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London im Jahre 1895. Droschken rollen über das Kopfsteinpflaster, Männer mit hohen Zylindern und wallenden Capes schreiten durch die Straßen. Es wird Abend, dann Nacht, und jetzt liegen die Straßen Londons verlassen da. Nebel kommt auf, kaum sieht man noch die Hand vor Augen.
Nur eine einsame, düstere Gestalt schleicht noch durch die finsteren Gassen der englischen Metropole. Ein Mann auf der Suche nach einem neuen Opfer, man nennt ihn den Gaslicht-Mörder!
Sechs junge Frauen hat das unheimliche Phantom schon getötet, und nur Jessica Bannister kann diesen unheimlichen Mörder stoppen - doch wie kommt sie in diese Zeit? Was hat sie hier zu suchen? Und wie soll sie dem unheimlichen Gaslicht-Mörder das Handwerk legen?
Er ist ihr bereits auf der Spur, Jessica soll sein siebtes Opfer werden ...
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Seitenzahl: 143
Veröffentlichungsjahr: 2017
Cover
Impressum
Die Hauptpersonen
Ich und der Gaslicht-Mörder
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: shutterstock / Aleshyn_Andrei; Christian Mueller
Datenkonvertierung eBook: Blickpunkt Werbe- und Verlagsgesellschaft mbH, Satzstudio Potsdam
ISBN 978-3-7325-5203-0
www.bastei-entertainment.de
Die Hauptpersonen:
Jessica Bannister
Sie ist Reporterin beim London City Observer und auf mysteriöse Fälle spezialisiert. Sie hat übersinnliche Fähigkeiten, kann in Visionen und Träumen in die Vergangenheit reisen und die Zukunft voraussehen. So sah sie als Zwölfjährige auch den Tod ihrer Eltern voraus. Sie wuchs danach bei ihrer Großtante Beverly Gormic auf, bei der sie noch heute lebt.
Jim Brodie
Er ist Fotograf beim London City Observer. Als Jessica ihren Job bei der Zeitung antritt, steht er ihr sogleich mit Rat und Tat zur Seite, und es entwickelt sich schon bald eine enge Freundschaft zwischen den beiden. Wenn Jessica an einem Auftrag arbeitet, ist er fast immer als Fotograf an ihrer Seite.
Beverley Gormic
»Tante Bell« ist Jessicas Großtante. Nach dem Tod von Jessicas Eltern hat sie ihre Nichte bei sich aufgenommen und großgezogen. Jessica hat auch heute noch ein sehr enges Verhältnis zu ihrer Ziehmutter. Beverly weiß über Jessicas übersinnliche Fähigkeiten Bescheid, sie selbst befasst sich intensiv mit Spiritismus und Okkultismus.
Martin T. Stone
Der Chefredakteur des London City Observer
Ich und der Gaslicht-Mörder
von Janet Farell
Nebel kroch in dichten Schwaden durch die Straßen. Unheimlich schimmerte das Gaslicht und bildete Lichtinseln in dem bleichen Dunst. Kalt war es – wie Leichenfinger griff diese Kühle nach mir.
Wie kommst du hierher, Jessica Bannister?, fragte ich mich. Meine Kleidung, die Umgebung, alles war anders. Gerade noch war ich an einem vertrauten Ort gewesen.
Jetzt fand ich mich hier wieder. Da waren Gedanken, Regungen, die mir fremd waren und die dennoch mein Denken und Handeln bestimmten. Mühsam kämpfte ich gegen die aufsteigende Panik an. Wo war ich – und vor allem, wann? Ja, in welcher Zeit?
Die in der Nebelsuppe auftauchenden Häuser waren teils vertraut, doch irgendwie anders als sonst. Ich überquerte den großen Platz und sah den Stumpf der sechzig Meter hohen Nelsonsäule.
Das Standbild des Admirals und Seehelden auf der Spitze verschluckte der Nebel. Doch ich befand mich ohne Zweifel auf dem Trafalgar Square im Herzen von London.
Doch welches London? Weshalb brannte Gaslicht in den altertümlichen Straßenlampen? Ich konnte mich nicht erinnern, wie ich hierhergelangt war.
Jetzt hörte ich Hufschlag und Räderrollen. Ich war schon an der Straße. Eine Kutsche, von zwei Rappen gezogen, rollte heran. Zwei Laternen brannten vorn an der Kutsche und bildeten Lichtinseln im Nebel. Der Droschkenkutscher, würdig mit Backenbart, saß auf dem Bock und nahm einen Schluck aus seiner Taschenflasche.
