Langnasen im Reich der Mitte. Blaue Ameisen auf Millionen Fahrrädern - Harald Stöber - E-Book

Langnasen im Reich der Mitte. Blaue Ameisen auf Millionen Fahrrädern E-Book

Harald Stöber

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Beschreibung

Vor 30 Jahren – 1982 – ein Visum für die VR China zu bekommen, setzte Wohlwollen der Behörden und viel Geduld voraus. Und so war es unserem Autor möglich, als einer der ersten Soloreisenden von Hongkong aus via Kanton in die Guilin-Berge und weiter bis Chongqing zu reisen, um sich dort dem Schiff »Der Osten ist rot« anzuvertrauen, das tagelang durch die Yangtse-Schluchten bis Wuhan fuhr. In Peking öffneten sich die Tore zur »Verbotenen Stadt« und zum »Himmelstempel«, schließlich gelangte er zur Großen Mauer und zu den Ming-Gräbern. Shanghai strengte angesichts seiner enormen Größe an, aber es gab Erholung in den kaiserlichen Gärten zu Su-chou. In Hongkong sah er sie dann nicht mehr: die Blauen Ameisen und die Millionen Fahrräder. – Dieser Report zeigt auf, wie sich China seinerzeit den sogenannten Langnasen präsentierte: rückständig, schwierig und fremdartig.

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Seitenzahl: 340

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Harald Stöber

Langnasen im Reich der Mitte

Blaue Ameisen auf Millionen Fahrrädern

– Zeitdokumentation China 1982 –

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Copyright (2012) Engelsdorfer Verlag

Alle Rechte beim Autor

Titelfoto: In der VR China gibt es 55 nationale Minderheiten.

Coverrückseite: Die Ethnien in China stellen 85 Millionen der

Gesamtbevölkerung.

www.engelsdorfer-verlag.de

eISBN: 978-3-86268-792-3

Wahre Worte sind

nicht schön und

schöne Worte sind

nicht wahr.

Konfuzius

Gewidmet meiner

lieben Familie und

allen guten Freunden.

Inhaltsverzeichnis

1. Kapitel

Anreise und Duftender Hafen

2. Kapitel

Ins Reich der Mitte

3. Kapitel

Messe- und Industriestadt Kanton

4. Kapitel

Per Bahn nach Guilin

5. Kapitel

In Guilin und Umgebung

6. Kapitel

Zugfahrt nach Chongqing

7. Kapitel

Yangtse-Schluchten und Wuhan

8. Kapitel

In der Kaiserstadt Peking

9. Kapitel

Große Mauer und Ming-Gräber

10. Kapitel

Via Peking nach Datong

11. Kapitel

Shanghai – größte Stadt der Welt

12. Kapitel

Su-chou – Stadt kaiserlicher Rentner

13. Kapitel

Wieder in Shanghai

14. Kapitel

Zurück nach Kanton

15. Kapitel

Hongkong und Abschied

1. Kapitel

Anreise und Duftender Hafen

Natürlich reizte es mich als passioniertem Einzelreisenden, der sich schon viele Länder »von unten« angeschaut hatte, auch das »Land der Mitte« zu besuchen beziehungsweise es so zu bereisen, wie es seit Jahren mein Stil ist: auf eigene Faust, also ohne Mitglied einer »Hammelherde« zu sein und frei nach eigenem Ermessen. Diese Idealvorstellung zu realisieren war jahrelang absolut unmöglich, denn China hatte sich nach der kommunistischen Machtübernahme im Herbst 1949 von der übrigen Welt fast hermetisch abgeriegelt, und selbst höchste westliche Politiker, denen sich das offizielle Peking einen Spalt weit öffnete, galten in den Augen reiselustiger Zeitgenossen geradezu als bewunderungswürdige Geschöpfe, denen Gnade widerfahren war.

Die Leser meiner bisherigen Reiseberichte wissen längst, dass ich so schnell die Flinte nicht ins Korn werfe und getreu den Steinbockgrundsätzen hartnäckig meine Ziele verfolge. Um jedoch nach China zu kommen, half mir meine Standfestigkeit lange Zeit nicht, denn weder ein Reisebüro, noch unsere Firmen-Büros in Tokio und Hongkong oder Privatleute konnten mir brauchbare Hinweise geben, auf welchem Wege man ein chinesisches Visum bekommen würde. Es hieß immer nur, dass man eine offizielle Einladung von kompetenter chinesischer Stelle bräuchte und die werde höchstens Politikern, Künstlern oder Geschäftsleuten von Rang ausgestellt. Offiziell war also bis 1982 eine Einzelreise durchs Land nicht möglich, zumal wenn man vorhatte, das Ganze auf eigener Route, mit Rucksack und guter Laune zu machen.

Da ich also weder Politiker noch Künstler war, der sich hätte einladen lassen können, versuchte ich es im Laufe des Jahres 1981 ein paar Mal, mich als Geschäftsmann zu deklarieren. Ich schrieb zweimal an das staatliche chinesische Reisebüro CITS (Lü-hsie-she) in Peking und erbat eine Hotelbuchung nebst Rechnung, erhielt aber nie eine Antwort. Ich korrespondierte dann mehrmals mit Herrn Liang, Dolmetscher im Hause unseres Geschäftspartners, der »People’s Insurance Company of China«, und versuchte von ihm eine private Einladung zu bekommen – alles vergeblich, denn Einladungen, so hieß es kategorisch, seien nur für offizielle Geschäftsbesuche möglich.

Ich wollte endgültig resignieren und sagte mir schließlich, dass ich mein gutes Westgeld letztendlich ja auch anderswo ausgeben könne. Die Wende kam im Spätsommer 1982 aufgrund eines kollegialen Gespräches mit der hauseigenen Reisedame, der ich eher beiläufig mein Leid geklagt hatte. Sie meinte ungeniert, dass unsere Firma doch bei der chinesischen Botschaft in Bonn gut bekannt sei, ich solle einfach einen Antrag auf Visum stellen und angeben, ich wollte unseren Geschäftspartner in Peking besuchen. »Ohne Einladung?« »Ja, einfach so!«

Mir wurden gleich an Ort und Stelle die deutsch-chinesisch abgefassten Antragsformulare ausgehändigt, ich ließ mich fotografieren und füllte brav Zeile für Zeile die Bögen aus. Neben den üblichen Fragen zur Person und zu den Reisepassdaten wurden zum ersten Mal auch Fragen über meinen ganzen beruflichen Werdegang mit allen Daten und ausgeübten Tätigkeiten gestellt, die ich jedoch nur verkürzt angab, weil ich bei ausführlicher Beantwortung ein Beiblatt hätte verwenden müssen.

