Jan Krömer - Ermittler in Ostfriesland - Die Fälle 9 - 11 - Moa Graven - E-Book

Jan Krömer - Ermittler in Ostfriesland - Die Fälle 9 - 11 E-Book

Moa Graven

0,0
8,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Jan Krömer ist Ermittler in Ostfriesland und jagt mit seiner Kollegin Lisa Berthold immer Serienkiller. In diesem Sammelband finden Sie: H.E.A.T.H.E.R Jan Krömer und Lisa Berthold ermitteln in einem Fall, der mit einem illegalen Autorennen in Aurich startet. Und eigentlich ist es noch gar kein Fall für sie. Bis zu dem Tag, als man unter den vielen Opfern eine Leiche findet, die gar nichts mit dem Autorennen zu tun hatte. Und bald gibt es weitere Ungereimtheiten und es keimt der Verdacht, dass sie nicht die einzige Leiche bleiben wird, die unter mysteriösen Umständen entsorgt wurde. LAUTLOS Eine Tote, die sich mit einem Mann aus dem Internet über eine Flirtline verabredete, wird mit durchgeschnittener Kehle im Ihlower Forst aufgefunden. Jan Krömer und Lisa Berthold versuchen, den Mann, der sich Klaus Wenger nennt, aufzuspüren. Doch das ist unmöglich, weil das Netz nicht alles preisgibt, wenn der Täter es nicht will. Makaber an dem Fall: In dem Mantel der Toten ist ein menschlicher Knochen eingenäht. Er gehört zu einer jungen Frau, die vor über zwanzig Jahren ermordet wurde. Wer hat ein Interesse daran, dass so weit in die Vergangenheit geblickt wird? Immer dichter zieht sich der Kreis um eine Handvoll Verdächtige, als auch noch Emily ins Spiel kommt. STILLE NACHT - TOTENSTILL Das KRIMI Highlight zu Weihnachten! Crossover Ostfrieslandkrimi mit Jan Krömer und Lisa Berthold, Kommissar Guntram und Katrin Birgner, Eva Sturm, Joachim Stein, Mona Lu und Hauke! Lisa ist sich unsicher, ob sie wirklich das richtige getan hat. Doch nun ist es zu spät. Die Kollegen aus Leer, Langeoog und Friesland hat sie hinter Jans Rücken zu einer Anti-Weihnachtsparty eingeladen. Und dann passiert ausgerechnet am Heiligen Abend ein grausamer Mord.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



H.E.A.T.H.E.R
Psychothriller von Moa Graven
Zum Inhalt
Nur eine Nacht wie jede andere
Der schlimmste Tag
Vier Wochen später
In Sorge
Vermisst
Es beginnt
Das Elternhaus
Mark
In der Dienststelle
Über 20 Jahre früher
Auf dem Hof
Der Eindringling
Einzelteile
Der vergangene Tod und der nie endende Schmerz
Gas geben
Familienbande
Wie geht es weiter?
Die Beine
Du bist so schön
So anders
Der rote Faden
Auf dem Hof
In Bedrängnis
In der Dienststelle
Viveca
Auf dem Hof
Benebelt
Zuhause
Viveca und Jan
Lisa und Chief
Alltag irgendwie
Lautlos
Der 10. Fall für Jan Krömer
Zum Inhalt
Im Wald
Zwanzig Jahre später
Emily
Oles Bericht
Dating
Bestialisch
In der Dienststelle
Schlechte Nachrichten
Erste Spuren
Der neue Job
Tannenhausen
Das ungute Gefühl
Emily
Dienst ohne Aussicht
Vollmond
Blanke Theorie
Eine Spur führt zu Ruben
Lautlos
Leerlauf
Gefoltert
Die Nerven liegen blank
Spurlos verschwunden
Das Licht am Ende des Tunnels
Ausweglos
In der Dienststelle
Aufbruch
Die ganze Wahrheit
Die Fjorde in Norwegen
Wieder zuhause
Stille Nacht - Totenstill
Ostfrieslandkrimi von Moa Graven
Zum Inhalt
Winterkalt
Drei Tage vor Weihnachten
Heiligabend
Erster Weihnachtstag
Festessen
Eva
Der Morgen danach
Weihnachten zu zweit
Die Ermittlungen beginnen
Schritt in die Vergangenheit
Stefan Karl
Nach dem Fest
Silvester und das Neue Jahr
Zur Autorin
Die Krimi-Reihen von Moa Graven im Überblick
Die Kommissar Guntram Krimi-Reihe in Leer
Eva Sturm auf Langeoog
Die Profiler Jan Krömer Krimi-Reihe in Aurich
Der Adler – Joachim Stein Krimi-Reihe in Friesland
Sand und Meer – Kriminalromane Ostfriesland
Das Leben von Erik
Soko Norddeich 117
Die Anwältin
Ostfriesenklinik
Ostfriesische Inselkrimis
Meine Autobiografie
Auszug aus der Biografie
Vielen Dank für Ihr Interesse an meinen Krimis!

 

OSTFRIESLANDKRIMIS

 

Jan Krömer

Ermittler in Aurich

 

Drei Bände in einem Bundle - IV -
 
»H.E.A.T.H.E.R« Band 9
»Lautlos« Band 10
»Stille Nacht - Totenstill« Band 11

 

 

Moa Graven ist Ostfriesin und schreibt seit 2013 Krimis. Erst mit fünfzig hat sie die Leidenschaft für das subtile Verbrechen auch für sich entdeckt, als sie einen Fortsetzungskrimi für ein Monatsmagazin schrieb. Seit 2017 lebt die Autorin vom Schreiben und eröffnete ein Krimihaus in Rhauderfehn, wo man sie auch besuchen kann. Mit über 60 Krimis, die sie über 500.000 Mal im Eigenverlag verkaufte, gehört sie zu den erfolgreichsten Krimiautorinnen in Deutschland.

Impressum

Jan Krömer Ermittler in Aurich - Bundle IV

mit den Fällen 9, 10 und 11 Ostfrieslandkrimis von Moa Graven

Alle Rechte am Werk liegen bei der Autorin

Erschienen im Criminal-kick-Verlag Ostfriesland

Das Krimihaus – 3. Südwieke 128a – 26817 Rhauderfehn

November 2019

Umschlagfoto und Gestaltung: Moa Graven

H.E.A.T.H.E.R

Psychothriller von Moa Graven

Zum Inhalt

 

Eine Nacht wie jede andere in Aurich. Bis zu dem Augenblick, wo sich eine Gruppe von Freaks auf die Tour zu einem illegalen Autorennen durch die Innenstadt macht. Es kommt zu einer Massenkarambolage, bei der viele Menschen sterben.

Kein Fall für Jan Krömer und Lisa Berthold. Bis zu dem Tag, an dem klar wird, dass unter den Todesopfern die Leiche einer jungen Frau ist, die nichts mit dem Unfall zu tun hatte. Die beiden finden die Identität des Opfers heraus und im Laufe der Ermittlungen steht bald fest, dass Regina nicht das einzige Opfer war, dass an Unglücksstellen gefunden wurde, mit denen sie nicht das Geringste zu tun hatten.

 

Es schien eine Nacht zu werden

wie jede andere in Aurich.

Doch dann kam alles ganz anders.

Nur eine Nacht wie jede andere

 

In seinen Adern pulsierte es. Er steckte sich die vierte oder fünfte Zigarette an diesem Abend an und inhalierte tief.

Die Motoren der anderen Wagen um ihn herum heulten immer wieder auf. Alle waren genauso aufgeregt wie er.

Nur einmal im Jahr trafen sie sich hier in Aurich oder anderswo. Der Treffpunkt wurde immer kurzfristig entschieden. Nur einmal im Jahr gab es diesen verdammten Kick, der sie alle anderen Tage vergessen ließ.

Dieses Mal war Gina nicht dabei. Vielleicht rauchte er deshalb eine nach der anderen. Sie hatte vor ein paar Wochen mit ihm Schluss gemacht. Er kam nicht drüber weg. Er vermutete, dass ein anderer dahinter steckte, dass sie plötzlich zickte, wenn er sie in den Arm nahm und dann schließlich ihre Sachen packte und verschwand. Vielleicht würde er es nie erfahren. Gina war so eine. Aus den Augen, aus dem Sinn. Doch das stimmte nicht so ganz, auch wenn alle von ihr sagten, dass sie unberechenbar sei. Dass sie auf keinen Fall etwas auf ewig wäre. Und am Anfang sah er es genauso, als er sie auf einer dieser Partys, bei denen alles passieren konnte, traf. Zunächst hatte er sie für einen Junkie gehalten. Doch dann stellte sich heraus, dass sie einfach nur müde war und sie sich deshalb in die hinterste dunkle Ecke verkrochen hatte und mit nur halb geöffneten Augen dem bunten Treiben auf der Tanzfläche zusah.

Er flippte seine halb gerauchte Zigarette nach draußen. Er wollte jetzt nicht an Gina denken.

 

Es standen mittlerweile so viele Wagen auf dem Gelände im Gewerbegebiet, dass der ganze Platz erhellt schien. Bestimmt waren es über vierzig aufgemotzte Wagen. Viele lebten nur für diesen einen Tag. Gingen nur deswegen jeden Morgen zur Arbeit, um sich die vielen Besuche in der Werkstatt für das Tuning leisten zu können.