Er sah mich, kniff ein Auge zu. Dann verschwand die Pferdedroschke wieder im Nebel.
Ich zweifelte an meinem Verstand.
Ich hatte auch einen Hut auf dem Kopf – so etwas trug ich normalerweise nie.
Als ich daran fassen wollte, stellte ich fest, dass meine Hände in einem Pelzmuff steckten, wie meine Urgroßmutter ihn wohl vielleicht einmal gehabt hatte.
Das konnte nicht sein. Irgendetwas stimmte hier nicht.
Innerlich schwer geschockt ging ich weiter, zur nächsten U-Bahn-Station. Wenn das hier der Trafalgar Square war, an dessen Südseite ich mich befand, musste ich sie gleich erreichen.
Aber da war keine U-Bahn-Station, kein Leuchtzeichen, kein Zugang nach unten.
Natürlich, in der Zeit, in der es in London noch Gaslicht gegeben hatte, also im vorigen Jahrhundert, hatte die U-Bahn längst noch nicht existiert.
Mein Herz schlug heftig. Ich fühlte mich wie geteilt – mein Geist sträubte sich, die Situation zu erfassen.
Entschlossen, den Traum zu beenden, zog ich die rechte Hand aus dem Muff und kniff mich, so fest ich das konnte, in den Arm.
Es schmerzte, doch das veränderte nichts. An der Hand trug ich zwei schöne Ringe, die ich noch niemals gesehen hatte.
Das konnte, das durfte nicht sein!
Erschüttert ging ich über die Straße – und wäre dabei fast von einer anderen Droschke überfahren worden.
Ich lehnte mich mit dem Rücken gegen eine Hauswand.
Passanten hasteten jetzt an mir vorbei, den Kopf eingezogen, den Kragen hochgestellt. Alle hatten es eilig, dem klammen dichten Londoner Nebel zu entrinnen und nach Hause in ihre behaglichen warmen Stuben zu kommen.
Doch einer blieb stehen.
Er war hochgewachsen, hatte ein hageres, wie knöchernes Gesicht und unheimlich glasige Augen. Wie durch Watte oder durch einen Schleier blickte er mich an.
Etwas Kaltes und mörderisch Böses sprang mich aus diesem Blick an.
Der Mann trug einen schwarzen Umhang, Paletot hatte man das früher genannt. Auf seinem Kopf saß ein hoher schwarzer Zylinder, der den unheimlichen, totengräberähnlichen Eindruck noch verstärkte.
Jetzt zog er ein Messer unter dem Umhang hervor!
Seine nervigen, gelblichen Finger umkrallten den Griff.
»Ich habe auf dich gewartet«, sagte er mit rauer Stimme. Dumpf dröhnten die Glockenschläge von Big Ben durch den Nebel. »Da hast du ein Geschenk!«
Mit der anderen Hand warf er mir einen Gegenstand vor die Füße.
Es war eine goldene Rose!
Stiel, Blätter, Dornen und Blütenkelch, alles goldfarben.
In den glasigen Augen des Hageren brannte ein mörderisches Feuer. Die Klinge des langen Dolchmessers funkelte im Licht einer Gaslaterne.
Gellend schrie ich. Ich konnte nicht anders. Die Szene war zu grausig.
Schon hob der Unhold drohend die Klinge.
Da schrillte die Trillerpfeife eines Londoner Polizisten durch den Nebel. Jemand rannte herbei.
Ich schrie abermals und stand mit dem Rücken zur Mauer.
Die unheimliche Gestalt vor mir sah in die Richtung, aus der der Bobby herbeirannte und abermals pfiff.
»Wir sehen uns wieder«, sagte der Mann mit den glasigen Augen.
Dann drehte er sich um und verschwand schnell wie ein Irrwisch im Nebel.
Ich atmete auf, dann erschien endlich der Bobby. Mit hohem Helm, wie ihn die Londoner Polizisten schon seit vielen Jahrzehnten trugen, Uniform, Schnauzbart und Knüppel stand er vor mir. Wuchtig und beruhigend sah er aus.
»Was ist los, Miss?«, fragte er mich. »Warum haben Sie laut um Hilfe geschrien?«
»Da … war jemand. Konstabler, um alles in der Welt, was haben wir für ein Datum?«
»Nun, den 13. November. Warum?«
»Ich meinte das Jahr. Welches Jahr schreiben wir?«
Der Bobby runzelte die Stirn. Die goldene Rose zu seinen Füßen bemerkte er nicht.
