Inselkrimis Ostfriesland II - Moa Graven - E-Book

Inselkrimis Ostfriesland II E-Book

Moa Graven

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Beschreibung

In diesem Doppelband erleben Sie den Charme der Ostfriesischen Inseln Borkum und Langeoog in einem Krimi. In Borkumer Verhängnis wird im Winter eine junge Frau tot auf einer Bank vor einem Teeladen entdeckt. Und in Spiel mit dem Tod auf Langeoog bekommen es die Ermittler mit einem toten Bauhelfer bei dem Neubau eines Hotels zu tun. Wie immer gelingt es der Autorin Moa Graven, die Leser mit ihrem flüssigen Schreibstil in ihren Bann zu ziehen.

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Borkumer Verhängnis – Zum Inhalt
Wissenswertes über Borkum
Der Streit
Viele Jahre später
Scrabble
Voller Einsatz
Wer ist die Tote?
In der Dienststelle
Ehespielchen
Schatten der Vergangenheit
Fischbrötchen
Pascal Schnieders
Lübeck
Eiskalt
Engelstrompete
In der Nacht
Die Falle
Fünf Stunden später
Auf Borkum
Ein neuer Tag
Mein Brief an Sie, liebe Leserin und lieber Leser,
Spiel mit dem Tod auf Langeoog – Zum Inhalt
Die Insel Langeoog
Sommer, Sonne, Strand und Meer
Auf der Baustelle
Freitag
Der Pressetermin
Der Tote in der Mischmaschine
Beim Italiener
In Tannenhausen
In der Dienststelle
Eva
In der Dienststelle
Geständnisse
Recherche
Wilfried Block
Enno und Jürgen
Eva
Papierkram
Eva ist wieder Eva
Mein Brief an Sie, liebe Leserin und lieber Leser,
Zur Autorin
Die Eva Sturm Reihe auf Langeoog
Die weiteren Krimi-Reihen von Moa Graven im Überblick
Meine Autobiografie
Auszug aus der Biografie
Vielen Dank für Ihr Interesse an meinen Krimis!

Ostfriesische Inselkrimis

Borkumer

Verhängnis

 

Spiel mit dem Tod auf Langeoog

Ostfrieslandkrimis von

Moa Graven

 

 

 

 

 

 

 

 

Moa Graven ist Ostfriesin und schreibt seit 2013 Krimis. Erst mit fünfzig hat sie die Leidenschaft für das subtile Verbrechen auch für sich entdeckt, als sie einen Fortsetzungskrimi für ein Monatsmagazin schrieb. Seit 2017 lebt die Autorin vom Schreiben und eröffnete ein Krimihaus in Rhauderfehn, wo man sie auch besuchen kann. Mit über 70 Krimis, die sie über 600.000 Mal im Eigenverlag verkaufte, gehört sie zu den erfolgreichsten Krimiautorinnen in Deutschland.

Impressum

Ostfriesische Inselkrimis – Doppelband mit Borkumer Verhängnis und Spiel mit dem Tod auf Langeoog

Ostfrieslandkrimi von Moa Graven

Alle Rechte am Werk liegen bei der Autorin

Erschienen im Criminal-kick-Verlag Ostfriesland

3. Südwieke 128a, 26817 Rhauderfehn

Mai 2021

Covergestaltung: Moa Graven

 

Borkumer Verhängnis – Zum Inhalt

 

Borkumer Verhängnis ist der dritte Band aus der Reihe Ostfriesische Inselkrimis von Moa Graven

Winter auf Borkum. Weihnachten und der Jahreswechsel stehen vor der Tür. Heta, die dieser Jahreszeit nichts abgewinnen kann, spielt mit ihrem Kollegen in der Dienststelle gerne Scrabble, um sich die Zeit zu vertreiben. Doch dann taucht vor dem Teeladen eine Tote auf. Sie sitzt auf einer Bank mit weit aufgerissenen Augen. Nun ist es mit der Langeweile für die Ermittler eindeutig vorbei.

 

 

 

Wer einmal

auf Borkum war,

den lässt diese

Insel nicht wieder los.

 

Moa Graven

Wissenswertes über Borkum

Borkum ist Teil der Ostfriesischen Inseln. Als westlichstes Eiland der Inselkette liegt Borkum zwischen den beiden Mündungsarmen der Ems. Insgesamt ist die Insel 32 Quadratkilometer groß, 10 Kilometer lang und maximal sieben Kilometer breit. Östlich sind Juist, Memmert, Brauer- und Kachelotplate, auf der westlichen Seite das zu den westfriesischen Inseln gehörende niederländische Rottumeroog die Nachbarinseln. Zwischen Borkum und Rottumeroog verläuft das Emsfahrwasser.

 

Noch 1863 bestand Borkum aus zwei separaten Inseln, Westland und Ostland, die durch einen Priel voneinander getrennt waren. Das Tüskendör („Zwischendurch“) zeigt die alte Trennlinie an. Die beiden Inselteile weisen deutlich die hufeisenförmige Gestalt der konzentrisch verlaufenden Dünenketten auf, die zum Randzel-Watt hin offen sind. Das Innere der Dünenbögen ist mit eingedeichten Marschen aus größtenteils Grünland und Salzwiesen vor dem Seedeich ausgefüllt. Im Westen der Insel liegt die Greune Stee („grüne Stelle“), ein ausgedehnter Sumpfwald, der an trockenen Stellen von Dünen durchzogen ist. Die Ostspitze der Insel ist das Hoge Hörn („erhöht liegende Ecke“), das mit den bei Sturmflut von Salzwasser überspülten Ostlagunen den Lebensraum für eine große Zahl von Brut- und Rastvögeln bietet. (Quelle Wikipedia)

Der Streit

Vielleicht hatte es sich schon länger angekündigt. Doch ganz sicher sogar. Aber wer gestand es sich schon gerne ein, dass eine Ehe am Ende war.

