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Katja Herzberger beschließt, endlich aus ihrem Elternhaus, in dem es zugeht wie in einer amerikanischen Seifenoper, auszuziehen, um etwas Distanz zwischen sich und ihre zahlreichen anstrengenden und problembehafteten Geschwister und die kontrollwütige Mutter zu legen. An Heiligabend kommt sie aber brav zurück - und nach dem obligatorischen Kirchgang findet die Familie eine Leiche im Garten, einen eher ungeliebten Bekannten der Familie. Zeitgleich werden Katjas Bruder Nick und sein Freund Raphael immer seltsamer und vor allem immer giftiger Katja gegenüber. Haben die beiden mit dem Mord etwas zu tun? Geht es um Geld? Oder um Rache? Katja schnüffelt selbst ein bisschen herum - auch um den netten Kripobeamten Reuchlin zu unterstützen, der ihr zunehmend besser gefällt...
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Seitenzahl: 402
Veröffentlichungsjahr: 2016
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Alles frei erfunden!
Sämtliche Namensgleichheiten und sonstige Übereinstimmungen mit real existierenden Personen, Firmen u. ä. sind purer Zufall.
Imprint Kein Wohlgefallen. Kriminalroman
Elisa Scheer
„Ich hätte dich nie heiraten sollen!“, keifte es unter ihr. „Pech gehabt!“, schrie eine Männerstimme zurück. „Jetzt hör endlich auf mit dem Quatsch!“
„Quatsch nennst du das? Das ist ja interessant!“
„Ach, lass mich in Ruhe. Ich hab Wichtigeres zu tun.“
Das unverständliche Antwortgekreisch brachte Katja dazu, mit dem bereitstehenden Besenstiel auf den Boden zu klopfen. Nicht, dass das irgendwas genutzt hätte – aber sie wollte doch deutlich machen, dass sie sich gestört fühlte. Und wie!
Wie sollte man eine Englischschulaufgabe korrigieren, wenn dauernd um einen herum die Hölle tobte? Da konnte man ja gleich in eine Slumgegend ziehen, in ein Haus mit ganz, ganz dünnen Wänden – schlimmer war es dort bestimmt auch nicht. Bloß mehr Läden in der Nähe.
Alex und Irma schienen sich beruhigt zu haben, dafür drehte Nick nebenan jetzt seine Anlage auf – und den Musikgeschmack wollte sie nicht geschenkt haben.
Dass man das so deutlich hörte, obwohl ein leeres Gästezimmer dazwischen lag? Verdammt laut hatte er wieder aufgedreht. Blöder Nick! Katja legte den Rotstift beiseite und trat auf den Gang.
„Ruhe“ zu brüllen reichte nicht, also riss sie Nicks Tür auf. „Kannst du das bitte mal leiser stellen? Andere Leute müssen arbeiten!“
Nick grinste ihr von seinem stylischen grauen Ledersofa entgegen. „Augen auf bei der Berufswahl, kann ich da nur sagen. Ich hab jetzt frei, und das finde ich um halb acht Uhr abends auch ziemlich angebracht. Außerdem gibt es gleich Essen. Willst du dich nicht umziehen?“
Katja musterte ihn missmutig. „Ich mach´s wie du. Sakko drüber und aus die Maus. Aber nachher muss ich wirklich noch was tun, und in dieser Lärmhölle geht das absolut nicht.“
„Dafür bist du morgens laut. Musst du immer um halb sechs duschen?“
„Ich muss um sieben in der Schule sein, und zwar frisch gewaschen. Was schlägst du vor?“
Nick grinste. „Was Anständiges lernen? Na, dafür dürfte es jetzt zu spät sein. Aber schieß die Rotzgören in den Wind und fang in der Firma an. Für Sachbearbeitung dürfte es gerade noch reichen, du hast ja Abitur.“
„Und zwar ein viel besseres als du!“, schoss Katja zurück.
„Dafür hab ich zwei Staatsexamina“, konterte Nick.
„Ich auch!“
„Aber im falschen Fach“, grinste Nick.
Katja gab auf, knallte die Tür zu und kehrte in ihr Zimmer zurück.
Sie musste hier raus, eindeutig. Keiner nahm sie ernst, alle hatten nur ihre Scheißmöbel oder ihre Scheißkinder im Kopf – reuig dachte sie an Leon und Aurora, die je eigentlich niedlich waren und nichts für ihre bescheuerten Eltern konnten.
Familie war was Schreckliches. Wieso musste sie mit einer Glucke von Mutter und vier Geschwistern geschlagen sein? Und einem schlossartigen Elternhaus, in dem leider wirklich alle Platz hatten? Na, fast alle. Susanne mit Mann und auch schon fünfköpfiger Brut wohnte wenigstens eine Ecke weiter im Kiefernweg.
Sie sollte ausziehen.
Bei dem Gedanken wurde ihr ganz flau. Wie sollte sie das denn Mama beibringen, die alle ihre Kinder um sich versammelt wissen wollte?
Sie konnte ja in der Nähe wohnen… nein, lieber nicht, sie mochte Leiching auch gar nicht, und in der Nähe der Schule war die Gegend viel netter, da war was los, da gab es Läden und Kneipen ohne Ende.
Sie konnte ja sonntags herkommen. Oder es wenigstens versprechen. Einmal pro Woche war die Bande bestimmt erträglich. Eigentlich waren sie ja alle ganz nett, sie nervten nur tierisch.
Viertel vor…
Sie kämmte die schulterlangen braunen Haare flüchtig durch und band sie im Nacken wieder zusammen, dann zog sie den hellbraunen Bouclé-Blazer wieder über, der ihr beim Korrigieren zu warm geworden war.
Ordentlich, fand sie beim Blick in den Spiegel. Ordentlich reichte für ein Familienessen an einem normalen Novemberabend völlig aus. Morgen musste sie ohnehin zu einem Vortrag, der um sieben begann, da war sie dann zum Essen gar nicht da. Sehr passend, morgen gab es Lamm, und wenn sie etwas hasste, dann Schaf in jeglicher Gestalt. Schaf war nicht essbar, basta.
Die braunen Samtjeans sahen auch noch vorzeigbar aus. Sie wischte etwas Locherkonfetti von ihrem linken Knie und verließ das Zimmer. Dreißig Jahre alt und wohnte noch bei Mama! Gut, alle wohnten noch bei Mama, und es war eher so wie in einer amerikanischen Soap… aber hatte sie sich vor dem Fernseher nicht auch ab und an gefragt, warum manche der Kinder sich nicht einfach nach Skandinavien, Neuseeland oder sonst wohin davon machten, wo der allzu vereinnahmende Patriarch sie nicht mehr erreichen konnte?
Vielleicht sollte sie wirklich auch mal nach einer Wohnung schauen…
Mal sehen!
Auf der Treppe traf sie Lisa.
„Na, Leon schon im Bett?“
„Klar. Acht Uhr ist echt zu spät für ihn. Und Fisch mag er eh nicht. Boah, ich bin so was von müde… die Uni, der Kleine, diese Familie hier…“
Katja grinste. „Anstrengend, was? Aber woanders müsstest du dir selbst eine Kinderbetreuung suchen.“
„Eben. Nee, ich bleibe hier, ich bin ja nicht doof. Wir bleiben ja alle hier…“
Sie seufzte noch, als sie nach links Richtung Esszimmer abbog. Katja folgte ihr.
Die Tafel war üppig gedeckt, mit Tafelaufsätzen, goldgeränderten Tellern, Besteck für mindestens drei Gänge und den entsprechenden Gläsern. Katja grummelte insgeheim. Sie war die einzige, die prinzipiell keinen Alkohol trank, und musste sich täglich dieselben blöden Sprüche anhören.
„Für Sie Wasser?“, fragte Doris auch prompt – in einem Ton, als sei Wassertrinken ein perverses Laster.
