Unter Buddhas und Allahs Augen. Abenteuerliche Pfade bis ins Himalaya - Harald Stöber - E-Book

Unter Buddhas und Allahs Augen. Abenteuerliche Pfade bis ins Himalaya E-Book

Harald Stöber

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Beschreibung

Den riesigen Indischen Subkontinent und die Himalayaländer Nepal und Sikkim als Individualreisender bereits in den Siebziger Jahren – wie unser Autor – erkundet zu haben, setzte Mut und Durchhaltevermögen voraus – auch heute noch, sofern man auf die teure Geborgenheit, die man als Pauschaltourist genießt, verzichten will. Keine Gefahr, die nicht lauern würde: Unfall, Krankheit, Diebstahl, unberechenbare Natur. Von besonderem Appeal war die Tour über Land bis Indien, zumal unser Reiseteam auch den Iran zur Zeit des Krieges mit dem Irak querte und dabei Zoroasters Feuertempel ebenso kennenlernte wie gefährliche Drogensüchtige. Schließlich ging es durch den kritischen Libanon bis Baalbek, auf Zypern musste die Teilung der Insel verkraftet werden, und in Syrien war erstaunlich viel Christliches bis hin zu einem Dorf zu erleben, dessen Bevölkerung heute noch Aramäisch spricht – die Sprache Jesu.

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Seitenzahl: 478

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Unter Buddhas und Allahs Augen

Abenteuerliche Pfade bis ins Himalaya

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Copyright (2012) Engelsdorfer Verlag

Alle Rechte beim Autor

Titelfoto:

Aus Tibet geflohene Mönche, denen in Nordindien Asyl gewährt wurde.

Coverrückseite:

Zu Gast bei armen Bergbauern in den Vorbergen des Himalaya.

www.engelsdorfer-verlag.de

eISBN: 978-3-86268-801-2

Man gewinnt durch

Ausdauer, Festigkeit

und durch den Glauben

an die Kraft des Guten.

Anonymus

Gewidmet meiner

lieben Familie und

allen Freunden, die

uns im Geiste stets

begleitet haben.

Inhaltsverzeichnis

1. Kapitel

Ein offenes Vorwort

Darjeeling – Tee und Toy Train

Ins historische Königreich Sikkim

Harte Arbeit bis Kathmandu

Bei Kumari und Swayambhu

Glanz und Elend bis Bhaktapur

2. Kapitel

Über Land nach Indien

Autor und Buch

Etappenziel Ararat – Noahs heiliger Berg

Allahs Iran – ein Jahrhunderträtsel

Durch das Land des Indus – Pakistan

Geliebt, gehasst und unergründlich – Indien

3. Kapitel

Zypern, Libanon und Syrien

Zypriotisches Wechselbad

Bleihaltig: Die »Schweiz des Nahen Ostens«

Viel Christliches in Syrien

1. Kapitel

Ein offenes Vorwort

Erst nach zwei Monaten nach meiner Rückkehr aus Asien konnte ich sagen, dass ich die tausend Eindrücke und Erlebnisse gedanklich geordnet und weitgehend verkraftet hatte. Mit Bus, Bahn, Schiff und Flugzeug bewältigte ich in Indien, Sri Lanka, Nepal und Sikkim mehr als 10.000 oft sehr beschwerliche Reisekilometer, die nicht selten an die Substanz gingen.

Auf dieser riesigen Individualtour hatte ich lehrreiche und enttäuschende Begegnungen, musste fast Tag für Tag mit mittelalterlichen Verhältnissen vorlieb nehmen, sah gewaltige Himalayaberge und satte Urwälder, besuchte Millionenstädte, wagte mich in düstere Slums und durchstreifte viele historische Tempel, deren Faszination außer Zweifel steht.

Bereichert, glücklich und wohlbehalten kehrte ich nach zwei Monaten nach Deutschland zurück und glaube heute, dass selbst mit Gold meine Reiseerlebnisse und erlangten Erkenntnisse nicht aufgewogen werden können.

Vielen Lesern von Reiseberichten wird geläufig sein, dass Autoren, wenn sie erst einmal wieder in zivilisierter Umgebung sind, ihre Erlebnisse und Eindrücke zu positiv sehen beziehungsweise schildern, und oft sind fernab von Deutschland gemachte böse Erfahrungen auf einmal gar nicht mehr so arg, sehen die besuchten Ortschaften, die Tempel und Berge, die Wälder und Seen plötzlich sauberer und schöner aus, als sie es in Wirklichkeit sind. Sicherlich ist es nicht einfach, gegen diese berühmte sogenannte Schreibtischromantik anzukämpfen, das heißt, sich als Autor unbeirrt streng an die reine Wahrheit zu halten. Aber meiner Meinung nach muss das sein, weshalb ich mich in gewohnt schnörkelloser Art und Weise, wenn auch nicht ganz ohne Emotionen, bemüht habe, jeden Gedanken konsequent auf seinen Wahrheitsgehalt hin abzuklopfen.

Worum es mir geht ist schlicht die Absicht, nicht nur für mich persönlich die vielen wertvollen Reiseerfahrungen schriftlich festzuhalten, sondern sie an interessierte Zeitgenossen weiterzureichen. Ich habe enorm dazugelernt und bin zu vielen neuen Erkenntnissen gelangt, die mir kein noch so gutes Buch hätte vermitteln können. Reisen bilden nicht nur, sondern können auch die Einstellung zu bestimmten Dingen des Lebens verändern, wie bei mir geschehen. Und im Übrigen sagt die Wirklichkeit mehr als tausend Bilder.

Der folgende Bericht ist ein Teil meiner Notizen, die ich auf großer Asientour 1978 vor Ort niedergeschrieben habe und beschränkt sich auf das nördliche Indien, auf Nepal und Sikkim.

Darjeeling – Tee und Toy Train

Aufruf der Fluggäste für den Flug nach Bagdogra. Diesen Ortsnamen wird man vergeblich im Atlas suchen, denn er bezeichnet eigentlich nur den Flughafen, der ein paar Busstunden südlich von Darjeeling liegt. Wieder peinlich genaue Kontrollen, dann eine angenehme Überraschung, denn in den hohen Norden fliegt nicht etwa eine alte Klappermaschine, sondern das modernste im Einsatz befindliche Flugzeug: ein Air-Bus. An Bord befand sich auch eine kleine NUR-Reisegruppe, fast alles ältere Leutchen, die ihr gutes Rentengeld in Reisen »anlegen«. Von denen dürfte vermutlich keiner eine Ahnung davon haben, dass sie für ihre Exkursionen das 20- bis 30-fache dessen bezahlt haben, was ein solcher Ausflug – wenn man ihn allein unternimmt – kosten würde.

Glatter wunderschöner Start, aber mit etwa einstündiger Verspätung erst gegen 13 Uhr. Die Maschine war bis auf den letzten Platz gefüllt, und mir stellte sich deshalb die Frage, wohin im Winter all diese Leute eigentlich wollen, wenn man von den paar europäischen Touristen einmal absieht. Darjeeling, der einzige größere Ort in der Nähe Bagdogras, wird im Winter von den Indern jedenfalls als Erholungsort gemieden – und weiter hinauf geht’s nicht, es sei denn, man wollte in das kleine, aber um diese Jahreszeit ebenfalls sehr kalte Sikkim. Und Wintersportgebiete gibt es hier auch nicht. Meine Frage blieb also ungeklärt.

Der Flug war ein Genuss. Zwar lag über der Erde ein leichter Dunstschleier, doch war es möglich, Felder, Ortschaften, Wälder und Flussläufe zu erkennen. Wesentlich interessanter war jedoch die phantastische Fernsicht, denn der Dunst lag weit unter uns. Bereits nach einer knappen halben Stunde konnte man linker Hand – ich hatte einen Fensterplatz – das Himalayagebirge sehen, die Schnee- und Eisriesen Nepals und Chinas. Die Sicht bis dorthin war zwar absolut klar, aber das Gebirge war leider noch zu weit weg, um es ordentlich fotografieren zu können, hier bedauerte ich zum ersten Mal, kein Tele mitgenommen zu haben. Nun machte uns sogar der Kapitän darauf aufmerksam, dass wir links jetzt das Mt.-Everest-Massiv sehen könnten – ein grandioser Anblick, aber wie gesagt leider etwas zu weit entfernt.

Trotz des nur knapp einstündigen Fluges wurde den Passagieren ein ausgezeichnetes Frühstück angeboten, zu wählen war zwischen einem europäischen und einem indischen Mahl. Ich entschied mich für das indische, zumal ich bisher noch nicht die Möglichkeit hatte, einmal ein kultiviertes landesübliches Frühstück zu mir zu nehmen. Ausnahmsweise möchte ich nachfolgend aufzählen, was sich auf der Platte befand: reichlich Mischgemüse, Obstsalat mit Mayonnaise, ein gebackener süßer, mit Honigwasser gefüllter Reisball, eine scharfe, sehr ölige Tunke, ein Sandwich mit Gemüse und Tee. Ist nicht jedermanns Geschmack!