Und so hatte Gudrun sich auf den Urlaub gefreut. Oft war es ja so, dass dann die schlechte Laune auf beiden Seiten vergessen war. Eine Chance, ihre eingefahrene Beziehung zu retten, bot sich dar. Und sie hatte sich vorgenommen, alles in die Waagschale zu werfen. Insgeheim gab sie sich an vielen Missstimmungen in den letzten Monaten ja auch die Schuld. Doch mit Gunnar offen darüber zu reden, das traute sie sich einfach nicht.

Sie waren das erste Mal gemeinsam auf Borkum. Er liebte die Nordsee und im letzten Jahr hatten sie Juist besucht. Und davor Baltrum. Sie hatte kein Problem damit gehabt, sich seinen Vorstellungen eines Sommerurlaubs anzupassen, als sie sich kennen lernten. Ich werde dir die Schönheit der ostfriesischen Küste nahebringen, hatte er ihr erklärt. Und sie hatte sich im unterworfen, weil sie es schon damals als aussichtslos empfunden hatte, ihn von ihrer Affinität für die Berge zu überzeugen. Was tat man nicht alles, wenn man verliebt war? Und ja, sie war verliebt gewesen in Gunnar. Vom ersten Moment an eigentlich. Sie, die junge Absolventin eines Psychologiestudiums und er, der Professor, der immer wie durch sie hindurchgesehen hatte im Vorlesungssaal.

Das hatte sich erst geändert, als sie ihm nicht mehr unterworfen war. Rein zufällig waren sie sich in der stadteigenen Bibliothek wiederbegegnet. Da hatte sie sich bereits um eine Stelle in einer anderen Stadt beworben, um dort als Sozialarbeiterin zu beginnen. Ihr Umzug verschob sich dann um ein paar Wochen aus Gründen, die sie später als Schicksal bezeichnen würde. In ihrer Wohnung, die im Groben bereits geräumt war, hatte sie plötzlich viel Zeit. Und so nahm sie sich vor, sich noch ein wenig Fachliteratur zu Gemüte zu führen, um sich auf die neue Anstellung vorzubereiten. Es schadete nie, über alles Bescheid zu wissen, um einen guten Eindruck zu machen. Er indes war auf der Suche nach Fachliteratur zum Thema Schizophrenie gewesen. Und irgendwie landeten sie in derselben Ecke. Ein kurzer Blick, als sie voreinander standen. Dann ein Moment des Erkennens auf beiden Seiten. Und plötzlich nannte er sie beim Vornamen, so, als wären sie alte Freunde. Völlig unbefangen ging er mit ihr um und lud sie sogar ins kleine Café um die Ecke ein. Erst da erfuhr sie dann, dass er verwitwet war. Seine Frau war einer kurzen heftigen Erkrankung erlegen.

Sie sagte ihm nicht, dass sie bereits seit Beginn des Studiums für ihn schwärmte. Doch er musste es einfach gespürt haben, so, wie sie ihn ansah. Und hin und wieder lief eine zarte Röte über ihre Wangen, wenn er vom Sinn des Lebens philosophierte. Sie liebte seine Stimme. Und es dauerte gar nicht lange, da liebte er auch die ihre. Sie zog nicht mehr um, sondern kurz darauf bei ihm ein.

 

»Gudrun?«

Sie sah erschrocken in den Badezimmerspiegel. Hatte sie schon wieder viel zu lange getrödelt?

»Ich komme gleich«, rief sie zurück und ließ noch einmal die Toilettenspülung laufen. Danach den Wasserhahn. Sie war sich sicher, dass er noch vor der Tür stand. Das erste Mal hatte sie ihn dabei vor einem halben Jahr ertappt, dass er lauschte und darauf achtete, wie viel Wasser sie beim Duschen verbrauchte. Noch mit dem Badehandtuch umschlungen war sie aus dem Bad gegangen, weil sie vergessen hatte, sich Unterwäsche mitzunehmen. Als die Tür aufging, schüttelte er kurz mit dem Kopf und tat so, als hätte er vergessen, dass sie ja noch im Bad war. Sie mochte es nicht, wenn man ihr nachspionierte. Und da er immer penetranter in dieser Richtung wurde, hatte sie es ihm vor Kurzem auch durch die Blume gesagt. Wie immer in einen Scherz gewickelt, dass sie schon alt genug sei, um nicht im Waschbecken zu ertrinken. Er hatte nicht gelacht.

Als sie nun die Tür öffnete, da wusste sie, dass dieser Tag wieder im Streit enden würde. Doch wie es dann kam, damit hätte sie nicht im Traum gerechnet. Wegen einer Nichtigkeit, sie hatte einfach nur den Zimmerschlüssel im Hotelzimmer liegen lassen, als sie an den Strand gegangen waren, gerieten sie in einen derart heftigen Streit, dass er beschloss, noch am nächsten Tag abzureisen.

Viele Jahre später

Sabine Fornas schloss wie immer ihren Teeladen ab und schüttelte sich kurz, weil sie sah, dass es anfing zu schneien. Nein, der Winter war nun wirklich nicht ihre Jahreszeit. Auf der anderen Seite tranken die Menschen dann noch mehr Tee als sonst und oft auch mit einem guten Schuss Sanddornlikör, den sie ebenfalls in ihrem Geschäft anbot. Es wunderte sie im Grunde genommen immer wieder, dass es die Menschen zu so einer kalten Jahreszeit ausgerechnet an die Nordsee zog. Sie selber hätte diese trüben Monate lieber irgendwo im Süden verbracht. Aber nun waren die Dinge einmal so, wie sie waren.