„Ja, bitte“, murmelte Katja, der heute ohnehin alles hier auf die Nerven ging. Sie setzte sich gerade, als Alex und Irma hereinkamen – Hand in Hand. Konnten die sich nicht mal dauerhaft vertragen, anstatt sich lautstark zu zanken und dann öffentlich herumzuschmusen?
Nick eilte herbei. „Gibt´s bald was? Ich will mit Raphael noch ins Theater, und das Stück fängt um halb neun an.“
„Das hättest du besser planen müssen“, wies Mama ihn zurecht, die hereingesegelt kam, gefolgt von Doris mit Wasser und Wein.
„Ach, Katja, dieser alberne Puritanismus! Zu einem gepflegten Essen gehört nun mal auch ein guter Wein.“
„Ich habe noch zu arbeiten“, entgegnete Katja und schenkte sich selbst etwas Wasser ein.
„Jetzt noch?“ Der Ton klang nahezu fassungslos.
„Sag ich ja“, feixte Nick, „Augen auf bei der Berufswahl! Und wenn du dir alle Nächte um die Ohren schlägst, befördert wirst du doch nicht.“
„Wieso nicht?“, fragte Irma irritiert.
Katja grinste in sich hinein. Kein Grund, emanzipatorische Geschütze aufzufahren – das tat Irma immer dann gerne, wenn sie Alex eins auswischen wollte.
„Nicht aufregen, das ist das Beamtenrecht. Ich bin gerade erst auf Lebenszeit verbeamtet worden, also wird es ca. zwanzig Jahre dauern, bis ich befördert werden kann. Aber nachdem mit dieser Beförderung eine Gehaltserhöhung von etwa fünfzig Euro verbunden ist, ist es mir ziemlich wurscht, ob ich ein Ober vor die Studienrätin setzen kann oder nicht.“
Mama warf ihr einen milde tadelnden Blick zu und begann mit Alex ein Gespräch über die neue Duo-Combi-Linie, während Doris die Suppe austeilte.
Katja löffelte stumm. Sie hatte vergessen, dass das Lehrerdasein nicht als schickliches Gesprächsthema galt. Sie hätte BWL studieren und in der Firma mitarbeiten sollen. Oder Jura. Oder Design. Oder Holzwirtschaft. Aber dafür gab´s ja schon genug Familienmitglieder. Und dafür hatte sie sich auch noch nie interessiert.
War sie deshalb eine Schmarotzerin? Das hatte Mama ihr schon einmal vorgeworfen – sie lebe vom Unternehmen, sie habe von Papa Geld geerbt, das ins Unternehmen gehöre, sie tue nichts für das Unternehmen… Aber sie arbeitete doch! Nur woanders. Sie zahlte ihre Steuern, sie konnte keine Miete zahlen, weil Mama keine annahm – das hätte sie ihres liebsten Druckmittels beraubt.
Solange sie hier lebte, wäre sie immer ein Fremdkörper. Nein, gleich morgen würde sie sich nach einer Wohnung umschauen. Leisten konnte sie es sich schließlich. Zwei Zimmer oder so. Verkehrsgünstige Lage, moderne Installationen, Dusche und Badewanne. Das Heißwasser hier war ja ein Trauerspiel.
„Du bist heute so still? Und willst du keinen Fisch?“
Katja sah auf. „Oh. Doch, doch.“ Sie nahm sich von der hingehaltenen Platte ein bisschen gekochten Pangasius und großzügig Brokkoli und Kartoffeln.
Toll war es nicht, was Frau Remmler da zusammenkochte: Alles ein bisschen trocken. Aber ob sie selbst es besser konnte? Kochen hatte sie nie gelernt. Na, wenn schon. Gab es eben Brote, bis sie den Dreh raus hatte.
„Worüber denkst du eigentlich nach?“, fragte Alex, der neben ihr saß.
„Sorry. Nur über morgen. Viele Termine. Ich bin zum Essen morgen leider nicht da. Abendveranstaltung in der Schule.“
„Und da gehen alle Pauker immer hin?“, fragte Nick spöttisch.
„Nein. Aber sie sollten eigentlich.“
„Und deswegen übst du dich in preußischer Pflichterfüllung?“
Katja grinste breit. „Ganz genau.“
„Streitet euch nicht schon wieder“, mahnte Mama. „Katja, fang doch nicht immer wieder von diesem leidigen Thema an!“
„Ich?“ Katja war entrüstet, winkte dann aber ab. „Ach, egal. Ich werde mich bessern.“
Nick lachte. „Armes Opfer!“
Der Tisch war zu breit, um auf der gegenüber liegenden Seite ein Schienbein zu erwischen, leider. Katja brütete über dieser Ungerechtigkeit. Wieso war sie denn immer Schuld, auch wenn Nick anfing? Oder Alex? Oder Irma? Oder dieser Affe Adrian?
Wahrscheinlich, weil sie die einzige war, die nicht das tat, was Mama für angemessen hielt – sie arbeitete nicht in der Firma und sie war nicht Mutter. Susanne mit ihren fünf Kindern war da natürlich Vorbild. Und Lisa, die immerhin nach dem Studium vorhatte, bei Herzberger Design anzufangen, war auch eine Brave. Die Jungs, Alex und Nick, ja ohnehin. Nur sie machte seltsame Dinge. Anderer Leute Kinder unterrichten – das war befremdlich.
Fand Mama jedenfalls.
Und deshalb war Katja auch eine Exotin in dieser Familie.
Sie sah auf. Alles aß gleichmütig, Nick erörterte mit vollem Mund eine Rechtsfrage mit Alex, Irma plauderte mit Mama über eine Ausstellung, Lisa rieb sich die Augen. Niemand beachtete sie.
Der Brokkoli war nicht besonders – aber wenigstens gesund. Katja schob das Essen auf dem Teller herum, aß wenigstens die Kartoffel und ein bisschen Gemüse und die trockenen Ränder des Fischs – in der Mitte war er nicht so ganz durch, schien es ihr.
Hier war es furchtbar. Heute kam es ihr noch furchtbarer vor als sonst. Allein schon die Möbel! Im ganzen Haus schweres, dunkles, reich geschnitztes Mobiliar. Der Geschmack von Papas Großeltern, die das Haus um 1900 gebaut hatten, als Herzberger-Möbel eben solches Zeug herstellte und damit reich wurde. Repräsentativ waren die Möbel, das schon – aber wer sollte diese Schnitzereien ohne Dienstmädchen – ohne mehrere Dienstmädchen! – sauber halten?
Sie hatte vor kurzem eine Kollegin besucht, und dort waren die Möbel aus Birkenholz, glatt, mit Stahlkanten. Hell und klar, eindeutige Linien. Die Räume hatten fast leer gewirkt, übersichtlich und durchdacht. Ihr hatte das gut gefallen.
Wenn sie ausziehen würde, dann hätte sie irgendwann vielleicht auch solche Möbel. Irgendwann…
Wieso eigentlich so kleinlaut?, fragte sich Katja und reichte Doris den halb geleerten Teller, den diese mit mürrischem Gesicht entgegen nahm. Reiches Pack, die essen nicht mal auf, stand ihr praktisch auf der Stirn geschrieben.
Doris mochte sie nicht, schon deshalb, weil sie ihren Schreibtisch in Ruhe lassen sollte. Und einmal hatte sie sie ganz spitz gefragt, warum sie denn ihre Schubladen abschließe? Ob sie denke, dass das Personal stehle? Ob man ihr jemals Grund zu einer solchen Annahme gegeben habe?
Katjas eilige Versicherungen, dass es nur wegen der Schülerakten sei, die geheim zu halten sie verpflichtet sei – sie müsse auch in der Schule darauf achten, dass alles abgeschlossen sei – wurden mit dem verdienten Unglauben entgegen genommen: Kein Lehrer trug Schülerakten mit nach Hause. Und sie war für so etwas auch nicht verantwortlich.