Gegen halb drei Uhr erfolgte die glatte Landung auf dem Flughafen Bagdogra. Mir schlug, obwohl sich Bagdogra noch im nordindischen Flachland befindet, ein sehr frischer Wind entgegen, die Temperatur dürfte nur um 18 Grad herum gelegen haben. Aber der Himmel strahlte, ein Zeichen dafür, dass das Gebirge gut zu sehen sein wird. Hoffentlich hält sich dieses Wetter, das zu dieser Jahreszeit im Allgemeinen zwar sicher ist, aber trotzdem kann man Nebel, scharfen Wind und selbst Schneefall nie ausschließen.

Auf dem Flughafen musste ich mich, wie alle anderen Europäer und Amerikaner auch, einer genauen Passkontrolle unterziehen. Auf meine schüchterne Frage, warum das nötig sei, wurde ich darüber aufgeklärt, dass es sich bei dieser Gegend von Darjeeling um eines der vielen »protected areas« handelt, die von Ausländern nicht ohne vorherige Genehmigung bereist werden dürfen. Also stapelten sich die Reisepässe der 30 Fremden, deren Daten nach und nach in ein dickes Gästebuch eingetragen wurden. Mit einem Stempel in den Pass wurde die Registrierung amtlich bestätigt.

Bis jetzt hatte ich noch keine Ahnung, wie es nun weitergehen würde und befürchtete schon, angesichts der etwas vorgerückten Zeit zumindest für eine Nacht hier bleiben zu müssen. Gab es hier überhaupt einen Ort? Nirgends fand ich einen Hinweis auf ein Hotel, auf irgendeinen Tempel oder auf eine sonstige, für den Touristen beziehungsweise Neuankömmling interessante Information – nichts. Der Flugplatz schien sich mitten im Busch zu befinden.

Als ich meinen Pass wieder in der Hand hatte und stolzer Besitzer einer Reisegenehmigung für Darjeeling war, wurde ich von einem Zivilisten angesprochen, der mir anbot, mich für 20 Rupien per luxury bus bis Darjeeling zu fahren. Ich wunderte mich zwar über den hohen Preis und erkundigte mich sicherheitshalber erst einmal nach einer preiswerteren Fahrmöglichkeit. Die aber gab es von hier offensichtlich nicht, also buchte ich bis Darjeeling entsprechend dem Angebot. Eigentlich war ich froh darüber, denn mit einer derart raschen und problemlosen Weiterfahrt hatte ich gar nicht gerechnet.

Es mag gegen 16 Uhr gewesen sein, als der nur teilweise besetzte Bus gen Darjeeling startete. Außer einem älteren indischen Ehepaar befanden sich nur Touristen an Bord, allerdings nur Individualreisende, denn die NUR-Gruppe hatte selbstverständlich ihren eigenen pompösen Bus. Unser Vehikel nannte sich zwar luxury bus – wohl wegen der über jedem Platz hängenden kleinen Ventilatoren und der tatsächlich vorhandenen Fensterscheiben –, aber in Wirklichkeit war es natürlich keiner. Ich schätzte das Alter dieses Gefährts auf satte zwanzig Jahre, die Stoßdämpfer waren verbraucht und an Farbe fehlte es auch schon an vielen Stellen.

Bereits Minuten hinter Bagdogra begannen die berühmten Teeplantagen, in denen der ausgezeichnete Darjeeling-Tee wächst. Die Teesträucher wurden hier vor über 100 Jahren von den Engländern gepflanzt, die damit dem indischen Staat eine sichere Devisenquelle verschafften. Die Teeplantagen sind erstaunlich gut gepflegt beziehungsweise zwischen den bauchhohen dichten Sträuchern sieht man kein Unkraut und kein Gras, auch liegt kein Geäst herum. Für’s Auge sind auch die in regelmäßigen Abständen gepflanzten hohen Laubbäume, welche die Funktion eines Sonnendaches haben, damit die wertvollen Teesträucher nicht verbrennen.

War schon die Landschaft im Flachland sehr sehenswert, so wurde sie – je weiter der Bus in Richtung der Berge kam – immer schöner. Allmählich erreichten wir die ersten Hügel, durchfuhren dichte Laubwälder, akkurate kleine Felder und ärmliche Dörfer, überquerten schmale Bäche und freuten uns über die satt-grünen bis braunen Farben. Es war ein phantastischer Anblick, so dass ich mich jetzt immer mehr auf meinen Besuch im Norden Indiens freuen durfte. Zudem schien noch eine helle Sonne, keine Wolke und kein Nebel hatten zurzeit eine Chance.

Die Fahrt verlief glatt, mit viel Verkehr hatte der Fahrer nicht zu kämpfen. Die mitfahrenden Europäer und eine neben mir sitzende amerikanische Familie mit zwei Kindern waren ausnahmslos gut gelaunt. Man konnte es ihnen anhören und ansehen, dass sie noch Neulinge in Indien waren, sie bewunderten jeden Sari, staunten über Frauen und Kinder, die übergroße Lasten auf ihren Köpfen balancierten und machten sich nichts daraus, über einen tollpatschigen armen Teufel zu lachen.

Aber uns allen sollte das Lachen und manchem auch die gute Laune bald vergehen, denn der Bus schraubte sich von Minute zu Minute höher hinauf, und dadurch wurde es immer kälter. Ich konnte immer mehr Leute draußen auf Straßen und Plätzen beobachten, die zitternd vor ihren kleinen Holz- und Kohleöfen saßen und versuchten sich zu wärmen. Nach einer weiteren halben Stunde hieß es plötzlich: »Pause und Tee trinken!«

Der Bus hielt vor einem kleinen Restaurant irgendwo in den Bergen. Da ich Appetit auf einen Tee hatte, stieg ich ebenfalls aus und wollte meinem Empfinden kaum trauen: Es war mittlerweile derart kalt geworden, dass jeder eine große Hauchfahne vor sich hertrug, tief die Hände vergrub und sich vor Kälte schüttelte. Inzwischen war auch die Sonne vom Nebel verhangen, der sich plötzlich eingestellt hatte und nun bis Darjeeling unser ständiger Begleiter war. Ich trank im Restaurant gleich zwei Tees, hatte ich doch das sichere Gefühl, dass es noch viel kälter werden würde. Wir befanden uns hier erst in einer Höhe von rund 1.200 Metern, aber Darjeeling liegt 2.140 Meter hoch!

Vor der Weiterfahrt zog ich mir alles an, was ich bei mir hatte, vor allem schlang ich mir ein paar Mal den Schal um meinen etwas empfindlichen Hals. Nach einer weiteren halben Stunde wickelten sich auch die Amerikaner in mitgebrachte, aber viel zu dünne Mäntel ein, zogen Handschuhe an und rückten näher zusammen. Mir kamen nun doch Bedenken, ob ich mit meinen paar Sachen auskommen würde, zerbrach mir darüber aber noch nicht den Kopf, denn notfalls kann ich ja überall Pullover und warme Unterwäsche kaufen, aber natürlich nicht während der Fahrt, die wegen des dichten Nebels immer gefährlicher und gespenstischer wurde.

Es war zwar noch hell, aber die Sichtweite betrug oft nur zwanzig Meter oder sogar weniger. Sich begegnende Fahrzeuge schienen sich hier zu riechen, denn ich konnte beobachten, dass unser Fahrer auswich, obwohl noch kein Fahrzeug zu sehen war. Erst später bemerkte ich, dass bestimmte Hup- und Blinkzeichen gegeben werden, die ein rechtzeitiges Ausweichen sichern sollten. Und trotzdem gab es Situationen, die mir beinahe den Magen umgedreht hätten.

Der Nebel wurde dichter, die Kälte kroch an den Beinen hoch, draußen ragten hier und da kohlrabenschwarze Baumkronen oder Bäume mit riesigen kreisrunden Blättern aus der grau-weißen Nebelsuppe, dazwischen die gelb-roten Feuerchen der Hiesigen, überall sieht man den Winter, nur fehlt der große Schnee. Die Fahrt ging ständig bergan, eine Serpentine nach der anderen! Ich verlor den Mut, noch an schönes Wetter zu glauben und richtete mich innerlich schon auf ein paar kalte Winter- beziehungsweise Nebeltage ein. Jedem Wetter die guten Seiten abzugewinnen – das sollte auch hier mein Bestreben sein.

Wir waren etwa vier Stunden unterwegs, als der Nebel sich plötzlich lichtete und der Bus sich einem größeren Ort näherte, der an einem Hang zu kleben schien, Darjeeling war erreicht. Inzwischen war es 18 Uhr geworden, und die Dunkelheit nahm Besitz von Darjeeling, den umliegenden Bergen und Tälern. Ich verließ den Bus und spürte, dass meine Beine eiskalt waren, warf meinen Rucksack über die Schulter und begann unverzüglich mit der Hotelsuche.