Ihm ging es auch so. Er hatte sich den schon über zehn Jahre alten Audi GT von seinem Gesellenlohn als Maler im ersten Jahr zusammengespart. Der Vorbesitzer würde ihn jetzt bestimmt nicht wiedererkennen. Tiefergelegt, breite Schluffen und Felgen, in denen sich die Mädchen im Sommer spiegelten, wenn er sie sanft gegen den Wagen drückte, um sie zu küssen.

Seitdem er diesen Wagen hatte, liefen sie ihm praktisch nach. Nur Gina nicht. Als er ihr das erste Mal stolz seine aufgemotzte Karre zeigte, hatte sie die Augenbrauen hochgezogen und gefragt, ob man damit auch bis nach Kalifornien käme. Das war das Einzige, was sie interessierte. Gina liebte die Sonne und den Strand. Mehr brauchte sie nicht zum Leben. Er hatte sie gleich gefragt, was zum Teufel sie dann in Aurich wollte. Sie hatte ihn merkwürdig angesehen und nur »irgendwann bin ich auch da« gesagt. Und vielleicht hatte sie jetzt ihren Traum wahrgemacht und lag in der Sonne. Doch er wollte jetzt verdammt nochmal endlich nicht mehr an Gina denken. Er trat das Gaspedal durch und ließ den Motor aufheulen. Das war besser als Sex. Jedenfalls in diesem Moment.

 

Dann sah er den Wagen von Memphis. Niemand wusste, wann Marco sich diesen Spitznamen zugelegt hatte. Und er fuhr auch keinen Amischlitten, sondern einen alten aufgemotzten Opel. Vielleicht träumte er genauso wie ... nein, er wollte ihren Namen nicht schon wieder denken. Und komischerweise tauchte er immer öfter auf, desto mehr er versuchte, ihn sich aus dem Kopf zu schlagen.

Memphis drehte eine Runde um die Wagen, die bei seiner Ankunft aufgeheult hatten. Jetzt waren sie komplett. Gleich würde es endlich losgehen.

Der schlimmste Tag

 

Keine zwei Stunden später erlebte Alfred Janssen seinen schwärzesten Tag in seinem bisherigen Leben.

 

Eigentlich war er mit seiner Frau Mathilde ruhig ins Wochenende gestartet. Sie hatten sich einen Krimi im ZDF angesehen und wollten früh schlafen gehen, weil sie am nächsten Tag nach Groningen fahren würden.

Gegen kurz vor sechs am Samstagmorgen klingelte dann das Handy, mit dem Alfred immer für den Notfall erreichbar war. Er selber hörte es gar nicht, weil er sich vor dem Zubettgehen noch ein Pils gegönnt hatte, weil er zu fortgeschrittener Stunde hoffte, dass an diesem Wochenende alles ruhig bleiben würde.

»Alfred ...«.

Mathilde rüttelte an dem Arm ihres Mannes.

»Was is denn«, kam es schlaftrunken von seiner Seite.

»Dein Handy klingelt. Hörst du das denn nicht?«

Augenblicklich schreckte er im Bett hoch und griff auf seinen Nachttisch.

»Gott, das gibt es doch nicht«, sagte er dann. »Ich mache mich sofort auf den Weg. Dauert keine zehn Minuten.«

Er legte das Handy zurück auf den Nachttisch und sprang aus dem Bett.

»Was ist denn los?«, fragte Mathilde erschrocken.

»Massenkarambolage in der Auricher Innenstadt. Viele Verletzte, vielleicht auch Tote.«

»Oh mein Gott.«

Jetzt war auch Mathilde hellwach.

»Ich mach dir schnell einen Kaffee.«

Alfred nickte und verschwand im Bad. Er wusste ja, dass sie es nur gut meinte. Doch für einen Kaffee hatte er jetzt wirklich keine Zeit mehr.

Zwei Minuten später drückte er seiner Frau einen Kuss auf die Stirn und ging zu seinem Wagen.

 

Er hatte sich ja alles Mögliche vorgestellt auf dem Weg zu seiner Leitstelle in Aurich. Doch was ihn dann erwartete, war schlimmer als sein größter Albtraum.

Die ganze Auricher Innenstadt war von der Polizei abgesperrt worden. Das erste, was er von seinen Kollegen hörte, war, dass mindestens dreißig Wagen in den größten Unfall, den Aurich je erlebt hatte, involviert seien. Wie es überhaupt zu dieser Katastrophe gekommen war, war noch unklar.

Die ersten Toten waren bereits geborgen worden.

Und dann sah Alfred das junge Mädchen. Blutüberströmt lag sie mitten auf der Straße und rührte sich nicht mehr.

Das Blaulicht, die Sirenen und die vielen weinenden Menschen um ihn herum machten Alfred fassungslos.

In der Morgendämmerung bekam das ganze Szenario etwas Unwirkliches.

Er beugte sich zu dem Mädchen herunter und suchte nach ihrem Puls. Er schob den Ärmel ihrer weißen Bluse hoch, der bereits von Blut getränkt war.

Da war nichts mehr zu holen. Oder doch? Denn plötzlich bewegte sich ihr Brustkorb und sie gab röchelnde Laute von sich. Das waren wohl nur die letzten Atemzüge aus ihrer Lunge, die das Blut ausspuckten. Sie bäumte sich kurz auf und sackte wieder in sich zusammen.

Jetzt war wirklich kein Puls mehr zu spüren. Alfred drückte ihre großen dunklen Augen, die in den Himmel starrten, mechanisch zu.

 

»Das ist wie ein Schlachtfeld«, sagte sein Kollege, der eine graue Decke über die Tote legte.

»Weiß man schon, was genau passiert ist?«

Der Angesprochene schüttelte den Kopf. »Aber ich vermute, dass es eins von diesen illegalen Autorennen war, du weißt schon ...«.

Alfred nickte. In diesem Moment war er froh, dass sein Sohn Hannes sich nicht für schnelle Wagen interessierte, sondern weit weg von Ostfriesland an einer Uni Chemie studierte.

»Was machst du eigentlich hier? Du hast doch gar keine Bereitschaft dieses Wochenende?«

»Hm ... irgendwie muss ich wohl trotzdem in die Kette mit reingekommen sein. Macht aber nichts, ich helfe gern.«

Und es stimmte, selbst unter diesen Umständen. Er war schon als kleiner Junge bei der Feuerwehr eingetreten. Schon sein Vater und Großvater hatten es ihm vorgelebt, dass man etwas Sinnvolles in seiner Freizeit tun sollte. Und bestimmt war es sinnvoll, sich jetzt um die Überlebenden zu kümmern.

Die beiden nickten sich zu und folgten jetzt zwei Sanitätern, die einen Verletzten jungen Mann davontrugen.

Es gab gar nicht mehr viel anderes zu tun, als das. Denn eingeklemmt in seinen Wagen war niemand. Und auch keiner der Wagen brannte. Sie waren da. Und schon das war für die anderen Helfer ein gutes Gefühl.

 

»Gina«, murmelte ein blutüberströmter junger Mann immer wieder, während das Blaulicht sich in seinen Augen spiegelte.

»Ist da doch noch jemand im Wagen?«, fragte Alfred, um sich nützlich zu machen.

»Ne«, antwortete der Sanitäter, der sich bereits um den Verletzten kümmerte, knapp. »Der war alleine im Wagen. Keine Ahnung, wen der meint.«

 

Die Rettungsarbeiten dauerten bis zum Läuten der Kirchenglocken. Alfred und Mathilde hatten keine Lust mehr, nach Groningen zu fahren. Zu schlimm war das, was geschehen war.

»Willst du Hannes nicht anrufen?«, fragte Mathilde, als Alfred sich alles von der Seele geredet hatte. Jedenfalls das, was sie nicht noch mehr erschüttern würde als ohnehin schon.

»Hannes?«, fragte Alfred zurück, der nicht ganz verstand.

»Na ja, ich will einfach hören, dass es ihm gut geht ...«, flüsterte Mathilde und Alfred verstand.

 

Es würde lange dauern, bis man wusste, wer überhaupt alles in den schrecklichen Unfall verwickelt war.

Vier Wochen später

 

Jan hatte sich in eine dicke Decke eingemummelt auf die blaue Bank draußen vor dem Haus gesetzt. Chief lag zu seinen Füßen und starrte gemeinsam mit ihm ins Nichts.

Es würde nicht mehr lange dauern, bis die ersten Nachtfröste kämen. Wieder ging ein Sommer zu Ende, ohne dass er auch nur einen Tag die Lust verspürt hätte, sich in die Sonne zu legen, zum Schwimmen zu gehen oder ein Eis zu essen. Im selben Augenblick fragte er sich, wieso er überhaupt so trivial dachte. Seit wann interessierten ihn derart Unternehmungen überhaupt?