Seitdem hatte Doris sie noch verächtlicher gemustert. Vielleicht weil sie ihr Zimmer peinlich ordentlich hielt und Doris maximal mal Staub wischen oder durchsaugen konnte. Wahrscheinlich musste man dem Personal gegenüber unbefangener auftreten, aber das konnte sie eben nicht.
Doris kam mit dem Dessert. Katja warf einen Blick auf die crème brulée und schüttelte den Kopf. „Ich nehme heute lieber Käse.“
„Bitte, dann nicht“, pampte Doris sie halblaut an, was ihr einen strafenden Blick der Hausherrin eintrug.
Wahrscheinlich war sie auch an der nun fälligen Strafpredigt schuld, dachte Katja und sah sich wieder einmal um.
Alles löffelte crème brulée, dieses widerliche Zeug mit dem Geschmack nach verbrannter Milch. Keiner sprach. Gefräßiges Schweigen. Betont zierlich aß nur Irma, der Rest schaufelte.
Vielleicht war sie ein Kuckucksei, überlegte Katja nicht ohne Amüsement; alles, was die anderen liebten, war ihr egal oder zuwider.
Nein, Quatsch. Leider sah sie genauso aus wie die anderen – blaue Augen, braune, leicht gelockte Haare und ein ziemliches Durchschnittsgesicht. Alle Mädels genau 1,75 groß, alle Jungs genau zehn Zentimeter größer. Alle wie aus einer Gussform.
Nein, sie gehörte eindeutig zu dieser Familie.
Kleinlaut… sie hatte vorhin an kleinlaut gedacht…
Ach ja – sie konnte sich Möbel leisten, sie konnte sich eine Wohnung leisten, sie konnte sich nahezu alles leisten. Ihr Erbteil hatte sich in den letzten elf Jahren sehr nett vermehrt. Aus hundertfünfzigtausend Euro waren mittlerweile rund vierhunderttausend geworden. Sie könnte sich fast ein Häuschen leisten. Wie das hier, bloß kleiner. Und es geschmackvoll einrichten…
„Was grinst du da vor dich hin?“
Katja sah auf und Alex in die fragenden Augen.
„Bloß so, warum? Darf ich nicht gut gelaunt sein?“
„Bist du sonst doch auch nicht“, entgegnete Alex. „Du lebst hier wie die Made im Speck und ziehst noch eine Lätsch´n. Was willst du eigentlich?“
Weg will ich, dachte Katja, aber sie hütete sich, das zu sagen.
„Wieso Made im Speck?“, fragte sie stattdessen.
„Na, zahlst du hier vielleicht Miete?“
„Hier zahlt niemand Miete. Du doch auch nicht.“
„Ich schaue ja auch nicht immer drein, als sei mir hier alles nicht gut genug. Du lebst hier kostenlos, kriegst die Zimmer geputzt, die Wäsche gemacht, das Essen serviert – du könntest wenigstens dankbar sein.“
Katja öffnete den Mund, um zu protestieren – sie hatte nur ein Zimmer, machte ihre Wäsche selbst (im Waschsalon, um das Personal nicht zu vergrämen – aber Doris wäre es ja eine Freude, ihre Blazer zu kochen und die Jeans zu bügeln) und wollte diese schrecklichen Abendessen gar nicht. Aber dann winkte sie ab. „Wie du meinst. Aber sei doch froh, dass ich keine crème brulée mag, so ist für dich doch noch ein zweites Schälchen abgefallen. Außerdem“ – sie senkte die Stimme – „leben wir nicht hier, weil wir aufs Hotel Mama angewiesen sind, sondern weil Mama darauf besteht.“
„Na und? Sie hat eben Familiensinn. Du ja nicht so.“
„Wenn schon. Kann dir doch egal sein. Ihr habt dafür alle ein bisschen zuviel davon.“
„Was zischelt ihr da?“, wollte Mama wissen.
„Ach, nichts Besonderes“, log Alex rasch.
„Besonderes bespricht er nur mit mir, nicht wahr, mein Schatz?“, gurrte Irma und schmiegte sich an Alex´ andere Seite.
„So wird´s sein“, bestätigte Katja gleichgültig. „Oh, fein, da kommt der Käse!“
Sie betrachtete sich das Tellerchen mit mehr Begeisterung, als es verdiente – ein Eckchen Gruyere, ein Klacks Frischkäse, ein winziges Stück arg reifer Camembert, zwei Scheibchen Baguette, eine Traube, eine schwarze Olive. Naja.
Wenn sie erst einmal eine eigene Küche hätte, würde sie sich mal einen richtigen Käseteller machen. Mit allen Schikanen und vielen leckeren Sorten. Und grünen Oliven.
„Heute kommt ein alter Tatort“, verkündete Mama, die gerade zierlich ihr Schälchen crème brulée ausgelöffelt hatte.
Katja mochte alte Tatorte nicht, außer denen, die in Münster spielten – aber die waren Mama wieder zu destruktiv. Also verkündete sie, sie habe noch zu arbeiten.
Stimmte ja auch; Lust hatte sie allerdings keine mehr. Wenn man so spät aß…
So früh wie Katja musste sonst keiner aus dem Haus, also schlief noch alles, als sie so leise wie möglich duschte, sich anzog, ihre Tasche kontrollierte und aus dem Haus schlich. Auf dem Weg zur Schule kam sie an einer exzellenten Bäckerei vorbei, die um sechs öffnete und um halb sieben schon sehr gut sortiert war. Dort holte sie sich zwei Sandwiches, eine Flasche Orangensaft und eine Flasche Wasser. Mandarinen hatte sie noch in ihrem Fach liegen (wenn sie keiner geklaut hatte).
Das war am Mariengymnasium wie an allen Schulen das Problem - niemand hatte etwas ausreichend Großes und Abschließbares – es gab Postfächer, die mit der Sendung eines Prüfexemplars und zwei Kopiervorlagen schon vollgestopft waren, und die Stapel auf den Tischen – jeder hatte vor sich Bücher, halb eingesammelte Schulaufgaben, diverse Zettel, unbearbeitete Post, einen Kaffeebecher mit Stiften, meistens noch weitere Kaffeebecher mit unappetitlichen Kaffeeresten, Obst, angebrochene Gebäcktüten, daneben (sofern noch Platz war) einen CD-Player und zusammengerollte Lerntafeln. Für etwa dreißig arrivierte Kollegen gab es noch abschließbare Schränkchen im Format vierzig mal vierzig – mit drei Ordnern waren die praktisch voll, aber den Besitzlosen erschienen diese zerkratzten Schränkchen an der hinteren Wand des Lehrerzimmers als unerhörter Luxus.
Katja stellte im noch menschenleeren Lehrerzimmer fest, dass sich niemand an ihrem Stapel vergriffen hatte, packte ihre Tasche aus und um und ging nach nebenan, um den Kopierer hochzufahren.
Sie produzierte drei Stapel Arbeitsplätter und eine Folie, lochte alles und verräumte es, danach packte sie ihre Brotzeit in das Körbchen auf ihrem Platz und verschloss es.
Ach nein, sie hatte ja noch gar nicht gefrühstückt! Sie trank ein paar Schlucke Saft, aß die Semmel mit Leberkäse, Senf und Gurke, verräumte den Müll und begrüßte die ersten Kollegen, die nun langsam eintrudelten. Kurz vor halb acht, da wurde es hier immer lebendig.
Das freundliche Nicken von Luise Wintrich und Hilde Suttner freute sie am meisten, die beiden waren nett und kompetent und bemühten sich wirklich, in dieser heillos überfüllten Schule die Arbeitsbedingungen zu verbessern.