Ich war entschlossen, hier nicht lange herumzusuchen, denn der Aufenthalt in Darjeeling durfte sowieso nur kurz sein, denn mein eigentliches Ziel war Sikkim, das kleine ehemalige Himalaya-Königreich. Ich war froh, dass es mich doch noch in diese Berggegend verschlagen hatte, denn auch im Winter ist Darjeeling durchaus sehenswert. Ich ging eine Straße hinunter, die ich als Hauptstraße identifiziert hatte und suchte nach einem Hotelschild. In Darjeeling ist das gottseidank kein Problem, aber ich fürchtete, dass es in diesem bekannten Ort nur teure Zimmer geben würde. Linker Hand entzifferte ich den Namen »Timber Lodge«, und ohne zu zögern fragte ich einen in seinem Geschäftchen stehenden eingemummten Mann, wo ich die Rezeption der »Timber Lodge« finden könne. Sein tibetisch hartes Gesicht bekam plötzlich noch mehr Falten als es ohnehin schon hatte, er lächelte breit, neigte sich leicht nach vorne und sagte in gebrochenem Englisch, er sei die Rezeption selbst, er besitze diese Lodge. Ich setzte meinen Rucksack ab, legte meine Hand auf seine Schulter und bekannte aus Deutschland zu kommen, seit Wochen ein geschundener Indienreisender zu sein und dringend ein billiges Zimmer zu benötigen.

Der Gute schaute mich an, als wollte er mir das gar nicht glauben. »Ohne Gruppe hier?« – »Ja, ich reise immer allein, da sehe ich mehr, zum Beispiel die vielen fremden Gesichter, die ich so in aller Ruhe studieren kann.« – »Und bist du hungrig?« – »Ja, auch durstig, aber ich halte viel aus, zunächst brauche ich ein Zimmer!« – Mit diesem Alten hätte ich mich noch eine Stunde lang unterhalten können.

Er nahm seine uralte Petroleumlampe und nickte mir zu: »Ich habe ein Zimmer für dich, aber es kostet sieben Rupien!« – Da wurde ich stutzig und meinte, dass dafür ein Inder, sofern er überhaupt eine Arbeit habe, ja den ganzen Tag von Sonnenaufgang bis -untergang arbeiten müsse. – »Aber du bist kein Inder, du hast also mehr Geld!« – Ich zierte mich und meinte, dass ich auf jede Rupie schaue, weil ich lange unterwegs sei, und im Übrigen halte ich nichts davon, nur weil ich Europäer bin, mehr zahlen zu müssen. »Wenn du nach Deutschland kommen würdest, hättest du genau das Gleiche zu zahlen wie ein Deutscher, nicht mehr, nicht weniger!« – Er dachte nach, ihm schien das einzuleuchten, nannte aber keinen niedrigeren Preis. »Erst mal das Zimmer ansehen!«, womit ich einverstanden war.

Der Alte schloss seinen winzigen Laden ab, in dem er ein paar Süßigkeiten und Tabakwaren verkauft, und bat mich, ihm zu folgen. Links neben dem Haus führt eine ausgetretene baufällige Steintreppe zwischen den Häusern steil den Hang hinauf. Diese Treppe stiegen wir 20 Meter hoch, bogen rechts ab und gelangten zu einem schmalen, mit groben Pflastersteinen bedeckten Weg. Nach weiteren 30 Metern hatten wir ein niedriges Holzhäuschen erreicht, eine der vielen dicht nebeneinander stehenden Buden. Er schloss auf, bog innen ein paar Mal rechts und links ab und schloss nochmals auf. »Hier«, sagte er, »das ist ein Doppelzimmer, es hat Strom, Wasser und eine Toilette mit Waschgelegenheit, willst du es?« – »Ja, aber für 7 Rupien pro Nacht?« Das Zimmer war sauber, aber winzig klein, ringsherum Holz, ein schmales langgestrecktes Fenster mit Gardinchen gab dem Zimmer sogar etwas Gemütliches. Aber es war ungemein kalt hier, der Hauch unseres Atems vernebelte fast den Raum.

Blick über Darjeeling bis zu den Schnee- und Eisriesen des Himalaya.

Inzwischen hatte sich noch ein Einheimischer eingefunden, wer er war, wusste ich zunächst nicht. Aber woher wusste dieser davon, dass ich hier war? Es hatte nämlich das Gästebuch unter dem Arm und bat mich um Eintrag. Ich zögerte und meinte zu dem Alten, dass ich gern 10 Rupien zahlen würde, wenn ich zwei Nächte bleiben könnte. Da hellte sich sein Gesicht auf, und ich wusste, er hatte zugestimmt und würde obendrein noch zufrieden sein. »Aber«, schränkte ich ein, »ich brauche unbedingt noch ein paar Decken – ohne Aufpreis, versteht sich!« Dieser Bitte wurde umgehend entsprochen, ich bekam noch drei weitere Decken. Dann trug ich mich mit Namen, Adresse und Reisepassnummer ins Gästebuch ein, zahlte für zwei Nächte 10 Rupien und verabschiedete mich.

Eingerichtet war ich schnell. Ich legte meine Sachen einfach auf den Tisch und wollte mich gründlich waschen. Wasser war zwar da, aber es war so kalt, dass ich tatsächlich nur kurz Hände und Gesicht abwischen konnte, es war pures Eiswasser! Das Bett war nichts weiter, als eine auf vier Beinen stehende Pritsche und für mich viel zu kurz, wie übrigens die meisten indischen Betten. Aber ich war bereit, mich auch damit abzufinden. Ich legte die Unterlage des zweiten Bettes auch noch auf mein Bett, schichtete sämtliche Decken aufeinander und war schließlich davon überzeugt, heute Nacht trotz Kälte angenehm schlafen zu können.

Darjeeling bei Nacht! Das hört sich zwar etwas abenteuerlich an, aber die Wirklichkeit sieht ganz anders aus, als jetzt mancher Leser vielleicht denken mag. Ich hatte natürlich wieder einmal einen Riesenhunger und steuerte sofort das nächste Restaurant an, einen kleinen Laden in der Nähe meiner Lodge. Auch hier waren Tibeter die Inhaber, alles ganz einfache freundliche Leute. Ich nahm eine Nische in Beschlag und bekam sofort die Speisekarte vorgelegt. Der Hausherr, ein vielleicht 60-jähriger Mann, knochig und schon etwas gebückt, fragte, wo ich herkomme und warum ich im kalten Winter käme. »Weil ich eure schönen Berge sehen möchte, die sind doch während der sommerlichen Monsunzeit ja fast immer verhangen, die Kälte, die nehme ich in Kauf!« – Der Mann und alle anderen Einheimischen, die hier – wenn auch nur spärlich – ein- und ausgingen, waren alle in dicke Wintermäntel gehüllt, trugen weite Schals, die sie sich um Hals und Kopf gewickelt hatten, viele trugen Handschuhe oder Pelzstiefel, aber manche waren auch barfuß, was angesichts der Kälte kaum zu glauben war. Nicht nur, dass die meisten Füße wahrscheinlich nie gewaschen werden, sondern oft sind sie auch noch verkrüppelt, sind voller Schwielen, tiefer Risse und manchmal mit irgendwelchen offenen oder noch geschlossenen Beulen übersät. Hier sah ich Armut, die man hier eigentlich nicht vermuten würde, aber auch Darjeeling ist anders, als man es sich vorstellt.

Nach einem ausgiebigen Reiseessen mit viel Tee drängte es mich nach draußen, ich wollte diesen etwas geheimnisvoll scheinenden Ort unbedingt noch heute Abend durchstreifen. Inzwischen lag wieder Nebel in den Straßen, es war sehr kalt, die Temperatur schätzte ich auf höchstens drei Grad über Null, ich hatte also binnen eines Tages einen Temperaturunterschied von über 30 Grad zu verkraften! Die Hände vergraben, den Schal wie die Einheimischen um Hals und Kopf gewickelt, mit Pullover, Anorak und zwei Oberhemden wagte ich mich ins Getümmel.

Die Stadt schlief nämlich noch lange nicht, es war erst gegen 21 Uhr. Ich ging zunächst in Richtung Bahnhof, den ich bereits vom Bus aus entdeckt hatte. Die mir entgegenkommenden Leute – fast alle tibetanisch aussehend – nahmen mich zwar zur Kenntnis, aber niemand sprach mich an, kein Kind bettelte, oft wurde ich sogar gegrüßt.

Nach wenigen Minuten hatte ich den kleinen Bahnhof erreicht, und wie es das Glück wollte, hörte ich durch den Nebel plötzlich das Fauchen und Pusten des ankommenden Zuges. Ich hatte zwar schon auf der Busfahrt von Bagdogra nach Darjeeling ständig einen überaus schmalen Schienenstrang gesehen, war aber der Meinung, dass es sich um eine Material- beziehungsweise Versorgungsbahn handeln würde. Als jetzt ein Mini-Personenzug einfuhr, dachte ich einen Moment lang, ich sei im Land der Liliputs gelandet. Die Lok dampfte und zischte, als läge sie in ihren letzten Zügen, die beiden anhängenden Personenwagen zuckelten auf den schmalen Schienen, die eine Spurweite von höchstens 60 Zentimetern haben, hin und her, als hätten sie die Absicht, aus den Gleisen springen zu wollen.

Die beiden Waggons waren spärlich, aber ausreichend beleuchtet. Als der Mini-Zug, der hier liebevoll »Toy-Train«, also »Spielzeugzug« genannt wird, zum Stehen kam, stieg nur ein Dutzend Personen aus, mehr nicht. Die Leute hatten sich schnell verlaufen, manche schleppten riesige Bündel, alle waren dick eingewickelt und machten einen fast erfrorenen Eindruck, weil sich nämlich die meisten Fenster entweder nicht schließen lassen, oder weil sie ganz fehlen.

