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Mit eiligen Schritten hastet Jessica Bannister durch den morgendlichen Nebel von London. Sie wird verfolgt - von einem Phantom!
Die dunkle, gespenstische Gestalt zeichnet sich nur als undeutlicher Schemen in dem dichten grauen Nebel ab. Ihr Gang hat etwas Lauerndes, etwas Raubtierhaftes.
Jessica erstarrt, als sie den Verfolger wiedererkennt - denn sie hat in dieser Nacht von ihm geträumt! Es war ein schrecklicher Traum, und er gehörte zu jener Sorte von Albträumen, die sie seit ihrem zwölften Lebensjahr immer wieder heimsuchen ...
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Seitenzahl: 156
Veröffentlichungsjahr: 2016
Cover
Impressum
Die Hauptpersonen
Sie sah ihr Ende voraus
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2016 by Bastei Lübbe AG, Köln
Verlagsleiter Romanhefte: Dr. Florian Marzin
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: shutterstock / margo_black Hintergrund: shutterstock / Dark Moon Pictures
Datenkonvertierung E-Book: Blickpunkt Werbe- und Verlagsgesellschaft mbH, Satzstudio Potsdam
ISBN 978-3-7325-3933-8
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Die Hauptpersonen:
Jessica Bannister
Sie ist Reporterin beim London City Observer und auf mysteriöse Fälle spezialisiert. Sie hat übersinnliche Fähigkeiten, kann in Visionen und Träumen in die Vergangenheit reisen und die Zukunft voraussehen. So sah sie als Zwölfjährige auch den Tod ihrer Eltern voraus. Sie wuchs danach bei ihrer Großtante Beverly Gormic auf, bei der sie noch heute lebt.
Jim Brodie
Er ist Fotograf beim London City Observer. Als Jessica ihren Job bei der Zeitung antritt, steht er ihr sogleich mit Rat und Tat zur Seite, und es entwickelt sich schon bald eine enge Freundschaft zwischen den beiden. Wenn Jessica an einem Auftrag arbeitet, ist er fast immer als Fotograf an ihrer Seite.
Beverley Gormic
»Tante Bell« ist Jessicas Großtante. Nach dem Tod von Jessicas Eltern hat sie ihre Nichte bei sich aufgenommen und großgezogen. Jessica hat auch heute noch ein sehr enges Verhältnis zu ihrer Ziehmutter. Beverly weiß über Jessicas übersinnliche Fähigkeiten Bescheid, sie selbst befasst sich intensiv mit Spiritismus und Okkultismus.
Martin T. Stone
Der Chefredakteur des London City Observer
Sie sah ihr Ende voraus
von Janet Farell
Ich hastete mit eiligen Schritten durch den morgendlichen Nebel von London. Immer wieder sah ich dabei ängstlich über meine Schulter zurück. Ich fühlte mich verfolgt. Verfolgt von einem Phantom!
Die dunkle, gespenstische Gestalt zeichnete sich nur als undeutlicher Schemen in dem dichten grauen Nebel ab. Sie schlich schon seit geraumer Zeit hinter mir her. Ihr Gang hatte etwas Lauerndes, etwas Raubtierhaftes. Doch mehr als ein wallender langer Mantel, der oben zu einem ungewöhnlich hohen Kragen auslief, war von meinem Verfolger nicht zu sehen.
Trotzdem erkannte ich ihn wieder – denn ich hatte in dieser Nacht von ihm geträumt! Es war ein schrecklicher Traum gewesen, und er hatte zu jener Sorte von Albträumen gehört, die mich seit meinem zwölften Lebensjahr immer wieder heimsuchten.
Meinen ersten Albtraum dieser Art hatte ich in jener Nacht gehabt, in der meine Eltern starben …
Es war vor genau dreizehn Jahren gewesen …
Meine Eltern Julia und Jonathan Bannister hatten jedenfalls ihr kleines Mädchen – nämlich mich, ihre zwölfjährige Tochter – Tante Bell anvertraut. Das taten sie öfter, wenn sie einen Abend zu zweit verbringen wollten. Sie wussten, dass ich Tante Bell sehr liebte und gern bei ihr war.