Nicht leicht ohne Geld und ohne Platz, aber sie hatten schon einiges erreicht. Luise hatte es vor einiger Zeit sogar fertig gebracht, Teile des Albertinums noch hier unterzubringen. Die hatten jetzt eine nagelneue Schule draußen in Mönchberg. Mit nicht gerade wenigen Mängeln und schon wieder zu klein, wie man hörte…
An Katjas Tisch wurde es zusehends voller. „Hast du deine Englisch-Klausur schon fertig?“, fragte Sabine, heftig in ihrer Tasche wühlend. „Verflucht, wo hab ich´s denn, ich kann´s doch nicht vergessen haben…“
„Nö. Du?“
„Ach wo. Ich schaff´s bestimmt nicht bis zum sechzehnten. Ich seh mich überhaupt nicht mehr durch. Und jetzt hab ich die Mappe für die achte in Spanisch vergessen. Kacke.“
„Bis zum sechzehnten musst du´s aber schaffen“, mahnte Katja. „Hilft nichts, aber die Waldner ist da streng. Drei Wochen, nicht länger.“
„Mist. Wie weit bist du denn? Hast du mal einen Rotstift?“ Sabine plumpste neben sie. Katja gab ihr einen von denen, die für schnorrende Kollegen gedacht waren – von denen kriegte man nie was zurück.
„Hier. Nur noch den Essay, den Rest hab ich. Vielleicht kann ich´s am Donnerstag rausgeben. Schaut nicht schlecht aus.“
„Bei mir schon. Garantiert über vier null. Dann muss ich ja auch noch zum Chef – dann kann ich die drei Wochen ja gar nicht einhalten.“ Sie grinste triumphierend.
„Vergiss es“, zerstörte Katja ihre Hoffnungen, „so was ist eingerechnet. Du musst dich wohl ranhalten. Aber ein Wochenende hast du ja noch.“
„Was nützt mir ein Wochenende? In meinem Kurs sind 22 Leute, ich hab noch vier Aufgaben vor mir, und wir fahren am Wochenende zu Wolfis Schwester nach Hamburg. Mal so richtig durch die Kneipen ziehen.“
Katja wunderte sich ein bisschen. Was war das für eine Planung? Andererseits war so etwas Kopfloses für Sabine durchaus typisch.
„Ich hab 25“, sagte sie also nur. „Oh, ich muss los. Die 10 b wohnt mal wieder am Arsch der Welt, im Dachgeschoss.“
„Dann mach dich mal an den Aufstieg. Hasta la vista, baby.“
Eine Stunde Vorbereitung auf die Lateinschulaufgabe, eine Doppelstunde Englisch in der Elften, dann hatte sie wieder eine längere Pause. Sie trieb sich im Lehrerzimmer herum, sortierte ein Ex fertig, dessen letzte Exemplare man ihr ins Fach gelegt hatte, und steckte es der Fachbetreuerin für Latein ins Fach, tat das gleiche mit einem Ex der 5 c und begann die Sozialkundeklausur zu entwerfen. Da hatte sie alle vier Kurse gleichzeitig – furchtbar, fast hundert Leute. Sie hatte erst eine korrekturtaugliche Aufgabe gebastelt, als sie wieder in den Unterricht musste – ein Häppchen Sozialkunde, zwei Stunden Intensivierung in der Fünften.
Die Kleinen waren einfach entzückend, sinnierte sie auf dem Weg zurück ins Lehrerzimmer. Und so eifrig. Manchmal noch nicht so ganz gewitzt, aber es waren ja auch noch so kleine Köpfe…
Im Lehrerzimmer herrschte immer noch gewaltiger Trubel. Katja fiel ein, dass heute Nachmittag Seminare stattfanden – also war das Gedränge wohl kein Wunder. Na, ihr reichte es jetzt. Vielleicht würde sie im nächsten Jahr auch ein Seminar anbieten…
Da sollte sie mal drüber nachdenken.
Isi setzte sich zu ihr und stöhnte. „Boah – wieso hab ich eigentlich nur Mittelstufe? Solche Rotznasen! Für ihre Muttersprache interessieren die sich doch einen Dreck.“
„Hast du dich mitten in der Pubertät für Textzusammenfassungen und indirekte Rede interessiert?“
Isi musste lachen. „Nee, du hast ja Recht. Ist mir alles total am Arsch vorbei gegangen. Aber wir glauben ja immer -“
„- dass wir so wahnsinnig motivierend sind, ganz anders als unsere ollen Pauker früher“, vollendete Katja den Satz und feixte.
Isi feixte zurück. „Ganz genau. Na, ich gehe jetzt heim und streiche den Flur. Hab ich schon seit Tagen vor. So was lenkt so schön von allem anderen ab. Und wenn man schon mal keine Schulaufgaben liegen hat…“
„Welche Farbe?“
„Zart apricot. Der Flur ist so dunkel. Die Wohnung ist eigentlich grausig, aber die Miete ist schön billig. Am Bahnhof. Nur schlechte Kneipen, wohin man schaut.“
„Das stelle ich mir eigentlich ganz lustig vor“, überlegte Katja.
„Echt? Ich hätte lieber was Gepflegteres in einer besseren Gegend. Aber dafür reicht´s noch nicht. Ist schließlich erst mein zweites Jahr hier. Wo wohnst du eigentlich?“
„Leiching“, gab Katja ungern zu.
Isi pfiff durch die Zähne. „Wow! Vom Feinsten, was?“
„Naja. Fade Gegend. Und ich würde lieber wo wohnen, wo es genug heißes Wasser gibt, eine funktionierende Heizung und wenigstens überhaupt mal eine Kneipe.“
„Hast du so ne Bruchbude erwischt? Dann zieh doch um!“
„Will ich jetzt auch. Ausziehen, besser gesagt.“
Isi schaute besorgt. „Du willst dich trennen? Tut mir Leid.“
„Wie – trennen?“
„Na – ausziehen, das klingt, als wolltest du dich von einem Macker verabschieden.“
Katja spürte, wie sie rot wurde. „Lach nicht – ich wohne noch zu Hause. Sozusagen, ich finde nicht, dass das ein Zuhause ist.“
„Bei den Eltern? Wie alt bist du? Dreißig?“
Katja nickte. „Meine Mutter ist eine wahnsinnige Glucke, sie hat praktisch alle Kinder um sich versammelt. Nur meine Schwester ist entkommen.“
„Hut ab!“
„Zu viel der Ehre. Sie wohnt eine Straße weiter und hat schon fünf Kinder. Und ich glaube nicht, dass es dabei bleibt. Mama kennt nur zwei mögliche Karrieren für ihre Töchter – Ehefrau und Mutter oder in der Firma arbeiten. Deshalb bin ich sowieso das schwarze Schaf. Und das hab ich jetzt langsam satt.“
„Firma?“
„Ach, die stellen Möbel her. Aber mich interessieren Holz, Design und BWL halt so gar nicht.“
„Man soll ja schon machen, was einem auch liegt“, meinte Isi, „aber wenn du hier bist und deine Schwester hauptberuflich brütest, wer kümmert sich dann eines Tages um die Firma?“
„Jetzt vor allem meine Mutter, aber ich habe auch zwei Brüder und noch eine Schwester. Und die drei sind in der Firma. Das muss reichen, finde ich.“
„Finde ich auch. Brüder? Hübsch? Wie alt?“
Katja lachte. „Vergiss es. Alex ist ein Workaholic und verheiratet, und Nick ist ein Workaholic und schwul.“
„Schade. Mir hätte Leiching schon gefallen.“
„Nicht in diesem Haus. Ich muss jetzt wirklich nach einer Wohnung suchen, sonst raste ich noch total aus.“
„Was willst du denn so ausgeben?“
„Keine Ahnung. Mir schweben zwei oder drei Zimmer vor, am liebsten hier in der Nähe oder im Malerviertel. Was kostet so was wohl?“
Isi überlegte. „Je nach Zustand und Alter… ich denke, so zwischen siebenhundert und zwölfhundert.“
Jetzt war es an Katja, durch die Zähne zu pfeifen. „Ganz schön happig! Zwölfhunderttausend – das ist ja über eine Million! Das hab ich nicht. Nicht annähernd! Ich würde mich bis an mein Lebensende verschulden. Bist du sicher?“
„Ja. Aber ich habe gemeint, zwischen siebenhundert und zwölfhundert Euro im Monat. Miete, du verstehst?“
Katja schaute zerknirscht. „Logisch. Ich komme mir jetzt selbst vor wie aus dem Elfenbeinturm… aber ich suche schon eine Eigentumswohnung.“
„Unser Prinzesschen… Eigentum… da würde ich sagen, so um die zweihunderttausend herum. Im besseren Malerviertel vielleicht noch ein bisschen mehr. Hast du das?“
„Das kriege ich hin“, wich Katja aus. „ich glaube, ich gehe jetzt heim und studiere den Immobilienteil.“
„Und wenn sie dich dabei erwischen?“
„Okay, du hast Recht. Ich gehe ins Café und lese da den Immobilienteil. Und danach ziehe ich mir das Theaterstück rein, hinterher fahre ich heim und spiele das Unschuldslamm.“
„Und ich verziehe mich jetzt an meine Farbtöpfe. Das Theater kann mir gestohlen bleiben, ich kann nicht jeden Tag abends noch hier herumlungern. Frohes Zeitungslesen!“
Katja packte zusammen, grüßte noch einmal in die Runde und strebte zum Parkplatz. Sie fuhr nicht weit, nur in die Patriziergasse, wo es in einem Durchgang zur Welsergasse ein putziges Café gab. Auf dem Weg dorthin nahm sie noch schnell einen Morgenexpress mit und schlug ihn begierig auf, sobald sie sich in ein stilles Eckchen verzogen und einen Espresso und ein Stück Himbeerkuchen bestellt hatte.
