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Als die Schweine Josy bemerkten, begannen sie aufgeregt zu grunzen. Erwartungsvoll drängelten sie sich hinter dem alten Gatter, das ihren Pferch begrenzte. Die Tiere wussten, dass Fütterungszeit war, und wie jedes Mal konnten sie es kaum erwarten.
Josy lächelte und tat ihre Arbeit wie an jedem Tag der Woche, in jeder Woche des Monats und in jedem Monat des Jahres. Es gab leichtere Tätigkeiten, gerade für eine zierliche Frau wie sie, doch sie liebte das Leben auf der Farm und hätte es niemals gegen ein anderes eintauschen wollen.
Während sie die letzten Reste Gerste und Mais in den Trog kippte, fiel ihr Blick Richtung Horizont. Sie stutzte. Von Osten her näherte sich ein Reiter.
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Seitenzahl: 146
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Richter Abe und seine Söhne
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Impressum
Richter Abe und seine Söhne
von Michael Schauer
Als die Schweine Josy bemerkten, begannen sie aufgeregt zu grunzen. Erwartungsvoll drängelten sie sich hinter dem alten Gatter, das ihren Pferch begrenzte. Die Tiere wussten, dass Fütterungszeit war, und wie jedes Mal konnten sie es kaum erwarten.
Josy lächelte und tat ihre Arbeit wie an jedem Tag der Woche, in jeder Woche des Monats und in jedem Monat des Jahres. Es gab leichtere Tätigkeiten, gerade für eine zierliche Frau wie sie, doch sie liebte das Leben auf der Farm und hätte es niemals gegen ein anderes eintauschen wollen.
Während sie die letzten Reste Gerste und Mais in den Trog kippte, fiel ihr Blick Richtung Horizont. Sie stutzte. Von Osten her näherte sich ein Reiter.
Horace Whitecamp hatte in seinem Leben viel gesehen. Ein solches Spektakel jedoch hatte er nie zuvor erlebt. Mit einer anständigen Gerichtsverhandlung, wie sie in Washington und anderen großen Städten üblich war, hatte das hier nichts zu tun. Stattdessen wähnte er sich in einer Art Hexenkessel, und je länger das Treiben andauerte, desto mehr wuchs seine Empörung.
Den Richtertisch hatte man vor dem Tresen aufgebaut, was das Schauspiel noch unwürdiger machte, als es eh schon war. Der massige Richter saß vor einer Wand aus Gläsern und Flaschen und starrte den Angeklagten so finster an, als wolle er ihm höchstpersönlich den Strick um den Hals legen. Gekleidet war er in einen feinen schwarzen Anzug und ein weißes Hemd. Das graue Haar, das nur dünn auf seinem kantigen Schädel wuchs, trug er ordentlich frisiert. Tiefe Falten kerbten das scharfgeschnittene Gesicht mit dem glattrasierten Kinn und der dünnen Nase. Das Auffälligste an ihm waren seine Augen. Sie leuchteten blau wie ein Fluss, der von der Mittagssonne beschienen wurde. Whitecamp schätzte ihn auf wenigstens sechzig, wenn nicht älter.
Flankiert wurde er von zwei deutlich jüngeren Männern, die ihm so ähnlich sahen, dass sie seine Söhne hätten sein können und es vermutlich auch waren. Der Ältere schaute ebenso grimmig drein wie der Richter selbst, der Jüngere machte den Eindruck, lieber irgendwo anders sein zu wollen als im Saloon der Stadt Pendon. Beide waren mit Gewehren bewaffnet, die sie locker in den Armbeugen hielten.
Der Angeklagte wirkte wie ein Häufchen Elend. Den Oberkörper leicht nach vorn gebeugt, die Schultern hängend, hockte er auf seinem Stuhl. Die Haltung spiegelte, dass ihm die Ausweglosigkeit seiner Lage klar sein musste. Der Mob, wie Whitecamp das zahlreich erschienene Publikum in Gedanken nannte, schien sein Urteil gefällt zu haben. Sobald der Mann das Wort ergreifen wollte, begannen die Leute zu johlen und ihn auf übelste Weise zu beschimpfen.