Sie seufzte kurz auf und drehte sich um, als sie plötzlich meinte, etwas gehört zu haben, was ihrem eigenen Seufzen glich und ihr in diesem Moment wie ein unwirkliches Echo erschien. Also ging sie wieder zur Tür und sah nach draußen. Der Schnee fiel wie aus einem Kissen geschüttelt auf das Pflaster und löste sich dort sofort wieder auf. Der Vorplatz des Ladens war ausgeleuchtet und auf der anderen Seite ebenso. Nichts war zu sehen, was dieses vermeintliche Geräusch von eben hätte auslöst haben können. Also schloss Sabine Fornas erneut die Tür und machte sich dann an die Abrechnung für den Tag. Doch finanziell brauchte sie sich wirklich keine Sorgen zu machen. Nein, wäre es nur ums Geld gegangen im Leben, dann wäre sie ein glücklicher Mensch. Aber es gab eben noch etwas anderes, was sie sich von Herzen wünschte, was ihr aber große Probleme bereitete, wenn sie versuchte, es zu finden. Das große Glück, wie man immer so schön sagte, es hatte noch nicht an Sabine Fornas Tür geklopft. Oder nun ja, es gab hin und wieder Männer in ihrem Leben, die ihr durchaus mehr bedeuteten. Doch die längste Beziehung hatte nicht mehr als drei Jahre gehalten. Und so war sie mit über vierzig Jahren immer noch alleinstehend. Oder Single. Doch sie mochte das Wort nicht. Es klang so hart und hatte den Unterton des Versagens für sie wegen der scharfen Aussprache. Bestimmt war sie da überempfindlich, meinte ihre Freundin Christine immer. Die hatte ja auch gut lachen. Seit über zwanzig Jahren war sie glücklich verheiratet mit ihrer ersten großen Liebe. Was wusste sie schon von einsamen Abenden vor dem Fernseher. Gar nichts. Da half es auch nichts, dass sie mit vielen Geschäftsinhabern auf der Insel gut befreundet war. Abends ging man dann doch alleine nach Haus.

Als Sabine Fornas endlich fertig war, stimmte die Abrechnung und eine gewisse Zufriedenheit breitete sich in ihr aus. Es kam nicht oft vor, dass sie sich bei der Buchführung einen Schnitzer erlaubte. Mit Zahlen hatte sie schon immer besser umgehen können als mit Menschen.

An diesem Abend würde sie sich mit einem Glas von ihrem teuersten Rotwein verwöhnen, nahm sie sich vor. Dazu dunkle sündige Schokolade, wie sie es nannte. Denn leicht war es für sie nicht, darauf zu verzichten. Doch ab dem vierzigsten Geburtstag schränkte sie ihren Konsum diesbezüglich ein, weil sie zunahm, ohne, dass sie hätte sagen können, warum. Ihre Frauenärztin machte die innere Uhr dafür verantwortlich. Hormone eben. Und dabei nahm Sabine schon seit Jahren keine Pille mehr. Die wenigen Male, die es zu zwischenmenschlichen Kontakten gekommen war, lohnten es nicht, dass sie ihren Körper aus seinem biologischen Rhythmus brachte.

Aber die Belohnung, so fand sie, hatte sie sich an diesem Tag einfach verdient. Belohnungen, auch wenn man sie sich selber machte, hoben die Stimmung, hatte ihr Therapeut gesagt. Und er hatte recht damit.

Scrabble

Wenn es nichts zu tun gab, dann holte Andreas Kalb immer das schon ziemlich ramponierte Brett heraus und schüttelte den Sack mit den Buchstaben.

»Ich bin hier gleich fertig«, sagte Heta Freytag und schmunzelte in sich hinein. Mit ihrem Kollegen, der ihr vor zwei Jahren auf die Insel gespült worden war, hatte sie wirklich Glück gehabt. Er war gute fünfzehn Jahre jünger als sie, doch trotzdem passte er sich ihr ohne Vorbehalte an. Denn sie hielt er nicht viel von dem neumodischen Kram, wie Heta immer sagte und damit die digitale Welt meinte, zu der der Zugang für sie verschlossen geblieben war. Sie sprach mit den Menschen am liebsten von Angesicht zu Angesicht. Deshalb telefonierte sie auch nicht gerne.

Andreas rückte seinen Stuhl so zurecht, dass er bequem saß, nachdem er die Teekanne, die Sahne und die Tassen auf den Tisch gestellt hatte. Er liebte diese Abende genauso wie seine Chefin. Es traf sich gut, dass sie beide Singles waren und so lange in der Dienststelle herumhängen konnten, wie er es nannte.

Heta fuhr ihren PC herunter, an dem sie noch die letzten Nachrichten gelesen hatte, die den Tag über eingelaufen waren. Das machte sie immer nur abends kurz vor Dienstschluss. Vorher kam das Ding nicht an, war ihre eiserne Regel. Lieber lief sie am Strand entlang bis hin zu den Salzwiesen, wo sie oft alleine unterwegs war.

»Du hast doch wohl nicht schon die besten Buchstaben gezogen«, sagte sie lachend, als sie sich zu ihm an den Tisch setzte.

Andreas schenkte Tee für beide ein und ließ sie zuerst ziehen. Das war ja klar, dachte Heta und zog eine Schnute. Ein Z. So war klar, wer anfing.

Das erste Spiel war schnell erledigt und Andreas fuhr acht Dreierwortwerte und zwei Bingos ein. Damit lag er haushoch vor ihr mit ihren schlappen 187 Punkten und sie tat ihm den Gefallen, sich mächtig darüber zu ärgern.

»Der Tee ist schon auf«, sagte er, »soll ich neuen machen?«

Heta schüttelte mit dem Kopf.