Vielleicht lag es an Helif, ging es ihm durch den Kopf. Der junge Afrikaner, der hier bei ihm und Lisa im Haus gewohnt hatte für kurze Zeit, er hatte auf absurde Art dafür gesorgt, dass Jan sich plötzlich für das normale Leben interessierte. Obwohl man Helif auf brutalste Weise zusammengeschlagen hatte, ging er doch mit einem Lächeln zurück in seine Heimat. Oder vielleicht gerade deshalb. Denn noch immer gab es keine Spur von den rechts motivierten Tätern, von denen man ausging. Wer sonst sollte sich animiert fühlen, einen Menschen halb zu Tode zu prügeln, nur weil er eine andere Hautfarbe hatte? Es hatte noch weitere Zwischenfälle mit Asylanten gegeben und die Wahl im September würde sicher zeigen, dass es mehr kranke Hirne in Deutschland gab, als man bisher angenommen hatte. Sie marschierten dann sicher in den Bundestag und zeigten ihre böse Fratze.

 

»Jan?«

Lisa war nach draußen gekommen und sprach ihn offensichtlich nicht zum ersten Mal an, denn sie stemmte die Hände in die Seiten und sah ihn stirnrunzelnd an.

»Ja?«

Er zog die Decke noch fester um sich und sah sie teilnahmslos an.

»Ist es nicht zu kalt hier draußen?«

»Deshalb habe ich ja eine Decke dabei«, antwortete er und schob seine Füße unter Chiefs Rücken.

»Na, dann ist ja gut. Aber ich muss dich trotzdem in eurer Gemütlichkeit stören. Ein Kollege von der Streife hat angerufen.«

»Und warum?«

»Na ja, es geht nochmal um den spektakulären Unfall von vor ein paar Wochen.«

Jetzt wurde Jan hellhörig. Es klang nach Arbeit, mit der er sich ablenken konnte.

»Was ist denn damit?«

»Er meinte, wir sollten mal besser ins Leichenschauhaus kommen.«

»Ich verstehe nur Bahnhof ...«.

»Das ging mir auch so. Aber er wollte nichts weiter sagen, sondern meinte, es wäre besser, wenn uns der Gerichtsmediziner alles erklärt, bevor er was Falsches sagt.«

»Hm ... klingt merkwürdig.«

Jan wickelte sich aus der Decke und Chief erhob und streckte sich.

»Dann sollten wir nach Oldenburg fahren«, sagte Jan und ließ die Decke achtlos auf der Bank liegen.

 

Der Gerichtsmediziner machte ein bedrücktes Gesicht, als er die beiden wortlos in den Kühlraum führte.

Er zog eine Lade heraus.

»Es handelt sich um ein junges Mädchen«, sagte er dann und zog das Laken von ihrem Körper.

Jan und Lisa sahen sich die Tote an. Ihr Körper war bis auf ein paar blaue Flecke praktisch unversehrt.

»Sie hatte also mit der Massenkarambolage vor ein paar Wochen zu tun?«, fragte Jan und rieb sich übers Kinn.

»Ja, vielleicht«, antwortete der Gerichtsmediziner und legte seine Hand auf seinen ausladenden Bauch.

»Was heißt vielleicht?«, mischte sich Lisa ein. »Der Kollege aus Aurich hat schon in Rätseln gesprochen, als er mich anrief. Ich finde, so langsam sollten wir mal erfahren, warum wir eigentlich hier sind.«

Der Mann nickte. Dann legte er seine rechte Hand auf die Stirn der Toten und zog an ihrem Augenlid.

»Deshalb«, sagte er und zeigte auf die Stelle, wo für gewöhnlich ein Auge zum Vorschein kam.

Jan beugte sich tief herunter.

»Das Auge fehlt«, stellte er emotionslos fest. »Hat sie es bei dem Unfall verloren?«

»Das könnte sein«, meinte der Gerichtsmediziner, »ist aber unter den gegebenen Umständen eher unwahrscheinlich ...«.

»Also glaubst du nicht daran, stimmt’s?«, schlussfolgerte Jan durch seine zögerliche Antwort.

»Ich habe da so meine Zweifel«, meinte er. »Denn ihr seht ja selbst, dass ihr praktisch nichts zugestoßen ist. Es fehlen nur die Augen.«

»Beide?«, fragte Lisa. »Wie kann das denn bei einem Unfall passieren? Da müsste schon ihr ganzes Gesicht in Mitleidenschaft gezogen worden sein, wenn ihr mich fragt.«

»Das sehe ich auch so«, meinte der Gerichtsmediziner. »Und deshalb glaube ich auch nicht, dass es bei dem Unfall passiert ist.«

»Ich verstehe jetzt eigentlich gar nichts mehr«, meinte Jan nachdenklich. »Wieso wird sie nicht verletzt, so wie alle anderen? Und warum fehlen ihre Augen? Ich schätze, da ist noch etwas, das dir komisch erscheint, hab ich recht?«

Der Gerichtsmediziner ließ endlich das Augenlid los und das Loch im Gesicht der Toten schloss sich wieder.

»Ja, da ist noch was«, begann er. »Ich glaube nicht, dass sie in den Autounfall involviert gewesen ist, denn sie muss bereits vor dem besagten Tag gestorben sein.«

»Aber man hat sie unter den übrigen Opfern gefunden, oder etwa nicht?«, fragte Lisa.

»Ja, das hat man«, bestätigte der Gerichtsmediziner. »Aber meine Untersuchungen sagen etwas anderes.«

»Und deshalb sind wir also hier«, meinte Jan, »ich verstehe langsam, warum der Kollege am Telefon nicht mehr gesagt hat.«

»Man hat die Tote doch wohl nicht unter die anderen Opfer geschmuggelt?«, fragte Lisa mehr sich selbst und sah von einem zum anderen.

»Irgendwie sieht es aber ganz danach aus«, antwortete der Gerichtsmediziner. »Und deshalb hat sie auch keine weiteren Verletzungen.«

»Ihr fehlen nur die Augen«, murmelte Jan, »und irgendjemand hat die Gelegenheit genutzt, sie bei dem Unfall loszuwerden.«

»Und vorher hat er sie hoffentlich umgebracht«, sagte Lisa, »ich meine, bevor er ihr die Augen entfernt hat.«

»Doch, das hat er«, bestätigte der Gerichtsmediziner.

»Wie lange ist sie schon tot?«, fragte Jan.

»Hm ... ich würde sagen, vielleicht zwei bis höchstens drei Monate.«

»Also hat der Täter die Tote so lange aufbewahrt, bis sich eine Gelegenheit für ihn ergab, sie loszuwerden.«

»Aber er konnte doch nicht wissen, dass dieser grausame Unfall passieren würde«, gab Lisa zu bedenken. »Wieso hat er die Tote denn nicht einfach auf andere Art verschwinden lassen?«

»Das ist eine interessante Frage«, meinte Jan, »wieso gerade bei dem Unfall? Er hätte sie irgendwo vergraben können oder einfach in einen Fluss werfen.«

»Und was hat er mit ihren Augen gemacht? Ich finde, das ist die viel spannendere Frage«, meinte Lisa trocken.

»Ja, was hat er mit ihren Augen gemacht«, wiederholte Jan.

»Falls es euch noch interessiert, wie sie gestorben ist …«, mischte sich der Gerichtsmediziner in ihre Unterhaltung ein.

»Klar«, sagte Lisa.

»Gut. Also, soweit ich es feststellen kann, ist sie langsam verblutet. Es gibt da auf dem Rücken einen großen Einstich, in dem offenbar eine Art Kanüle gesteckt hat.«

»Verblutet?«

»Ja, und zwar wirklich langsam ...«.

»Damit hat der Täter vielleicht Zeit gewonnen, bis er endlich die Augen entnommen hat. So blieb sie am Leben und die Augen funktionstüchtig.«

»Du bist ekelhaft«, sagte Lisa und warf Jan einen entsprechenden Blick zu.

»Aber er hat recht«, pflichtete der Gerichtsmediziner Jan bei. »Dem Täter ging es bestimmt nur um die Augen.«

»Also gar nicht ums Töten an sich«, stellte Jan pragmatisch fest. »Er wollte sie nicht in erster Linie umbringen, sondern er brauchte nur ihre Augen.«

»Wer macht so etwas?«, fragte Lisa wieder. »Und was hat er mit den Augen gemacht?«

»Das wird unsere Kernfrage werden«, antwortete Jan, »wo sind die Augen der Toten geblieben? Wissen wir, wer sie ist?«

Der Gerichtsmediziner zuckte mit den Schultern, was so viel hieß, wie, dass man die Identität der Toten bisher nicht hatte in Erfahrung bringen können.

Sie standen ganz am Anfang einer bizarren Mordermittlung.

In Sorge

 

Karin Schneider hängte gerade die Wäsche an die Leine im Garten und war mit ihren Gedanken doch ganz woanders.

Sicher, Regina war erwachsen und konnte tun und lassen, was sie wollte. Und langsam hatte sich Karin mit dem Gedanken abgefunden, dass ihre Tochter nicht war wie alle anderen. Nach der Schule hatte sie keine Lehre angefangen, wie die anderen Nachbarstöchter, sondern sie war erst einmal ans Meer getrampt. Damals war sie gerade siebzehn geworden und Karin hatte nicht eine der Nächte, in denen ihre Tochter unterwegs war, durchgeschlafen.

Und sie hatte auch keine starke Schulter, an die sie sich lehnen konnte, denn sie zog das Mädchen seit ihrem zehnten Lebensjahr alleine groß. Gina, wie sie sich selber lieber nannte, war schon früh zur Halbwaise geworden, als ihr Vater bei einem Arbeitsunfall bei einem Sturz aus zehn Meter Höhe auf einer Baustelle starb.