Kein einziges Mal hatte der Richter auch nur versucht, ihnen Einhalt zu gebieten, als sei ein solches Verhalten das Normalste von der Welt. Was er wohl unternehmen würde, wenn es zu Handgreiflichkeiten kam, was Whitecamp nicht für ausgeschlossen hielt? Ein abschätziger Laut entfuhr seiner Kehle, als er den Gedanken zu Ende dachte. Vermutlich nichts.
»Was halten Sie davon?«, raunte er seinem Mitarbeiter Spence Myers zu, der neben ihm an der Wand lehnte.
»Wissen Sie, das ist das erste Mal, dass ich bei einer Verhandlung dabei bin«, antwortete Myers und rückte seine Brille zurecht, wie er es gerne und oft tat. »So hätte ich es mir ehrlich gesagt nicht vorgestellt. Es hat etwas... Tumultartiges, um es mal auf diese Weise auszudrücken.«
»So ist es auch nicht korrekt«, knurrte Whitecamp und verschränkte die Arme vor der Brust. »Das ist keine Verhandlung, sondern eine Farce. Lassen Sie sich das gesagt sein, Mr. Myers.«
»Nun ja«, meinte er und hob die Schultern. »Andererseits sind wir nicht in Washington, oder? Womöglich ist das hier so üblich.«
Whitecamp schwieg. Sie hatten im Saloon zu Abend essen und danach früh schlafen gehen wollen, bevor sie sich am kommenden Tag auf die Rückreise in die Hauptstadt machten. Ihre Arbeit in dieser Gegend war getan. Erstaunt hatten sie festgestellt, dass sämtliche Tische bis auf einen an die Wände gerückt worden waren. Die Stühle, die bei ihrem Eintreffen ausnahmslos besetzt waren, hatte man in Reihen angeordnet. Der Barkeeper hatte ihnen erklärt, dass in wenigen Minuten eine kurzfristig anberaumte Gerichtsverhandlung stattfinden und der Betrieb erst im Anschluss wieder aufgenommen werden würde. Nach dem Urteilsspruch könnten sie gerne etwas essen, die Steaks seien ausgezeichnet.
Da es in Pendon kein anderes Restaurant gab, hatten sie beschlossen, die Verhandlung notgedrungen abzuwarten. Was Whitecamp angesichts dieses Schauspiels nun bereute. Als Regierungsbeamter glaubte er felsenfest an rechtsstaatliche Prinzipien, und davon war hier weit und breit nichts zu bemerken. Myers hatte recht, das hier war nicht Washington. Das machte es allerdings kein bisschen besser.
Ein Knall ließ ihn zusammenzucken. Der Richter hatte mit seinem Hammer die Tischplatte malträtiert. Augenblicklich kehrte Stille ein.
»Sie haben also nichts zu Ihrer Verteidigung zu sagen, Sam Thompson?«, wandte er sich mit dröhnender Stimme an den Angeklagten. Es klang weniger wie eine Frage als eine Feststellung.
Fast hätte Whitecamp aufgelacht. Bislang hatte der Mann ja kaum Gelegenheit gehabt, sich zu verteidigen. Er wurde doch stets niedergebrüllt, sobald er den Mund aufmachte.
Der Angeklagte hob den Kopf. »Ich war es nicht.«
Erneut wurden Beleidigungen und Schmährufe laut. Diesmal jedoch ließ der Richter die Meute nicht gewähren. Er hämmerte auf den Tisch ein, bis das Holz unter der Wucht der Schläge zu splittern begann.