»Verstehe.« Schelmisch grinsend stand Andreas auf und räumte das Teegeschirr ab, nachdem er nochmal Wasser aufgesetzt hatte. Eigentlich lief dieses Ritual immer gleich ab, und doch fragte er. Es hatte sich so eingebürgert, dass sie nach dem Tee immer einen Glühwein tranken. Jedenfalls im Winter.

Heta hing ihren eigenen Gedanken nach, während er sich um den Rest kümmerte. Die Winterabende waren für sie eigentlich immer das Schlimmste. Es war so früh dunkel und man war dadurch auf Gedeih und Verderb ans Haus gefesselt. Oder eben das Büro, so wie in ihrem Fall. Hätte man ihr vor über vierzig Jahren, als sie noch ein kleines Mädchen mit vielen Träumen und sehr viel Fantasie war, erzählt, dass sie einmal als alternde Polizistin auf einer Insel festhängen würde, sie hätte es nicht geglaubt. Ja, damals, dachte Heta. Da hatten die Lehrer sie noch mit erhobenen Brauen Henriette gerufen. Das klang so ernsthaft und intelligent. Und dumm war sie ja auch nicht gewesen. Sie hätte das Zeug zu Höherem gehabt. Doch irgendwann, da hatte sie sich eben an Heta gewöhnt. Das Mädchen, dessen Namen die anderen Mitschüler nicht aussprechen konnten oder ihnen einfach die Lust dazu fehlte. So war sie wohl zum Durchschnitt geworden. Henriette. Ja, das klang wirklich sehr bieder. Und das war sie heute nun weiß Gott nicht mehr. Selbst bei der Arbeit lief sie meistens ungekämmt in legerer Kleidung herum, was auf der Insel niemanden störte. Hauptsache, sie hielt die Verbrecher in Schach.

»Worüber denkst du nach?«, fragte Andreas, als er die dampfenden Glühweingläser auf den Tisch stellte.

»Ach«, winkte Heta ab, »mir wäre der Sommer jetzt einfach lieber. Wieder mal über den Hoge Hörn schlendern und dann durch die Salzwiesen streifen und bei der Greune Stee den Wildvögeln beim Fliegen zuschauen.«

Er wusste mittlerweile, was sie mit diesen für ihn kryptischen Formulierungen meinte, doch ihn selber interessierte die Natur nicht so sehr wie sie. Wenn er nach Feierabend alleine in seiner Wohnung war, dann zockte er gerne an seiner Spielekonsole. Doch davon hatte er seiner Kollegin bisher nichts erzählt, weil er nicht in einem noch schlechteren Licht für sie erscheinen wollte als ohnehin vermutlich schon. Man hatte ihn nämlich dazu verdonnert, auf Borkum zu arbeiten. Die wenigsten taten das auf Dauer freiwillig. Man glaubte, dass er hier an der frischen Luft noch einmal seine sieben Sinne zurechtgerückt bekam und in Zukunft pünktlich zur Arbeit erschien.

»Hm, das tut gut«, sagte sie, als sie einen Schluck getrunken hatte. Dabei war es ihr weder kalt, noch war es im Zimmer zu kühl. Doch immer, wenn sie den ersten Schluck Glühwein trank, dann löste das etwas in ihr aus. Ein Wohlbehagen, das ganz tief bis in ihr Innerstes reichte. Wärme und Nähe. Ach, sie konnte es kaum erklären. Und es fragte sie ja auch niemand danach.

Andreas trank ebenfalls aus seinem Glas und dann läutete er die nächste Scrabble-Runde ein. Es lief erwartungsgemäß wieder schlecht für Heta, doch sie gönnte ihm den Spaß, immer genau an den von ihr favorisierten Stellen auf dem Spielfeld seine Steine abzulegen.

Mittlerweile hatten sie bereits den zweiten Glühwein getrunken und Heta rieb sich die Augen.

»Ich glaube, das reicht für heute. Wie spät ist es eigentlich?«

Andreas sah auf seine Armbanduhr. »Oh, gleich zwölf. Dann räum ich mal ab.«

»Meine Güte, solche Spiele rauben wirklich viel Zeit.« Mit einem leichten Stöhnen erhob sich Heta aus ihrem Lehnstuhl, den sie sich eigens in die Dienststelle hatte liefern lassen. Da könne sie besser denken, hatte sie gegenüber der übergeordneten Dienststelle argumentiert, die alles bezahlen musste. Doch man war ja auch froh, dass sie freiwillig auf die Insel gegangen war. Sie ging jetzt kurz in die Beuge und ließ ihre Arme baumeln. Dann stellte sie sich wieder auf und reckte die Arme nach oben. Dann schüttelte sie sich.

»Soll ich dich noch bis zu deiner Wohnung begleiten?«

Auch das fragte er jedes Mal. Und sie lehnte wie immer ab.

Heta wollte gerade die Tür abschließen, als drinnen noch einmal das Telefon klingelte.

»Nanu«, sagte sie und drehte sich zu Andreas um, der schon losgegangen war. Er blieb stehen. »Wer kann das sein«, meinte er.

»Ich weiß nicht«, sagte Heta und ging zurück zu ihrem Schreibtisch und nahm ab. »Ja?«

»Heta«, hörte sie eine atemlos klingende Männerstimme. »Das hätte ich jetzt gar nicht gedacht, dass ich dich noch in der Dienststelle erreiche.«

»Tja«, sagte Heta. Im Moment wusste sie nicht, wer da sprach. Auch wenn ihr die Stimme durchaus bekannt vorkam. »Worum geht es denn?«

»Es wurde eine Tote entdeckt.«

»Klaas? Bist du es?« Langsam konnte Heta wieder klarer denken.