Selbstverständlich musste ich auch die zu besuchenden Stellen angeben, nämlich die genannte Versicherungsgesellschaft und das Geophysikalische Institut in Peking. Mit diesem Institut hatte ich 1979 indirekten dienstlichen Kontakt, als nämlich unsere »Weltkarte der Naturgefahren« als Geschenk übersandt wurde und man den Erhalt dankend bestätigt hatte. Ich gab auf dem Antrag an, den Unterzeichner des Dankesbriefes, Herrn Professor Li, besuchen zu wollen, um mit ihm gemeinsam interessierende Fragen zu besprechen (an der Erarbeitung der Weltkarte hatte ich maßgeblichen Anteil). Schließlich fügte ich dem doppelten Antrag 40 DM für zwei Visa bei und gab den an die Botschaft der VR China in Bonn-Niederbachem gerichteten Einschreibebrief mit – ehrlich gesagt – sehr wenig Hoffnung auf Erfolg auf.

Nun folgte eine wochenlange Wartezeit, in welcher der im Antrag angegebene Einreisetag, der 22. September 1982, rasend schnell näher rückte, ohne dass sich aus Richtung Bonn etwas rührte. Ich hatte eigentlich bereits aufgegeben, als plötzlich das Telefon klingelte und sich ein Beamter der chinesischen Botschaft meldete. Er sagte mir unter einer bestimmten Voraussetzung die Ausstellung des Visums zu! Ich versicherte ihm, das erbetene Telegramm an Professor Li zu schicken, dass weder ihm noch dem Institut durch mich irgendwelche Kosten entstehen würden beziehungsweise ich alles selbst finanziere. Diese vorerst telefonisch gegebene Zusage genügte und ich war drei Tage später im Besitze meines visierten Reisepasses! Aber wo blieb das Visum für meine Frau?

1982 hatte ein chinesisches Visum inklusive Travel Permit noch Seltenheitswert.

Sicher gehört die Beschaffung des Visums bereits zu den Vorbereitungen, aber bis zum Erhalt desselben hatte ich absolut noch nichts Organisatorisches unternommen, denn ich hatte aufgrund bisheriger negativer Erfahrungen einfach nicht daran geglaubt, dass die Ausstellung einer offiziellen Reisegenehmigung klappen würde. Ich konnte mit den Vorbereitungen also erst jetzt beginnen, wobei ich zugeben muss, dass ich erst einmal eine ganze Weile brauchte, um mich mit dem abenteuerlichen Gedanken einer individuellen Chinareise vertraut zu machen. Das Visum Nummer 82/5491 war am 9. September ausgestellt worden, ich erhielt den Pass am 12. und einreisen wollte ich schon am 21., so dass mir nur eine Woche Zeit blieb, alles Notwendige zu regeln, also nur eine Woche Zeit für Flugtickets, Reiseinformationen, Impfungen, Routenplanung, Urlaubsregelung und so weiter.

Aber ich musste es natürlich schaffen, denn diese einmalige Sache durfte auf keinen Fall in Frage gestellt werden. Da war zunächst das Urlaubsproblem zu lösen, denn mit meiner Frau Hildegard war ich erst Ende Januar des selben Jahres aus Indien zurückgekommen und hatte bei dieser Gelegenheit natürlich schon viel Urlaub für 1982 verbraucht. Also tippte ich in Absprache mit den Kollegen eine Notiz an die Personalabteilung, schilderte den Sachverhalt und erhielt gottseidank problemlos die Genehmigung, auf das Urlaubsjahr 1983 vorgreifen zu dürfen. – Impfungen gegen Cholera waren zwar empfohlen, aber auf sie verzichtete ich aus Zeitgründen. – Das Problem der Ticketbeschaffung regelte ich diesmal selbst und zwar telefonisch direkt mit Cathay Pacific in Frankfurt. Man muckste zwar wegen des viel zu kurzen Anmeldetermines für sogenannte Billigtickets auf, aber schließlich klappte es doch: London – Hongkong – London für 1.750 DM, ein Preis der angesichts enorm gestiegener Treibstoffkosten noch akzeptabel war. Die Anschlussflüge München – London – München buchte für mich ein bewährtes Reisebüro in München-Schwabing, so dass ich dieses Hauptproblem erfreulicherweise schnell gelöst hatte.

Nun stand ich innerlich sozusagen auf dem Kopf. Als ich mich abends über meinen Times-Atlas hermachte und zum ersten Mal etwas genauer hinschaute, hatte ich Mühe ruhig zu bleiben, denn ich konnte es einfach noch nicht glauben zu jenen Wenigen zu gehören, die für sich China »erobern« durften. Hinzu kam noch die Tatsache, dass das Visum bis zum 20. Oktober Gültigkeit hatte, ich hätte also fünf Wochen im Lande bleiben können! Innerlich hüpfte ich vor Freude und bedauerte zutiefst, dass Hildegard, die ich als Begleiterin ja angegeben hatte, keine Einreisegenehmigung – übrigens ohne Begründung – erhielt.

»Destination: Beijing«, so stand’s in chinesischen Lettern im Visum, das hieß also streng genommen, dass ich bis Peking reisen durfte und von dort aus wieder zurück. Zeit für Rückfragen hatte ich natürlich nicht mehr, so dass ich es darauf ankommen lassen musste, eventuell von Hongkong aus nach Peking fliegen zu müssen, aber letztendlich konnte ich doch so reisen, wie ich es mir vorgenommen hatte: über Land.

Anhand des schnell durchgelesenen kleinen Reiseführers von Polyglott »China«, des in unserer Bibliothek geliehenen Buches »Peking und Shanghai« und des unentbehrlichen Times-Atlas’ bastelte ich mir eine Route zusammen, von der ich nur wusste, dass sie zumindest der Karte nach per Bahn oder Bus zu machen sein müsste. Die Hinweise in den genannten beiden Informationsquellen liefen praktisch darauf hinaus, dass die Tickets im Lande stets von CITS besorgt werden und dies in der Regel nie ganz problemlos sei. Mir blieb also nur übrig, erst einmal so zu planen, wie ich es gewohnt war und es sich schon oft in asiatischen Ländern bewährt hatte.

Auf diese Art und Weise kam folgende Route zustande: Hongkong, Guangzhou (Kanton), Guilin, Kuei-yang, Chongqing, Chengdu, Xian, Datong, Beijing, Suzhou, Shanghai, Hongkong. Als ich die Strecken abmaß, bekam ich einen Schock, denn ich errechnete nicht weniger als 10.000 Kilometer! Und diese Riesenentfernung in vier Wochen? Wohl nicht möglich, selbst dann nicht, wenn es in China in etwa so klappen sollte, wie zum Beispiel in Indien. Ich nahm mir aber dennoch vor, diese Rundreise zu bewältigen, notfalls streckenweise mit dem Flugzeug. Aber verkehrten innerhalb des Landes überhaupt Linienmaschinen, wie würde es mit der Verständigung sein und hat der Europäer denn die Möglichkeit, zu bestimmten Terminen zu reisen, oder steht er etwa immer mit einem Bein im Gefängnis, wenn er in diesem strengen Land Dinge tut, die eigentlich nicht erlaubt sind? Also Fragen über Fragen, die mich kaum ruhig schlafen ließen.