Es war eine schlimme Zeit gewesen.

Und Karin hatte keine Lust, sich daran zu erinnern, als sie die letzte Klammer über die Jeans ihrer Tochter schob.

Sie wischte sich eine lange Strähne ihrer dunklen Locken aus dem Gesicht und sah zum Nachbarhaus.

Bei den Schmidts lief alles normal. Die Tochter machte eine Ausbildung zur Friseurin und ab und zu war Karin ihr Versuchsobjekt, wenn die Spitzen geschnitten werden mussten. Einmal hatte Lydia ihr sogar angeboten, die Haare kunstvoll hochzustecken und es hatte ziemlich gut ausgesehen.

Doch für gewöhnlich schnappte Karin sich morgens nur ein Haargummi, um ihre vielen Haare zu bändigen. Für wen sollte sie sich schon schön machen? Sie ging nie aus. Wenn sie im Supermarkt frei hatte, dann fuhr sie nach Hause und kümmerte sich lieber um den Haushalt und den Garten.

Ja, ihr Leben war bestimmt langweilig für eine Frau von gerade mal sechsunddreißig Jahren. Und Gina sagte immer, dass sie sich doch wieder einen Mann suchen sollte, um nicht mehr so viel alleine zu sein.

Das sagte sich so leicht. Nach dem Tod von Rüdiger war sie innerlich zusammengebrochen und hatte nur noch für ihre Tochter durchgehalten. Rüdiger war ihr Leben gewesen. Sie kannten sich schon von der Schule und Karin war schon mit fünfzehn schwanger geworden. Das hätte das Ende für ein junges Mädchen bedeuten können, doch Rüdiger, zwei Jahre älter als sie, hatte sofort gefragt, ob sie nicht für immer zusammenbleiben wollten, jetzt, wo sie ein Kind bekamen.

Und als der Anruf der Baustelle kam, dass er vom Gerüst gefallen sei, da hatte ihr Herz für einen Moment stillgestanden. Da wusste sie noch nicht, dass sie bereits eine Stunde später den schlimmsten Tag ihres Lebens ertragen musste. Rüdiger war an den schweren inneren Verletzungen noch auf dem Weg ins Krankenhaus gestorben.

Nein, für einen neuen Mann in ihrem Leben war sie noch nicht so weit.

 

Sie spürte einen Blick in ihrem Nacken und drehte sich um. Sie stand noch immer an der Wäscheleine, obwohl längst alles aufgehängt war.

Erst, als sie ihre Augen gegen die Sonne schützend zusammenkniff, erkannte sie ihren Nachbarn, der sie wohl schon eine Weile durch die dichte Buchsbaumhecke beobachtet hatte.

»Alles in Ordnung?«, fragte er jetzt, wo sich ihre Blicke trafen.

Warum fragte er das? Was ging es ihn überhaupt an? Karin hatte keinen Kontakt zu dem Mann. Sie wusste kaum seinen Namen. Er war erst vor gut zwei Jahren hierhergezogen. Offensichtlich war er alleinstehend, denn bisher hatte Karin dort keine Frau oder sonst jemanden gesehen.

»Ja, alles gut«, antwortete sie knapp, damit er keine weiteren Fragen stellte. Dann griff sie nach ihrem leeren Wäschekorb und ging damit ins Haus zurück.

 

Es war still.

 

Karin ging in Reginas Zimmer. Vielleicht war es schon das fünfte Mal an diesem Tag. Sie wusste es nicht. Doch es lag eine düstere Ahnung über allem, dass etwas ganz Furchtbares passiert sein könnte.

Vermisst

 

Jan hatte seine Füße auf den Schreibtisch gelegt und nippte an seinem Kaffee herum, den Lisa für ihn geholt hatte.

Im Grunde hatten sie nichts, wenn man es einmal nüchtern betrachtete. Nur eine Leiche, von der niemand wusste, wer sie war.

Eine junge Frau, noch keine zwanzig.

Lisa ging bereits die Vermisstenkartei durch, hatte bisher aber noch nicht wieder von ihrem PC aufgesehen, seitdem sie hier im Büro waren.

 

Dann ging die Tür auf.

 

»Da ist jemand, mit dem ihr vielleicht sprechen solltet«, sagte der Kollege, der heute am Empfang saß.

»Ach ja?«, fragte Lisa und zog die Stirn kraus. Sicher war sie froh über die Unterbrechung, sich durch Namen zu scrollen.

»Ich glaub schon«, fuhr der Kollege fort. »Sie sagt, sie macht sich Sorgen um ihre Tochter.«

Jetzt hob auch Jan den Kopf.

»Dann schick sie doch mal rein«, sagte er und zog die Füße vom Tisch.

Unsicher steckte kurz darauf eine Frau ihren Kopf durch die Tür.

»Kommen Sie nur herein«, forderte Lisa sie auf und zeigte auf den Besuchertisch. »Was können wir denn für Sie tun?«

»Ach, ich weiß gar nicht, ob ich mir wirklich Sorgen machen sollte«, begann die Frau und fuhr unsicher mit ihrer Hand durch die Strähne, die sich schon wieder aus ihrem Zopf am Hinterkopf gelöst hatte. Jan bemerkte, dass sie sehr schmale Hände hatte.

»Fangen wir doch einfach mal an«, schlug Lisa vor und setzte sich zu ihr an den Tisch. »Wie heißen Sie und worum geht es genau?«

»Karin Schneider. Und es geht um meine Tochter Regina. Ich mache mir Sorgen um sie.«

»Und warum? Ist sie nicht nach Hause gekommen gestern?«

Die Frau sah sich unsicher um, so, als überlegte sie, im nächsten Moment aufzuspringen und einfach davonzulaufen.

»Sie müssen schon mit uns reden, wenn wir Ihnen helfen sollen«, meinte Lisa und klang ein wenig verärgert, dachte Jan.

»Es ist bestimmt unnötig, dass ich überhaupt hier bin«, fuhr Karin Schneider fort. »Aber ich ... ich mache mir Sorgen.«

»Das sagten Sie schon.«

Jetzt stand Jan auf.

»Frau Schneider, wie alt ist Ihre Tochter?«, fragte er.

»Neunzehn«, antwortete sie sofort. Offenbar erleichtert, dass sie nicht mehr mit Lisa sprechen musste.

Jan kam an den Tisch und warf Lisa einen bedeutungsvollen Blick zu.

»Und seit wann genau vermissen Sie Ihre Tochter?«

Sie kramte ein Taschentusch aus ihrem Umhängebeutel und wischte damit über ihr Gesicht.

»Vermissen ist sicher gar nicht das richtige Wort«, sagte sie dann. »Sie ist ja schließlich erwachsen. Und ich weiß ja, dass sie manchmal wochenlang unterwegs ist, das kenn ich schon.«

»Aber jetzt ist etwas anders?«

Sie zog die Schultern hoch. »Es ist so ein Gefühl, ich weiß nicht, ob Sie Kinder haben, aber als Mutter, da spürt man so etwas.«

»Wie heißt Ihre Tochter denn?«

»Regina Schneider, doch sie mag es lieber, wenn man Gina sagt.«

»Okay. Was macht Gina denn für gewöhnlich, wenn sie unterwegs ist?«

»Ach«, jetzt lächelte Karin Schneider das erste Mal. »Sie ist wie ein Schmetterling ... immer unterwegs, immer der Sonne entgegen.«

»Also arbeitet sie nicht?«

Karin Schneider schmunzelte. »Sie möchte Kunst studieren, doch sie sagt immer, dass ihr das Talent dazu fehlt. Außerdem hat sie kein Abi, das müsste sie dann auch noch nachholen. Ich glaube, dazu fehlt ihr die Geduld.«

»Man kann auch so seine künstlerische Freiheit finden«, meinte Jan und nickte ihr aufmunternd zu.

Lisa sah aus dem Augenwinkel heraus, wie Jan das Gesicht mit den hohen Wangenknochen seines Gegenübers studierte. Bestimmt gefielen ihm auch die großen dunklen Augen. Es war doch immer das Gleiche mit den Männern. Wäre sie klein, dick und hässlich, dann dürfte sie jetzt das Gespräch führen.

»Da haben Sie bestimmt recht, Herr Kommissar.«

»Und seit wann genau vermissen ... oder besser gesagt, seit wann ist Gina denn unterwegs?«, fragte Jan.

»Ach, Sie halten mich bestimmt für eine Rabenmutter, wenn ich das jetzt sage, aber wie gesagt, Regina ist eher selten zuhause.« Sie ließ ihren Blick durchs Büro wandern. »Vielleicht seit zwei bis drei Monaten ungefähr«, sagte sie dann und Lisa musste schlucken.

Ob das alleine schon Grund genug für die Bitte um eine mögliche Identifizierung reichte?

Jan sah es offensichtlich so, denn er sprang sofort darauf an.

»Hören Sie, Frau Schneider«, sagte er mit seinem weichsten Tonfall. »Ich möchte Ihnen keine Angst machen, aber wir haben ein junges Mädchen gefunden, bei dem wir noch nicht wissen, wer sie ist.«

 

Mit einem Schlag wurde das Gesicht von Karin Schneider totenblass. Sie schlug ihre rechte Hand dann vors Gesicht und begann zu zittern.