»Ja sicher bin ich das«, fluterte er zurück. »Was glaubst du denn wohl, wer dich sonst mitten in der Nacht anruft?«

Oh, solche Spitzen durfte sich wirklich nur Klaas erlauben. Nämlich, weil er die besten Fischbrötchen auf Borkum servierte und den leckersten Sanddornschnaps dazu, den er selber hinten im Garten zusammenmixte, wie er es immer nannte.

»Ich muss schon etwas genauer wissen, worum es da geht«, rumpelte sie zurück. »Also, wo bist du? Und vor allem, wo ist die Tote?«

»Sie sitzt auf einer Bank ganz in der Nähe von Sabines Teeladen«, fuhr er hastig fort. »Ich bin eben praktisch über sie gestolpert, als ich nach Hause wollte. Erst dachte ich ja, die ist nur eingenickt. Aber dann ... bei dem Wetter. Also ich näher ran und da hab ich’s gesehen. Man, den Blick von der, den werde ich mein Lebtag nicht mehr vergessen.«

Heta wusste, wo er war. Sie selber ging gerne zu Sabine Fornas in den Teeladen, um sich für lange Winterabende einzudecken. »Okay, ich bin gleich da. Und du rührst dich nicht vom Fleck.« Sie legte auf.

Andreas stand neben ihr. Er hatte alles mit angehört, weil sie auf Laut gestellt hatte. »Das sieht verdammt nach Arbeit aus«, meinte er.

Dann gingen sie beide, die Kragen hochgeschlagen, los in Richtung Ortskern.

 

Klaas hatte nicht zu viel versprochen. Bei der Toten handelte es sich um eine junge Frau um die dreißig, deren Gesicht, fahl und weiß vom Mondlicht beschienen, wie eine Totenmaske wirkte. Die Augen, groß und blau, glitzerten wie Glasmurmeln aus der Kinderzeit.

»Jesses«, stieß Heta aus, »und das im Dezember.«

»Sie merkt nicht mehr, wie kalt es ist«, erwiderte Klaas stoisch und zog seinen Schal fester um seinen Hals.

»Und sie saß genauso da?«

»Meinst du, ich hab noch an ihr rumgespielt oder was?« Klaas mimte den Echauffierten. Doch er wusste natürlich, was sie wissen wollte. »So, wie sie da jetzt sitzt, hab ich sie entdeckt, als ich hier nach Feierabend vorbeikam. Es war sonst niemand hier unterwegs. Jedenfalls keiner, den ich gesehen hätte. Ich bin zu ihr hin und hab sie angesprochen ...«.

»Aber sie hat nichts erwidert«, vollendete Heta, »ich weiß. Tja«, sie wandte sich an ihren Kollegen, »da müssen wir jetzt wohl das volle Programm fahren.«

Andreas nickte und zog sein Handy aus der Jackentasche und stellte sich etwas abseits hin, um die Spurensuche und den Gerichtsmediziner anzufordern.

»Hast du was dabei?«, fragte Heta und sah Klaas erwartungsvoll an.

»Klar«, raunte er und ließ seine linke Hand in die rechte Innentasche wandern. Zum Vorschein kam ein Flachmann. Er schraubt ihn auf und reichte ihn ihr.

Heta trank dankbar einen Schluck und reichte ihm dann die Flasche zurück. »Dein Sanddornschnaps ist einfach unvergleichlich.«

»Ich weiß.« Er setzte an und trank den Rest in einem Schluck aus. »Muss ich jetzt eigentlich noch hierbleiben?«

Heta trat von einem Bein aufs andere, während sie überlegte. Mittlerweile war es wirklich lausig kalt geworden hier draußen. Die Wirkung vom Glühwein hatte längst nachgelassen. »Naja«, meinte sie dann, »eigentlich nicht, wenn du mir alles gesagt hast.«

»Was sollte ich dir denn verschweigen?«, fragte er zurück und steckte den Flachmann wieder ein.

»Ich weiß nicht. Dinge eben, die man im ersten Moment sieht, dann aber wieder vergisst, weil man einfach zu geschockt ist. Sowas eben.«

»Das kann ich dir auch morgen früh in der Dienststelle erzählen, wenn mir denn noch was einfallen sollte.«

»Ja, du hast R echt. Geh ruhig nach Hause.«

»Dann bis morgen«, sagte er und machte sich auf den Weg.

Voller Einsatz

Nach gut einer Stunde war der Platz um den Tatort herum großzügig abgesperrt und hell erleuchtet. Die Tote saß da, als sei sie die Hauptdarstellerin in einer aufwändigen Filmproduktion.

Sabine vom Teeladen hatte über einen Anruf ihrer Freundin, die ganz in der Nähe des Tatorts wohnte, erfahren, dass da etwas los sei vor ihrem Laden. Also hatte sie sich direkt auf den Weg gemacht.

Das war Heta, die sie sofort zur Seite nahm, als sie sie um die Ecke kommen sah, gar nicht unlieb. Denn so hatten sie im Teeladen auf das Ermittlungsteam warten können und mussten nicht solange draußen frieren.

»Das ist alles so furchtbar«, wiederholte Sabine nicht zum ersten Mal. Sie hatte für die Ermittler einen Tee gekocht und sah nun mit ihnen gemeinsam nach draußen, wo sich der Gerichtsmediziner über die Tote beugte. Um ihn herum Blitzlichtgewitter, weil man das Opfer aus allen erdenklichen Perspektiven ablichtete.

»Da gebe ich dir natürlich recht«, pflichtete ihr Heta bei. Jemand, der sowas nicht alle Tage sah, dem musste schon der Atem stocken, das war klar. »Und dir ist wirklich nichts aufgefallen, als du deinen Laden abgeschlossen hast?