Selbst Polyglott ließ mich im Stich!

Ich musste mich innerlich also auf völlig fremde Dinge einstellen und schlimmstenfalls mit Allem rechnen, gewiss keine einfache Sache, aber ich fand schließlich bald meinen bewährten Optimismus wieder, denn schließlich war ich ja kein Reiseanfänger mehr. Nur gut, dass ich also kein Greenhorn war, denn es zeigte sich bald, dass dieses in jeder Hinsicht ferne China nichts für Angsthasen oder reiseunerfahrene Leute ist.

Von einer Kollegin, die im Jahr zuvor in Hongkong war, hatte ich die beunruhigende Geschichte gehört, dass es selbst Reisefüchse schon nach wenigen Tagen aufgegeben hätten, allein beziehungsweise ohne Dolmetscher durchs Land zu fahren, sie seien hauptsächlich an der unüberwindbaren Sprach-Barriere gescheitert. Dieses Problem wollte ich aber auf jeden Fall meistern und nahm deshalb Kontakt zu zwei freundlichen Kollegen auf, die mir beide gern halfen, alle möglichen Fragesätze, die man erfahrungsgemäß auf einer Reise benötigt, chinesisch aufzuschreiben. Außerdem wertete ich ein geliehenes Buch aus, das für Taiwan-Chinesen geschrieben wurde, die Deutschland besuchen wollen. Zuletzt besorgte ich mir auch noch einen Internationalen Jugendherbergsausweis für Senioren, der mir ebenfalls chinesisch beschriftet wurde, so dass ich binnen weniger Tage glaubte, alles Notwendige für eine Reise ins Unbekannte beisammen gehabt zu haben. Die kleine Reisetasche füllte ich mit dem Üblichen, angefangen bei Socken und Unterwäsche bis hin zur Taschenlampe im Kugelschreiberformat und Tabletten gegen Durchfall, hatte ich doch noch keine Ahnung, wie es versorgungsmäßig in China aussehen würde.

Die Spannung trieb auf den Höhepunkt, als das letzte Wochenende vor der Abreise, die für Montag, dem 20. September vorgesehen war, anbrach, ein Wochenende voller Überlegungen, was wohl alles auf mich zukommen könnte, ob ich denn hinsichtlich der Vorbereitungen nichts Wesentliches vergessen hätte, und selbst die Kardinalfrage, ob man mich überhaupt ins Land von Hongkong aus lassen würde, beschäftigte mich unentwegt, denn die ganz wenigen Alleinreisenden, von denen ich bisher hörte, hatten sich ihr Visum »durch die Hintertür« in Hongkong besorgt, wo bekanntlich mehr geht, als hierzulande. Schließlich zog ich mich wieder einmal, wenn es Kritisches zu durchdenken galt, in meinen Truderinger Wald zurück, schnupperte Dorfluft und freute mich über ein paar Rehe, so dass ich am Sonntagnachmittag beruhigt zurück nach Hause kam und es feststand: Dieses China willst du packen!

Montag, der 20. September, Abreisetag! Im Folgenden schildere ich in chronologischer Reihenfolge den Ablauf meiner Chinareise und versuche Eindrücke wiederzugeben, die ich in den nächsten vier Wochen zu verkraften hatte. Eines darf ich gleich zu Anfang feststellen: China ist riesig – in jeder Beziehung! Man muss sich auf einen »Langen Marsch« begeben, bei dem die kurze, wenn auch höchst interessante Reise eines Singles allemal nur ein erster Schritt bis zum wirklichen Verstehen sein kann. Sich ein differenziertes Bild von der chinesischen Milliardennation zu machen, setzt »Ankommen« voraus, ob ich nun tatsächlich »angekommen« bin, weiß ich leider selbst nicht. Zumindest ist mein von China und seinen Menschen gewonnenes Bild noch unvollständig, und ich weiß sehr wohl, dass es eines längeren intensiveren Aufenthalts bedarf, um schließlich sagen zu dürfen: »Ich kenne China.«

Das unvermeidliche Reisefieber wird es wohl gewesen sein, das mich daran hinderte, die Nacht vor dem großen Start gen Roten Osten ruhig schlafend zu verbringen. Mit leichter Schlaftablette schaffte ich es gerade bis morgens 3 Uhr, aber dennoch fühlte ich mich fit genug die Tour zu beginnen. Hildegard fühlte offenbar mit mir, denn auch sie hatte erhebliche Schlafprobleme. Kurz vor 6 Uhr standen wir schließlich auf, frühstückten herzhaft und freuten uns des klaren und milden Herbstwetters, denn noch gestern war München ganztags von dichtem Nebel eingehüllt, so dass ich um meinen Start fürchten musste.

Rasche Fahrt mit unserem 95-er Bus zum Ostbahnhof und von hier mit der S-Bahn zum Riemer Flughafen, wo für mich wieder einmal eine interessante Reise – diesmal buchstäblich ins Unbekannte – beginnen sollte. Im Flughafengebäude angekommen, wunderten wir uns über den auffallend regen Passagierbetrieb und hofften, dass trotzdem der Flug BA 753 nach London pünktlich abgehen würde, da der Flug nach Hongkong bereits um 11 Uhr starten sollte. Die Abfertigung am BA-Schalter war in Sekundenschnelle erledigt, zumal ich auch diesmal ja nur ein Handgepäck bei mir hatte, das ich nicht aufzugeben brauchte. Nachdem ich wusste, dass für mich der Ausgang Nummer 8 der richtige war, wir aber noch Zeit hatten, setzten wir uns vor dem Bundesbahn-Kiosk noch zu einer letzten gemeinsamen halben Stunde hin und versuchten, dieses Warten mit lockerem Geplauder zu überbrücken. Hilde studierte BB-Sonderangebote und war beeindruckt von der Tatsache, dass man demnächst an sogenannten »rosaroten Wochenenden« jede Entfernung in der Bundesrepublik für 98 Mark zurücklegen kann. Dass ich dieses zweifellos interessante Angebot nur am Rande registrierte, aber immerhin im Reisetagebuch festhielt, wird mir Hildegard wohl verziehen haben.

