm entgegen, die Nacht hatte sich über die Schwarze Stadt gelegt, und der Wind ließ das nahe Meer noch lauter rauschen als am Tage. Leiser Nieselregel peitschte durch die Nacht und in Desiderius` Gesicht, als er sich die Kapuze seines Umhangs überzog und hoffentlich unbemerkt mit der Dunkelheit verschmolz.

*~*~*~*

Rahff sah sich verwundert über die Schulter, als der junge Bursche geradezu fluchtartig die Schenke durch die Hintertür verließ. Es hatte etwas in Desiderius´ Augen gelegen, das er diesem kaltschnäuzigen Wicht nicht zugetraut hätte: echte, blanke Angst.

Aber was versetzte den Vagabunden derart in Panik? Doch nicht etwa die halbwüchsigen Männlein in den schmutzigen Lumpen, die gerade zur Tür hereingekommen waren und den geradezu liebreizenden Duft der Verwesung hereintrugen.

Immerhin erschloss sich Rahff nun, weshalb Desiderius den Schwanz einzog, statt ihm helfen zu wollen, ganz gleich mit welcher Menge Silber er ihn auch lockte. Wer sich vor solchen Zwergen fürchtete, konnte nicht sonderlich mutig sein.

Rahff schnaubte und schüttelte den Kopf, als er sich wieder abwandte und nach dem Becher griff, den Desiderius zurückgelassen hatte. Er blickte in einen dunklen, leeren Schlund und verzog bedauernd die Mundwinkel. Kein einziger Tropfen war übrig.

Er warf den Becher zur Huldigung der Erdgöttin auf den Boden.

Nicht, dass er sonderlich gläubig gewesen wäre, jedoch wurden ihm gewisse Sitten angelernt, die er sich schwerlich abgewöhnen konnte.

Seufzend stützte er die Ellenbogen auf den von tiefen Kerben demolierten Tisch und rieb sich die brennenden Augen. Der Tag war ihm lang vorgekommen. Erst der Verrat seiner Freunde, dann die Begegnung mit diesem äußerst interessanten Vagabunden, bis hin zu dessen strikter Weigerung, einem armen Narren wie Rahff zu helfen.

Selbst dieser junge Bursche witterte, dass Rahffs Leben bereits versiegt war. Dabei war es Rahff vorgekommen, als steckte in Desiderius ein Funke… Aufrichtigkeit. Zumindest war er erfrischend ehrlich gewesen. Eine Tatsache, die Rahff gerade in seiner derzeitigen Situation sehr zu schätzen wusste. Von einem ehrlichen, wenn auch kaltschnäuzigen, Gefährten hatte er zunächst keinen Verrat zu befürchten. Wem sonst sollte er trauen, wenn sogar seine engsten Freunde ihn für die Aussicht auf Silber verrieten? Ein fremder Bursche, der ihn aus unerfindlichen Gründen das Leben gerettet und keine Scheu davor hatte, ihm ins Gesicht zu sagen, was er von ihm und seinen Vorschlägen hielt, war traurigerweise Rahffs letzte Möglichkeit gewesen, für eine weitere Weile zu überleben.

Letztlich war alles nur eine Frage des richtigen Moments und des richtigen Ortes, aber sehr bald schon würde Rahff einem Attentäter in die Arme laufen. Und noch immer hatte er keinen blassen Schimmer, wie er etwas an dieser Tatsache ändern konnte. Ohne einen einzigen Taler Silber in der Tasche und ohne einen einzigen Verbündeten standen seine Möglichkeiten schlecht, auch nur die Nacht zu überleben. Wo sollte er schlafen? Er traute sich nicht einmal aus dieser Schenke heraus. Wobei er sich eingestehen musste, dass er sich selbst hier beobachtet vorkam, obwohl niemand zu ihm rüber blickte. Er prüfte es selbst alle paar Augenblicke, indem er verstohlen unter seiner Kapuze umher sah.