Natürlich warf ich auch einen Blick auf die Lok, die seit sage und schreibe 1878 im Dienst ist. Sie hat kein Führerhaus, sondern lediglich ein breites, mit kräftigen Haltestangen versehenes Trittbrett, auf dem zwei Lokarbeiter hinter Hebeln und Bedienungsrädern stehen und jedem Wetter ausgesetzt sind. Die äußerst kurvenreiche steile Strecke von Shiliguri bis Darjeeling – das sind nur 90 Kilometer – schafft dieser kleine Zug in etwas über 7 Stunden! Ich bedauerte sehr, keine Zeit für eine solche Zugreise gehabt zu haben, vielleicht später einmal – realisiert allerdings erst 1992.

Nun wandte ich mich der sogenannten Innenstadt von Dorjeling, wie Darjeeling einmal hieß, zu, um noch etwas von der jetzt wieder stark vernebelten Abendstimmung mitzubekommen. Aber ich beeilte mich, weil mir die ungewohnte Kälte doch sehr zu schaffen machte. Ich ging jene Straße entlang, die parallel zur Hauptstraße liegt, sie war so gut wie unbeleuchtet, nur hin und wieder erhellten kleine brennende Kohleöfen die Szene. Die Öfen glühten zum Teil und wurden von frierenden Leuten dicht umlagert. Man rieb sich die Hände, bestrich die Gesichter mit den angewärmten Handinnenflächen und viele zitterten fast hörbar.

Auch zu dieser Abendstunde sah ich noch Menschen über die Straße gehen, deren Füße nackt und deren Körper völlig unzureichend bekleidet waren, die mit einem Kopfband gehaltene Lasten schleppten, dabei ächzten und stöhnten und den Anschein erweckten, als würden sie jeden Moment zusammenbrechen. Aber die Menschen hier oben – Kinder wie Alte – sind unglaublich zäh! Es sind meist Gurkhas, die einst aus Ost-Nepal kamen, sie sehen mongolisch oder tibetanisch aus, haben harte Gesichter, sind kleinwüchsig und stämmig. Sie leben in der Regel davon, für andere – meist für Inder – irgendwelche Lasten zu transportieren. Sie scheinen friedlich zu sein, denn die unter Indern üblichen kleinen und großen Streitereien sind hier unbekannt, habe ich jedenfalls nie erlebt.

Im abendlichen Zentrum, das eigentlich nur eine etwas breitere Straße ist, herrschte reges Leben, denn die Basare waren zum größten Teil noch geöffnet. Hier hockten allerdings meist Inder, die – so sieht es aus – den einheimischen Gurkhas so gut wie keine Chance lassen sich geschäftlich zu betätigen. Ohne Zweifel ist es zumindest so, dass die gut gehenden sogenannten besseren Geschäfte – zum Beispiel für Bekleidung, Schmuck und Uhren – in indischen Händen liegen, denn damit lässt sich mit sauberen Händen relativ schnell Geld verdienen. Die miesen Läden, zum Beispiel für Gemüse, Holz und Gewürze, gehören den Einheimischen. Während der indische Geschäftsmann gelackt ist, steht der Gurkha in Lumpen da.

Der kalte Nebel stand zwar noch in den Straßen, aber ein Blick zum Himmel in Richtung Vollmond ließ wieder Hoffnung für besseres Wetter aufkommen, denn der Mond wurde zusehends klarer, ein Zeichen dafür, dass der Nebel heruntergedrückt wurde und sich vielleicht über Nacht sogar alles aufklaren würde. Die Dächer fingen jedoch an im Mondschein zu glitzern, Raureif setzte sich ab, es war also um Null Grad und absolut windstill. Was ich hier erlebte, war nichts weiter als der ganz typische Winter in den indischen Bergen: kalt, neblig, frostig, kurze Tage. Ich nahm mir vor, auch diese Phänomene bewusst zu erleben, ging deshalb zum nächsten Inderladen und erstand eine dicke chinesische Unterhose, die ich dringend benötigte. Ob Einheitsgröße oder nicht, ich war heilfroh, sie zu besitzen.

Über ein paar Treppen, welche die entlang eines Hügels laufenden Straßen Darjeelings miteinander verbinden sowie über die Hauptstraße ging ich vor Kälte klappernd zurück ins Hotel. Hier erwartete mich der freundliche Alte, er winkte mich spontan in sein kleines Geschäft, wo ich auf einer Holzbank Platz nehmen musste, und reichte mir einen heißen Tee. Er sah es mir wohl an, dass ich jetzt dringend etwas Wärme brauchte. Ich war ihm dankbar und bekam das Gefühl, dass dieser Mensch spürte, mit wem er es zu tun hatte, wem er ungebeten seine Hilfe anbieten konnte, ohne die Hand für ein Bakschisch zu öffnen. Gurkhas sind eben keine Inder – beileibe nicht!

Es war gegen 21 Uhr, als ich mich bei dem Alten für die Nacht verabschiedete. Er gab mir noch einen Tipp, zu welcher Zeit man am besten zum Deputy Commissioner geht, bei dem ich hoffte, morgen die endgültige Reiseerlaubnis für Sikkim zu bekommen. Da ich mich unsicher fühlte das zuständige Büro auch rasch genug zu finden, bot er mir seinen Boy an, den er beauftragen würde, mich dorthin zu führen. Ich sagte gern zu und verblieb mit Dank und Gute-Nacht-Wünschen bis morgen.

Mein Zimmer war eiskalt. Ich hatte ja bereits sämtliche Decken aufeinandergeschichtet, aber diese waren feucht und natürlich ebenfalls kalt. Deshalb entschloss ich mich, in voller Kleidung, also mit Anorak, Schal, Pullover, chinesischer Unterhose, Socken und Schuhen die Nacht zu verbringen, sicher ist sicher, dachte ich mir. Ich wickelte mich noch in eine Decke ein, vergrub mich in den Decken- und Lakenhaufen und schlief gottseidank schnell ein. – Dieser Tag, der Sprung von Kalkutta ins Gebirge, war zwar hart, aber ich fühlte mich dennoch wohlauf, blieb zu hoffen, dass ich hier oben alle Unbilden schadlos überstehen würde.

Am Morgen des 24. Januar wachte ich schon gegen sechs Uhr auf, nicht deshalb, weil ich durch ein Geräusch geweckt worden wäre, sondern es war die Kälte, die eines meiner nach draußen geratenen Beine ergriffen hatte. Ich musste deshalb so schnell wie möglich aufstehen und ein paar Minuten lang sportliche Wärmeübungen machen. Ein Blick durchs Fenster genügte und ich wusste, dass das Glück heute mit mir war, denn der Himmel strahlte in reinstem Blau, aber die Erde war weiß. Während der Nacht hatte sich der Nebel gesetzt und war gefroren, alles war daher mit Raureif bedeckt. So schön die Natur heute Morgen auch war, doch die Kälte machte einen Teil der Freude wieder zunichte. In der Toilette, in der auch ein kleines Waschbecken installiert war, herrschte die gleiche Temperatur wie draußen. Das im Becken stehende Wasser war zugefroren, aber aus dem Krahn floss es, doch war es unerträglich kalt, so kalt, dass ich mich nur notdürftig die Augen auswaschen konnte.

Gegen acht Uhr verließ ich meine Lodge und suchte zunächst einmal das selbe Restaurant auf, in dem ich gestern Abend meine Hauptmahlzeit eingenommen hatte. Die Inhaberfamilie war längst auf den Beinen, Vater und Sohn bedienten, Mutter und Tochter standen in der von meinem Platz aus einsehbaren Küche und bereiteten Tees, gebackene Eier und Reis zu. Alles wurde am offenen Feuer gekocht und gebraten, die Küche hatte weder Fenster noch elektrisches Licht, eine zusätzliche Lichtquelle war nur eine neben der Feuerstelle hängende Petroleumlampe.

Die Gäste waren heute Morgen nur Einheimische, die hereinkamen, um heiße Tees zu trinken und dazu etwas Brot zu knabbern, mehr konnten sie sich nicht leisten, keiner bestellte sich ein gebackenes Ei! Nur gut, dass ich in einer Nische saß und man nicht sehen konnte, dass ich gleich drei gebackene Eier und frischen Toast bestellt hatte.

Da ich wegen der Kälte nicht lange sitzen bleiben durfte, beeilte ich mich mit dem Frühstück und war schon nach einer halben Stunde wieder draußen, denn ich brauchte Bewegung. Zunächst ging ich wieder in Richtung Bahnhof, denn von hier aus hoffte ich, einen schönen Blick auf die Schnee- und Eisriesen des Himalaya zu bekommen. Aber im Tal und auf der gegenüberliegenden Seite stand noch der Nebel, der mir die Sicht versperrte. Das Wetter sah aber gut aus, und ich hatte berechtigte Hoffnung, im Laufe des Tages den klassischen Gebirgsblick doch noch zu bekommen.

Wieder benutzte ich die Hauptstraße, die ich gestern Abend nur bei fast völliger Dunkelheit kennengelernt hatte. Die Leute froren nicht weniger als gestern und versuchten – wenn irgend möglich – sich in der Nähe brennender Kohleöfen aufzuhalten. Beachtlich ist die Sauberkeit in den Straßen, die sich doch erheblich von jener der übrigen Städte Indiens unterscheidet. So einfach und primitiv es hier auch zugehen mag, aber im Dreck wollen diese Leute offensichtlich nicht ersticken.