»Aber das war doch um kurz nach einundzwanzig Uhr«, erwiderte Sabine, »da sind doch kaum noch Menschen unterwegs, naja, vielleicht hier und da einige. Aber wenn sie dann da schon auf der Bank gesessen hätte, glaub mir, das hätte ich bemerkt.«

»Aber auf den ersten Blick weiß man ja nicht, ob jemand, der auf einer Bank sitzt, tot ist«, blieb Heta hartnäckig bei der Sache. Es wäre schon wichtig, zu wissen, seit wann die Tote dort gesessen hatte.

»Nein«, beharrte Sabine, »da saß niemand auf der Bank, das weiß ich ganz genau. Aber ...«.

»Aber?«

Sabine erinnerte sich an das Geräusch, das sie vernommen hatte, als sie abschloss. »Ach, das hat sicher nichts zu bedeuten«, winkte sie jetzt ab.

»Alles kann wichtig sein, also ...«.

»Naja, als ich vor dem Abschließen noch einmal vor den Laden trat, da habe ich etwas gehört. Jedenfalls glaube ich das.«

»Und was?«

»Nun ja«, wand sich Sabine, »eben ein Geräusch. Es klang so, als ob jemand stöhnen wurde oder so ähnlich.«

»Stöhnen?« Heta machte große Augen. Das konnte jetzt wirklich wichtig sein. Hatte Sabine die junge Frau doch einfach übersehen und sie war verletzt gewesen und hatte sich auf die Bank gesetzt, bevor sie endgültig starb.

»Ein Stöhnen oder auch ein langes Ausatmen, ich weiß nicht.«

»Aber du bist dir ganz sicher, du hast das gehört?«

Sabine nickte. »Doch eigentlich bin ich mir schon sicher.« Sie kam sich ein wenig albern vor.

»Aber die Tote, oder sagen wir besser mal, eine junge Frau, der es vielleicht nicht so gut ging, die hast du nicht gesehen zu dem Zeitpunkt?«

Sabine schüttelte bedauernd den Kopf. »Nein, da war niemand. Da bin ich mir nach wie vor sicher. Und das Geräusch, das habe ich ja auch nur kurz gehört und dann dachte ich, als ich niemanden sah, dass ich mir das vielleicht nur eingebildet habe.«

Heta konnte sehr gut nachvollziehen, wie Sabine sich jetzt fühlen musste. »Du musst dir keine Vorwürfe machen«, sagte sie deshalb. »Es muss ja nichts mit unserer Toten dort zu tun haben.« Sie wies mit ihrer Hand zum Fenster, wo sich der Gerichtsmediziner gerade wieder über das Opfer beugte.

»Ich geh dann mal raus«, sagte Andreas und verließ den Laden.

Die Frauen sahen ihm dabei zu, wie er jetzt mit dem Gerichtsmediziner sprach, während er seine Hände aneinander rieb. Dieser Winter war wirklich heftig. Und trotzdem war die Insel voller Urlauber, die sich um diese Zeit natürlich drinnen aufhielten. In einer Woche war Weihnachten und viele entflohen um diese Zeit den heimischen Gefilden, um ihren Verwandten zu entkommen. Und besonders beliebt bei den Inselgästen war natürlich das Silvesterfest am Meer. Insofern würde es schwer werden, auch noch einen Mord aufzuklären, wo doch jeden Tag neue Gäste kamen und einige nach Weihnachten oder kurz davor wieder abfahren würden.

»Heta?«

»Ja?«

»Muss ich eigentlich noch länger hierbleiben?«

Das war wohl der Rauswurf durch die Blume, dachte Heta. »Nein, das musst du nicht. Ich wollte sowieso auch gerade nach draußen gehen und mich nach den ersten Ergebnissen erkundigen. Geh ruhig nach Hause und versuche, nicht die ganze Nacht an die Tote zu denken.«

»Oh«, seufzte Sabine auf, »das ist leicht gesagt.«

»Ich weiß.«

Heta fuhr ihrer Freundin noch einmal über den Arm, um ihr Mut zu machen. Dann verließen die Frauen den Laden und Sabine machte sich auf den Heimweg.

 

»Heta«, begrüßte sie der Gerichtsmediziner, »ganz schön frostige Jahreszeit für einen Mord.« Er streifte seine Handschuhe ab, weil er mit der Arbeit fürs erste fertig war.

Um sie herum waren die weiteren Kollegen damit beschäftigt, jeden Stein umzudrehen, wie man so schön sagte. Gerade wurde der Mülleimer neben der Bank auf den Kopf gestellt.

»Hannes«, begrüßte sie ihn mit einem Nicken. »Kannst du mir schon etwas zur Todesursache sagen?«

Er schüttelte mit dem Kopf. »Nicht konkret. Aber ich tippe mal auf etwas, was weniger mit brachialer Gewalt zu tun hat. Äußere Verletzungen sind nicht erkennbar. Aber das kann sich ja noch ändern, wenn ich sie später auf dem Tisch liegen habe.«

»Es würde auch wohl kaum zusammenpassen, dass sie brutal erstochen wurde, wenn sie hier so friedlich sitzt. Vermutlich hat man sie vergiftet oder so.«

»Das könnte schon sein ...«.

»Aber wie ist sie dann hier auf die Bank gekommen?«, fügte sie zu ihren Überlegungen hinzu. »Sie wird ja nichts von dem Anschlag gewusst haben. Also, warum sitzt sie jetzt hier?«

»Na, der Täter hat gewartet, bis sie nichts mehr mitkriegt und dann hat er sie hierhergeschleift«, schlug Hannes vor.

»Denkbar.«

»Er wird sich wohl kaum mit ihr hier hingesetzt haben, um sie dann zu einem Giftcocktail einzuladen.«

»Ganz sicher nicht. Aber wie du schon sagst, wir sollten deine detaillierten Erkenntnisse abwarten.«

»Ist ja schon gut.« Er machte den Kollegen ein Zeichen, dass man die Tote nun abtransportieren konnte.