Bell und ich saßen an diesem Abend im Salon der Villa vor dem Kamin, Tante Bell in einem großen Ohrensessel, ich zu ihren Füßen auf einem Fellteppich, und Tante Bell las mir englische Gespenstergeschichten vor.
Ich liebte diese Geschichten, obwohl sie so schaurig waren, aber ich verspürte keine Angst, ich genoss sogar die leichte Gänsehaut, die mich beim Zuhören überkam, denn bei Tante Bell und so dicht bei dem knisternden Kaminfeuer fühlte ich mich geborgen und wohl.
Deshalb nickte ich wohl auch irgendwann ein, fiel in einen leichten Schlummer …
Und dann geschah es!
Vor meinem inneren Auge tauchten die schrecklichen Bilder auf. Traumbilder, doch sie erschienen mir so real, dass mir klar war, noch während ich schlief, dass dies mehr als nur ein Traum sein musste.
Ich sah meine Eltern. Sie fuhren in ihrem Auto durch eine unwirklich erscheinende Landschaft.
Und plötzlich tat sich vor ihnen ein schwarzes Loch auf, und sie stürzten in dieses schreckliche schwarze Loch hinein, das mir erschien wie der gähnende Schlund eines Ungeheuers!
Ich hörte ihre gellenden, panischen Schreie!
Und auch ich schrie.
Tante Bell schreckte in ihrem Sessel auf, rüttelte mich wach, nahm mich dann in die Arme, weil ich am ganzen Körper zitterte.
»Jessica, Jessi, mein liebes Kind. Was hast du denn?«
Als sie mich einigermaßen beruhigt hatte, erzählte ich ihr unter Schluchzen und Weinen von meinem fürchterlichen Traum, von dem ich zu wissen glaubte, dass er mehr als nur ein Traum gewesen war.
»Sind meine Eltern jetzt tot?«, fragte ich Tante Bell dann, und noch immer liefen mir Tränen übers Gesicht.
Tante Bell strich mir über die Wange, sie wischte mir mit dem Zipfel ihrer Schürze die Tränen aus dem Gesicht.
»Aber nicht doch, mein Kleines. Es war ja nur ein böser Traum. Manchmal hat man solche Träume, sie zeigen nur die Ängste, die uns unterbewusst beschäftigen, aber sie haben mit der Realität wenig gemein.«
Ich glaubte ihr nicht, denn ich konnte ihr ansehen, dass auch sie sich plötzlich Sorgen machte. Auch sie befürchtete, dass meinen Eltern etwas zugestoßen war.
Sie schien recht unsicher, ob sie meinem Traum mehr Bedeutung zumessen sollte, als sie es mit ihren Worten tat.
Mit meinen zwölf Jahren machte ich mir über diese seltsame Reaktion keine Gedanken …
Tante Bell redete weiter tröstend auf mich ein, ich weinte immer noch, der Traum war so realistisch gewesen, dass ich mich von der Angst, meinen Eltern könnte tatsächlich etwas zugestoßen sein, nicht befreien konnte.
Doch irgendwann schlief ich wohl wieder ein …
Dann aber riss mich das Geräusch der Türglocke erneut aus dem Schlaf.
Ich lag noch immer auf dem Fell vor dem Kamin, und Tante Bell hatte eine warme Daunendecke über mich ausgebreitet, sie saß auch wieder in dem großen Ohrensessel und wachte über meinen Schlaf.
»Schlaf ruhig weiter, mein Kind«, sagte Tante Bell.
Sie selbst erhob sich jetzt, ging zur Tür.
»Das werden Mom und Dad sein!«, rief ich voller Überzeugung, und ich war sofort hellwach. Ich freute mich darauf, dass meine Eltern mich jetzt gleich, nach diesem schrecklichen Traum, in die Arme schließen würden.
Ich liebte sie so, ich war froh, dass sie zurück waren.