Entlang eines Rangiergleises der »Toy-Train«, das mal rechts, mal links der Straße verläuft und völlig ungesichert ist, erreichte ich wieder das Zentrum, wo zu dieser Zeit schon allerhand los war, denn hier befindet sich auch der Busbahnhof und gleich gegenüber die Wartestelle für die zahlreichen Miet-Jeeps, die man für relativ viel Geld mit Fahrer bekommen kann. Natürlich wurde ich sofort von Jeep-Fahrern gefragt, ob ich nicht die eine oder andere Tour machen wollte, aber man bedrängte mich nicht, sondern akzeptierte auf Anhieb mein bedauerndes Kopfschütteln.

Zufällig fiel mir ein Schild in die Augen, auf dem ich zu meinem Erstaunen lesen konnte, dass es von hier eine tägliche Busverbindung nach Kathmandu gibt. Ich konnte das kaum glauben, denn wie sollte dieser Bus fahren? Ich kombinierte, dass er eigentlich nur durch Indien kurven kann, erfuhr jedoch, dass seit wenigen Monaten die von den Chinesen gebaute Straße von der äußersten Ostgrenze Nepals bis zur Anschlussstelle Hitaura (dieser Ort liegt an der Straße Raxaul – Kathmandu) für den Durchgangsverkehr frei sei, erschrak jedoch ein bisschen als ich hörte, dass der Bus volle zwei Tage unterwegs sein würde. Dennoch spielte ich mit dem Gedanken, meinen ursprünglichen Plan aufzugeben, von hier aus per Eisenbahn und Flugzeug Kathmandu zu erreichen, zeitlich würde das mein Reisekonzept voraussichtlich nicht durcheinander bringen.

Plötzlich riss der Himmel vollends auf, die noch tiefstehende Sonne strahlte die Himalayariesen an, dass mir das Herz zu hüpfen begann, denn der Anblick war grandios! Ich beeilte mich, rasch wieder in die Nähe des Bahnhofs zu kommen, denn dort befindet sich eine bunt bemalte buddhistische Kultstätte, die mir einen phantastischen Vordergrund zum Fotografieren garantierte. Die kleine mehrstöckige Goldkuppel dieses Tempels strahlte in der Morgensonne, das Rot des Daches und die Ockerfarben der Außenwände waren genau jene Farben, die ich mir für meine Dias gewünscht hatte.

Zurück zum Zentrum. Inzwischen hatte ich entschieden, die etwas umständliche Zug- und Flugreise von hier aus nach Kathmandu zu streichen und stattdessen den Bus zu nehmen, erfuhr jedoch, dass der Bus nicht von hier, sondern von Shiliguri aus fährt, doch sei der Buspreis von 62 Rupien ein Inklusivpreis beziehungsweise der Preis von Darjeeling bis Kathmandu. Ich wollte buchen, wurde an irgendein Reisebüro verwiesen, da internationale Tickets nicht überall verkauft werden dürfen. Auf meine bange Frage, ob denn immer genügend Plätze vorhanden seien, sagte man mir, dass ein paar Tage vor Abreise immer die Chance bestehe, noch einen Sitz zu bekommen.

Ins historische Königreich Sikkim

Nun hieß es für mich genau zu planen, denn der Grund meines hiesigen Aufenthalts war ja schließlich Sikkim, ich musste also für einen ganz bestimmten Tag nach der Sikkim-Tour für Kathmandu buchen, was voraussetzte, dass ich die Termine für das ehemalig Himalaya-Königreich exakt einhalten musste. Die Sache stellte ich mir nicht ganz einfach vor, glaubte jedoch an die Durchführbarkeit.

Zunächst musste ich mich aber um die Sikkim-Reise kümmern. Ich ging zurück zur Lodge, wo ich – wie gestern vereinbart – um 9 Uhr den Boy erwartete, aber ich wurde enttäuscht, denn wer nicht kam, war der Boy. Ich wollte den Alten sprechen, aber der war auch nicht da, und seine Frau, die jetzt im Geschäft saß, sprach keine Silbe Englisch. Ich tippte darauf, dass ihm irgendetwas dazwischengekommen sein musste, denn zur unzuverlässigen Sorte zählte ich den Alten eigentlich nicht. Also machte ich mich allein auf, den Deputy Commissioner zu finden.

Nach einigem Herumfragen wusste ich, wo ich ihn zu suchen hatte. Ich ging in nördliche Richtung durch ganz Darjeeling und erreichte die Dienststelle nach einer halben Stunde. Mit meinem Brief aus Delhi in der Hand wurde ich zunächst von einer Stelle zur anderen geschickt, wie sich das für eine ordentliche Behörde gehört, bis ich endlich in einem Büro landete, das sich für zuständig erklärte.

Mein Gott, was für ein Büro! Die Dienststellenleiterin, eine mürrische Frau im abgetragenen Sari, würdigte mich keines Blickes, sondern streckte nur ihre Hand aus, um mein Papier zu greifen. Sie las und begann, nervös und unlustig in einem riesigen Papierhaufen zu wühlen, um die amtliche Mitteilung aus Delhi zu finden dass ich nach Sikkim durfte. Also reichte mein Brief tatsächlich nicht aus, es war mithin doch sehr notwendig nach Darjeeling gefahren zu sein. Sie ließ sich jetzt ihre klapprige Schreibmaschine von einem stets sprungbereiten eifrigen Sekretär zur Seite schieben und warf den Papierhaufen vor sich hin. Ich durfte derweil vor einem offenen Kaminfeuer Platz nehmen und mich wärmen.

Hier saßen schon zwei Schweizer, die ebenfalls nach Sikkim wollten und genauso sehnsüchtig wie ich darauf warteten, dass die gnädige Frau ihnen endlich das Permit ausstellen würde. Die beiden hatten Glück, die sie betreffende Mitteilung aus Delhi wurde gefunden, aber meine nicht! Ich sah die Sikkim-Tour schon ins Wasser fallen und bat darum, selbst den Papierstoß durchblättern zu dürfen, denn ich hatte beobachtet, dass die Frau Beamtin nur oberflächlich in dem Haufen herumstocherte. Der junge Sekretär transportierte den ganzen Papierstapel zu einem anderen Tisch und ich durfte nun selbst suchen. Schon nach den ersten zehn Seiten wurde ich von der Gestrengen darauf aufmerksam gemacht, dass die Blätter nur mit trockenem Zeigefinger umgelegt werden dürften! Ich schüttelte innerlich mit dem Kopf, richtete mich natürlich nach ihrer unmissverständlichen Anweisung, weil ich spürte, dass meine Sikkim-Tour mehr oder weniger von ihrem Wohlwollen abhängen würde. Die beiden Schweizer, die dann schnell im Besitz des begehrten Permits waren, verabschiedeten sich und gaben mir noch den Rat, schnellstmöglich den Bus nach Gangtok zu buchen, da dies eine weitere Voraussetzung für das Permit sei.

Ich suchte und suchte, doch der Haufen wollte kein Ende nehmen! Die mich betreffende amtliche Mitteilung musste sich aber hier befinden, denn ich hatte schon von München aus alles erledigt, hatte zig Formulare ausgefüllt, Passbilder nach Delhi geschickt und die geforderte Erklärung abgegeben, dass ich nur zu touristischen Zwecken reisen wolle. Endlich, nach einer Stunde blättern las ich meinen Namen, er strahlte, ja lachte mich an und die Reisedaten stimmten sogar, aber – das merkte die Beamtin sofort – es fehlten die Passdaten, die ich mit absoluter Sicherheit in den Formularen angegeben hatte. Sie runzelte die Stirn und schüttelte schließlich mit dem Kopf: »Ohne Passdaten aus Delhi keine Einreise nach Sikkim!« Ich war sauer, setzte aber, obwohl es mir schwerfiel, mein Sonntagsgesicht auf und schwor ihr, dass ich jede Kleinigkeit peinlichst genau angegeben hätte, und dann geschah das Wunder: Sie zückte ihren Kuli und trug per Hand meine Passdaten in die amtliche Mitteilung aus Delhi nach.

Nun klärte sie mich darüber auf, dass ich zunächst den Bus nach Gangtok buchen müsse, wo, das wusste sie angeblich aber nicht. Also zurück in das Zentrum und Durchfragen zu einem Reisebüro. Dieses befand sich in der Nähe meiner Lodge, hatte aber geschlossen. Warten und frieren, eine Stunde lang! Als der Bedienstete endlich erschien, hörte ich von ihm, dass kein Reisebüro Bustickets nach Gangtok verkaufe, sondern beziehen könne man es nur beim Reiseunternehmen selbst. Durchfragen zum Sikkim-Busunternehmen, das ich zwar schnell fand, aber es war geschlossen. Gegenüber von diesem Büro sprach ich einen Geschäftsinhaber an, der meiner Meinung nach wissen musste, wann geöffnet wird. Er wusste es auch, der Besitzer käme immer so gegen 12 Uhr, jetzt war es erst 11 Uhr. Aber er wusste angeblich auch, dass der Sikkim-Bus für die nächsten Tage längst ausgebucht sei, ich bräuchte gar nicht zu warten.