Nun, da auch Desiderius gegangen war, erhielt kalte Einsamkeit Einzug in Rahffs Geist. Zum ersten Mal in seinem Leben fühlte er sich klein in der Welt. Wie ein vertrocknetes Blatt, das vom Herbstwind auf das Meer hinausgetrieben wurde und in den unendlichen Tiefen der dunklen Gewässer unterging. Er war zum ersten Mal ganz allein auf sich gestellt. Ein Bär unter Wölfen.

Was, bei den verfluchten Göttern, sollte er denn jetzt bloß tun?

Plötzlich spürte er etwas Kaltes an seiner Kehle. Eine Dolchklinge, geführt von einer tätowierten Hand. Jemand trat in die Scherben auf dem Boden neben Rahffs Bank, sie knirschten laut unter dem schweren Stiefel. Ein langer Schatten fiel auf den Tisch.

»Zeig mir dein Gesicht, Fremder!«, forderte eine kratzige Stimme. Der Mann sprach mit der Autorität eines Menschen, der es gewohnt war, dass man ihm umgehend gehorchte.

Trotzig hob Rahff den Kopf. Ihm blieb nichts anderes übrig, da sich die geschärfte Schneide des Dolches in sein Kinn bohrte und es hochhob, bis Licht auf seine Züge fiel.

»Was haben wir denn hier?«, säuselte die hässliche Fratze, die über Rahff ragte.

Der Mann, dessen Dolchklinge Rahffs Kehle bedrohte, trug einen schlammigen Umhang über einem rissigen, dunklen Lederbrustpanzer, seine Beinlinge waren aus dünnem Stoff, was es ihm erlaubte, sich beinahe lautlos zu bewegen. Wurfdolche waren über seine Brust gespannt, ihre Griffe bewegten sich bei jeder Atmung auf und ab. Sein Gesicht war durch tiefe Kerben gezeichnet, vermutlich waren die Hautkrater Rückstände einer alten Pockenerkrankung. Eine lange, S-förmige Narbe zog sich über seine Stirn und verzerrte seine linke Augenbraue, sodass es wirkte, als blickte er durchweg skeptisch drein. Seine schmalen Augen, die Nase, deren Form einem Krähenschnabel gleichkam, und das untersetzte Kinn rundeten das Gesamtbild ab. Ein Widerling, wie er im Buche stand. In seinen kleinen, schwarzen Augen troff es nur so vor Bösartigkeit.

»Du bist ja ein ganz Hübscher«, züngelte der Fremde. Er klang wie eine Schlange, und tatsächlich streckte er Rahff provokant eine gespaltene Zunge entgegen. »Was führt den feinen Herrn hier her?« Er betonte das letzte Wort am Ende jedes Satzes, indem er es deutlich in die Länge zog.

Rahff seufzte und ersparte sich eine Antwort. Stattdessen nahm er die Arme vom Tisch und drückte den breiten Rücken durch, wodurch er auf Augenhöhe mit Krähenfratze war, obwohl er noch immer auf der Bank saß.

Krähenfratze verlor sein verdorbenes Grinsen, das böse Funkeln in seinen schwarzen Augen erlosch. Er sah sich nach allen Seiten um. Seine Gestalt war von fünf seiner Anhänger umringt. Die Männer waren nicht weniger hässliche Gestalten, deren stumpfe Blicke nichts Gutes erahnen ließen. Doch auch sie schienen von Rahffs Größe recht beeindruckt und dahingehend beruhigend kleinlaut.

Räuspernd nahm Krähenfratze die Klinge runter und steckte sie zurück in die Scheide unter seinen Umhang. Er streckte unscheinbar den Rücken durch, worüber Rahff nur schmunzeln konnte. Denn noch immer waren sie auf Augenhöhe. Vorausgesetzt, Rahff würde nicht aufstehen.

»Kann ich Euch irgendwie behilflich sein?«, hakte Rahff schließlich gelangweilt nach.

Erneutes Räuspern. Dann wieder diese kratzige, kalte Stimme: »Ihr habt Euch mit einem Jungen unterhalten.«

Es war keine Frage, Krähenfratze musste diese Information von einem der anderen zwielichtigen Gäste dieses bescheidenen Etablissements zugetragen worden sein. Vermutlich war er auf der Suche nach Desiderius. Was erklären würde, weshalb dieser so schnell verschwunden war.