Ich folgte Tante Bell mit eiligen Schritten in den Flur der alten Villa, wo Dämonenmasken längst untergegangener Kulturen an den Wänden hingen. Sie schreckten mich nicht.
Tante Bell öffnete die Tür.
Inzwischen war ein schreckliches Unwetter über London hereingebrochen. Es stürmte, regnete, und Donner krachte.
Es waren nicht meine Eltern, die zu dieser späten Stunde an der Tür der alten Villa geklingelt hatten.
Ein Blitz zuckte hernieder, und ich sah die Silhouette eines fremden Mannes. Ich erschrak heftig. Es war ein Polizist, wie ich bald darauf erkannte. Er hatte die Mütze seiner Uniform vom Kopf genommen, und es schien ihm überhaupt nichts auszumachen, dass er vom heftigen Regen völlig durchnässt wurde. Er machte ein ernstes Gesicht, und ich hatte den Eindruck, dass seine Miene noch um eine Spur härter wurde, als er mich neben meiner Großtante bemerkte.
»Mrs. Beverly Gormic?«, fragte er.
»J … ja …«, stammelte meine Großtante. »Ja, die bin ich.«
»Man sagte uns, Sie seien die nächste Angehörige von Mister Jonathan und Mrs. Julia Bannister?« Es war eine Frage, der Mann in der Uniform wollte sichergehen.
»Ja, das ist richtig.«
Ich stand direkt hinter Tante Bell, und ich bemerkte, dass ihre Stimme zu zittern begonnen hatte.
Der Polizist sah zu mir herab, es war ein Blick, den ich nicht zu deuten vermochte, aber er sagte mir nichts Gutes, dann wandte er sich wieder Tante Bell zu, während erneut der Donner krachte und ein Blitz aufzuckte.
»Es … es tut mir leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Julia und Jonathan Bannister bei einem … bei einem Autounfall ums Leben gekommen sind«, erklärte der Polizist mit rauer Stimme, und ich spürte, wie mir bei jedem seiner Worte schwindeliger wurde.
Unwillkürlich krallte ich mich am Rock meiner Großtante fest.
Beverly umfasste meine Schultern und zog mich an sich.
»Oh Gott«, murmelte sie, während ihr Blick auf mir ruhte. »Oh mein Gott … oh mein Gott …«
Den Ausdruck in ihren Augen, die sich langsam mit Tränen füllten, werde ich nie vergessen.
Es war derselbe Ausdruck, mit den sie mich auch heute noch ansieht, wenn ich wieder einen dieser besonderen Albträume hatte …
***
Das zweite Mal, als mich ein solcher Albtraum heimsuchte, war ich bereits sechzehn Jahre alt. Tante Bell hatte mich nach dem Tod von Julia und Jonathan bei sich aufgenommen und tat alles, um mir meine Eltern zu ersetzen.
Sie schenkte mir all die Liebe und Unterstützung, die ein junger Mensch so dringend brauchte, und ich war sehr glücklich, in der Obhut einer so verständnisvollen und gutmütigen Frau aufwachsen zu dürfen.
Doch Tante Bell hatte auch ihre Eigenarten – sie interessierte sich, zum Beispiel, für alles, was mit Spiritismus und Okkultismus zu tun hatte.
Aber sie war in dieser Sache nicht so vernarrt und verbohrt, dass sie mir meine Skepsis, die ich in diesen Dingen nun mal hegte, übel genommen hätte.
Im Gegenteil. Tante Bell war ein sehr kritischer Mensch, der längst nicht alles als gegeben hinnahm und auch schon so manchen Scharlatan entlarvt hatte.
In jener Nacht aber träumte ich, dass meine beste Freundin, die in der Nachbarvilla wohnte, von einem Feuer bedroht wurde. Ich hatte im Traum geschrien und mich in meinem Bett hin und her geworfen.
Als ich erwachte, war Tante Bell an meiner Seite. Sie versuchte mich zu beruhigen – wollte aber auch wissen, was ich geträumt hatte.
Während ich Tante Bell von meinem Feuertraum erzählte, wurde sie immer unruhiger. Kaum hatte ich geendet, da sprang sie auch schon auf.