Nun sank bei mir jede Hoffnung, es schien alles umsonst gewesen zu sein – Darjeeling und die ganze Antragstellerei hätte ich mir wohl sparen können! Und dennoch war ich entschlossen, mir die Absage vom Besitzer persönlich geben zu lassen, notfalls wäre ich sogar bereit gewesen, sieben Stunden bis Gangtok zu stehen. Nervös ging ich hin und her, lief mich warm, sah immer wieder rüber zum 8.579 Meter hohen Kanchenjunga, der jetzt in heller Sonne stand und glasklar zu sehen war, aber die Wartestunde wollte ewig nicht vergehen. Ich versuchte es deshalb schon um halb 12 und hatte tatsächlich Glück, denn just in diesem Moment wurde vom Besitzer das Garagentor aufgeschlossen.

Mit großer Vorsicht begann ich meine Story zu erzählen, dass ich extra hierhergekommen sei, um nach Sikkim zu gelangen, dass ich die Sondergenehmigung der Regierung hätte und so weiter. Er sah mich an, und ich erwartete ein Kopfschütteln: »Sorry, alles längst ausgebucht, erst in zwei Wochen wieder!« Aber was er sagte, lautete in Wirklichkeit ganz anders: »Ja selbstverständlich ist noch Platz für dich da, auch für morgen früh!« Ich wagte meinen Ohren nicht zu trauen, aber es stimmte. Er kramte seinen Ticketblock heraus, notierte Name, Sitznummer, Preis und Reisedatum, kassierte 20 Rupien und 50 Paisa, übergab mir noch einen kleinen Prospekt über Gangtok und ließ mich dann ziehen. Ich hörte einen Felsbrocken von mir fallen!

In Hochstimmung und die Kälte fast vergessend ging ich zurück zur Dienststelle des Deputy Commissioner und zeigte der Beamtin stolz mein Busticket. Jetzt war endlich alles klar, sie ließ sich die Schreibmaschine wieder zurechtrücken, spannte ein ellenlanges zigfaches Formular ein und tippte meine Daten. Nachdem sie den »Entwurf« fein säuberlich in eine amtliche Mappe gelegt hatte, schickte sie ihren Sekretär zur Unterschrift weg, ich durfte mich zwischendurch wieder am offenen Kamin wärmen. Gottseidank dauerte es diesmal keine Ewigkeit, bis der junge Mann mit dem vom Deputy Commissioner persönlich unterschriebenen Permit zurückkam. Ich hatte also einen wichtigen Gang durch Indiens eigengesetzliche Bürokratie gewonnen!

Nun ging’s mir darum, das Flugticket Patna – Kathmandu, das ich nicht nutzen wollte, weil ich mich für den Bus entschieden hatte, zu Geld zu machen, doch hatte ich kaum eine Hoffnung, dass mir das hier in diesem kleinen Darjeeling gelingen würde. Doch da täuschte ich mich, denn tatsächlich war die Indian Airline hier mit einem Büro vertreten, obwohl der Flugplatz einige Busstunden entfernt bei Shiliguri liegt. Der Bürobedienstete, offensichtlich der einzige im Airline-Office, wollte mich zunächst abwimmeln und meinte, ich solle doch mein Ticket in Agra oder Bombay einlösen und nicht in dieser kleinen Nebenstelle. Da wusste ich, dass das grundsätzlich geht, erklärte meine Situation und sagte, dass ich mir von diesem Geld das Busticket nach Kathmandu kaufen müsse. Er sah mich an, dachte wohl, ich sei ein verausgabter armer Teufel, der sein Flugticket gegen ein viel preiswerteres Busticket einwechseln muss und stimmte schließlich der gewünschten Rückgabe zu. Im Nu hatte er eine Quittung ausgestellt, die ich über eine Gebührenmarke hinweg unterschreiben musste, ich bekam 214 Rupien, die das Ticket gekostet hatte, zurück und verließ als erfolgreicher Mann das Büro der Indian Airline in Darjeeling.

Mittlerweile war es 14 Uhr geworden, und ich entdeckte zu dieser Zeit ein im Schatten hängendes Außenthermometer: Ganze fünf Grad über Null war es. Daneben hatte ein Fotograf in seinem Schaufenster zwanzig Winterfotos von Darjeeling ausgestellt, auf denen meterhoher Schnee zu sehen war. Angesichts dieser Bilder konnte ich mit meinem Wetter ja noch sehr zufrieden sein!

Ich fand irgendwo in den Straßen Darjeelings ein sonniges windgeschütztes Plätzchen, wo ich mich wieder etwas aufwärmen konnte. An mir zogen Menschen vorüber, die überwiegend völlig verarmt waren. Oft trugen sie trotz dieser Kälte keine Schuhe und wenn, dann waren sie ausgetreten, durchlöchert und schmutzig. Ich sah einen alten Mann, der barfuß lief und dessen linker verkrüppelter Fuß nur die Funktion einer Stütze hatte. Er trug einen weiten Umhang, darunter nur Lumpen. Das unterm Umhang mitlaufende vielleicht fünfjährige kleine Mädchen ging ebenfalls barfuß, war hoffnungslos verschnupft, aber es lachte. Auch der Mann war guter Dinge, er sang und pfiff, als hätte er heute einen Glückstag erwischt. Auch die übrigen an mir vorbeiziehenden Leute machten absolut nicht den Eindruck, als würden sie unter ihrer bitteren Armut leiden, fast alle lächelten mir zu oder nickten mit dem Kopf. Sie schleppten Sand, Steine, Holz, Früchte, Reisgebinde und Bretter, das sind Lasten, die enorm sind. Wie leidensfähig und dennoch guter Dinge die Gurkhas doch sind!

Ich saß bis zirka 17 Uhr in der Sonne, die im Winter bereits zu dieser Zeit hinter den Bergen verschwindet. Im Nu wurde es kalt, für mich höchste Zeit, zurück in mein Restaurant zu gehen. Dort ist es zwar nicht viel wärmer, aber dennoch etwas angenehmer. Auf dem Weg dorthin liegt ein anderes Reisebüro, wo ich versuchte, das Bus-Ticket nach Kathmandu zu erstehen, aber da war nichts zu machen. Ich musste es also darauf ankommen lassen, nach meiner Rückkehr aus Sikkim sofort das Ticket zu bekommen – oder auch nicht.

Ich genehmigte mir eine gute indische Mahlzeit, das Essen schmeckte, ich wurde bestens gesättigt. In der Nachbarkabine hatten sich ein paar verwöhnte junge Amis mit Begleiterinnen niedergelassen, die unentwegt auf die hiesigen Zustände schimpften. Nichts war ihnen recht, auch das Essen passte ihnen nicht. Ich fragte mich, was die eigentlich in Indien zu suchen hatten.

Der Alte hockte in seinem Geschäftchen und sprang blitzschnell auf, als er mich kommen sah und drückte mir entschuldigend die Hand und jammerte, sein Boy habe sich leider verspätet, so dass er mich deshalb nicht hätte begleiten können. Ich sah es seinem Gesicht an, das es ihm wirklich leid tat. Als ich ihm berichtete, dass ich dennoch heute alles zur Zufriedenheit hatte regeln können, war er sichtlich erleichtert und bot mir sogleich einen frischen Tee an.

Gegen 21 Uhr zog ich mich auf mein Zimmer zurück, führte mir noch den kleinen Prospekt über Gangtok zu Gemüte und wickelte mich dann wieder in Decken ein, denn ich wusste ja mittlerweile, mit welcher Kälte man es nachts hier zu tun hat. Draußen lag die Temperatur wieder bei null Grad, doch war der Nebel bei weitem nicht so dicht wie gestern, womöglich wird es deshalb heute Nacht noch kälter.

Heute, am 25. Februar, wollte ich also die Reise nach Sikkim antreten, eine Reise, auf die ich mich ja schon in München vorbereitet hatte und mich deshalb in einer gewissen Spannung befand. Ich wachte kurz vor fünf Uhr morgens auf, sah noch hellen Vollmondschein, der den Reif auf den Dächern, Sträuchern und Bäumen zu einem glitzernden Überguss verwandelte und mich daran hinderte sogleich aufstehen zu müssen. Ich dachte noch etwas über alles bisher Gesehene und Erlebte nach und stellte wieder einmal fest, dass ich nicht nur meinen Reiseplan eingehalten und teilweise sogar übererfüllt hatte, auch vom Reiseinhalt her gesehen war der bisherige Verlauf ein erfreulicher Erfolg. Wenn das so weitergehen würde, könnte es für mich später sogar schwierig werden, die ganze Erlebnisfülle zu verarbeiten.

Nun hatte ich Sikkim vor mir, ein Himalaya-Ländchen von ganzen 7.107 Quadratkilometern und einer Einwohnerzahl von zirka 200.000. Sikkim – oder auch Denjong genannt – ist ein ehemaliges Königreich, das heute zum indischen Bundesstaat gehört. Zunächst wurde es 1950 zum Protektorat Indiens erklärt und 1974 von Indien annektiert. Die Geschichte dieses Landes, das hauptsächlich von tibetischen und nepalesischen Stämmen bewohnt wird, lässt sich offensichtlich nicht sehr weit zurückverfolgen, jedenfalls wurde der erste Herrscher über Sikkim erst 1642 gekrönt. Es war König Phuntsog Namgyal, dessen Familie aus Phari in Nepal stammte. Ob damit aber die tatsächliche Geschichte des Landes beginnt, ist nicht geklärt.