»Ist Ihnen nicht gut, Miss? 1895 natürlich. Wie ist Ihr Name?«
»Jessica Bannister. Ich bin Reporterin beim London City Observer.«
»Kenne ich nicht. Zeigen Sie mir mal Ihre Papiere.«
Ich hatte eine Handtasche bei mir, ein Modell, wie ich es bis dahin nur auf Bildern oder in Museen gesehen hatte. Aus Leder und rund, ein Modell von vor hundert Jahren.
Darin befanden sich, als ich darin kramte, Utensilien, die mir vertraut und doch völlig unbekannt waren.
In meiner Magengegend wogte es. Mein inneres Gleichgewicht kam total durcheinander.
Ich war … und ich war doch nicht.
»Die Papiere!«
Die Stimme des Bobbys klang autoritärer. Ich fand, ohne hinzusehen, den Passport, der ganz anders aussah als ein moderner Personalausweis. Ein Büchlein war es, die Eintragungen mit der Hand vorgenommen. Ohne Bild, doch mit einer aus wenigen Worten bestehenden Personalbeschreibung.
Etwas oder jemand lenkte mir die Hand und gab dem Konstabler den Passport.
Er schlug ihn auf und sah hinein.
»Bitte nennen Sie mir Name und Alter.«
»Jessica Bannister. Mein Alter ist 25.«
»Da steht aber, dass Sie Emma Merrill heißen und 1870 geboren sind. Können Sie mir das erklären?«
Fassungslos schüttelte ich den Kopf. Jetzt sah der Bobby erst die Rose. Rasch hob er sie auf.
Sein Gesicht verriet Entsetzen beim Anblick.
»Sie sagten, da wäre jemand gewesen, Miss Merrill. Beschreiben Sie ihn.«
Ich überging, dass ich nicht Merrill hieß, und schilderte dem Konstabler die Szene. Passanten gingen an uns vorbei. Pferdedroschken fuhren. Bisher war noch kein anderer Polizist eingetroffen.
»Sie haben Dead-Eye-Charlie gesehen!«, rief der Polizist aufgeregt und trillerte wieder mit seiner Pfeife, um Verstärkung herbeizurufen. »Wir müssen das Viertel abriegeln. Vielleicht erwischen wir den Frauenmörder diesmal. Sie haben ihm wirklich Auge in Auge gegenübergestanden und leben noch? Da haben Sie aber mächtig Glück gehabt, junge Frau. Wie lange ist er schon hinter Ihnen her?«
Ich hörte mich sagen: »Zwei Wochen.«
Mir fiel etwas ein, was zuvor geschehen sein musste. Zuvor – und über hundert Jahre danach in der Zukunft.
***
»Wen wollen Sie haben, Jessica?«, fragte mich Martin T. Stone, als ich sein Büro betrat.« Jack the Ripper, Henri Landru oder Charles Manson?«
»Wollen Sie mich verkuppeln?«, fragte ich schlagfertig.
Der Chefredakteur des London City Observer lachte freundlich. Er war weniger beschäftigt und angespannt als sonst, weil wir die Saure-Gurken-Zeit im Hochsommer hatten. Aber das passte ihm auch wieder nicht. Der Observer schrumpfte im Umfang zusammen. Die während der Sommerflaute in der Redaktion verbliebenen Reporter, die Unermüdlichen, wie wir uns nannten, hatten Mühe, die Leser bei der Stange zu halten und interessante Neuigkeiten zu bekommen.
Auch ich mühte mich ab – lieber wäre ich an der Riviera gewesen. Aber da hatten ältere Kollegen und Kolleginnen Vorrang, was den Sommerurlaub betraf. Ich gehörte mit zu der Notbesetzung und musste mich damit abfinden.
Ich räumte einen Stapel Papiere von dem Stuhl vor Stones Schreibtisch und setzte mich.
»Was haben Sie vor mit den schaurigen vielfachen Mördern, die Sie mir gerade nannten, Sir?«, fragte ich.