»Ruhe«, donnerte er. Ein paar Männer in der ersten Reihe zogen die Köpfe ein, als fürchteten sie, von seinen Worten erfasst und davongewirbelt zu werden wie eine Kuh in einem Tornado. »Der Angeklagte hat das Wort, sage ich.«
»Ich habe Bill Cunning nicht ermordet«, stieß Thompson schnell hervor, als befürchte er, abermals unterbrochen zu werden.
Der Blick des Richters verhärtete sich. Seine Augen waren jetzt kalte blaue Steine.
»Wie erklären Sie sich dann das Messer?«
»Er war's!«, kreischte ein älterer Mann in einem rosafarbenen Hemd, sprang von seinem Stuhl und deutete mit einem knochigen Zeigefinger auf Thompson, als wolle er ihn damit erstechen. Eine unwirsche Geste des Richters genügte, und er setzte sich brummelnd wieder hin.
»Wie ich dem Sheriff schon gesagt habe, das Messer gehört mir nicht«, beteuerte Thompson. »Sie können fragen, wen Sie wollen, ich habe nie ein Messer besessen.«
Sheriff Jacob Shloup hatte zu Beginn des Spektakels erklärt, was geschehen und wessen man Thompson angeklagt hatte. Nur für den Fall, dass es irgendjemand in Pendon nicht mitbekommen hatte. Bis auf Whitecamp und Myers schienen jedoch alle Anwesenden bestens informiert zu sein. Während Shloups Ausführungen hatten viele unentwegt genickt, was etwas unfreiwillig Komisches gehabt hatte. Schon zu diesem Zeitpunkt hatte es die ersten Zwischenrufe gegeben.
Demnach war Thompson vor zwei Tagen im Saloon mit drei Männern in Streit geraten, darunter Bill Cunning. Nach einem längeren Wortgefecht hatte er den Saloon verlassen. Cunning war ihm gefolgt. Keine Viertelstunde danach hatte man beide in einer Seitengasse entdeckt. Thompson war bewusstlos gewesen. In Cunnings Brust steckte das fragliche Messer. Man hatte Thompson in eine Zelle im Sheriff's Office gebracht, wo er wenig später aufgewacht war.
»Wir hatten Streit, das ist wahr«, fuhr er fort. »Es ging um ein Mädchen, nichts Großartiges. Aber wir haben nur mit Worten gestritten. Bis ich plötzlich von hinten niedergeschlagen wurde.«
Der Richter sah ihn lange schweigend an, bevor er wieder das Wort ergriff.
»Wie mir berichtet wurde, war Bill Cunning ein beliebtes und geschätztes Mitglied dieser Gemeinde. Er hinterlässt eine Mutter und eine junge Frau, die er in Kürze heiraten wollte. Die Frau, an die Sie sich heranmachen wollten, was dann zu der Auseinandersetzung führte, Mr. Thompson.«
»Aber ich...«
»Schweigen Sie! Ein Mensch wurde aus dem Leben gerissen, der ebenjenes noch vor sich hatte. Ein geliebter Sohn, angehender Ehemann und treuer Freund. Nichts und niemand kann diese schändliche Tat wiedergutmachen. Jenen, die um ihn trauern, mag es ein schwacher Trost sein, dass sein gemeiner Mörder noch in dieser Stunde in der Hölle schmoren wird. Ich, Abe Torringham, verurteile Sam Thompson zum Tod durch den Strang. Das Urteil mag unverzüglich vollstreckt werden.«
»Nein!«
Thompsons Schrei ging fast unter in dem einsetzenden Beifallssturm. Zwei Männer packten ihn und zerrten ihn zur Tür, gefolgt vom Sheriff. Die anderen sprangen auf und folgten ihnen. Binnen Sekunden hatte sich der Saloon bis auf den Richter und seine jungen Begleiter geleert.
»Hängen Sie den Mann wirklich auf?«, flüsterte Myers in die plötzliche Stille hinein.