»Warte hier, mein Kind. Ich werde sofort nachsehen«, sagte sie.
Sie warf sich ihren lilafarbenen Morgenmantel über, rannte zu unseren Nachbarn und klingelte die ganze Familie aus dem Bett. Damit rettete sie ihnen das Leben, denn im Heizungskeller der Villa war tatsächlich unbemerkt ein Feuer ausgebrochen. Die Villa brannte bis auf die Grundmauern nieder – aber meine Freundin und ihre Familie kamen mit dem Schrecken davon.
Seitdem war Tante Bell felsenfest davon überzeugt, dass in mir übersinnliche Fähigkeiten schlummerten, und ich in meinen Albträumen bestimmte Ereignisse voraussehen konnte.
Ich jedoch glaubte nicht an das Übersinnliche. Solche Geschichten gehörten für mich ins Reich der Märchen und der Fantasie.
Aber es passte zu Tante Bell und ihrem sonderbaren Hobby, dass sie mir diese Fähigkeiten andichten wollte …
Lange Zeit danach suchten mich keine derartigen Albträume mehr heim, und wenn Tante Bell nicht hin und wieder die beiden seltsamen Träume erwähnt hätte, ich hätte sie wahrscheinlich verdrängt und irgendwann ganz vergessen.
Aber dann, mit meinem fünfundzwanzigsten Lebensjahr, als ich bei der großen Boulevard-Zeitung London City Observer als Journalistin anfing, stellten sich diese seltsamen Albträume schlagartig wieder ein.
Sie waren sehr intensiv und realistisch, und wenn ich erwachte, wusste ich oft nicht, ob ich wirklich nur geträumt oder das Geschehen tatsächlich erlebt hatte. Und manchmal wiesen diese Träume tatsächlich auch eine beängstigende Übereinstimmung mit der Wirklichkeit auf.
Und da war auch noch mehr. Ahnungen, Visionen – seltsame Traumbilder, die mich sogar am helllichten Tag überschwemmten. Es war unheimlich, manchmal erschreckend.
Trotzdem sträubte ich mich, Tante Bells Theorie von meinen übersinnlichen Fähigkeiten Glauben zu schenken. Träume sind Schäume – an dieser alten Weisheit wollte ich nicht rütteln …
Als ich mich nun aber wieder auf der Straße umwandte und meinen unheimlichen Verfolger im Nebel sah, da überkamen mich plötzlich wieder Zweifel.
War an den orakelhaften Worten meiner Großtante nicht doch etwas dran?
Ich hatte von diesem Mann geträumt, da war ich mir sicher …
***
Die gespenstische Erscheinung in dem sonderbaren Mantel sah der Gestalt aus meinem Albtraum zum Verwechseln ähnlich!
Hatte mich mein Traum etwa vor dem unheimlichen Verfolger warnen wollen?
Unsinn!, sagte ich mir. Jetzt fängst du schon an wie Tante Bell!
Ein Passant kam mir entgegen. Der Mann trug eine Aktentasche unterm Arm und eilte mit großen Schritten durch den morgendlichen Nebel. Er befand sich wahrscheinlich, genauso wie ich, auf dem Weg zur Arbeit.
Rasch fasste ich einen Entschluss. Ich würde den Fremden anhalten und bitten, meinen Verfolger zu vertreiben oder mich bis zum Gebäude des London City Observer zu begleiten.
Der London City Observer war eine bekannte Boulevard-Zeitung, für die ich seit einem halben Jahr als Journalistin tätig war. Ich konnte mich glücklich schätzen, diesen Job bekommen zu haben, denn viele meiner Studienkollegen hatten nach ihrem Abschluss nicht sofort eine feste Anstellung gefunden und jobbten nun in Imbissbuden oder gingen ähnlichen Tätigkeiten nach.
Martin T. Stone, der Chefredakteur der Zeitung, hatte es mir in der Anfangszeit nicht leicht gemacht. Er hätte es lieber gesehen, wenn ein erfahrenerer Journalist die freie Stelle bekommen hätte.