»Sie sollen mir ein paar interessante Artikel über Serienmörder aus der Vergangenheit liefern, Jessi. Sie wissen, dass wir im Moment die große Flaute haben. Alle sind in Urlaub, sogar die Verbrecher. Die Reihe über die Kleinkriminalität in der Londoner U-Bahn, an der Sie gerade schreiben, können Sie getrost vergessen. Das reißt keinen vom Hocker. Ich brauche etwas Besonderes, um die Leser des Observer während des Sommerlochs bei der Stange zu halten.«
Stone schnappte mit den Fingern. »Etwas mit Pep, viel Schauer, Blut und mit Nostalgie. Dass es den Lesern kalt über den Rücken läuft. Dazu gehören die glasklaren journalistischen Fakten und ein flotter und trotzdem atmosphärisch dichter Schreibstil. Also Ihre besondere Spezialität.«
»Sir, Sie geraten ins Schwärmen.«
Der Chefredakteur räusperte sich. »Bilden Sie sich nichts ein, gelegentlich haben Sie Sternstunden. Aber Sie müssen noch sehr viel lernen und hart an sich arbeiten, Jessica.«
»Natürlich.«
»Also, nehmen Sie sich meine Worte zu Herzen. Gehen Sie ins Archiv und suchen Sie sich fürs Erste einen hübschen, geheimnisvollen Serienmörder aus. Versuchen Sie, etwas Neues über ihn zu bringen oder bisher noch unbekannte Fakten herauszufinden. Spielen Sie mal Sherlock Holmes.«
»Dann würde ich aber keinen von den bekannten Halunken nehmen, die Sie genannt haben, Sir. Über Jack the Ripper, den Londoner Serienmörder, oder Landru, den Blaubart von Paris, ist eine Unmenge geschrieben worden. Da finden Sie keine neuen Fakten mehr und können auch keine neuen Theorien mehr aufstellen. Bei Manson ist es genauso – zudem lebte er in den USA.« Der unheimliche Guru einer Hippie-Familie, der für das Sharon-Tate-Massaker verantwortlich zeichnete, war noch immer am Leben, aber natürlich im Zuchthaus, das wusste Stone genauso gut wie ich. »Nein, wir brauchen einen anderen, gewissermaßen noch unverbrauchten Täter.«
»Richtig.« Stone klopfte mit seinem Drehbleistift auf den Schreibtisch, auf dem sich Korrespondenz und Manuskripte stapelten und eine Gebirgslandschaft bildeten. »Ich sehe, Sie sind auf der richtigen Spur. Also, strengen Sie mal Ihr hübsches Köpfchen an. Ich will heute noch einen konkreten Vorschlag und einen Entwurf für diese Sommerserie des Observer über die Serienmörder haben.«
»Nostalgie und Blut«, sagte ich kopfschüttelnd und stand auf. »Mir schwebt da schon etwas vor. Übrigens, wussten Sie, dass Henri Landru, der Mörder und Heiratsschwindler, zu über dreihundert Frauen intime Beziehungen hatte, von denen er zehn umbrachte?«
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Daran können Sie wieder einmal erkennen, wozu Männer alles fähig sind, Sir.« Das war meine Revanche für sein herablassendes Statement von meinem hübschen Köpfchen. »Was ist mit meiner jetzigen Serie?«
»Über die Handtaschenräuber in der U-Bahn sollen andere schreiben.«
Ich ging hinaus und schloss die Tür.
Nostalgie und Blut – eigentlich nicht meine Art, derart reißerisch zu schreiben, aber der Observer war eine Boulevard-Zeitung, und die Leute wollten nicht nur Informationen, Sie wollten Skandale und dass es ihnen beim Lesen eiskalt über den Rücken lief. In diesem Geschäft ging es knallhart um Auflagenzahlen. Nun, ich würde schon das Beste daraus machen.
Ich ging durch das halb leere Großraumbüro und sah überall hitzegeplagte Gestalten an den Computern und Schreibmaschinen. Es war früher Nachmittag. Nur wenige Telefone schrillten. Mir lag das Lammkotelett mit Salat von der Mittagsmahlzeit in der Kantine noch ein wenig im Magen.
Ich holte meinen Notizblock vom Schreibtisch und fuhr mit dem Lift in den Keller hinunter. Dort befand sich das Archiv.
Als ich beim Observer angefangen hatte, war es kurzfristig im zweiten Stock gewesen, weil im Keller umgebaut wurde. Obwohl bei uns wie in allen größeren Redaktionen die Datenflut hauptsächlich auf Mikrofilm und CDs gespeichert war, gab es immer noch eine Menge Papier. Sämtliche alten Ausgaben des Observer waren im Archiv enthalten, zudem Bände mit Nachschlagewerken, Fakten, Artikeln von der Gründung des Observer im Jahr 1871 bis heute.
Der alte Willie waltete hier seines Amtes, ein gebeugter Mensch im grauen Kittel, mit grünem Augenschirm und Ärmelschonern.
Mit seiner Hilfe holte ich mir alte Ausgaben des Royal London Observer, wie er bis nach der Jahrhundertwende geheißen hatte. Dann fing ich an, in den Mappen nachzublättern.
Ich folgte meiner Intuition – am besten würde es sein, wenn ich einen Kriminalfall aufgriff, über den der Observer schon damals berichtet hatte.