»Sie glauben doch nicht ...«, mehr konnte sie nicht sagen.

»Wir wissen es nicht«, beruhigte Jan sie.

Doch aus irgendeinem Grund war er sich sicher, dass sie die Identität der jungen Toten in den nächsten Stunden erfahren würden.

»Wären Sie denn bereit, sich die junge Frau anzusehen?«, fragte er.

Sie nickte mechanisch.

»Ich muss doch wissen, ob es mein Baby ist«, antwortete sie leise und Tränen liefen über ihr Gesicht.

 

Zwei Stunden später brach sie dann im Leichenschauhaus in Oldenburg zusammen.

Es beginnt

 

Lisa hatte als Erstes den Ofen angemacht, als sie am Abend wieder auf den Hof gekommen waren.

Es hatte sie beide ziemlich mitgenommen, zu sehen, wie sehr Karin Schneider gelitten hatte, als sie den leblosen Körper ihrer einzigen Tochter so kalt und nackt auf dem Tisch hatte liegen sehen.

Natürlich war es nie leicht. Doch bei dieser Frau kam noch hinzu, dass sie jetzt völlig alleine war. Man hatte sie in das nächste Krankenhaus gebracht, als sie nicht mehr hatte aufhören können zu weinen.

 

»Wir werden noch einmal mit ihr reden müssen«, brach Jan jetzt das Schweigen. Er hatte sich zu Chief aufs Sofa gesetzt und die Hände auf dem Tisch gefaltet zusammengelegt.

»Sicher müssen wir das«, erwiderte Lisa und rieb ihre Hände aneinander. »Es ist so merkwürdig kalt heute hier, findest du nicht?«

»Das kommt von innen. Aber du hast recht. Heute ist es kälter als sonst.«

»Ich mach uns mal einen Tee.«

Lisa machte sich am Wasserkocher zu schaffen und hängte anschließend zwei Teebeutel in Becher.

Im Ofen knisterte es bereits.

»Es wird verdammt schwer werden, ihre letzten Stunden zu rekonstruieren«, meinte Jan. »Dafür ist ihr Verschwinden einfach zu lange her. Wer erinnert sich denn schon noch daran, was er vor drei oder vier Monaten gemacht hat?«

»Hm ... ich ganz sicher. Ich mache ja immer dasselbe«, sagte Lisa und Jan grinste. »He, das war nicht komisch gemeint«, wehrte sie ab.

»Eigentlich machen doch alle immer dasselbe«, meinte er jetzt ernster. »Sie merken es nur nicht.«

»Kann sein. Aber bei so einem bunten Schmetterling, wie Gina es wohl war, da kann eine Menge Arbeit auf uns zukommen.«

»Das stimmt. Übrigens, das Wasser hat schon gekocht.«

Lisa verdrehte die Augen und goss etwas davon in die Becher.

 

Dann saßen beide auf dem Sofa und Chief hatte sich unter den Tisch verkrochen.

 

»Es werden so viele junge Menschen vermisst.«

Lisa war die Erste, die die Stille durchbrach.

»Du meinst, weil du vorhin die Kartei durchgegangen bist?«

»Ja. Alleine über hundert in Ostfriesland. Das ist doch schrecklich, oder?«

»Es gibt auch Menschen, die nicht gefunden werden wollen. Nicht jeder mag es, wenn man sich den ganzen Tag um ihn Sorgen macht.«

»Du meinst, Gina hat es in ihrem Zuhause nicht mehr ausgehalten?«

»Könnte doch sein. Ihre Mutter machte auf mich nicht gerade einen gefestigten Eindruck.«

»Du hast Nerven. Sie hatte gerade ihre tote Tochter identifiziert. Da wäre wohl jede Mutter zusammengebrochen.«

»Klar. Aber da war noch etwas anderes, als wir sie in der Dienststelle gesprochen haben. Sie wirkte auf mich irgendwie abwesend.«

»Abwesend? Was soll das jetzt wieder heißen?«

»Es ist nur so ein Gefühl. Ach, vergiss es einfach. Aber die Sache mit ihrem Mann und dann jetzt die Tochter, das haut einen natürlich um, da gebe ich dir recht.«

»Und sie hat wohl ziemlich zurückgezogen gelebt. Wenn ich es richtig verstanden habe, dann legte sie wenig Wert auf Kontakte zu den Nachbarn oder Kollegen.«

»Wer will ihr das verübeln?«

»Wir sicher nicht ...«.

»Nein, wir nicht.«

»Und trotzdem war da jemand nur an ihren Augen interessiert. Das ist doch komisch.«

»Wenn nicht sogar makaber. Wer braucht Augen? Vielleicht sollten wir uns diese Frage stellen.«

»Wer braucht Augen? Was ist das denn für ein Quatsch?«

»Ich meine es durchaus ernst«, beharrte Jan und nippte an seinem Tee.

»Wahrscheinlich hatte Gina genauso schöne braune Augen wie ihre Mutter«, sagte Lisa schnippisch.

Jan sah sie irritiert an.

»Du meinst, dem Täter kam es auch auf die Farbe an? Ein interessanter Gedanke.«

»Tja, mit dem wir herzlich wenig anfangen können. Wahrscheinlich war es ihm ziemlich wurscht, ob sie braun, blau oder grün gewesen sind.«

»Vielleicht. Aber wir haben vergessen, nach der Farbe zu fragen«, sagte Jan ärgerlich.

»Das können wir nachholen, sobald sie sich wieder erholt hat.«

»Kannst du mal im Krankenhaus anrufen?«

»Echt? Jetzt?«

»Ja, mir wäre es wichtig ...«.

Jan stand vom Sofa auf und ging nach draußen.

 

Als Lisa nach ihrem Handy griff und damit zum Fenster ging, während sie die Nummer in ihrer Liste suchte, sah sie, dass er sich wieder auf die Bank setzte und die Decke um sich schlang.

 

»Sie waren braun«, sagte Lisa, als sie auch nach draußen ging und sich neben Jan auf die Bank setzte.

»Danke«, erwiderte er und legte das eine Ende der Decke um ihre Schultern, damit sie nicht fror.

»Sie wird morgen wieder entlassen und wir können sie zuhause aufsuchen.«

 

Als es dunkler und noch kälter wurde, gingen sie ins Haus zurück.

 

Jan hatte sich angeboten, Spaghetti zu kochen, während Lisa sich im Netz nach Gina Schneider umsah. Über so ein Mädchen musste doch etwas zu finden sein.

Doch auch nach einer halben Stunde, als Jan bereits den Tisch deckte, war sie immer noch nicht fündig geworden.

 

»Nichts«, sagte Lisa frustriert. »Absolut gar nichts.«

Sie schaufelte sich Nudeln auf einen Teller.

»Wonach hast du denn gesucht?«, fragte Jan und tat sich auch etwas auf.

»Wonach? Na, nach unserer Toten natürlich.«

»Schon klar. Aber ich meine, mit welchen Suchbegriffen?«

»Gina ... Gina Schneider. Womit denn sonst?«

»Hm ... ich denke, bei so einem Paradiesvogel, da muss man schon ein wenig um die Ecke denken. Sie würde doch nicht mit ihrem bürgerlichen Namen auftreten.«

»Du hast recht«, gab sich Lisa geschlagen. »Vielleicht finden wir etwas in ihrem Elternhaus, wenn wir morgen ihre Mutter aufsuchen.«

»Ganz bestimmt. Junge Mädchen spielen gerne verstecken, gerade wenn sie so fantasievoll sind. Aber in ihrem Zimmer wird es etwas geben, das uns Hinweise gibt.«

»Sie wird einen Laptop haben. Und vielleicht ist der nicht einmal geschützt.«

»Das denke ich eher weniger. Wenn sie sich doch von ihrer Mutter bedrängt gefühlt hat, dann wird sie sich ihren Freiraum geschaffen haben.«

»Hm ... bestimmt. Aber selbst, wenn du mit allem Recht hast, wissen wir immer noch nicht, wer jetzt was mit ihren Augen macht.«

»Ich weiß ...«.

Sie aßen schweigend, während Chief unter dem Tisch schnarchte.

 

»War Gina eigentlich die Einzige, die man nicht mit dem Autocrash in Verbindung bringen konnte?«, fragte Jan, als sie den Tisch abräumte.

Lisa blieb abrupt stehen.

»Soweit ich weiß ja«, antwortete Lisa. »Worauf willst du hinaus?«

»Ach, war nur so ein Gedanke.«

»Der Kollege hat nur von Gina gesprochen, die nicht ins Bild passte.«

»Vielleicht sollten wir morgen trotzdem nochmal nachhaken.«

»Sicher. Ich werde ihn gleich morgen früh anrufen.«

Das Elternhaus

 

Jan hatte nicht in den Schlaf finden können, und war schließlich wieder nach draußen gegangen. Vollmond. Es war nicht das erste Mal, dass ihn dieser in die Kälte trieb.

Chief, dem es wohl ähnlich ergangen war, hatte sich von irgendwoher zu ihm gesellt.