Aber Arnold Reed, der Verleger der Zeitung, der Beverly und ihren verschollenen Mann Franklin gut kannte, hatte darauf bestanden, dass ich meine Chance bekam. Und inzwischen stand ich in Stones Ansehen ganz oben, zählte mittlerweile zu seinen besten Mitarbeitern.
Entschlossen trat ich nun dem Mann mit der Aktentasche in den Weg und sah mich noch einmal nach meinem gespenstischen Verfolger um.
Aber von der düsteren Gestalt im langen Mantel mit dem hohen Kragen fehlte plötzlich jede Spur! Der dichte Nebel schien sie verschluckt zu haben …
»Passen Sie doch auf, wo Sie hingehen!«, fuhr mich der Mann mit der Aktentasche barsch an, und er wich mir mit einer unbeholfenen Bewegung aus.
Kurz darauf war auch er in der dichten Nebelwand hinter mir verschwunden.
Mit einem unbehaglichen Gefühl setzte ich meinen Weg fort.
Und als ich mich schließlich erneut umsah, bestätigte sich meine Befürchtung. Der Unheimliche in dem langen Mantel war wieder dicht hinter mir!
Wer bist du nur?, dachte ich. Was willst du von mir?
Panik keimte in mir auf, und ich beschleunigte meine Schritte.
Schließlich gelangte ich in die Nähe eines Bürohochhauses. Menschen hasteten von einer Bushaltestelle zum Eingang des modernen Gebäudes, das sich wie ein grauer Klotz aus Beton und Stahl im Nebel erhob.
Unwillkürlich schloss ich mich den Passanten an und ging die Marmorstufen zu den gläsernen Türen hinauf. Neben einem der säulenartigen Pfosten blieb ich stehen und drehte mich um.
Aber der Unheimliche in dem sonderbaren Mantel war nun wieder untergetaucht und nicht mehr zu entdecken! Hatte er sich etwa in Luft aufgelöst?
Eine Gänsehaut rieselte mir den Rücken hinunter.
Irgendeine vernünftige Erklärung musste es doch für die unheimlichen Vorkommnisse geben!
Ich atmete tief durch und ließ die Ereignisse der vergangenen Stunden noch einmal vor meinem inneren Auge Revue passieren …
***
»Jessica, fahr bei diesem Wetter bitte nicht mit dem Auto zur Arbeit«, hatte meine Großtante Beverly Gormic an diesem Morgen gesagt, als wir uns am Frühstückstisch in der Küche ihrer alten Villa gegenübersaßen, in der ich noch immer mit ihr zusammenwohnte.
Tante Bell war eine untersetzte, rundliche Frau von fünfundsechzig Jahren und eigentlich kein ängstlicher Mensch. Aber an Tagen wie diesen, wo ähnliche Wetterbedingungen herrschten, wie damals in der Nacht, als meine Eltern starben, machte sie sich stets große Sorgen um mich. Ihr sonst so gutmütiges Gesicht, das vom grauen lockigen Haar umgeben war, sah sehr besorgt und ängstlich aus.
Ich fuhr jeden Morgen mit meinem Oldtimer, einem gepflegten, kirschroten Mercedes 190, zum Verlagsgebäude in der Lupus Street. Beverlys Villa lag in Hampstead, einem etwas besseren Wohnviertel im Norden von London, und bis zur Innenstadt hatte ich eine weite Strecke zurückzulegen.
Ich zog es für gewöhnlich vor, mit dem Wagen zu fahren, da ich ihn oft am Tag benötigte, um zu einem Interview zu kommen, oder für Recherchen außerhalb des Büros.
Aber ein Blick aus dem Küchenfenster zeigte mir, dass der Nebel heute Morgen so dicht war, dass man nur einige Meter weit sehen konnte. Bei diesem Wetter durch die belebte Stadt zu fahren, das war sicherlich kein Vergnügen.
»Ich werde heute die öffentlichen Verkehrsmittel benutzen«, erwiderte ich und lächelte Beverly aufmunternd an.
Ihr Gesicht hellte sich daraufhin wieder ein wenig auf.