So saß ich am Tisch zwischen den Regalen mit den Mappen und Nachschlagewerken in dem großen, gewölbeartigen Raum. Es roch nach altem Papier und nach Druckerschwärze.
Der Archivar hantierte vorne an seinem Pult. Leise Radiomusik dudelte von dort her und verstärkte die Atmosphäre des Unwirklichen und Entrückten, die ich deutlich empfand.
Etwas war anders als sonst. Ich konnte es nicht in Worte fassen. Da war eine Vorahnung und ein Gefühl wie bei einem Menschen, der in stockdunkler Nacht, ohne davon zu wissen, am Rande eines Abgrunds stand.
Geh nach Hause, Jessica Bannister, sagte mir eine innere Stimme. Du begibst dich in große Gefahr.
Dann war es, als ob ich in einen dunklen Schacht gleiten würde …
***
Ich musste einen Moment eingenickt sein. Als ich erwachte, war mir schwindlig und elend.
Anscheinend war mit dem Lammkotelett heute Mittag in der Kantine etwas nicht in Ordnung, dachte ich. Kein Wunder, bei der Hitze. Hoffentlich habe ich keine Lebensmittelvergiftung.
Weil mir übel war, achtete ich nicht besonders auf meine Umgebung. Ich befand mich im Archiv, so viel sah ich.
Die Regale wirkten viel höher, wie ich es gewöhnt war, und es war düster in dem gewölbeartigen Raum.
»Der Chefredakteur wartet auf Sie«, sagte jemand neben mir. »Sie wissen, wie streng er ist.« Besorgt musterte mich der Archivar. »Ist Ihnen nicht gut? Sie sehen so blass aus.«
Wie würdest du denn wohl aussehen, wenn du einen solchen Albtraum gehabt hättest?, dachte ich.
Jetzt sah ich mir den Archivar näher an. Es war nicht der alte Willie, der glatt rasiert war und eine schwere Hornbrille mit flaschenbodendicken grünlichen Gläsern trug. Sondern ein ganz anderer Mann mit grauem Bart und einer grünen Schürze, wie sie früher die Drucker und Metteure trugen.
»Es ist alles in Ordnung«, sagte ich und stand auf.
Auf dem Tisch, an dem ich gesessen und gearbeitet hatte, lag eine mir völlig unbekannte Mappe. Sie enthielt ein Dossier über die Schauspielerin Eleonora Duse, die von 1859 bis 1924 gelebt hatte und die bekannteste Theatergröße ihrer Zeit gewesen war.
Ich hatte mal eine Biografie von der Duse gelesen und erinnerte mich an die Daten. Ein paar Fotografien alten Stils, die verdächtig neu wirkten, lagen ebenfalls in der Mappe.
»Jetzt gehen Sie schon«, sagte der Archivar. Vergessen Sie nicht, dass Sie als Volontärin zur Probe angestellt sind.«
Was ist das denn für ein Kauz?, fragte ich mich. Anscheinend war er als Aushilfe für den alten Willie da und vertrat diesen oder arbeitete mit ihm zusammen. Er wusste nicht, dass ich schon seit einer Zeit festangestellte Reporterin beim Observer war.
Ich stolperte also los, etwas unsicher auf den Beinen. Vor meinen Augen verschwamm die Umgebung mitunter und wurde dann wieder klarer.
»Das müssen Sie mitnehmen.«
Der kauzige Archivar drückte mir das Dossier über die Duse in die Hand.
Wie von einer fremden Macht geleitet, verließ ich das Archiv. Ich wunderte mich nicht, dass das Pult vorn anders aussah als sonst – verschnörkelt, aus dunklem Holz, während wir im Archiv moderne Stahlrohrmöbel hatten. Ein uraltes Telefon stand da, ein Stück, wie man es sonst nur im Postmuseum bewundern konnte. Und da war auch ein Sprachrohr, das nach oben führte.
Auf dem Pult stand eine Petroleumlampe.
Der alte Willie war nirgends zu sehen. Sein kauziger Vertreter beschäftigte sich irgendwo im Hintergrund zwischen den hohen dunklen Regalen.
Das Dossier unter dem Arm, lief ich durch lange, düstere Gänge. Es zischte. Erst nach einer Weile fiel mir auf, dass dieses Zischen von den runden Lampen und deren Zuleitungen herrührte.
Das war Gaslicht!
Im Moment war ich jedoch zu sehr mit meiner Übelkeit und meinem Zustand beschäftigt, als dass ich hätte darüber nachdenken können. Irgendwie war ich nicht richtig bei mir. Der Traum, den ich gehabt hatte, beeinträchtigte meine Wahrnehmung anscheinend immer noch.