Manchmal möchte ich mit dem Tier tauschen, dachte Jan, als er dem Hund über den Kopf kraulte. Es fühlte sich so weich an und der warme Atem traf auf sein Gesicht.

Man sollte nur noch mit Tieren zusammenleben, dachte Jan, dann wäre die Welt bestimmt eine Bessere.

Er legte sich die Decke um und lockte Chief mit auf die Bank. So würde er es bestimmt eine Weile aushalten können.

 

Während er so dasaß und grübelte, beschlich ihn das Gefühl, beobachtet zu werden. Sicher, es waren viele Tiere bei Vollmond in der Nacht unterwegs. Und bestimmt saß hier und da ein Hase, der neugierig zu ihm herüber sah. Und doch war da noch etwas anderes, das sich nicht erklären ließ.

Vielleicht durch dieses Gefühl zur Vorsicht gemahnt und auch, weil es einfach zu kalt war, um hier draußen zu sitzen, wurde Jan immer wacher, anstatt in den herbeigesehnten Schlaf zu fallen, und stand schließlich auf und ging ins Haus.

Dort legte er sich nicht ins Bett, nachdem er sich ein Glas Rotwein eingeschenkt hatte, sondern aufs Sofa. Nicht, ohne dass auch Chief zu ihm heraufkletterte und mit unter die Decke kroch.

Tausend Gedanken fuhren in Jans Kopf Achterbahn. Er stellte sich ein junges Mädchen vor, das ohne Augen durch die Straßen irrte und nach seiner Mutter rief.

Als er endlich eingeschlafen war, dämmerte der Morgen bereits heran und die wirren Gedanken hörten auf.

 

Es war nicht anders zu erwarten gewesen, dass er sich wie gerädert fühlte, als Lisa ihn sanft an der Schulter fasste und seinen Namen sagte.

»Jan? Hast du etwa hier geschlafen?«

Er blinzelte gegen die Lampe, die erbarmungslos von der Decke strahlte.

»Kannst du die bitte ausmachen?«, fragte er schlaftrunken.

»Sicher.«

Sie eilte zum Lichtschalter.

»Besser so?«, fragte sie, als sie wieder bei ihm war.

»Ja, danke. Es war Vollmond, da fällt es mir immer schwer, im Bett zu bleiben.«

»Es war aber auch besonders hell heute Nacht«, bestätigte Lisa. »Ich war auch öfter wach, als mir lieb war. Und einmal hatte ich sogar das Gefühl, dass mich jemand durch das Fenster beobachtet.«

Jetzt wurde Jan hellhörig.

»Wirklich? Mir ging es ähnlich. Ich wurde draußen das Gefühl nicht los, dass da irgendjemand ist.«

»Draußen?«

»Ja, ich war zeitweise auch draußen auf der Bank ...«.

»Unfassbar bei der Kälte, also wirklich.«

»Chief war ja bei mir und hat mich gewärmt. Aber das nur am Rande. Ich hatte wirklich das Gefühl, dass da jemand ist. Und wenn du auch denkst, dass du jemanden gesehen hast ...«.

»Und warum hat Chief dann nicht gebellt?«

»Hat er das jemals getan? Er ist doch nicht da, um auf uns aufzupassen.«

»Nicht?«

»Nein, er ist da, damit es uns besser geht. Schon vergessen?«

Er lachte, als er ihren ungläubigen Blick sah.

»Schon klar«, ging sie auf seine Ironie ein. »Was würden wir ohne Chief nur machen. Aber mal im Ernst. Wir sollten das nicht auf die leichte Schulter nehmen, dass hier nachts jemand herumschleicht. Vielleicht sollten wir doch nachts die Türen abschließen.«

»Und damit unsere Freiheit aufs Spiel setzen? Niemals.«

»Freiheit heißt doch nicht, dass man jedem Tür und Tor öffnet.«

»Freiheit heißt für mich, dass ich mich nicht einschließen muss. Hast du es schon mal von der Warte aus gesehen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich geb’s auf, jedenfalls für heute. Denn wir haben noch einiges vor. Ich mach uns mal einen Kaffee und du gehst unter die Dusche.«

»Bitte?«

»Ich meinte eigentlich Chief«, sagte Lisa lachend, »er stinkt wie ein Otter.«

»Hab ich gar nicht gemerkt«, sagte Jan und ging ins Bad.

 

Es ging bereits auf zehn Uhr zu, als sie schließlich bei dem Haus von Karin Schneider eintrafen.

Es war klein und aus rotem Klinker gemauert.

 

»Schön, dass es Ihnen offensichtlich wieder besser geht«, sagte Lisa zur Begrüßung und folgte Karin mit Jan ins Haus.

»Man hat mir irgendwelche Tabletten gegeben, damit ich nicht aus dem dritten Stock springe«, sagte Karin und lachte kurz auf.

Eindeutig ein Zeichen von Überreaktion, dachte Jan. Es war nicht gut, dass diese Frau hier alleine in dem Haus war.

 

»Sie wollen sich bestimmt Reginas Zimmer ansehen«, sagte sie und blieb im Flur vor einer hellen Tür mit rosa Buchstaben stehen. GINA stand da in großen Lettern und die Mutter weigerte sich noch immer, ihre Tochter so zu nennen, registrierte Jan. Konnte das etwas bedeuten?

»Danke, das wäre sehr nett«, antwortete Lisa.

Sie standen zu dritt vor der Tür, als verberge sich dahinter ein großes unheimliches Monster.

Und vielleicht war es auch so. Denn die Wunde, die die Leere in dem Raum dahinter schlug, sie war für Karin Schneiders Herz niemals mehr zu heilen.

»Vielleicht machen Sie uns in der Zwischenzeit einen Tee«, schlug Lisa vor.

Karin Schneider verstand und schlich davon.

Jan drückte auf die Klinke. Das Erste, was er wahrnahm, war der Geruch nach Bergamotte und Sandelholz.

Dann gingen sie hinein.

Überall an den Wänden hingen Bilder in den leuchtendsten Farben.

»Ob Gina die alle selber gemalt hat?«, fragte Lisa und wagte kaum, sie anzufassen.

»Vielleicht, wenn sie doch Künstlerin werden wollte«, meinte Jan und glaubte, die Seele von Gina in dem Raum spazieren gehen zu spüren.

Lisa begann, in den Schubladen des Schreibtischs zu kramen.

Jan besah sich eine Menge von Fotos, die allesamt junge Menschen zeigten, die glücklich schienen.

Gina war eine Schönheit gewesen, dachte er. Sagte es aber nicht laut.

»Ich hab da was gefunden, das uns weiterhelfen könnte«, hörte er Lisas Stimme von irgendwoher.

»Ach ja? Was denn?«

Er drehte sich zu ihr um.

Sie hielt etwas in die Höhe.

»Das scheint eine Art Notizbuch zu sein, wo sie alle möglichen Kennwörter notiert hat. Sicher konnte sie sich nicht alle merken. Heutzutage sind die jungen Menschen auf so vielen Plattformen unterwegs, wo man sich registrieren muss, dass man schon einen extra Ordner dafür braucht.«

»Es soll Leute geben, die für alles das gleiche Passwort verwenden«, meinte Jan.

»Dann sind die aber schon älter. Machst du das auch?«

»Ja«, gab er zu und kam sich in dem Moment wie Ginas Großvater vor, obwohl er höchstens ihr Vater hätte sein können. »Der Vater«, sagte er.

»Wie? Was ist mit dem Vater?«

»Ich sehe hier gar keine Bilder von ihm.«

»Das ist doch auch kein Wunder, er ist ja tot.«

»Aber gerade dann könnte sie doch welche von ihm hier aufgehängt haben. Findest du nicht?«

»Hm ... schon. Aber sie war ja noch ziemlich klein, als er starb. Und vielleicht hat die Mutter entschieden, dass es keine Bilder mehr vom Vater geben darf in diesem Haus, weil es sie zu sehr geschmerzt hat.«

»Wir sollten sie danach fragen ...«.

»Ja, machen wir. Und hier war auch ein Foto von einem Jungen.«

Sie hielt es in die Höhe.

Es zeigte einen jungen Mann, höchstens ein oder zwei Jahre älter als Gina.

»Ob das ihr Freund war?«, fragte Lisa.

»War es in der Schublade versteckt oder lag es offen da?«

»Es war in einem Buch. Ein altes Mathebuch, um genau zu sein.«

»Dann war es ihr Ex, an den sie immer noch denken muss.«

»Aha? Wie kommst du denn darauf?«

»Na, wenn sie noch mit ihm zusammen wäre, dann würde sie es nicht in ein Buch legen, sie ist ja keine Zwölf mehr. Und wenn er ihr egal wäre, dann hätte sie es weggeworfen oder es läge achtlos irgendwo herum. Nein, dieser Junge, er bedeutete ihr noch was. Aber sie wollte es sich nicht eingestehen. Deshalb hat sie ihn in das Mathebuch getan, wo sie ihn zwar nicht mehr sieht, weil sie im Leben nicht mehr hineinsieht, er aber immer trotzdem da sein wird.«

»Okay«, sagte Lisa und atmete schwer aus. »Eine schöne Exkursion in die Psychologie junger Mädchen. Ich werde Ginas Mutter mal fragen, wer das ist.«

Sie ging mit dem Foto in der Hand aus dem Zimmer.