Rahff schüttelte den Kopf und wandte den Blick wieder nach vorne, um zu signalisieren, dass er kein weiteres Interesse an einem Gespräch mit dem Fremden hatte.

»Mir kam zu Ohren, Ihr hättet mit ihm gespeist«, setzte Krähenfratze hinterher.

»Kann mich nicht erinnern«, log Rahff souverän.

»Meine Freunde hier erzählen etwas anderes.« Krähenfratze klang verärgert.

Rahff blickte zu ihm auf und hielt ihn lange mit seinem Blick gefangen. Kraftvoll. Drohend. Unbeugsam, wie er geboren wurde. »Dann haben Eure Freunde zu tief in ihre Becher gesehen. Ich sitze hier schon den ganzen Abend allein.«

Der geradezu überlegene Blick aus Rahffs ernsten Augen, ließ Krähenfratze seinen Zorn zurückhalten. Er beherrschte sich, so gut es einem Mann wie ihm möglich war, da er sich seine Chance, gegen Rahff zu bestehen, bereits ausgerechnet hatte.

»Vielleicht habt Ihr ihn ja gesehen. Ein grünäugiger, frecher Bengel. Groß, drahtig, rabenschwarzes Haar, Ziegenbärtchen. Wohin ist er gegangen?«, versuchte er auf andere Weise, Rahff Informationen zu entlocken. Vermutlich glaubte er, Rahff wollte sich nur aus Ärger heraushalten und würde dankbar jeden Strohhalm ergreifen, der ihn aus dem Blickwinkel der Bande zog. Ganz im Sinne von: Sag mir, wo er ist, dann lass ich dich in Ruhe.

Rahff dachte gar nicht daran. »Hab den Jungen nicht gesehen, Mann! Und jetzt verpiss dich!«

Das brachte Krähenfratze dazu, wütend die dünnen Lippen zu kräuseln. Er fuhr sich mit der tätowierten Hand unter die Kapuze und streifte sie ab. Ein kahlrasierter Schädel kam zum Vorschein, aus dem dunkle Stoppeln sprossen. Ein Kopf, geformt wie ein übergroßes Ei, mit dem Gesicht einer Krähe. Die rechte Schläfe und das Ohr waren ebenso wie die Dolchhand mit schwarzen Kreisen und Spiralen übersäht. Ewigwährende Hautbemalungen, wie man sie nur vom Volk der Waldmenschen kannte, zu jenem Krähenfratze jedoch nicht gehören konnte.

Waldmenschen waren schließlich dafür bekannt, Gewalt zu meiden, während dieses frevelhafte Exemplar eines Menschen, das sich gerade neben Rahffs Tisch anschickte, Rahff metaphorisch ans Bein zu pissen, Ausdruck purer, unverfälschter Gewalt war.

Krähenfratze fuhr mit den Fingern über die vielen goldenen Ringe, die seine Ohren zierten. Der Schmuck klimperte, es mussten je Ohr mehrere Dutzend Ringe an ihm hängen. Ein unglaubliches Gewicht, dass die Lauscher nach unten zu ziehen schien.

»Ich will Euch wirklich keinen Ärger machen, Fremder, wenn Ihr mir jedoch nicht helfen wollt, werden wir unsere Antworten wohl auf andere Weise aus Euch herausholen müssen.« Krähenfratze ließ provokant die Fingerknöchel knacksen.

Lächerlich! Rahff könnte ihm die Faust mit einer Hand brechen, so erbärmlich klein und gebrechlich war sie.

»Tatsächlich?« Gänzlich unbeeindruckt glitt Rahff von der Bank, die umgehend in ihre ursprüngliche Form zurücksprang, nachdem sein Gewicht ihre Fläche nicht mehr nach unten drückte. Er richtete sich zu voller Größe vor der Bande auf und warf einen Schatten auf ihre Gesichter. Die Männer wichen zurück, Krähenfratze musste den Kopf in den Nacken legen. Es wurde still in der Schenke, alle Gespräche verstummten, alle Köpfe drehten sich zu ihnen um.