»So war das nicht gemeint. Sag mal, hast du etwas in ihren Sachen gefunden? Portemonnaie oder Ausweis?«

Er schüttelte mit dem Kopf. »Nein, nichts, was uns bei ihrer Identifizierung weiterhelfen könnte.«

»Dann ist es ja gut, dass ich vorhin ein Foto mit dem Handy gemacht habe. Ich werde das Bild am Morgen hier herumzeigen. Irgendwo muss sie schließlich hergekommen sein.«

»Jaja ...«. Hannes wickelte sich seinen Schal fest um den Hals, nachdem er sich seines Overalls entledigt hatte und ihn in seine Aktentasche stopfte. Dann zog er sich seinen grauen Mantel über. »Ich melde mich bei dir«, sagte er und ging davon.

Heta arbeitete gerne mit ihm zusammen. Er war geradeaus und verstand sie meist auch ohne große Worte. Und auf seine Arbeit war Verlass. Er irrte sich kaum, nein, eigentlich hatte er sich noch nie geirrt, wenn es um die Ermittlung einer Todesursache ging. Also war sie auch jetzt schon auf seine Ausführungen gespannt, die er in der Regel am Telefon übermittelte. Anschließend schickte er alles mit der Post nach. Er weigerte sich beharrlich, seine Obduktionsberichte per Mail zu senden. Das sei pietätlos, hatte er einmal ihr gegenüber erklärt. Und sie verstand, was er damit meinte. Der Tod kam immer noch auf die altmodische Art. Also musste man ihm auch derart begegnen und einen gewissen Respekt zollen, indem man darauf verzichtete, die Umstände des Ablebens durch die Atmosphäre zu jagen.

Als sie einmal Andreas davon erzählt hatte, der sich schon beim ersten Fall über das kauzige Benehmen von Hannes gewundert hatte, zeigte dieser kaum Verständnis, thematisierte es aber nicht weiter. Er hatte gelernt, sich mit den Eigenarten von Inselbewohnern und ihren Freunden zu arrangieren.

Die Tote wurde davongetragen und in einen Zinksarg gelegt. Erst jetzt fiel Heta auf, dass sie ganz in Schwarz gekleidet war. Ob das etwas zu bedeuten hatte? Sie würde gleich am Morgen in Erfahrung bringen, ob es einen Trauerfall auf der Insel gegeben hatte. Einen, außer der Ermordung dieser jungen Frau, die jetzt endlich, da der Deckel zugemacht gemacht wurde, von dem grellen Licht erlöst wurde. Ruhe in Frieden, dachte Heta bei sich.

»Komm«, sagte sie zu Andreas, »wir können hier heute nicht mehr viel ausrichten. Hannes hat auch nichts gefunden, was zu ihrer Identifizierung beitragen könnte.«

»Ich weiß«, erwiderte er, »also schlafen wir uns jetzt wohl erst mal aus, bevor es dann morgen in die Vollen geht.«

»Ja, so könnte man es auch wohl ausdrücken«, bestätigte Heta. »Wir sehen uns dann morgen früh.«

 

Als Heta in ihrer Wohnung angekommen war, machte sie nur die Stehlampe im Wohnzimmer an und setzte sich in ihren Sessel vor dem Fenster. Dann besah sie sich noch einmal die Fotos, die sie mit ihrem Handy von der Toten gemacht hatte. Es stimmte wirklich. Alles an der jungen Frau war schwarz. Außer ihrem fahlen kalkweißen Gesicht, in dem die schönen blauen Augen hervorstachen. Bestimmt kam sie aus der Stadt, dachte Heta. Sie wirkte gepflegt und die Wimpern waren lang und sauber getuscht. Bestimmt war auch der Mund gecremt.

Automatisch fuhr sie sich mit ihrer Zunge über die meist angerauten Lippen. Noch nie hatte sie Farbe aufgetragen, ja, nicht einmal Pomade. Vielleicht lag es einfach daran, dass selten jemand Interesse daran gehabt hatte, ihre Lippen zu berühren, geschweige denn zu küssen. Doch das spielte jetzt auch keine Rolle mehr.

Sie hatte sich längst damit abgefunden, dass die Emotionszug für sie keinen Stopp einlegen würde, sondern förmlich an ihr vorbeigerast war, ohne dass es ihr in den Jahren zuvor wirklich klargewesen wäre, dass etwas fehlte. Dafür aber liebte sie ihre Insel Borkum über alles. Es gab bestimmt Schlimmeres, als hier alleine zu sterben. Nun ja, das mochte die junge Frau sicher anders sehen, könnte es noch antworten.

Und so fuhren ihre Gedanken wieder zurück zu dem Opfer. Sie hatte die Hände gefaltet gehalten und keine Handschuhe getragen. Bestimmt hatte Hannes Recht, dass man sie zur Bank transportiert hatte, nachdem sie betäubt oder gar schon gestorben war. Irgendwie tat ihr die Tote leid, obwohl sie sie nicht kannte. Aber sie war noch so jung. Hätte ihr ganzes Leben noch vor sich gehabt. Was war nur geschehen, dass jemand dieses Leben ausgelöscht hatte?

Heta fielen langsam die Augen zu. Mittlerweile war es fast vier Uhr in der Nacht. Also beschloss sie, sich jetzt ins Bett zu legen.

Wer ist die Tote?