Das war schließlich ihr Mittagessen, verteidigte sie sich vor sich selbst. Und warum nicht Himbeerkuchen? War doch gesundes Obst?
So, und war jetzt hier im Angebot?
Aha, das klang gut. Drei Zimmer, Kochnische, Duschbad, interessanter Grundriss. Nähe Mönchberg.
Hm. Wieso bei der Wohnungsgröße nur Kochnische und Duschbad?
Sie las weiter. Fünfzig Quadratmeter? Wie konnten das denn drei Zimmer sein? Und interessanter Grundriss – war das was Gutes oder doch eher seltsam? Und Nähe Mönchberg… was war da in der Nähe, was man nicht laut sagen konnte?
Selling. Na toll. Voll die Fünfziger Jahre!
Was gab´s denn noch?
2ZKB, 70 qm, Bj.08, zentr. Lage, umständehalber günstig abzugeben.
Was das wohl für Umstände waren?
Drei Zimmer, 84 qm, Philippinengasse. Sanierter Altbau. Hm, wahrscheinlich knarzten die Böden und es gab kein heißes Wasser. Das hatte sie ja nun schon in Leiching. Immerhin waren die Wörter der Anzeige ausgeschrieben. Wie viel wollten die haben? Vierhunderttausend? Frech.
Zweizimmerküchebadbalkon in der Altstadt, gut vermietet… nein.
Zweizimmerküchebadbalkon in S-Bahn-Nähe. Huch! Schnell weiter. Das war wahrscheinlich in Waldstetten oder so. Eine halbe Stunde bis zur S-Bahn.
Zweizimmerküchebadbalkon. Nur hundertzwanzigtausend gegen leichte Gartenarbeit. Nein danke - das kannte sie von zu Hause, Mamas sehnsüchtiger Blick: Jemand müsste mal das Laub unter der Hecke…
Dreizimmerküchebadbalkon Baujahr 1969. Nein, bestimmt nicht.
Zweieinhalbzimmerküchebadbalkongästetoilette. Nicht schlecht… ach, in Leiching. Zu nahe dran – und zu weit weg von der Schule.
Danach kamen die Vierzimmerwohnungen. Zu teuer und zu groß, sie hatte eigentlich keine Lust, jede Woche vier Zimmer durchzuputzen.
Alles andere war vermietet, am Arsch der Welt, zu alt oder zu teuer. Nichts Brauchbares also.
Was sie allerdings doch interessiert hätte, waren die „Umstände“, warum diese eine zentrale und recht neue Wohnung günstig abzugeben war. Ob sie da mal anrufen sollte?
Lieber nicht. Lieber morgen noch mal in die Zeitung schauen!
Sie sah auf die Uhr – fast fünf. Um sechs sollte das Theaterstück beginnen, dann wäre sie etwa um neun zu Hause. Kein Abendessen. Aber der Himbeerkuchen hatte sich schon recht sättigend ausgewirkt…
Sie könnte in die Schule zurückkehren, noch ein bisschen arbeiten – aber was? Die Klausur hatte sie zu Hause in den Schreibtisch eingeschlossen. Vorbereiten? Naja, ein bisschen vielleicht. Und kurz vor dem Theater noch was essen…
Sie nahm sich zwei Brezen und eine Flasche Apfelschorle mit und fuhr in die Schule zurück. Viel schaffte sie nicht, bevor sie in der Aula Platz nahm, um dem Unterstufentheater zuzusehen.
Das Stück, eine kesse Neuinterpretation von König Drosselbart, war lustig. Und sehr putzig gespielt. Susanne Barthel, die den AK Theater betreute, nahm etliche Blumensträuße und tosenden Applaus entgegen und verbeugte sich mit ihrer Truppe unzählige Male, bevor der Vorhang fiel und Katja, müde und ungeduldig, entschlüpfen konnte.
Sie fuhr zügig nach Leiching, parkte auf der Straße, weil die Auffahrt mal wieder zugestellt war, und schlich sich leise ins Haus. In ihrem Zimmer sah sie sich missmutig um. Groß war es, bestimmt vierzig Quadratmeter. Eine Wohnung wäre insgesamt kaum größer. Aber der knarrende Holzboden, die schweren dunklen Möbel, die immer schon hier gestanden hatten, das kleine Duschbad im Stil der mittleren Sechziger, mit dem abgeschabten Duschkopf und dem halbblinden Spiegel, der nicht erneuert werden durfte…
Scheußlich. Authentische Zustände aus den Sechzigern. Das war die Renovierung der Großeltern gewesen, und Mama klammerte sich an die Idylle ihrer jungen Ehe. Ob es Papa hier eigentlich gefallen hatte? In seinem Elternhaus? Aber wer konnte schon die Ehe der Eltern beurteilen, obendrein im Nachhinein? Das konnte ihr ja auch egal sein, Hauptsache, sie kam hier mal raus und in eine Wohnung, die dem einundzwanzigsten Jahrhundert entsprach…
Sie musterte unzufrieden die zahllosen Flaschen und Näpfchen auf dem Badewannenrand und auf der winzigen Glasplatte unter dem unbrauchbaren Spiegel. Kaufte sie Kosmetika eigentlich als Ersatzbefriedigung, weil sie sich hier nicht wohl fühlte? Was war das alles für ein Zeug?
Sie schüttelte einige der Flaschen – halb leer. Die sollte sie verbrauchen, bevor sie hier auszog.
Überhaupt sollte sie ihren Krempel gründlich ausmisten, beschloss sie. Mit all diesem Schotter würde sie nicht umziehen.
Viertel vor zehn… heute würde sie mit dem Ausmisten nicht mehr anfangen. Vielleicht noch ein, zwei Essay-Aufgaben und dann ins Bett?
Immerhin kam keiner herein, das Haus war still. Keine Fragen, warum sie so spät nach Hause kam, ob sie nicht noch was essen wollte, ob sie morgen nicht dies oder jenes erledigen könne, ob sie nicht doch lieber in der Firma…? Allein schon wegen geregelterer Arbeitszeiten?
Sie schaffte noch drei Essays, zählte den Rest durch und stellte befriedigt fest, dass damit nur noch zehn fehlten. Vielleicht morgen früh noch ein paar, den Rest morgen Nachmittag, am Abend die Endkontrolle und dann raus damit…
Sie schminkte sich rasch ab, putzte sich so leise wie möglich die Zähne und fiel ins Bett.