Herzliche Verabschiedung bis zum 17. Oktober, ihrem Geburtstag. Ich fühlte geradezu meine Seele, wie sie lachte und weinte, denn einerseits freute ich mich riesig auf China, aber andererseits wäre ich viel zu gern zusammen mit meiner Frau gefahren, doch das Schicksal wollte es wieder einmal anders.

Die nach London fliegende Maschine war eine Super-one-eleven, also der berüchtigte Heuler und eines der wenigen Fluggeräte, das man auch von hinten besteigen kann. Unsere Maschine startete gegen neun nur zu zwei Dritteln besetzt in den wolkenlosen blauen Himmel und ließ das noch im leichten Morgendunst liegende München schnell hinter sich. Ein kurzer Blick in Nachbars »Süddeutsche«, und ich las die fette Überschrift: »Endlich ist es soweit!« – wie schön doch diese Zeile zu meiner derzeitigen Situation passte!

Gegen 9.30 Uhr hörte plötzlich der weiße fast durchsichtige Bodendunst auf und dichte Bewölkung trat an dessen Stelle. Noch während ich daran dachte, dass vermutlich noch heute diese Wetterfront München erreichen würde, besah ich mir die Passagiere etwas genauer: Alles Geschäftsleute, keine Globetrotter, ich war offensichtlich der Einzige, der Ausgefallenes vor sich hatte.

Der Kapitän meldete zwar London an, doch – so leid es ihm täte – er könne zurzeit nicht landen, da Heathrow total überfüllt sei, er müsse kreisen, wie lange, wisse er nicht. Schöne Bescherung, denn ich war mir sicher, dass »Cathay« selbstverständlich nicht auf BA 753 aus München mit einem Chinareisenden an Bord warten würde. Als die Kreiserei auch nach 20 Minuten immer noch andauerte, wurde ich nervös, denn meine Uhr zeigte schon 10.45 Uhr, also nur noch 15 Minuten bis zum Start nach Hongkong! Doch da beruhigte mich mein Sitznachbar, dem meine Nervosität nicht verborgen geblieben war: »Junger Mann, hier in London ist es erst 9.45 Uhr!« – Gottseidank schien also der Anschluss gesichert zu sein, selbst wenn BA 753 noch eine weitere halbe Stunde kreisen sollte.

10 Uhr London time endlich Landung in Heathrow, dem angeblich größten Flughafen Europas. Nun ging es mir darum, ohne jeden Zeitverlust zum »Cathay«-Schalter vorzudringen, denn wer weiß, was mir dort alles blühen würde, wusste ich doch aus Erfahrung, wie heiß es an sogenannten Billigschaltern normalerweise zugeht.

Irgendjemand hatte mir glaubhaft versichert, dass sich der »Cathay«-Schalter im Terminal 3 befinden würde, so dass ich nur auf die Tonbandansage im Flughafenbus zu achten bräuchte. Nach ein paar Stationen Terminal 3. Ich fragte sogleich am Eingang eine Uniform nach meinem Schalter und ging in die mittels lässigem Daumen gewiesene Richtung. Wieder fand ich mich in einer mit Passagieren vollgestopften engen Halle, wo ich vergeblich nach dem »Cathay«-Schalter Ausschau hielt. Mit meinem Ticket in der Hand sprach ich eine Informationsdame an, die etwas verwundert das Geschriebene studierte und dann bedauernd ihren Kopf schüttelte. Warum? Sie bat mich zu warten, entfernte sich und tauchte erst nach langen drei Minuten wieder auf: »Bedaure, Cathay Pacific fliegt nicht von Heathrow, wie auf dem Ticket vermerkt, sondern von Gatwick!« – »Mein Gott, wo ist Gatwick?« – »Eine Stunde per Bus in südliche Richtung oder mit dem Hubschrauber!« – ich fühlte kalten Schweiß auf der Stirn und wurde sicher kreideweiß, denn was mir da soeben widerfahren war, hieß unter Umständen tagelange Verzögerung!

Mir blieb angesichts der vorgerückten Zeit, denn mittlerweile war es halb 11 Uhr durch, nur noch eine kleine Chance: Hin zum Hubschrauber! Ich hetzte durch ewig lange Gänge, ärgerte mich maßlos auf unvermeidlichen Rolltreppen über gemütlich herumhängende Leute und hatte oft Schwierigkeiten, immer schnell das Hubschraubersymbol wiederzufinden, wenn es um Ecken ging oder auf ein anderes Stockwerk. Ich habe in diesen Minuten sicher den Eindruck eines flüchtigen Räubers gemacht.

Endlich erreichte ich nach hundert Ecken das Airlink Office, besetzt nur mit einer nichtstuenden Dame und einem telefonierenden Herrn. Ein kurzer Blick zur Uhr: 10.50 Uhr, ein Blick zur Preistafel: Nach Gatwick 20 Pfund, also fast 100 Mark, die ich jedoch bereit war zu zahlen, wenn es nur klappen würde! Ich fragte sofort nach dem nächsten Hubschrauber, der gehe punkt 11 Uhr, also zur flugplanmäßigen Zeit der »Cathay«! Meiner Bitte anzurufen, ob der Flug pünktlich abgehen oder vielleicht Verspätung haben würde, kam der freundliche Herr prompt nach, das Ergebnis war für mich niederschmetternd: »Cathay« habe soeben die Türen geschlossen und würde pünktlich abheben – aus für heute!

Enttäuscht und wütend auf die Ticketausstellerin in München verließ ich das Airlink Office und fragte mich zum Bus nach Gatwick durch, denn dorthin musste ich ja so oder so. Aber wie sollte das jetzt weitergehen, waren doch die Flugtermine bei »Cathy« fest eingebucht und wusste ich genau, dass Umbuchungen ohne erhebliche Mehrkosten praktisch nicht möglich sind.

Fahrt im hochmodernen Bus für 3,50 Pfund nonstop nach Gatwick – fast eine Stunde Sightseeing durch typische englische Hügellandschaften mit sauberen Häuschen, die zum größten Teil noch aus der Zeit um 1900 stammen. Doch viel Blick für dieses sehr englische Panorama hatte ich verständlicherweise nicht, war meine Sorge doch das Weiterkommen nach Hongkong.