Die strategisch wichtige Lage Sikkims, eingekeilt zwischen China, Bhutan, Indien und Nepal, brachte es mit sich, dass es oft von mehreren Seiten angegriffen wurde. Auch blieben den Sikkimesen kriegerische Auseinandersetzungen mit den Briten im Süden, die Darjeeling besetzt hatten und dann noch weiter ausholten, nicht erspart. So sehr sich das Land auch wehrte, um selbständig beziehungsweise unabhängig zu bleiben – es war letztlich doch zu schwach, sich gegen die Übermächte zu behaupten. So hatte Sikkims letzter König bis zu seiner endgültigen Abdankung 1975 nur noch eine machtlose repräsentative Position inne. Heute ist Sikkim – zumindest die Hauptstadt Gangtok – eine indische Militärfestung. Sikkim wurde, so sehe ich das, von der indischen Armee besetzt und wahrscheinlich ein für allemal in seiner eigenständigen Existenz ausgelöscht. Hätte aber Indien militärisch nicht derart massiv eingegriffen, wäre Sikkim – und übrigens auch Bhutan – heute mit Sicherheit ein Stückchen Rot-China.

Der Bus sollte fahrplanmäßig um acht Uhr abfahren, ich hatte also noch viel Zeit. Nach dem Frühstück, das ich wieder in meinem Restaurant einnahm, wo ich schon bekannt war und immer freundlich begrüßt wurde, ging ich wieder zum Bahnhof, in dessen unmittelbarer Nähe sich an einem Hang eine kleine katholische Kirche befindet. Es war St. Columpax, der ich an diesem frühen kalten Morgen – gerade erst ging die Sonne auf – einen Besuch abstattete.

Das Innere der Kirche ist einfach, aber sehenswert. Der Fußboden besteht aus grob geschnittenen Holzbohlen, die Bänke sind ebenfalls aus derbem Holz, in der Mitte des Ganges steht ein riesiger Kanonenofen. Alles – der Wandschmuck, die Fenster, Türen und der Altar – ist solide, aber keinesfalls primitiv. Ich setzte mich in eine der Bänke, war allein und konzentrierte mich auf den heutigen Tag.

Kurz vor acht Uhr war ich am Sikkim-Bus, einem sogenannten Minibus, der die Aufschrift »Sikkim Transport Corp.« trug. Also handelte es sich offensichtlich um eine landeseigene Gesellschaft, die den Liniendienst zwischen Darjeeling und Gangtok durchführt. Der Bus wurde mit Gepäck hoch beladen, das jedoch nur zum Teil der einzigen mitfahrenden sikkimesischen Familie gehörte, der Großteil der Ladung war Frachtgut für Gangtok. Außer dieser Familie – Eltern und zwei kleine Kinder – stiegen zu meiner Überraschung keine weiteren Passagiere zu. Die mir gegebene Auskunft, die von einem Inder stammte, der Sikkim-Bus sei schon für Tage ausgebucht, war also völlig falsch. Gelogene Auskünfte gehören in Indien zur Normalität – jedenfalls meistens. Vorsicht!

Wie nicht anders zu erwarten war, startete der Bus erst gegen neun Uhr, mithin mit einer Stunde Verspätung. Das Wetter war herrlich, die Sonne strahlte, und allmählich wurde es auch etwas wärmer. – Die Fahrt war sehr langsam. Sie ging zunächst über eine extrem schmale Straße, die sich in unzähligen Haarnadelkurven talwärts schlängelte. Nun wurde es von Minute zu Minute wärmer, eine Wohltat für mich, der ich total durchfroren war. Landschaftlich kam ich voll auf meine Kosten, denn die Hangstraße führte durch wilde Täler und dichte Urwälder, immer wieder war der Blick frei hinüber zum alles beherrschenden Kanchenjunga, dem dritthöchsten Berg der Welt.

Der Bus hielt oft auch auf freier Strecke, es stiegen Leute zu oder verließen den Bus. Streckenweise war das Minifahrzeug völlig überfüllt, ein Zustand, mit dem ich angesichts dieser schmalen Straße und der tiefen Abgründe nicht einverstanden sein konnte, aber was sollte ich dagegen machen?! An Bord befanden sich übrigens keine weiteren Touristen, ich war also der einzige. Die organisierten Sikkim-Reisegruppen benutzen stets teuer gemietete Jeeps.

Über zwei Stunden lang fuhr der Bus nur abwärts, eine Tatsache, die mir insofern zu denken gab, als der Bus natürlich irgendwann mal wieder hinauf musste, um in das 2.000 Meter hoch gelegene Gangtok zu gelangen, eine Tour also, die viel Zeit kosten und überdies nicht ganz ungefährlich sein würde. Gegen elf Uhr war die Talsohle der Tista erreicht, hier herrschte wieder eine angenehm warme Temperatur.

Kurz vor einer Brücke hielt der Bus und ich musste aussteigen, um mich beim Check Point zu melden. Ich reichte dem Offizier, der in einer Holzbude saß und offensichtlich nur Ausländer zu kontrollieren hatte, mein Permit und den Pass. Sämtliche persönlichen Daten und die des Permits wurden in ein dickes Buch eingetragen, der Offizier stempelte mir das Permit auf der Rückseite ab und setzt sein Handzeichen dazu, es war alles okay und weiter ging’s gen Sikkim.

Unglücklicherweise hatte der nur durch mich verursachte Aufenthalt – ich war ja der einzige zu kontrollierende Ausländer – zur Folge, dass inzwischen eine lange Militärfahrzeugkolonne eingetroffen war, der selbstverständlich die Vorfahrt eingeräumt wurde, so dass unser Bus lange Zeit warten musste. Gegen 12 Uhr ging’s dann weiter, der Bus querte die Behelfsbrücke (die ursprüngliche Brücke lag gesprengt daneben) und setzte die Fahrt auf der gegenüberliegenden Flussseite in nördliche Richtung fort. Hier las ich ein Schild: »62 Kilometer bis Gangtok«, also für hiesige Verhältnisse noch ein langer Riemen!

Nach ein paar Kilometern hatten wir einen weiteren Posten erreicht, wieder musste ich aussteigen und mit Permit und Pass zu einem Offizier gehen. Hier erfuhr ich, dass es sich um den eigentlichen Grenzposten handelt, worauf ich darum bat, mir einen Stempel in den Pass zu drücken. Dieser bescheidenen Bitte kam der Uniformierte gern nach, so dass ich heute stolzer Besitzer eines Einreisestempels nach Sikkim bin.

Ein paar Fahrminuten hinter dem Grenzposten hielt der Bus abermals, und wieder hatte ich den Bus zu verlassen, es war ein Spießrutenlaufen. Diesmal wurde ich jedoch sofort von drei bewaffneten Soldaten in Empfang genommen, die mir zu verstehen gaben, dass ich ihnen zu folgen hätte. Innerlich schüttelte ich bereits mit dem Kopf und begann zu befürchten, in Gangtok keinen freien Schritt tun zu dürfen. Ich wurde in ein Polizeigebäude geführt, wo mich in der 1. Etage ein weiterer Offizier erwartete. Aber auch diese Kontrolle bestand lediglich darin, alle möglichen persönlichen Daten und Permit-Aktenzeichen in ein Buch einzutragen. Ich wurde lediglich befragt, ob ich tatsächlich nur Tourist sei. Als ich das mit Bestimmtheit bejahte, wünschte mir der Offizier mit Handschlag gute Weiterreise und einen angenehmen Aufenthalt in Gangtok.

Die Straße wurde zwar besser, aber sie war immer noch im Bau. Überall hockten Frauen und Kinder in Gruppen an Straßenrändern und klopften unentwegt Steine klein, eine stupide zermürbende Arbeit, die von den Leuten aber bestimmt gern ausgeführt wird. Jobs dieser Art sind selten, und wer das Glück hat, Steine klein klopfen zu dürfen, tut dies mit Hingabe. Das erkennt man daran, dass das zerkleinerte Material fein säuberlich nach Größe sortiert und dann exakt zu separaten Häufchen aufgetürmt wird – beinahe liebevoll!

Die Straße, die noch vor wenigen Jahren nur ein Saumpfad war, schraubte sich erwartungsgemäß bald wieder in Steilkurven nach oben. Sie führt durch dicht bewaldetes Bergland und folgt stets dem Tal der Tista. Der Fluss selbst lag bald weit unter uns und war wenig später gar nicht mehr zu sehen. Jetzt wurde es wieder schnell kälter, ich zog mir den Pullover und den Anorak an und wickelte mir den Schal doppelt um den Hals. Nur gut, dass das Wetter heute kaiserlich war, denn diese Bustour bei dichtem Nebel wäre lebensgefährlich gewesen, zumal es Straßenstücke gab, die meterweise abgesackt, aber nicht gesichert waren.