Etwas später begleitete sie mich bis zur Tür und drückte mir zum Abschied einen Kuss auf die Stirn – was sie schon lange nicht mehr getan hatte.
Dann trat ich ins Freie. Nebel und kalte Luft schlugen mir entgegen. Der graue Dunst schien die Welt um mich herum verschluckt zu haben. Von dem vertrauten Anblick der hohen alten Pappeln, die das Grundstück um die alte Villa herum von der Shirlock Road abgrenzten, waren nur schemenhafte Umrisse zu erkennen.
Die unwirklich erscheinende Umgebung erinnerte mich auf unangenehme Weise an meinen Albtraum der vergangenen Nacht. Ich hatte von einer unheimlichen Gestalt in einem wallenden langen Mantel mit hohem Kragen geträumt, die mich durch eine nebelige bizarre Albtraumlandschaft verfolgte. Ich hatte gewusst, dass ich nichts Gutes von dem Fremden zu erwarten hatte, wenn er mich in die Finger bekam. Also rannte ich so schnell ich konnte vor dem Unheimlichen davon, aber ich verirrte mich dabei nur immer tiefer in diese labyrinthartige Nebellandschaft, in der immer wieder hohe Mauern vor mir auftauchten.
Es gab kein Entkommen. Der Unheimliche erwischte mich am Ende doch. Fest hielt er meine Arme umklammert, während er sich langsam zu mir herabbeugte, um mich zu küssen …
Ich versuchte die Erinnerung an diesen schrecklichen Traum abzuschütteln und trat mit einem unbehaglichen Gefühl auf die Straße.
Aufmerksam sah ich mich nach allen Seiten um.
Die Straßen von London konnten an einem nebeligen Morgen ziemlich unheimlich und gruselig wirken. Die Häuser und Villen in der Shirlock Road waren von grauem Dunst verhangen, und alles machte einen verlassenen und vereinsamten Eindruck.
Unsicher setzte ich einen Fuß vor den anderen. Es kam mir wie eine halbe Ewigkeit vor, bis ich endlich das Schild der Bushaltestelle vor mir aus dem Nebel auftauchen sah.
Ich war die Einzige, die hier auf den Bus wartete, wie ich sogleich feststellte. Die Straße lag einsam und verlassen da. Nur hin und wieder tauchten die Scheinwerfer eines Autos aus dem Nebel auf, um kurz darauf wieder von ihm verschluckt zu werden.
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite befand sich eine Kirche, die von hohen, alten Eichen umgeben war. Jetzt waren von den mächtigen Bäumen und dem Kirchturm nur unheimliche Schemen zu erkennen, die irgendwie monströs und fremdartig wirkten.
Da plötzlich löste sich eine Gestalt aus dem Schatten der schwarzen Baumstämme!
Sie trug einen langen dunklen Mantel mit hohem Kragen.
Lauernd verharrte der Unheimliche zwischen den Bäumen und starrte zu mir herüber, während wabernde Nebelschwaden ihn umspielten.
Ein heißer Schrecken durchfuhr meine Glieder.
Die Gestalt sah genauso aus wie der unheimliche Verfolger aus meinem Albtraum!
Unbeweglich und stumm stand der Fremde zwischen den düsteren mächtigen Baumstämmen und starrte durch den Nebel zu mir herüber. Sein Gesicht lag im Schatten des hochgeklappten Kragens, sodass ich es nicht erkennen konnte.
Ich wollte der Gestalt etwas zurufen und sie fragen, warum sie mich so anstarrte.
Aber meine Kehle war vor Grauen wie zugeschnürt, ich brachte keinen Laut hervor.
Da vernahm ich plötzlich den dröhnenden Motor des Linienbusses, der sich durch den Nebel der Haltestelle näherte und schließlich vor mir stoppte.
Die Starre fiel von mir ab, mit zittrigen Knien stieg ich in den Bus. Als ich wenig später auf einem der Sitze Platz genommen hatte und aus dem Fester sah, war die unheimliche Gestalt zwischen den Eichen verschwunden.