Ankunft 12.15 Uhr in Gatwick, dem riesigen Überseeflughafen südlich von London. Hier war »Cathay« Pacific« schnell gefunden, denn wie ich jetzt sehen konnte, handelt es sich hierbei um eine dominierende Airline mit zig Schaltern. Der Ticketschalter war noch mit zwei Damen besetzt – einer Asiatin und einer Engländerin –, die zwar ein mitleidiges Lächeln für mich übrig hatten, ansonsten aber nicht viel tun konnten, denn die Maschine nach Hongkong war effektiv schon lange in der Luft! Wie ich aber zu meiner Beruhigung erfuhr, fliegt – was ich bis dato nicht wusste – »Cathay« täglich, so dass ich gleich darum bat, mich doch unbedingt für morgen einzubuchen, doch das ging natürlich nicht, oder ich wäre bereit gewesen, auf der Stelle satte 300 Pfund, also fast 1.300 Mark, auf den Tisch zu legen. Wieder sah ich alle Felle davonschwimmen, doch abermals richteten mich die beiden Damen wieder auf: »Cathay« sei schließlich eine freundliche, stets zuvorkommende Airline, ich könne mich auf eine »stand-by-list« für morgen setzen lassen und hätte gute Chancen, auf diese Weise einen Platz zu bekommen ohne draufzahlen zu müssen, zusagen könne man natürlich gar nichts! Mein Gott, welche Aufregung – und das gleich am Anfang einer so großen Reise!

Eine Zeitlang überlegte ich im Flughafengebäude auf irgendeiner Bank zu übernachten, aber ich entschied mich dann doch für ein privates Zimmer, das mir an einem Vermittlungsschalter für 12 Pfund einschließlich Frühstück angeboten worden war, die Hotelpreise hätten alle zwei- bis dreimal höher gelegen! Der telefonisch verständigte Pensionsbesitzer holte mich mit seinem Wagen vor der Halle ab und bog schon wenige Minuten später in den Hof ein, wo er mir im Obergeschoss seines typisch englischen Landhauses ein sauberes Zimmer mit eigener Waschgelegenheit und gemütlichem Bett zur Verfügung stellte. Ich zahlte die verlangten 12 Pfund und erbat eine Quittung, hatte ich mir doch vorgenommen, mir die relativ hohen Bus- und Hotelkosten vom Münchener Reisebüro erstatten zu lassen. Der freundliche, schon etwas ältere Pensionsbesitzer war ziemlich überrascht, als ich ihm in Stichworten meine Ticketstory erzählte und meinte, dass ich doch völlig unschuldig sei und deshalb bestimmt alles ersetzt bekäme. Er sagte mir noch zu, mich morgen früh pünktlich 6.30 Uhr zu wecken und überließ mich dann der Einsamkeit.

Draußen trieb ein heftiger Wind kalten Regen an die Scheiben, so dass ich keinen Abendspaziergang mehr machen konnte und deshalb entschied, bereits gegen 20 Uhr zu Bett zu gehen, denn wer weiß, was morgen noch alles auf mich zukommen würde!

Die Nacht auf den 21. September war für mich gottseidank erholsam, denn ich schlief fest bis morgens fünf Uhr. In mir herrschte jetzt wieder Ruhe, so dass ich noch gemütlich eine ganze Stunde länger im Bett bleiben konnte, um mir die Situation im ausgeschlafenen Zustand durch den Kopf gehen zu lassen. Also 1.300 Mark draufzahlen kommt nicht infrage, wenn nicht heute ohne Nachzahlung nach Hongkong, dann Rückflug nach München – basta.

Ausreichend englisches Frühstück im Wohnzimmer des Besitzers, doch mit scheußlichem Kaffee (hätte ich mir doch Tee bestellt!). Rechts von mir ein gemütlicher Kamin, allerdings zu dieser Jahreszeit noch ohne Feuer; alte tadellos intakte Möbel, schwerer Stuck an der Decke, Seidentapeten und das lustig plappernde kleine Töchterchen im Alter von vier Jahren um mich herum. Ich genoss diese wohnliche Umgebung, obwohl ich jetzt doch weißgott andere Dinge im Kopf haben sollte! – Nach dem Frühstück rasche Fahrt zurück zum Flughafen, wo natürlich schon wieder der Teufel los war: diese Menschenmassen! Kaum zu glauben, wie viele Leute von hier aus täglich nach Übersee starten. Ich nehme an, dass sich im riesigen Gatwick zu jeder Tages- und Nachtzeit immer ein paar Tausend Menschen gleichzeitig aufhalten.

Ein Blick zur Anzeigentafel bestätigte meine Hoffnung: CX 201 war aus Hongkong kommend bereits um 7.25 Uhr gelandet, wird also aller Voraussicht nach wieder pünktlich zum Rückflug starten können. Um halb 8 Uhr stand ich abermals am Ticketschalter von »Cathay«, wo man mich wieder auf eine Warteliste setzte, allerdings nicht an die erste Stelle. Ich protestierte, weil ich doch schon gestern auf einer Liste eingetragen worden war, also meiner Meinung nach an die erste Stelle gehörte, denn was wäre, wenn tatsächlich nur ein Platz für einen stand-by-Passagier zur Verfügung stünde? Ich wollte schon den Kampf um den ersten Platz aufnehmen, als mir die Asiatin von gestern zuvorkam und vielversprechend meinte, sie sähe keinerlei Gefahr, denn es gebe genügend freie Plätze. Ich glaubte ihr viel zu gern und versprach, wie verlangt um 10 Uhr wieder am Schalter zu sein.

Zwischendurch versuchte ich am BA-Schalter eine Umbuchung des Rückfluges auf 12.55 Uhr zu veranlassen, denn ich wusste jetzt ja, dass der Bus eine Stunde nach Heathrow benötigt, doch da kam ein kategorisches »No sir, impossible!« – »Warum?« – »Weil Sie zum ermäßigten Tarif fest eingebucht sind, oder Sie zahlen nach!« »Wie viel?« – »Etwa 300 Mark!« – Das ging mir nun doch zu weit, kaufte eine Postkarte und schrieb ein paar deftige Zeilen an das Münchener Reisebüro, schilderte die verkorkste Situation und bat dringend darum, wenigstens die erforderliche BA-Umbuchung bis zu meiner Rückkehr am 17. Oktober zu bewerkstelligen. Im Übrigen, so ließ ich wissen, würde ich erwarten, dass mir die Unkosten ersetzt werden, denn schließlich habe ja dieses Büro den Kardinalfehler gemacht und mich zum falschen Flugplatz lanciert.

Nachdem ich nach mehreren vergeblichen Versuchen mit Geldverlust – diese verdammten englischen Münztelefone! – endlich Hilde in ihrem Büro erreicht und ihr von meinem Pech berichtet hatte, musste ich noch einmal eine ganze Stunde bangen Wartens hinter mich bringen, doch dann klappte es. Ich wurde problemlos abgefertigt und erreichte wenig später aufatmend den Warteraum für den Flug CX 200 nach Hongkong – eine wahre Wohltat! Aufruf zum Boarding sitzreihenweise, also geordnet und offensichtlich nach eingefahrenem Schema. Als ich meinen gewollten Fensterplatz auf der Nichtraucherseite im Jumbo »Marco Polo« eingenommen hatte, wusste ich, dass es nun tatsächlich abgehen würde. Die 24 Stunden Verspätung hatte ich fast schon wieder vergessen.