Nach einer Fahrt von drei Stunden, die nur durch eine kurze Teepause an einem kleinen Restaurant unterbrochen wurde, erreichte der Bus gegen 15 Uhr das 1.731 Meter hoch gelegene Gangtok. Zunächst war ich fast der Meinung, wieder in Darjeeling zu sein, denn die äußerliche Ähnlichkeit ist verblüffend – zumindest auf den ersten Blick. Auch Gangtok liegt nämlich größtenteils an einem riesigen Hang, und die Straßen verlaufen in Hangrichtung alle parallel zueinander, und auch hier sind die Straßen zum Teil mit Treppen untereinander verbunden.

Unser Vehikel rangierte in den Hof eines mickrigen Busbahnhofes, wo sich jedoch überwiegend Miet-Jeeps befanden. Draußen war es wieder frisch, jedoch werden hier die tiefen Temperaturen Darjeelings nicht erreicht. Aber es war unangenehm windig, ich musste vor allem meinen Hals fest umwickeln. Den Ticketschalter hatte ich schnell entdeckt, so dass ich für den 27. Januar meine Rückreise nach Darjeeling buchen konnte.

Noch auf dem Busgelände wurde ich von einem jungen Mann angeredet, der mir für 10 Rupien ein Hotelzimmer anbot. Da gab es für mich kein langes Überlegen und Herumhandeln mehr, ich ging mit, denn hier wollte ich jede Stunde voll nutzen, war doch mein Aufenthalt auf nur zwei Nächte beschränkt. Der junge Mann führte mich zum Hotel Orchid, das direkt an der vom Tal heraufführenden Hauptstraße liegt, weshalb mir Bedenken kamen, denn die Straße wurde stark von schweren Lastwagen befahren, die Baumaterialien nach Gangtok brachten. Ich sagte zu, denn ich rechnete damit, dass der Verkehr nachts mehr oder weniger ruhen würde. Die Buchung eines Einzelzimmers für zwei Nächte war eine Sache von nur wenigen Minuten, ich erhielt den Schlüssel und wurde zum Zimmer geführt. Sehr angenehm war ich von der Sauberkeit des Raumes sowie der des mit einem frischen Laken überzogenen Bettes überrascht. Dass das Bett wieder keine Federmatratze hatte, nahm ich viel zu gern zur Kenntnis, denn ich war harte indische Betten ja leider schon gewöhnt.

Mein nächster Weg führte zur Post, wo ich mir Zeit nehmen musste ein paar Postkarten zu schreiben. Im Postamt geht es primitiv zu, die meisten Leute können weder lesen noch schreiben, lassen sich helfen und haben Schwierigkeiten mit den Briefmarken. Einer alten Frau half ich ein paar Briefmarken zu kaufen, denn sie kam mit dieser »modernen Einrichtung« nicht zurecht, sie war wohl, wie ich vermutete, bloß zum Einkaufen geschickt worden, konnte aber den Zettel, den man ihr mitgegeben hatte, nicht lesen, ich aber auch nicht, weil sikkimesisch!

Das Zentrum Gangtoks ist der Große Basar, an den sich – wenn man ein Nadelöhr passiert hat – der Kleine Basar anschließt. Im Großen Basar – einer breiten zweihundert Meter langen Straße – spielt sich das Leben Gangtoks ab, einfach bis primitiv. Beherrscht wird der Basar von Militärjeeps und -lastwagen, die in der Straßenmitte geparkt sind sowie von indischen Uniformen, die sich diensttuend mit Fahrzeugen befassen oder außer Dienst ihre Einkäufe erledigen.

Die Einheimischen dagegen treten in den Hintergrund, sie hocken an Straßenrändern und warten auf Aufträge zum Schleppen irgendwelcher Güter, oder sie stehen sonstwie nutzlos herum und rauchen, trinken, diskutieren. Der in Sikkim hergestellte Alkohol wird hier in Gangtok im Gegensatz zu Indien in mehreren Läden frei verkauft, eine fatale Sache, denn ich habe oft beobachten können, wie arme Teufel ihre paar verdienten Rupien in Alkohol umsetzten. Aber auch für die hier praktisch als Besatzer eingesetzten Inder dürften sich durch den freien Alkoholverkauf so manche Probleme ergeben.

Das Zentrum wird von einer fast surrealistischen Statue des Mahatma Gandhi beherrscht, die zwar mit frischen Blumen geschmückt ist, aber im Vorbeigehen von niemanden mehr zur Kenntnis genommen wird. Ich habe das Gefühl, als sei in Gangtok eine Gandhi-Statue ebenso deplatziert, wie eine Lenin-Statue in Ost-Berlin, die dort ja auch niemand mehr sehen will. Stünde jedoch die Gandhi-Statue nicht hier, würde eine Mao-Statue den Platz zieren – das ist sicher.

In der Platzmitte fiel mir eine Herberge ins Auge: das Green Hotel. Ich fragte nach dem Zimmerpreis und erfuhr, dass auch hier 10 Rupien für eine Nacht fällig wären. Also ließ ich es bei der Buchung im Orchid. Da ich einen riesen Hunger bekommen hatte, entschloss ich mich hier zu bleiben, denn ich entdeckte eine englischsprachige Speisekarte, die aussagte, dass allerlei gute Gerichte im Angebot waren. Aber es war nichts Sikkimesisches zu entdecken, wahrscheinlich gibt es das gar nicht. So ließ ich mir das übliche indische Essen bringen: Reis, Currysauce, Gemüse, Fleisch, Limonade und Wasser.

Bereits gegen 17 Uhr ging hier die Sonne unter, es wurde fast schlagartig kalt. Die im Restaurant das Kommando führende Einheimische – eine sich ständig vor Gästen verneigende Frau – ließ das Kohlenfeuer in einer auf dem Boden stehenden 70 Zentimeter breiten Eisenschüssel schüren und sie hängte zusätzlich noch eine Petroleumlampe an die Wand, die heller strahlte, als die 15er Birne über ihrer Theke. Sie kassierte, wechselte Geld, verkaufte Rauchwaren und addierte Gästerechnungen auf. In den Türrahmen stellte sich ein Schlepper, der anscheinend noch nie einen herumreisenden Europäer gesehen hatte. Er studierte mich genau, wurde jedoch von der Frau wieder verjagt. Nach dem Essen, das gut und ausreichend war, hockte ich mich vor das offene Kohlefeuer und wärmte mich wieder auf.

Bemerkenswert, dass hier der Besucher weder auf der Straße noch im Hotel oder Restaurant von irgendwelchen Leuten angeredet wird, obwohl Europäer äußerst selten sind – oder vielleicht gerade deshalb? Während meines Aufenthalts in Gangtok bekam ich nicht ein einziges Bleichgesicht zu sehen, ich schien zurzeit tatsächlich der einzige Weiße gewesen zu sein.

Und noch etwas fiel mir auf, wer kann’s einem verdenken: Die jungen Sikkimesinnen sind ausgesprochen hübsch, die bunten Seidensaris stehen ihnen ausgezeichnet, aber sie sind ungewöhnlich klein. Sie trifft man nie allein an, sondern sie befinden sich stets in Begleitung etwa Gleichaltriger. Sie haben ein heiteres Wesen, von dem sich die männlichen Altersgenossen eine Scheibe abschneiden sollten! Schöneres und Angenehmeres als diese Grazien gibt es in Gangtok leider nicht mehr zu sehen.

Dass ich mich völlig frei bewegen konnte, war erfreulich, denn ich hatte aufgrund der dreifachen Kontrollen befürchtet, dass man hier keinen unbeobachteten Schritt würde tun können. Viele Möglichkeiten, von Uniformierten unbemerkt etwas unternehmen zu können, gibt es ohnehin nicht, denn das Militär ist allgegenwärtig.

Plötzlich spürte ich bleierne Müdigkeit, denn das extrem frühe Wachwerden und nicht zuletzt die anstrengende ganztägige Busfahrt steckte mir noch in den Gliedern. So entschloss ich mich bereits gegen 20 Uhr ins Hotel zurückzugehen. Ich ging nochmals über den Großen Basar, studierte die zerfurchten alten Gesichter der Einheimischen, die im Schein ihrer Laternen gut zu erkennen waren, beobachtete die auf der Straße vor ihren Nähmaschinen sitzenden Schneider – alles Männer – und kaufte mir eine in hiesiger Sprache geschriebene Zeitung und etwas Süßzeug, auf das ich plötzlich großen Appetit hatte. Da zupfte mich zum ersten Mal ein kleines Schlitzauge am Ärmel: Ein fünfjähriges Mädchen wollte einen Bonbon haben. Ich stopfte es dem Kind gleich selbst in den Mund, und so lautlos, wie die Kleine gekommen war, verschwand sie wieder. Es war gegen 21 Uhr, als ich endlich im Bett lag. Meine Müdigkeit erlaubte mir nicht, noch lange über den vergangenen Tag nachzudenken.

Gegen 7 Uhr, als für mich der 26. Januar anbrach, begann ein neuer, hoffentlich wieder ereignisreicher Tag. Ich hatte sage und schreibe zehn Stunden fest geschlafen und fühlte mich wieder prächtig. Weder Straßenverkehr, der nachts tatsächlich ruhiger gewesen sein musste, noch unangenehme Hotelgeräusche hatten mich gestört. Draußen bahnte sich wieder ausgezeichnetes Wetter an, der Himmel war tiefblau, und die Sonne war gerade im Begriff aufzugehen – Grund genug, mich auf diesen neuen Tag in den Himalayabergen zu freuen.