Sie kam am nächsten Morgen sogar mit den ganzen zehn Essays durch, errechnete den Durchschnitt, machte die acht Besten fertig, duschte dann möglichst leise, wobei die Flasche mit dem unsäglichen Pfirsich-Duschgel leer wurde, cremte sich mit einem Rest Bodylotion ein – wieder was weg – und zog sich an, Jeans, hellgraue Bluse, grauer Herringbone-Blazer, graue Ballerinas.
Nicht übel, fand sie.
Nicht, als stamme sie aus dieser verwesten Gruft!
Sie ordnete ihre Tasche, steckte den Geldbeutel nach vorne, damit es nachher beim Bäcker schneller ging, schlich nach unten – unter Vermeidung der zwei knarzenden Stufen – und verließ so geräuschlos wie möglich das Haus.
Im Auto drehte sie aber sofort das Radio auf, weil ihr dieser lautlose Morgen auf die Nerven ging. Fröhlich falsch mitgrölend fuhr sie zum Bäcker und dann zur Schule. Dieses Mal war sie nicht die erste im Lehrerzimmer – Hilde Suttner war schon da, kauerte vor dem Kopierer und entfernte leise fluchend einen Papierstau.
Katja ging ihr zur Hand. „Scheißgerät. Das macht er immer, wenn man eine Farbkopie braucht.“
Hilde grinste. „Die Freuden der Technik. Ich höre, du suchst eine Wohnung?“
Katja war perplex. „Woher weißt du das denn?“
„Isi. Isi ist eine alte Quadratratsch´n. Hast du das noch nicht gewusst?“
„Na, jetzt weiß ich´s. Und – weißt du vielleicht eine Wohnung für mich?“
„Leider. Vor kurzem war bei uns was frei, direkt am Waldburgplatz – aber da ist jetzt ein junges Paar drin, und die brüten auch schon. Ich glaube, die bleiben länger. Mieten oder kaufen?“
„Hat Isi das nicht erzählt? Kaufen.“
„Hm. Da ist es eigentlich einfacher… Wo hast du denn schon geschaut?“
„MorgenExpress.“
„Schau im Internet. Gib ein, was du willst und wo und schau. Da gibt es oft auch bessere Fotos und anständige Grundrisszeichnungen.“
Katja ärgerte sich. „Ich Huhn, da hätte ich aber auch selbst draufkommen können.“
Hilde lachte. „Denk dir nichts, was glaubst du, auf was alles ich schon nicht gekommen bin. Hast du deinen Rechner dabei?“
Das hatte Katja dummerweise nicht – und die Rechner im Lehrerzimmer waren dauernd besetzt. Deshalb ging ihr Hildes Rat die ganzen acht Stunden, die sie heute hatte, im Kopf herum und lenkte sie von den eigentlichen Themen ab. Nur gut, dass niemand in ihre Sprechstunde kam, sie hätte ihm wahrscheinlich recht unpassende Antworten gegeben.
Nachdem sie ja gestern praktisch den ganzen Tag in der Schule verbracht hatte, verschwand sie heute schon um drei, fuhr zügig nach Hause und machte sich zu Frau Remmlers Missfallen in der Küche selbst ein Brot.
„Frau Remmler, es tut mir ja Leid, aber zum Mittagessen war ich zu spät, und bis heute Abend halte ich ohne Essen nicht durch“, fuhr sie die Köchin schließlich an.
„Aber das ist es ja gar nicht. Ich könnte Ihnen doch – und richtig mit ordentlich Butter drauf… oder ein Süppchen? Ich hab auch noch kaltes Huhn da.“
Katja seufzte. „Frau Remmler, ich wollte Sie nicht anschnauzen – aber ich hasse Butter. Was Sie im Übrigen eigentlich wissen könnten. Ich möchte jetzt einfach zwei Scheiben Vollkornbrot und ein Stück Käse dazwischen. Wenn Ihnen das aber Probleme bereitet, kaufe ich mir ab morgen eben ein Sandwich in der Bäckerei.“
Frau Remmler war beleidigt – seit Jahren legte sie alleine fest, was in der Nussbaumallee 36 gegessen wurde und was die Familie zu mögen hatte – und jetzt machte sich da eine mausig? Grummelnd verschwand sie in der Speisekammer und garantiert würde sie sich nachher bei Mama beklagen.
Egal.
Katja schnappte sich ihr Brot und noch schnell zwei hoffentlich gewaschene Tomaten dazu und eilte in ihr Zimmer am Ende des Westtrakts. Wieso hatte sie eigentlich bloß ein Zimmer, überlegte sie missmutig. Sogar Nick, der genauso alleine lebte (zumindest offiziell) hatte zwei, Alex und Irma drei riesige (aber auch nicht üppig für drei Leute) und Lisa für sich und Leon zwei und eine Kammer… Hier war doch alles unfair und gemein!
Sie setzte sich an ihren Schreibtisch und nahm sich die Reste der Klausur vor, genussvoll kauend. Nach einer halben Stunde war der Packen fertig, überall standen Noten drauf, alles war abgezeichnet und der Schnitt lag bei 3,14. Sehr ordentlich. Der Kurs war auch sehr nett und eifrig.
Sie füllte den Umschlag aus, packte alles in eine Mappe und versenkte diese in ihrer Tasche; danach packte sie die Tasche für den Donnerstag um, schrieb sich auf, welche Leute noch das Sozialkunde-Ex zurückgeben mussten und rief dann Google auf. Zwei Zimmer – Leisenberg/Malerviertel - Kauf – Klick.
Hui!
Es entrollten sich haufenweise Angebote.
Bei näherer Betrachtung konnte man die meisten allerdings gleich wieder streichen. Zu groß, zu klein, zu teuer, zu alt oder den im Allgemeinen anklickbaren Grundrissen zufolge bescheuert angelegt.
Es blieben zwei gute Angebote übrig und eins, das ihr bekannt vorkam. Sie rief sofort bei den angegebenen Nummern an – mit ihrem Handy, da Mama für die hauseigene Anlage einen Einzelverbindungsnachweis bekam, diese Anrufe sie aber rein gar nichts angingen.
Eigentlich nahm sie immer ihr Handy. Auch etwas, was Mama ärgerte: „Tu doch nicht immer so geheimnisvoll!“ Privatsphäre war ihr eben so gar kein Begriff.
Die erste Wohnung war höchstwahrscheinlich schon weg und so schön, dass sie einen Konkurrenten überbieten musste, war sie auch wieder nicht.
Die zweite war langfristig vermietet. „Ach, haben wir das nicht erwähnt? Aber Sie können natürlich auf Eigenbedarf klagen…“
Ja, toll. Jahrelange Prozesse und währenddessen noch hier wohnen, nichts als dicke Luft?
Katja bedankte sich kühl und legte auf.
Das dritte Angebot war schon wieder diese komische Wohnung, die umständehalber günstig abzugeben war. Neugierig geworden, klickte Katja sie an. Hm – der Grundriss war vernünftig. Sogar ganz nett. Alles hell, Balkon nach Westen…
Was für Umstände?
Das stand nicht drin. Natürlich nicht. Der Kaufpreis war sensationell, 110.000 € - für eine knapp zwei Jahre alte Wohnung? War darin ein Blutbad angerichtet worden? Gehörte sie der Mafia oder wie?
Sollte sie da mal anrufen?
Ach, warum. Es gab doch sicher noch mehr Wohnungen, und die hier musste eine Macke haben. Vielleicht eine bedenkliche.
Sie änderte die Anfrage auf Eigentumswohnung 2-3 Zimmer Leisenberg und klickte wieder.
Aha, da waren ja noch andere Wohnungen!
Kunststück, jetzt gab´s auch welche in Selling, Leiching und Zolling. Selling war zu spießig, Leiching von der Mischpoche verseucht und Zolling – naja. Ganz schön weit zur Schule!
Henting, An der Flussaue – nein danke, das klang nach Überschwemmungsgebiet. Sie konnte sich ihre Schüler schon vorstellen: „Frau Herzberger, wir haben Sie gestern in den Nachrichten gesehen, Ihnen ist die Wohnung abgesoffen!“ Musste sie nicht haben.