Wie ich nun sehen konnte, war die Maschine zwar gut besetzt, doch hätte sie ohneweiteres noch weitere stand-by-Passagiere verkraften können. Hilfsbereite Stewardessen aus nicht weniger als neun verschiedenen asiatischen Ländern sorgten für ein rasches Boarding, so dass sich die Maschine überpünktlich um elf von der automatischen Gangway abnabeln und zur Startbahn rollen konnte.

Die Ansagen während der Fahrt zum Start erfolgten auf Englisch, Chinesisch und Japanisch und außerdem wurde darauf hingewiesen, dass das Personal selbstverständlich auch auf Thailändisch, Malaiisch und Koreanisch Rede und Antwort stehe. Das also ist »Cathay«-Sprachservice, der jedoch noch übertroffen wurde durch eine ausgezeichnete Bordküche, die ihresgleichen in der Welt wohl nicht mehr findet. Es ist fast peinlich, zu welch kulinarischen Höchstleistungen bei freiem Alkoholverzehr diese Airline trotz des beispielhaft niedrigen Flugpreises fähig ist.

Der Start des mächtigen Jumbos erfolgte bei starkem Regen und heftigem Wind um 11.20 Uhr, und wenige Minuten später hatte uns endlich die Sonne wieder. Als die Maschine ihre Flughöhe von 10.000 Metern erreicht hatte, legte auch die junge Frau neben mir endlich ihre Werkzeuge beiseite, hatte sie sich doch während der ganzen Startphase ununterbrochen und ohne auch nur einen Moment lang innezuhalten ihre Nägel manikürt! Das scheint wohl eine Methode zu sein, Startangst zu kaschieren.

Ansage des Kapitäns: »Der Flug geht planmäßig über Deutschland, Österreich, Türkei, Cypern bis Bahrain, wo in sechs bis sieben Stunden zwischengelandet wird!« Vor dem großen Essen, das 13 Uhr serviert wurde, reichten die asiatischen Mädchen Gin Tonic, Whisky, appetitanregende Aperitifs und Biere – alles zum Nulltarif! Ich hielt mich an den wohlschmeckenden Gin Tonic, musste aber aufpassen, davon nicht allzu viel zu schlucken! Danach die Hauptmahlzeit mit gekochtem Fisch und Majonäse, Salat, Geflügel, Erbsen, Kartoffelmus, Kekse und Butter, Käse, Kuchen mit Sahne und Mandarinen. Dazu gab es einen roten oder weißen Wein von höchster Qualität und zum Abschluss einen chinesischen Cognac. »Cathay« hat’s in sich! Für mich war das Gebotene das Beste, was mir jemals auf langen Flügen gereicht worden war.

Anschließend plauderte ich mit meinem englischen Sitznachbarn, der stolz über seine Manager-Erfolge als Sportveranstaltungs-Boss in aller Welt erzählte und im Rahmen seiner Tätigkeit auch schon zweimal in Peking war, um internationale Tischtennisveranstaltungen zu organisieren. Außerdem habe er auch schon deutsche Tischtennis-Asse aus Stuttgart gemanaged, die alle auf ihre Kosten gekommen wären (hoppla, sind Tischtennis-Leute nicht Amateure?). Peking übrigens soll so ganz anders als andere Weltstädte sein, wie anders, konnte er mir differenziert allerdings nicht sagen, da er eigentlich nur die internationalen Hotels und Spitzenleute kennengelernt habe.

Gegen 16 Uhr Londoner Zeit wurde es schnell dunkel, denn wir flogen ja nach Osten, also der Sonne davon. Unten wieder eine dichte weiße Bewölkung, darüber ein tintiger Himmel und im Westen ein phantastischer knallroter Sonnenuntergang. Zwischenlandung in Bahrain um 17.15 Uhr.

Um mir die Füße zu vertreten und nicht zuletzt aus Neugier ging ich erlaubterweise mit von Bord, denn das Flughafengebäude dieses Öl-Scheichtums kannte ich noch nicht. Draußen herrschte eine drückende Hitze von 35 Grad Celsius, aber der zu Fuß schnell erreichte Transitraum war selbstverständlich airconditioned – ein Stück höchsten Komforts in der Arabischen Wüste.

Sich erkennbar nicht anstrengende Pakistani wischten mit feuchten Lappen die Marmorböden (Scheichtumbürger tun so was nicht!), das Bild des Oberscheichs hängt gut sichtbar über dem Ausgang, teure Elektroartikel und Kameras aller Art füllen die Schaufenster des Innenraumes, moderne gelb-rote bequeme Sitzmöbel bieten Gelegenheit zum Dösen und Faulenzen hauptsächlich für meist überfütterte Afrikaner und Araber. Die Transitpassagiere nutzten dagegen die kurze Zeit zum Kennenlernen eines kleinen Stücks dieses Scheichtums. In einem Nebenraum tickten die Fernschreiber und aus blank geputztem Messinghahn sprudelte frisches kühles Trinkwasser.

Der Weiterflug erfolgte um 20.15 Uhr local time. Wie ich sah, hatten es sich in der Zwischenzeit viele neue Passagiere bequem gemacht, und zwar hauptsächlich reiche Araber, die wohl die Absicht hatten, zum Einkaufen mal kurz nach Hongkong zu jetten. Nachdem sich der Kapitän und seine in Bahrain frisch an Bord gekommene Crew vorgestellt hatten, wurde schon wieder ein prächtiges Essen serviert, das von vielen Passagieren aber nur noch gekostet wurde: bestes Steak, winzige Kartöffelchen, Gemüse, Sahne, Fisch, Butter, Käse – es war einfach nicht zu schaffen! Dazu natürlich wieder Weine und jede Menge ganz ausgezeichneter kleiner Drinks mit hohem Alkoholgehalt (Cognacs, Gins und Cocktails jeder gewünschten Art) – auch für Muslime an Bord übrigens kein Problem!

Der nächste Tag, der 22. September, brach an. Der Kapitän weckte mit der frohen Botschaft, dass soeben die chinesische Stadt Kunming im Südwesten des Landes überflogen wurde und er uns guten Appetit zum Früh-stück wünsche – und das nach meiner inneren Uhr nachts halb zwei! – China war, soweit ich sehen konnte, zu dieser Zeit stark bewölkt, und der Kapitän ergänzte meinen Eindruck mit dem Hinweis, dass es in Kunming zurzeit regne und das Thermometer 30 Grad Celsius anzeige. Ich musste mich in die Wange kneifen: Ja, ich flog wirklich bereits über chinesisches Territorium! Als die Wolkendecke plötzlich aufriss, machte ich das erste Foto von einer braun-grünen Hügellandschaft, die – soweit mein Blick reichte – nur von einem gelblichen Fluss durchschnitten wurde, sonst aber nichts Markantes aufwies.