 

Endlich allein, dachte Jan. Alleine mit Gina.

Er stellte sich mitten in den Raum, schloss die Augen und atmete tief ein und aus. Jetzt kam noch Patchouli hinzu. Natürlich. Es hätte ihn auch gewundert, wenn ein Mädchen wie Gina nicht nach diesem Duft, der die Schwermut schlechthin verströmte, süchtig gewesen wäre.

Er stellte sich vor, wie sie hier mit einem leichten langen Kleid herumgeschwebt war. Sie hatte sich nicht um das geschert, was andere sagten. Es war ihr egal, wenn ihre Mutter traurig war. Sie war es nicht gewesen, auch wenn sie ihren Vater bestimmt nicht weniger geliebt hatte. Doch das Leben ging weiter. Man musste sich andere Wege suchen, wenn man Erfüllung finden wollte. Ja, genauso hatte Gina gedacht. Sie hatte das Beste aus allem gemacht. Und die Schwermut ihrer Mutter, sie hatte sie einfach nicht ertragen. Darum war sie schon als Siebzehnjährige flügge geworden und hatte sich nach der Schule ins Ausland abgesetzt. Einen Freigeist wie Gina, den sperrte man nicht in eine Flasche. Und irgendjemand musste sein böses Netz ausgeworfen haben, um diesen bunten lebensfrohen Schmetterling einzufangen. War das überhaupt der Grund gewesen? Das Leichte und Unbeschwerte in Ginas Augen? Waren sie deshalb zum Ziel des bösartigen Schlächters geworden? Hatte er das Glück einfangen wollen, um es mit Ginas Augen zu sehen?

 

Jan schlug die Augen wieder auf. Vor ihm stand Lisa und starrte ihn neugierig an.

»Die Mutter sagt, es war der letzte Freund, den Gina gehabt hat. Jedenfalls, soweit sie weiß.«

»Wer?«

»Na, dieser junge Mann. Wir erinnern uns, Herr Krömer?«

Sie hielt ihm das Bild vor die Nase.

»Ach so, der. Na ja, er hat aber nichts mit dem Tod von Gina zu tun.«

»Nicht? Hast du das eben in deinem Kurzschlaf ermittelt?«

»Könnte man so sagen. Aber sprechen sollten wir trotzdem mit ihm.«

»Na, Gott sei Dank haben die überholten Ermittlungsmethoden noch nicht ganz ausgedient«, sagte Lisa gedehnt. »Willst du auch noch mit der Mutter sprechen oder hat sie dir eben schon ihre Antworten übermittelt?«

Er lachte und ging an ihr vorbei in die Küche, wo Karin mit einem Kaffee am Tisch saß.

Er setzte sich wortlos zu ihr und griff nach ihrer Hand.

Damit hatte Karin Schneider nicht gerechnet und sie begann augenblicklich, zu weinen.

»Es ist gut, dass Sie den Schmerz rauslassen«, sagte er. »Wir alle müssen damit leben, dass geliebte Menschen nicht ewig bei uns sind.«

Lisa stand in der Tür. Tränen schwammen in ihren Augen. Sie mochte nicht daran denken, jemals ohne Jan zurechtkommen zu müssen.

Mark

 

Er ging immer noch an Krücken. Und sein Ausbildungsbetrieb hatte ihm nahegelegt, sich doch erst einmal richtig zu erholen. Und gegebenenfalls auch noch einmal zu schauen, ob Maler wirklich das Richtige für ihn sei, nach allem, was geschehen war.

Klar, er konnte ja verstehen, dass der kleine Familienbetrieb nicht monatelang in der Lage war, auf seine Arbeitskraft zu verzichten, ihn aber trotzdem weiter bezahlen sollte. Er nahm es dem Chef nicht krumm.

Er saß an seinem alten Kinderschreibtisch und klickte sich durch Tuningseiten. Noch immer hatte er die Lust an schnellen Autos nicht verloren. Doch sein Wagen war nach der Massenkarambolage nicht mehr zu retten gewesen. Ja, er trauerte seinem GT nach. Doch noch viel schlimmer war das Gefühl, zahlreiche Freunde bei dem Unfall verloren zu haben. Auch Memphis hatte es erwischt. Er war drei Tage nach dem Drama im Krankenhaus gestorben. Und die Ärzte hatten gesagt, dass es sowieso fraglich gewesen war, wie es um ihn, auch wenn er aus dem Koma erwacht wäre, gestanden hätte. Das bedeutete wohl so viel, wie, wahrscheinlich wäre er für immer geistig behindert gewesen. Er war nie sonderlich dicke mit Memphis gewesen, doch auch sein Tod riss eine Wunde.

Würde es jemals wieder so sein wie vor dieser Nacht?

 

Es klopfte an seine Zimmertür. Dann ging sie vorsichtig auf und seine Mutter steckte ihren Kopf herein. Ihr Blick sagte ihm jedes Mal, das sie Tag und Nacht betete, weil sie dankbar war, dass ihr Sohn noch lebte.

»Mark, da ist jemand von der Polizei, der dich sprechen möchte«, sagte sie und blieb in dem Türspalt stehen.

»Warum das denn?«

»Ich weiß es nicht. Aber sie warten unten im Wohnzimmer. Ich habe gesagt, dass ich dir Bescheid gebe.«

Sie wirkte so unsicher. Eigentlich in allem, was sie tat. Doch das war Mark erst so richtig aufgefallen, seitdem er wieder stärker auf ihre Hilfe angewiesen war.

»Ich komme«, sagte er und klappte seinen Rechner zu.

 

Es dauerte einen Moment, bis Mark es mit seinen Krücken bis runter ins Wohnzimmer geschafft hatte. Dann sah er, wie seine Mutter gerade Kaffee einschenkte und etwas verkleckerte.

»Oh, das tut mir leid«, sagte sie schnell.

»Mama, ich mach das schon«, sagte Mark. »Geh du nur in die Küche.«

Sie verschwand dankbar.

»Sie hat nicht gerne mit der Polizei zu tun«, erklärte Mark und wischte mit seinem Papiertaschentuch den Kaffeefleck vom Tisch. »Besonders seit der Sache mit dem Unfall. Als der Anruf hier kam, dass mir etwas passiert war, da ... na ja, Sie können es sich sicher vorstellen.«

»Sicher«, erwiderte Lisa und stellte sie beide vor.

»Sie sind noch ganz schön jung, ich meine, dafür, dass Sie die Sache hier leiten.«

Jan runzelte die Stirn und Lisa ging darüber hinweg.

»Wir möchten Sie noch einmal zu dem Unfall befragen«, sagte sie.

Mark setzte sich auf einen freien Stuhl und lehnte die Krücken gegen den Tisch. Er sagte nichts und sah sie nur neugierig an.

»Es geht um Ihre Freundin«, fuhr Lisa fort. »Regina Schneider.«

»Gina?«, fragte Mark erschrocken. »Was hat Gina denn mit der Sache zu tun, sie war doch gar nicht dabei.«

»Ja, das wissen wir«, mischte Jan sich ein. »Es ist aber doch so, dass Sie mit Ihr befreundet waren, oder? Ich meine, Sie waren ein Paar?«

»Wer sagt das? Mit wem haben Sie überhaupt über Gina und mich gesprochen? Und warum?«

In Marks Stimme schwang Panik mit. Vielleicht fühlte er instinktiv, dass Gina etwas passiert sein musste.

»Wir haben mit Ginas Mutter gesprochen.«

»Mit ihrer Mutter? Sie ist doch nicht ... ist Gina etwas passiert?«

Seine Stimme versagte fast.

»Leider ja«, nahm Lisa den Faden auf. »Gina war auch unter den Opfern bei dem Unfall.«

Mark machte große Augen. Opfer?, kreiste es in seinem Kopf. Wieso Opfer? Und wieso erfuhr er erst jetzt davon?

»Wie meinen Sie das, Gina war unter den Opfern? Sie war doch gar nicht da. Sie war doch verreist, verdammte Scheiße.«

Er wirkte verzweifelt und erste Tränen liefen über sein Gesicht.

Er liebt sie noch, dachte Jan, auch wenn sie nicht mehr zusammen waren.

»Gina ist auch unter den Opfern der vielen jungen Menschen nach dem Unfall gefunden worden«, erklärte Lisa. »Und wir wissen, dass sie nichts mit dem eigentlich Unfall zu tun hatte. Man hat sie offensichtlich nachträglich in der Menge der Opfer abgelegt.«

»Was reden Sie denn da für einen Scheiß ... Gina ist nicht tot. Sie kann gar nicht tot sein, weil sie überhaupt nicht dabei war, als wir in der Nacht gefahren sind.«

»Es ist besser, wenn Sie sich erst einmal beruhigen«, fuhr Lisa fort. »Ich weiß, dass das jetzt schwer für Sie ist.«

»Einen Dreck wissen Sie.«

Mark wandte sich von ihnen beiden ab und sah zum Fenster.

»Der Gerichtsmediziner hat festgestellt, dass Gina bereits vor dem Unfall ermordet worden ist«, sagte Jan. »Und deshalb müssen wir wissen, wann Sie Gina das letzte Mal gesehen haben.«

Er sah, wie die Schultern von Mark zitterten. Offensichtlich weinte er. Noch immer sah er nicht wieder zu ihnen.