Außerdem war Henting genauso schlimm wie Leiching. Wirklich schöne hochherrschaftliche Villen gab´s ohnehin nur im nördlichen Waldburgviertel.
Sie sah die Angebote rasch durch. Nichts – alles wieder zu groß, zu klein, zu teuer, zu seltsam… warum bauten die Leute denn so scheußliche Wohnungen?
Jetzt riss ihr der Geduldsfaden und sie gab gleich Waldburgviertel ein.
Zwei Angebote – na toll.
Das eine kannte sie ja schon – die seltsamen Umstände…
Das andere klang toll. Zweieinhalb Zimmer, nagelneue Einbauküche, Bad und Gästebad, Dachterrasse, Baujahr 2009…Sie pfiff durch die Zähne, aber der Pfiff erstarb, als sie den Preis sah: vierhunderttausend? Das war eindeutig zu viel. Zweieinhalb Zimmer waren eben nur zweieinhalb Zimmer – auch wenn sie achtzig Quadratmeter hatten.
Vielleicht hatte sie ja morgen mehr Glück. Sie rief sicherheitshalber eine unverfängliche Website auf und löschte das Protokoll, dann betrachtete sie sich das Zimmer. Die Möbel konnte und wollte sie nicht mitnehmen – aber den Inhalt. Naja, den wesentlichen Inhalt. Den unwesentlichen sollte sie mal zügig entsorgen!
Sie begann mit den Schulordnern, die im Moment nicht im Gebrauch waren. Englisch 6 und Englisch 7 waren die ersten Opfer. Sie kontrollierte sie auf Vollständigkeit, nahm die unnützen Kopien heraus und legte damit einen Stapel Schmierpapier an. Englisch 8 schaffte sie auch noch, dann hatte sie keine Lust mehr auf Schreibwaren und öffnete ihren Kleiderschrank.
Hm. Wohl gefüllt; kein Wunder, wenn man nur einen solchen Schrank hatte – eine Kleiderstange, vier Fächer, ein Hutfach und unten eins für die Schuhe. Im Hutfach waren ihre Taschen, ihre Handschuhe, ihr Schirm und tatsächlich ein Hut untergebracht.
Die Fächer enthielten einen Stapel T-Shirts, einen mit Strickjacken und Pullis, ein Fach war der Nachtwäsche vorbehalten, in einem stand eine Pappbox mit Unterwäsche und eine weitere mit Strümpfen, und ganz unten befanden sich ihre Jeans.
An der Stange baumelten vier Blazer, zwei bessere Hosen, etwa zehn Blusen, ein dunkles Kostüm, ein schon recht bejahrtes Abendkleid und ein kleines Schwarzes.
Sieben Paar Schuhe standen ganz unten. Was sollte sie da ausmisten, das war doch nun wirklich nicht zu viel?
Sie sah die Nachtwäsche durch – vier Nachthemden (plus eins unter dem Kopfkissen), alle in Ordnung, alle schön, alle aus solider gewirkter Baumwolle mit Punkten oder Blümchen, alle schön lang. Die würden alle bleiben. Der Morgenmantel daneben war das dünne Ding für Sommer und/oder Reisen. Den konnte sie mal waschen, er wirkte etwas muffig. Sie warf ihn in Richtung Tür, an der der Wintermorgenmantel schon hing. Beide dunkelgrau, beide aus Seide, das Winterexemplar mit Fleece gefüttert. Beide schön.
Strümpfe. Das hieß zwei Strumpfhosen, einige Paar Socken aus dünner Seide, einige Feinsöckchen, einige Baumwollsocken. Na gut, das eine dunkelblaue Paar wirkte an den Fersen schon sehr dünn. Sie legte einen neuen Haufen an, indem sie das Sockenpaar in einer Mülltüte versenkte.
Die Wäsche war auch völlig in Ordnung, sieben Garnituren, bestehend aus je einem BH und drei Slips, alles spitzenverziert, in verschiedenen Farben. Keine losen Gummis, keine herausspießenden Drahtbügel… Alles in Ordnung.
Sie entsorgte ein T-Shirt, das durch häufiges Waschen mehr breit als lang geworden war, griff in alle Blazertaschen (Ausbeute: vier einzelne Euro) und stand dann seufzend vor dem Schrank. Viel konnte da nicht weg.
Und das Bücherregal? Auf die Ordner hatte sie immer noch keine Lust, aber die füllten ja auch nur zwei Fächer… die Bücher aber zehn. Sie fand zwei schlechte Krimis, die sie garantiert nie wieder lesen würde, einen Bildband, den sie mal geschenkt bekommen hatte, einige eselsohrige Reclamheftchen, die sie nie wieder brauchen würde, und zwei Betriebsanleitungen, die zu längst dahingeschiedenen Geräten gehörten. Altpapier resp. Lesefabrik-Tüte. Da würde sie in den nächsten Tagen noch weiter suchen und die Tüte dann einmal nach der Schule entsorgen.
Halb sechs – noch zweieinhalb Stunden Zeit bis zum Familiendinner.
Unter ihr wurde es lauter. Sie kontrollierte gerade ihre Bettwäsche – aber wenn man gerade mal drei Garnituren besaß, konnte man nichts entsorgen. Außerdem mochte sie die drei Bezüge, wenn sie auch weder kostbar noch besonders eindrucksvoll waren. Sie hätte sich gerne Bassettis geleistet, aber die würde Doris ja doch bloß bei jemand anderem aufziehen, sobald sie einmal vergaß, den Kleiderschrank abzuschließen.
Von Hotel Mama konnte keine Rede sein, sie putzte selbst, sie wusch und bügelte selbst und aß nur abends hier, sie parkte meistens auf der Straße und benutzte fast nie den Garten – den Park, wie Mama zu betonen beliebte.
Was gab es noch, was weg konnte?
Die Handtücher im Bad gehörten nicht ihr, sie stammten aus dem Familienfundus und waren cremefarben, dünn und kratzig. Sie gehörten eigentlich in die Altkleidertonne, aber das war ja nun nicht ihr Problem. Die vielen Kosmetika allerdings waren sehr wohl ihr Problem; sie setzte sich auf den Badewannenrand neben die Duschabtrennung und musterte die Flaschen. Halbleer, das wusste sie schon. Und zweimal das gleiche Rosenduschgel! Sie goss die beiden zusammen und stellte die leere Flasche zur Entsorgung bereit. Die Seife mit dem Zitronenduft mochte sie nicht, darauf juckte die Haut. Weg damit! Ach nein, die würde sie ins Gästebad im Erdgeschoss schmuggeln und warten, ob das jemand merkte.
Das Farbtreu-Shampoo in der Dusche war übrigens leer.
Na, immerhin! Sie erhob sich und schlich mit den Flaschen und der Seife nach unten, wo sie die Seife diskret platzierte und die beiden Flaschen in die Plastikmülltüte stopfte.
Kaum war das erledigt, traf sie Mama, die gerade das Haus betreten hatte.
„Na, Katja? Schon zu Hause?“
War das ironisch gemeint? Am besten dumm stellen!
„Ja – du auch schon, wie ich sehe… Guten Abend!“
„Dir auch. In der Firma ist im Moment eine Menge los. Wir könnten da schon noch eine tüchtige Kraft brauchen…“
Ging das schon wieder los!
„Dann solltest ihr vielleicht inserieren… Wahrscheinlich richten sich jetzt viele Firmen neu ein, wo die Krise vorbei zu sein scheint?“
„Ja, genau. Immerhin, du scheinst dich ja doch für die Wirtschaftslage zu interessieren?“
„Natürlich“, antwortete Katja mit wohl dosiertem Erstaunen, ohne sich aber auf eine Diskussion einzulassen.