Die Nathan Road in Kowloon ist äußerst belebt und nicht ungefährlich.

Gegen 8.30 Uhr (Hongkong-Zeit) wurde der Anflug auf die britische Kronkolonie angesagt, jenes im Vergleich zu China winzige Küstenpünktchen, das bereits seit 1841 britisch ist und dies bis 1997 auch bleiben soll; zu diesem Zeitpunkt läuft die zeitlich begrenzte Verwaltung durch Großbritannien ab. Hongkong, heute das asiatische Traumziel hunderttausender Touristen aus aller Welt, hat eine unvergleichlich schöne Lage, was ich jetzt aus der Jumboperspektive selbst bewundern durfte, den Anflug auf den Flughafen »KaiTak« kann man wirklich als spektakulär bezeichnen!

Da ich eigentlich die Absicht hegte, mich mindestens einen ganzen Tag im »Duftenden Hafen« – so die deutsche Übersetzung von »Hongkong« – aufzuhalten, hatte ich mich im Flugzeug schon etwas mit dieser Kronkolonie befasst und dabei gelernt, dass das am Wendekreis des Krebses (Übergangszone vom subtropischen zum tropischen Klima) liegende immergrüne »britische Gebiet auf chinesischem Territorium« heute zirka fünf Millionen Einwohner zählt, darunter etwa 30.000 registrierte Ausländer, 98 Prozent aller Bewohner sind also Chinesen. Damit zählt die Kronkolonie zu jenen Gebieten der Erde, die die höchste Einwohnerzahl pro Quadratkilometer aufweisen, in Hongkong selbst sind das unglaubliche 165.000 Menschen auf einem Quadratkilometer! Die Hauptinsel mit ihrer Großstadt Victoria ist nur 86 Quadratkilometer groß, während die gesamte Kronkolonie einschließlich 235 vorgelagerter Inseln, der gegenüberliegenden Halbinsel Kowloon und der sich anschließenden New Territories insgesamt 1.031 Quadratkilometer groß ist.

Da ich während des Anfluges auf »KaiTak« nicht das Gefühl hatte, dass es für mich eigentlich erst gegen Mitternacht war, fasste ich einen kühnen Plan: Warum nicht gleich durchstarten hinein nach China? Ich hatte aber überhaupt noch keine Ahnung von Hongkong und wusste deshalb nicht, wie die Verkehrsverhältnisse sind und wie viel Zeit das Zurechfinden in dieser riesigen Stadt in Anspruch nehmen würde. Nur soviel war klar: Wenn es mir gelingen sollte, noch heute bis Kanton zu kommen, würde das für mich einen sehr schweren Tag bedeuten, aber ich hätte andererseits mit einem Schlag die 24-stündige Verspätung wieder aufgeholt!

Landung 8.45 Uhr auf »KaiTak«, bei der mir der Mund offen stehen blieb: Phantastisch der Anblick unzähliger, kühn an den Hängen klebender Hochhäuser, tausender kleiner Chinesenboote und des Hafens! So etwas muss man selbst gesehen haben, denn mit Worten lassen sich diese überwältigenden Eindrücke kaum wiedergeben. Keine Bewölkung und angenehme Temperatur. Nun freute ich mich riesig auf China und spürte, wie beim Betreten des Flughafenbetons jegliche Müdigkeit verschwand.

Zu Fuß zum Abfertigungsgebäude, einem hochmodernen und weitläufigen Bauwerk von internationalem Rang. Da ich nicht auf Gepäck zu warten brauchte, ging ich geradewegs auf die Pass- und Zollbeamten zu (alles Chinesen), erhielt sofort eine Aufenthaltsgenehmigung für vier Wochen in den Pass gestempelt und war somit nach Hongkong entlassen. Doch zuvor erledigte ich noch rasch das Re-confirming bei »Cathay Pacific« im ersten Stock des blitzsauberen Gebäudes (der Computer hatte mich erfasst, alles war in Ordnung für den 16. Oktober) und genehmigte mir dann eine Tasse sehr guten Kaffees, zumal ich glaubte, ihn für die nächsten Stunden dringend nötig zu haben und außerdem wollte ich etwas Wechselgeld für Bus, Taxi und/oder Bahn haben.

2. Kapitel

Ins Reich der Mitte

Von einem Auskunftsbeamten erfuhr ich, dass man zum Bahnhof Kowloon entweder mit dem Taxi oder mit dem Bus fahren könne (Taxi 10 HK Dollar, Bus 2 ½ HK Dollar). Ich entschied mich natürlich für den billigeren Bus, obwohl ich nicht wusste, zu welchen Zeiten dieses Vehikel fahren würde. Die Bushaltestelle fand ich schnell und sah, dass nur wenige Passagiere warteten, so dass das Mitkommen kein Problem werden würde. Der Bus – ein typischer alter englischer Kasten mit bunter Reklamebemalung – kam, hielt nur ein paar Minuten und fuhr dann gleich los. Der Geldapparat schluckte ohneweiteres meine drei eingeworfenen HK Dollar, weigerte sich aber beharrlich, mir den Rest von 50 Cent zurückzugeben – was soll’s, Hauptsache irgendjemand würde mir freundlicherweise sagen, wann ich umzusteigen oder auszusteigen hätte. Ich hielt mich an einen älteren Chinesen, der mir zu verstehen gab, mich rechtzeitig auf den Bahnhof Kowloon hinzuweisen.

Nun kurvte der weiß behandschuhte Fahrer seinen Bus durch einen Straßenverkehr, der mir die Haare zu Berge stehen ließ, denn die äußerst dicht bebaute Halbinsel Kowloon ist sozusagen das chinesische Herz der Kronkolonie und entsprechend belebt. Privatautos, Taxis, Liefer- und Lastwagen, Busse, bunte Menschenmassen, meist ziemlich heruntergekommene Wohnhäuser, ab und zu ein neues modernes Geschäfts- oder Verwaltungsgebäude, keine Fahrräder (die hätten hier überhaupt keine Chance!) und unendlich viele chinesisch beschriftete Schilder von Firmen, Gasthäusern, Hotels, Geschäften und so weiter. Das waren in aller Kürze meine ersten Eindrücke von Kowloon, wissend, dass es auf der Insel Hongkong beziehungsweise in Victoria sauberer, moderner und ruhiger zugeht.