»Sie müssen sich für Ihre Tränen nicht schämen«, fuhr Jan fort. »Sie haben Gina geliebt, da ist es doch ganz normal, wenn Sie weinen.«

 

Lisa wunderte sich einmal mehr über den sanften Ton, den Jan anschlug. Es war genauso wie bei Karin Schneider, als er nach ihrer Hand gegriffen und sie getröstet hatte. Seine Stimme war dann so anders. Entdeckte sie jetzt eine ganz neue Seite an ihm?

 

Mark wischte sich mit seinem Hemdsärmel übers Gesicht und drehte sich wieder zu ihnen.

»Und es ist ganz sicher, dass es Gina ist?«, fragte er.

»Ja, ihre Mutter hat sie identifiziert.«

»Man ... ich verstehe das nicht. Das ergibt doch gar keinen Sinn. Warum sollte man sie denn zu dem Unfall bringen? Es konnte doch keiner wissen, dass dieser Unfall überhaupt passieren würde.«

»Das fragen wir uns natürlich auch«, sagte Lisa. »Und deshalb ist es so wichtig, dass Sie uns alles sagen, was Ihnen zu Gina einfällt. Wann haben Sie sie zuletzt gesehen? Mit wem war sie danach unterwegs? Wo wollte sie überhaupt hin?«

Mark griff das erste Mal nach dem Kaffeebecher, den seine Mutter für ihn hingestellt hatte.

 

Kennengelernt hatte er Gina, als er in der Berufsschule draußen eine rauchen wollte. Das Erste, was ihm an ihr auffiel, waren ihre großen bunten Ohrringe. Es war nicht so, dass er so etwas noch nicht bei anderen Mädchen gesehen hätte vorher. Doch Gina sah damit aus, wie aus einem Märchen entsprungen. Eine Prinzessin aus Tausendundeinernacht.

Sie ging einfach die Straße entlang. Und doch war da etwas an ihrem Gang, das seine Aufmerksamkeit erregte. Sie ging nicht einfach. Eher tanzte sie über den Bürgersteig. Nicht offensichtlich. Doch ihre Schritte wurden immer wieder von einem kleinen Hüpfer nach links oder rechts unterbrochen. Einem anderen wäre das vielleicht gar nicht aufgefallen. Doch Mark wusste später, dass er sich schon in diesem ersten Moment bis über beide Ohren in Gina verliebt hatte.

Dann musste er wieder in seine Klasse und vergaß sie.

Zunächst jedenfalls, als der Lehrer sich bemühte, ihnen den Stoff für das richtige Mischen von Farben und vor allem die nötige Konsistenz, damit sie auch an der Wand haften blieb, zu erklären.

Die ersten zehn Minuten hielt Mark noch durch. Doch dann schweiften seine Gedanken wieder zu diesem zauberhaften Wesen ab.

Abends in seinem Zimmer, da stellte er sich vor, wie er sie küsste. Ihren sanften roten Mund.

Erst drei Wochen später, als er die Hoffnung schon aufgegeben hatte, sie jemals wiederzusehen, da traf er Gina wieder.

 

»Sie saß in einem Café in der Auricher Innenstadt und schien auf jemanden zu warten«, sagte Mark und sein Gesicht nahm einen verträumten Blick an. »Ich habe mich zunächst nicht getraut, sie anzusprechen. Aber dann habe ich all meinen Mut zusammengenommen, und bin an ihren Tisch gegangen.«

Und dann begann für ihn die nach seinen Worten schönste Zeit in seinem Leben. Sie lud ihn ein, sich zu ihm zu setzen und er konnte nicht aufhören, sie anzustarren. Besonders die Augen, die hätten ihn fasziniert. So große und geheimnisvolle Augen habe er noch nie gesehen gehabt vorher.

 

Bei der Erwähnung von Ginas Augen merkte Jan auf. Konnte es sein, dass ausgerechnet dieser schlaksige junge Mann etwas mit Ginas Ermordung zu tun hatte? Hatte sie ihn verlassen, ausgelacht und an seinem Ego derart gekratzt, dass er es nicht ertragen konnte, wenn er sie nicht mehr haben konnte?

Als er von ihr geschwärmt hatte, da musste Jan unweigerlich an seine erste Begegnung mit Virginia denken. Er konnte Mark verstehen. Es gab Frauen, die einen um den Verstand brachten.

Aber hatte Mark Gina auch getötet?

 

Lisa schien zu ahnen, was in ihm vorging. Als Mark nicht mehr weitersprach, als er an dem Punkt angekommen war, dass Gina ihn von heute auf morgen einfach verlassen hatte, was er sich bis heute nicht erklären könne, da war eine merkwürdige Stille entstanden.

»Und wann und wo genau haben Sie Gina das letzte Mal gesehen?«, fragte Lisa.

»Das war vor ziemlich genau drei Monaten«, antwortete Mark jetzt emotionslos. »Ich hatte sie noch einmal um ein Treffen gebeten, um mit ihr zu reden. Sie kam auch, aber es dauerte nur fünf Minuten, bis sie wieder ging. Sie war eben ein bunter Schmetterling, den man nicht einfangen konnte.«

 

Und vielleicht ist genau das der Grund, warum du durchgedreht bist, dachte Jan.

In der Dienststelle

 

»Meinst du, dass er etwas mit dem Mord an Gina zu tun haben könnte?«, fragte Lisa, als sie wieder in Aurich ankamen.

»Enttäuschte Liebe hat schon zu manchem Verbrechen geführt«, antwortete Jan und lümmelte sich auf seinen Bürostuhl und legte die Füße auf den Schreibtisch.

»Aber wie hätte er es anstellen sollen, schwer verletzt nach dem Unfall unbemerkt eine weitere Leiche am Unfallort zu platzieren?«

»Das ist die entscheidende Frage. Aber er muss es ja nicht alleine gemacht haben?«

»Du denkst dabei hoffentlich nicht an seine Mutter, oder?«

»Nicht wirklich. Sie wirkte zwar fahrig und unsicher, aber ich glaube nicht, dass es daran lag, weil sie eine Mörderin oder Mittäterin ist. Nein, die Mutter schließe ich aus. Und den Vater haben wir noch nicht gesehen. Aber im Grunde glaube ich auch so nicht daran, dass Eltern ihrem liebeskranken Sohn bei einem Mord helfen würden.«

»Ich auch nicht. Also müssen wir eine andere Erklärung finden. Wer würde mit ihm gemeinsame Sache machen? Etwa noch ein junger Mann, dem Gina den Laufpass gegeben hat?«

»Hm ... also, das kann ich mir ehrlich gesagt noch weniger vorstellen. Ausgeknockte Exfreunde verbünden sich nicht, um eine Verflossene um die Ecke zu bringen. Sie gehen eher zusammen ein Bier trinken, schließlich sind sie Leidensgenossen.«

»Männer und ihr Kumpelgehabe«, sagte Lisa und lehnte sich zurück.

»Ist das unter Frauen nicht so?«

»Also, ich bin noch mit keiner anderen Frau Bier trinken gegangen, weil ein Mann uns beide abserviert hat. Was habe ich denn mit der Frau zu tun? Es ist doch eher peinlich, dass man den gleichen Mann geküsst und sonst was gemacht hat. Das macht einen doch nicht zu Freundinnen.«

»Vielleicht ist das euer Problem«, meinte Jan. »Weil ihr Frauen nicht erkennt, wie sinnvoll es ist, ein Rudel zu bilden.«

»Du hast ja eine Meise«, sagte sie und tippte sich gegen die Stirn.

»Das sowieso«, sagte er lachend.

»Und jetzt?«

»Lass uns noch einmal rekapitulieren«, schlug Jan vor. »Wir haben eine Leiche, die verwahrt wurde, bis sich eine geeignete Gelegenheit ergab, sie zu entsorgen ...«, begann Lisa

»Na, ob das so geeignet war, weiß ich nicht. Schließlich war es mitten in der Öffentlichkeit bei einem schweren Unfall. Da kann ich mir wirklich Möglichkeiten vorstellen, wie der Täter Gina hätte anonymer loswerden können. Wie du schon sagtest, er hätte sie doch einfach vergraben können.«

»Richtig, aber warum hat er es nicht getan? Warum ein Ort des Grauens?«

»Lisa, wenn wir das wissen, finden wir den Täter.«

»Okay, aber wie sollen wir es anstellen?«

»Ich habe keine Ahnung. Lass uns nach Hause fahren und dann koch ich uns was Schönes. Und bei einem Glas Wein dazu kommen mir vielleicht die richtigen Gedanken.«

 

Chief lag vor der Haustür, als Jan den Wagen abstellte.

»Wieso liegt er da?«, fragte er. »Ob jemand hier war?«

»Wer sollte hier gewesen sein?«, gab Lisa zurück. »Hier kommt doch nie jemand her.«

»Das stimmt auch wieder. Aber es ist ungewöhnlich, dass Chief vor der Tür liegt, das musst du zugeben.«

»Sicher. Vielleicht hat er etwas gehört.«

»Und vor Kurzem hatte ich das Gefühl, dass jemand ums Haus herumschleicht.

---ENDE DER LESEPROBE---