Ihre Mutter seufzte. „So was Unzugängliches wie dich erlebt man wirklich selten. Willst du dich nicht doch mal ein bisschen einfügen?“
„Ach, Mama! Ich habe meinen Traumberuf, glaub´s mir doch. Und für das andere werde ich schon eine Lösung finden, sei nur beruhigt.“
„Hoffen wir´s! Doris und Frau Remmler haben sich schon wieder bei mir beklagt.“
Musste sie eigentlich so leben, wie es dem Personal gefiel?, dachte Katja rebellisch. Vielleicht sollte sie doch diese Wohnung mit den komischen Umständen nehmen, um die angekündigte Lösung so schnell wie möglich zu erreichen?
Aber das würde sie sich nach dem Abendessen überlegen.
Jetzt kam ihr erst einmal Leon entgegen, wie üblich begeistert kreischend. Katja breitete die Arme aus, und er stürzte sich hinein. „Tante Katja, Tante Katja! Ich war heute der Beste beim Basteln!“
„Toll, Leon. Was hast du denn gebastelt?“
„Was mit Perlen. Los, komm, ich zeig´s dir!“
Katja ließ sich von ihm nach oben ziehen und bewunderte, von Lisa nachsichtig beobachtet, eine Perlenstickerei: Erdnussgroße silberne Perlen auf rotem Stramin, darstellend ein Herz. Wenn man seine Phantasie benutzte. „Das schenke ich der Mama zu Weihnachten“, flüsterte Leon gut hörbar, und Lisa wandte sich hastig ab und täuschte starkes Beschäftigtsein vor.
„Das ist eine sehr gute Idee“, lobte Katja. „Da wird sie sich bestimmt sehr freuen. Und das Herz bedeutet, dass du sie ganz doll lieb hast, ja?“
„Ganz doll!“, bestätigte Leon. „Du-u? Spielst du mit mir Playmo?“
Katja ergab sich in ihr Schicksal. Leon würde ihr fehlen, überlegte sie, während sie sich freundschaftlich zankten, wie man den Bauernhof am besten aufbauen sollte. Aurora auch. Aber es war ja nun nicht so, dass die beiden täglich nach ihr verlangten. Ungefähr einmal pro Woche wollte Leon mit ihr spielen, meistens Playmobil, denn darin war Katja ganz, ganz gut, wie er kürzlich laut verkündet hatte. Aurora erinnerte sich noch seltener an sie. Sie erzählte ihr manchmal endlos lange – und genau genommen auch endlos langweilige – Geschichten vom Reiten, durchsetzt mit Ponyhofgeschichten, die sie leidenschaftlich gerne las, und manchmal spielten sie Memory. Katja hatte ihr letztes Weihnachten ein selbst gebasteltes Memory geschenkt, nur mit Pferdebildern, die sie selbst auf verschiedenen Reiterhöfen aufgenommen und dann über einen online-Fotoservice in ein Memory hatte verwandeln lassen. Das war der absolute Renner gewesen, Alex und Irma waren mit einem richtigen Reitdress und einem tragbaren Radio/CD-Player dagegen stark abgefallen und hatten fast ein bisschen geschmollt.
Sie bauten den Bauernhof auf und stellten die Familien zusammen, Stier, Kuh und Kälbchen, Hengst, Stute und Fohlen, eine Sau mit vielen Ferkeln -
„Wo ist denn da der Papi?“
„Der ist gerade nicht da. Der besucht Freunde auf einem anderen Hof“, behauptete Katja schnell.
„So wie mein Papi“, kommentierte Leon gleichmütig und knibbelte zwei weitere Zaunstücke zusammen.
„Ja, genau“, antwortete Katja und tauschte mit Lisa einen Blick.
„Dein Papi besucht dich aber manchmal“, sagte Lisa.
„Ja-ah. Katja? Wo ist denn der Hund?“
Katja wühlte gehorsam in der Kiste und fand den Hund, außerdem drei Katzen und einen Stall mit mehreren Kaninchen. „Hier. Aber nicht wieder in den Mund nehmen!“
Leon war beleidigt. „Mach ich nich´! Ich bin doch kein Baby mehr!“
„Dann ist es ja gut.“
Katja rappelte sich auf und trat zu Lisa, während Leon ganz vertieft weiter bastelte. „Wann war denn Björn das letzte Mal da?“, fragte sie halblaut.
Lisa zuckte die Achseln. „Wir waren zusammen mit Leon auf dem Oktoberfest in München. Und danach noch einmal, um Allerheiligen rum. Er hat angeblich immer soo viel zu tun. Ich glaube, er interessiert sich nicht so sehr für seinen Sohn. Und hierher kommt er nicht so gerne, er hat nicht vergessen, was er von Alex mal auf die Nase gekriegt hat.“ Katja unterdrückte ein Prusten. „Da wollte er Alex verklagen, oder?“
Lisa grinste. „Stimmt. Kinderschänder hat Alex ihn genannt.“
Leon sah von seinem Spiel auf. „Was ist ein Kinderschänder?“
„Tja, Lisa, war schön, mit dir geplaudert zu haben… ich muss jetzt leider zurück an die Arbeit.“ Katja verschwand hastig und hörte noch, wie Lisa sagte: „Ja, also… ein Kinderschänder ist einer, der -“
Sie wollte in ihr Zimmer zurück, traf unterwegs aber Nick und Raphael. Sie grüßte freundlich und erntete von Raphael wie immer einen kalten Blick, aber keine Antwort. Nick dagegen strahlte sie an. „Hi, Schwesterchen! Du-u?“
Das klang wie bei Leon. „Ja?“
„Ich hab´s nicht mehr zum Geldautomaten geschafft – kannst du mir mal schnell zweihundert Euro leihen?“
Katja schüttelte den Kopf. „Sorry, ich hab selber grad noch einen Zwanziger. Aber der Geldautomat ist doch gleich vorne am alten Zollhaus? Das schaffst du doch noch locker vor dem Essen?“
„Kannst du dir nicht was holen?“
Katja legte den Kopf schief. „Hast du deinen Dispo so überzogen? Automat essen Karte auf?“
„Komm, lass, die ist so ungefällig wie immer“, meinte Raphael und wollte Nick weiterziehen.
Katja seufzte. „Na gut. Ich brauch ja auch bald wieder was. Zweihundert? Und wann krieg ich die wieder?“
„Bald“, versprach Nick. „Ganz bald.“
Katja holte sich ihre Tasche und fuhr schnell zur Bank am alten Zollhaus. Sie hob dreihundert Euro ab, fuhr zurück und drückte Nick die zweihundert in die Hand. „Hier! Aber denk dran, Wiedersehen macht Freude.“
„Pfennigfuchserin“, murmelte Raphael.
„Und wenn du deinem Süßen nicht bald mal Manieren beibringst, war das ohnehin das letzte Mal“, fügte sie hinzu.
„Jetzt lass gut sein, Rafi“, sagte Nick prompt. „Danke, Katja. Wie viel hast du für dich geholt?“
„Einen Hunderter“, antwortete Katja. „Der dürfte bis nächste Woche reichen, ich brauche ja bloß Frühstück und Mittagessen zu bezahlen. Und die Wäsche natürlich.“
Nick schüttelte den Kopf. „Iss doch hier. Und lass hier waschen. Dann sparst du doch echt Geld.“
„Das mag ich nicht“, wehrte Katja ab. „Und so früh gibt´s hier eh kein Frühstück. Wieso ist denn dein Dispo so überzogen? Kannst du nicht was verkaufen und das Konto ausgleichen?“
„Was geht dich das denn an?“, fuhr Raphael sie an.
„Nichts“, antwortete Katja. „Blas dich nicht so auf.“
Sie verzog sich in ihr Zimmer. Zwischen Raphael und ihr bestand seit Längerem eine Hassliebe. Nein, falsch. Nur Hass. Was ihm nicht passte, war ihr unklar. Sicher, er mochte keine Frauen, aber zu Susi, Irma und Lisa war er doch auch nicht so ekelhaft? Sie hasste ihn, weil er sie hasste – ansonsten war er ihr egal.