Der freundliche Passagier drückte für mich nach ein paar Haltestellen die Klingel und deutete hinüber zu einem modernen Neubau – dem Bahnhof Kowloon. Ich entstieg als Einziger dem Bus, querte eine breite belebte Verkehrsstraße und hatte bald den Haupteingang erreicht. Sofort fiel mir das Hinweisschild auf, dass es von hier aus auch durchgehende Züge nach Kanton gibt, doch der zuständige Schalter war geschlossen, denn diese Züge verkehren nur zweimal täglich; der nächste Zug wäre erst nachmittags gefahren. So entschloss ich mich kurzerhand für den »local train« zur Grenzstation LoWu, löste problemlos für drei HK Dollar die 2. Klasse und hetzte zu den Bahnsteigen, hatte ich doch beiläufig gesehen, dass der nächste Zug schon um 9.53 Uhr abfahren würde, den wollte ich nach Möglichkeit noch erreichen!

Ich drückte die Fahrkarte in den automatischen Entwerter (das Ticket wird blitzschnell angesaugt und am hinteren Ende gestempelt wieder ausgespuckt), stolperte eine Treppe hinunter auf den Bahnsteig, wo der bereits abgepfiffene Zug soeben anfuhr, auf den ich aber noch aufspringen konnte. Ich landete in der bequemen 1. Klasse, ging in Fahrtrichtung durch die Waggons und konnte schließlich schwitzend und keuchend in der harten 2. Klasse inmitten Hunderter Chinesen einen hölzernen Platz ergattern. Der Zug fuhr tatsächlich Richtung der Grenze zu China, nur etwa eine Stunde nach der Landung in »KaiTak«, ich konnte es noch gar nicht glauben.

Als ich mich etwas gefasst und mich schließlich daran gewöhnt hatte, zum ersten Mal in meinem Leben und das so abrupt nur von chinesischen Gesichtern umgeben zu sein, ließ die erste Aufregung nach, der Schweiß rann nicht mehr vom Gesicht und ich begann die Fahrt zu genießen. Der Zug hatte laut Fahrplan nicht weniger als acht Stationen vor sich und so nahm ich an, dass sich die Zahl der Reisenden bis zur Grenze auf ein Minimum reduziert haben würde, aber da irrte ich, denn wie sich zeigte, hatten die Leute tatsächlich fast alle nur ein Ziel: die VR China.

Die langsame Fahrt führte an mit Reklameschildern behangenen Hochhäusern und engen quirligen Straßenschluchten vorbei, hinter denen mit Buschwerk bewachsene Berge sichtbar wurden. Ich sah, dass ganze Berge abgetragen wurden, um Platz für neue Hochhäuser zu schaffen. »Station Universität« und wenig später eine Bucht, umgeben von malerischer Hügellandschaft. Alte Chinesinnen gehen durch die Waggons und preisen billige Feuerzeuge, Heftchen aller Art, bunte Regen- und Sonnenschirme und in Cellophan gewickelte Sandwichs an. Wie ich sehen konnte, kaufen die Leute kritisch und nur selten, verständlich wenn man bedenkt, dass es Chinesen von drüben waren, die alle nur ein Bruchteil dessen verdienen, was normalerweise ihre chinesischen Verwandten in der Kronkolonie monatlich einnehmen.

Die Leute sitzen mit viel Gepäck dicht nebeneinander, sind sauber und rege, aber nicht hektisch. Man betrachtete mich, der ich ganz offensichtlich die einzige »Langnase« – chinesische Bezeichnung für »Europäer« – im Waggon war, sehr aufmerksam, lächelte oft, hielt sich aber sonst zurück. Die Holzbänke sind brutal hart, der mit Kleinfliesen belegte Boden war anfangs sauber, wurde jedoch bald zur Mülltonne, die Ventilatoren funktionierten und zudem waren die Fenster ausnahmslos weit geöffnet. Der Zug durchfuhr lange Tunnels, ein paar zerlumpte Bettler hielten ihre Hände auf (man stelle sich vor: Hongkong-Bettler gehen Rot-Chinesen an!) und immer wieder stiegen unterwegs Bauersfrauen zu, die ihre Ernten an halbierten Bambusstangen hängen hatten und deshalb nicht selten andere Mitreisende damit stark behinderten. Verkauft wurde Coca Cola, Obst und Lesbares.

Auffallend die Hüte der bäuerlichen Hakka-Frauen. Das sind übergroße kreisrunde Strohgeflechte mit herunterhängenden »schwarzen Gardinen«, die offensichtlich vor zu starker Sonneneinstrahlung schützen sollen. Der Zug durchfuhr satte Reisfelder, passierte elende Holzbuden auf Pfählen und gab oft den Blick auf die bergige Landschaft der New Territories frei. Hier draußen sieht es im Gegensatz zum kosmopolitischen Hongkong bereits sehr chinesisch aus: Da treiben die Bauern ihre schwarzen Ochsen zum schnelleren Pflügen an und riecht die Luft nach bäuerlicher Arbeit.

Die Uhr zeigte bei der Ankunft in LoWu 11.30 Uhr, und jetzt bestätigte sich meine Vermutung der letzten zehn Minuten, dass die mitfahrenden Leute tatsächlich alle nach drüben wollten, ich mich also auf eine zeitraubende Abfertigung einstellen musste, zumal vor mir sicher Hunderte Reisende mit viel Gepäck den Zug verließen und in Richtung der Grenzgebäude gingen. Ich sah weit und breit keinen einzigen weiteren Europäer! Ich ahnte nichts Gutes.

Nun begann für mich das große Zittern, denn ich hatte ja nur die Genehmigung für Peking im Pass. Nirgends stand, dass ich Peking von Hongkong aus quer durchs Land erreichen durfte! Ich musste also die selbstverständlichste Miene der Welt aufsetzen und darauf vertrauen, dass vielleicht der Bonner Stempel im Visum das Tor nach China öffnen würde.

Zunächst reihte ich mich brav in eine riesige Menschenschlange ein, die sich aber zügig verkleinerte, weil die Beamten der Hongkonger Pass- und Zollkontrolle offensichtlich an genauen Kontrollen gar nicht interessiert waren. Direkt vor den Uniformierten – alles wiederum Chinesen – wurde es dann ziemlich hektisch, weil jeder darauf bedacht war, noch den wartenden Zug für die Weiterfahrt zu erwischen. Außerdem war der Abfertigungsraum viel zu eng, so dass die wenigen Vans die stickige Luft nicht abkühlen konnten und deshalb der Schweiß in Strömen von den Gesichtern rann.

Die Hongkong-Uniformen hatte ich also hinter mir, und erst jetzt stand der große Augenblick des Überschreitens einer Eisenbahnbrücke hinüber zur rot-chinesischen Seite bevor – ein langer Augenblick, sich so unsicher zwischen zwei der markantesten Grenzen der Welt zu bewegen! Ich nahm