Es erwies sich als ziemlich aufwändig, die Identität des Opfers in Erfahrung zu bringen. Schon um kurz nach acht war Heta nach einem Kaffee auf nüchternen Magen losgezogen und hatte die nächstliegenden Hotels zum Fundort der Leiche abgeklappert. Ohne Ergebnis. Niemand kannte diese junge Frau und die meisten schreckten zunächst zurück, als sie ihnen das Foto auf dem Handy zeigte. Kein Wunder, sie sah ja auch wirklich verstörend aus. Vor allem, wenn man wusste, dass sie schon tot war, bekam man eine Gänsehaut von ihrem starren Blick. Heta machte so etwas nie gerne, aber in diesem Fall hatte sie keine andere Wahl.

Noch drei Straßen abklappern, dachte sie, dann gibt es erst mal eine schöne Kanne Tee in dem Café, in dem sie gerne saß und die Leute beobachtete.

Und erst beim letzten Anlauf hatte sie endlich Glück. Die junge Frau an der Rezeption erkannte die Tote sofort.

»Das ist Belinda Schnieders, unser Gast aus Zimmer einhundertundsieben.«

»Oh«, machte Heta, weil sie gar nicht mehr damit gerechnet hatte. »Und da sind Sie sich ganz sicher?«

Die Angestellte nickte mechanisch, während sie ihren Blick gar nicht von Hetas Handy lösen konnte. »Sie wird seit heute Morgen gesucht.«

»Gesucht?«

»Ja. Ihr Ehemann hat sich heute Morgen völlig aufgelöst an uns gewandt und um Hilfe gebeten.«

Das musste Heta jetzt alles ganz genau bis ins kleinste Detail wissen. Sie schob ihre Unterlippe vor und starrte die junge Frau förmlich an, die verstand, dass die Sache ernster war, als vermutet. Es gab hin und wieder schon mal Paare, wo der eine sich plötzlich abseilte, um ein wenig alleine zu sein. Entweder nach einem Streit oder sowieso, weil es für manche Paare schon eine Herausforderung war, Tag und Nacht zusammen zu sein. Sie steckte das Handy wieder ein, damit sich die Angestellte konzentrieren konnte.

»Also«, fuhr diese dann fort, »es war so gegen halb acht. Ich weiß das so genau, weil ich schon wieder hier war.«

»Schon wieder?«, hakte Heta nach, weil ihr die Bemerkung merkwürdig erschien.

»Ja, eigentlich hätte ich den Vormittag frei gehabt, weil ich ja gestern schon bis zweiundzwanzig Uhr Dienst hatte. Doch eine Kollegin hat sich plötzlich krankgemeldet, also rief man mich an.«

»Verstehe. Und dann kam also heute Morgen der Ehemann der Toten zu Ihnen und suchte nach seiner Frau?«

Sie nickte. »Er stand ziemlich neben sich. Er sagte, dass er aufgewacht sei und seine Frau sei nicht im Zimmer gewesen. Auch im Bad nicht. Und das sei ungewöhnlich, sagte er, weil sie sich eigentlich immer zusammen fertigmachten, bevor sie gemeinsam zum Frühstück gingen.«

»Pat und Patachon Syndrom also«, murmelte Heta, jedoch so leise, dass die Angestellte sie nicht verstand und nur merkwürdig ansah. »Schon gut, erzählen Sie bitte weiter.«

»Hm, mehr gibt es da eigentlich nicht. Er sagte nur, dass wir uns sofort bei ihm melden sollten, wenn seine Frau wieder ins Hotel kommt.«

»Er sucht nicht nach ihr?«

»Doch, natürlich. Er ist sofort rausgegangen und hat uns seine Handynummer dagelassen.«

»Also ist er jetzt nicht auf seinem Zimmer?«

»Da müsste ich anrufen.«

Heta nickte und ließ ihren Blick durch das Foyer schweifen. Bei den vielen schönen Hotels auf Borkum hatte sie schon hin und wieder darüber nachgedacht, sich für ein paar Tage irgendwo einzuquartieren. Alleine schon wegen des üppigen Frühstücks, um das man sich nicht selber kümmern musste. Große weiche Doppelbetten und das ganz für sich alleine. Zuhause hatte sie es bisher nur auf einen Meter vierzig gebracht. Immerhin. Da fiel dann auch das Alleinsein nicht so auf. Allerdings kam sie langsam sowieso in ein Alter, wo sie es genoss, alleine im Bett zu liegen. Mal kreuz und quer oder lange mit Licht, ohne, dass jemand deshalb stöhnte. Sie wusste von einer entfernten Freundin, dass diese und ihr Ehemann immer öfter in getrennten Zimmern übernachteten. Wie mochte es sich wohl anfühlen, wenn man sich, nachdem man sich einmal heftigst geliebt hatte, immer weiter wieder voneinander entfernte. Sie selber würde es nie erfahren.

Die Angestellte hatte wieder aufgelegt. Schon alleine, weil jemand abgenommen hatte, ging Heta davon aus, dass Pascal Schnieders oben war. »Er ist im Hotel.«

»Gut, dann werde ich mich mal mit ihm unterhalten. Und vielen Dank für Ihre Unterstützung.«

»Gerne.« Die junge Frau strahlte wieder übers ganze Gesicht. Das Business holte sie in den Alltag zurück.

 

Heta ging über die Treppe und musste sich abstützen, als sie vor dem bewussten Zimmer stand. Was war das nur? Kreislauf? Übergewicht? Sicher beides. Das letzte Mal, als sie beim Arzt gewesen war, hatte es schon geheißen, dass Obst und Gemüse auch seine Vorzüge hätten. Das war nun sieben Jahre her. Was gut ist, weiß ich selber, hatte Heta gedacht und sich entschieden, das zu tun, wonach ihr war. Das Leben war einfach zu kurz, um es mit Essensplänen zu vergeuden. Das würden ihr die zahlreichen Leichen, die ihren Berufsalltag pflasterten, wahrscheinlich bestätigen.

---ENDE DER LESEPROBE---