Rahff stemmte seinerseits die linke Faust in seine rechte Hand. Das Geräusch seiner sich einrenkenden Glieder hallte dumpf im Raum wider. »Und wie, wenn ich fragen darf?«

Krähenfratze musterte Rahff, als überlegte er sich, ob die geforderten Informationen einen Faustkampf mit ihm wert waren.

»Dein Junge ist zur Hintertür raus, Markesh!«, mischte der Wirt sich unversehens ein, der wohl den Streit drohen fühlte und ihn zu unterbinden versuchte, bevor seine Schenke während eines Kampfes zu Bruch ging.

Rahff ließ sich seinen Ärger nicht anmerken, als er gemeinsam mit seinem neuen Freund Krähenfratze das Gesicht zu dem alten Mann umdrehte. Dieser trocknete gerade in aller Ruhe einen Teller mit einem stark verschmutzten Lappen ab. Im Kerzenschein beschrieben die tiefen Falten seines zerknitterten Gesichts schwarze Schattenlinien.

»Ist nicht lange her, hat sich sofort verdrückt, als ihr reinkamt«, er deutete mit dem Daumen über die Schulter, »vielleicht erwischst du ihn noch.«

Krähenfratze verlor keine Zeit, er nickte seinen Männern zu, deren finstere Gesichter unter den Kapuzen keine Regungen zeigten, als sie sich auf dem Weg machten. Noch einmal warf Krähenfratze einen Blick auf Rahff. »Glück gehabt«, meinte er, bevor er sich die eigene Kapuze wieder aufzog und seinen Männern mit weitausholenden Schritten nachfolgte.

Ein mulmiges Gefühl, das ihm beinahe fremd war, breitete sich wie eine Feuerflut in Rahffs Magen aus.

Weshalb Rahff nicht einfach berichtet hatte, was er über diesen grünäugigen, drahtigen Burschenwusste, lag für ihn deutlich auf der Hand. Desiderius hatte ihn gerettet, was für ein Mann wäre Rahff, würde er ihn bei der ersten Gelegenheit ans Messer liefern. Nein, Rahff hatte gelernt, dass eine Hand die andere wusch. Und vielleicht würde es ihn zum Vorteil gereichen, Desiderius zu decken.

»Ihr da!« Der Wirt machte Rahff auf sich aufmerksam. Er deutete mit einem anklagenden Finger auf die Scherben zu Rahffs Füßen. »Das werdet Ihr mir vergüten!«

Rahff blickte hinab auf die Überreste einer Schale und zweier Becher. Diese Nordländer! Wussten sie denn nichts über die Rituale Ihrer Nachbarn aus dem Süden? Wie sollte Rahff bloß mit diesen Flachländern zurechtkommen? Er vermisste das Gebirge so sehr … Die Berge, die rauen Nächte, den frühen Winter und die stämmigen Pferde. Die starken Männer und ihr dunkler Kehlkopfgesang. Seine Heimat und sein Volk. Innerlich seufzend schüttelte er die Melancholie ab. Es gab Zeiten, da trauerte man, und es gab Zeiten, in denen man handeln musste. Gerade war nicht der Moment für Sehnsüchte, Rahff hatte viel zu tun. Also verbannte er jegliches Gefühl unter einer dicken Schicht Gleichgültigkeit. Später, beruhigte er die Kerben auf seinem Stahlherzen, werden wir unseren Verlust betrauern. Dann, wenn er in Sicherheit war.

»Ich werde meine Schulden begleichen«, brummte er und machte einen großen Schritt über die Scherben, um anschließend der Bande zu folgen, die hinter seinem Vagabunden her waren.

Rahff musste ihn unbedingt finden, bevor es ein anderer tat. Um ihrer beider Willen.

Der Wirt rief ihm etwas nach, hielt ihn jedoch nicht auf. Vermutlich hatte er zu viel Respekt vor Rahffs Größe.

Ein kluger Mann.