»Ich fürchte ja«, antwortete Whitecamp und stieß sich von der Wand ab. Zorn loderte in ihm, als er auf den Richter zuging. Dieser hatte sich erhoben und sah ihm stirnrunzelnd entgegen. Derweil begannen der Barkeeper und ein Helfer damit, die Stühle und Tische an ihren ursprünglichen Platz zu rücken. Ganz so, als wäre nichts geschehen.
»Kann ich etwas für Sie tun, Mister?«, fragte Abe Torringham.
Seine Gestalt straffte sich. Er war wenigstens einen Kopf größer als Whitecamp, wovon der sich nicht beeindrucken ließ. Dazu war er viel zu aufgebracht. Sein tiefer Glaube an Recht und Gesetz war erschüttert worden.
»Sie haben diesen Mann gerade zum Tode verurteilt«, stellte er fest.
Torringham legte den Kopf schief. Etwas Abschätziges lag in seinem Blick.
»Das haben Sie gut beobachtet.«
»Er sagte, dass ihm das Messer nicht gehöre.«
»Hätte ich an seiner Stelle auch getan.«
»Man hat ihn niedergeschlagen. Was bedeutet, dass ein dritter Mann vor Ort gewesen sein muss. Darauf sind Sie nicht mal eingegangen.«
Der Richter verzog das Gesicht. »Ach Unsinn, wahrscheinlich hat ihm das Opfer im Todeskampf einen Schlag versetzt.«
»Von hinten?«
»Was wollen Sie von mir? Sind Sie ein Freund von Mr. Thompson?«
»Mein Name lautet Horace Whitecamp. Ich arbeite für die Regierung, meine Anwesenheit ist rein zufällig. Der Verurteilte ist mir nicht bekannt, was nichts daran ändert, dass er wie jeder andere einen fairen Prozess verdient hatte.«
Ein Schatten huschte über das Gesicht seines Gegenübers.
»Sie sind also der Meinung, dass er den nicht bekommen hat?«
Whitecamp entfuhr ein entrüstetes Keuchen. »Auf keinen Fall hat er das.«
Torringham trat einen Schritt auf ihn zu. Sofern er darauf spekuliert hatte, dass Whitecamp zurückwich, wurde er von ihm enttäuscht. Whitecamp wollte verdammt sein, wenn er sich von dem Kerl einschüchtern ließ.
»Sie möchten über Fairness mit mir sprechen?« Torringham atmete tief durch. »Ich sage Ihnen, welche Bedeutung dieses Wort für mich hat. Fair ist, wenn ein Mann sein Leben im Bett aushaucht, weil er alt oder krank ist. Fair ist, wenn Eltern nicht um ihren Sohn und eine Ehefrau nicht um ihren Gatten trauern muss, weil er das Pech hatte, jemandem zu begegnen, dem ein Leben nichts bedeutet.«
»Dem stimme ich zu, Mr. Torringham. Trotzdem sollte ein Verdächtiger der Tat zweifelsfrei überführt worden sein, für die man ihn verurteilt. Dafür sind in diesem Fall für meinen Geschmack zu viele Fragen offengeblieben. Viel zu viele.«
»Sie zweifeln also meine Befähigung an?«
»Wie lange arbeiten Sie in diesem Bezirk?«
»Ich wüsste nicht, was Sie das angeht.«
»Eine Menge geht mich das an. Immerhin vertrete ich die Regierung der Vereinigten Staaten.«
»Schluss damit!«
Der Ältere von Torringhams Begleitern war vorgetreten. Seine Augen funkelten. Aus der Nähe war Whitecamp sicher, dass es sich um Söhne handelte. Die Ähnlichkeit war unverkennbar. Noch immer wich er nicht zurück, doch seine Entschlossenheit geriet ins Wanken. Der Kerl machte den Eindruck, als wolle er ihn gleich am Kragen packen. Gewalt hasste er ebenso sehr, wie er sie fürchtete.
»Es wäre besser für Sie, Mister Regierungsbeamter, wenn Sie mir aus den Augen gehen«, meldete sich der Richter wieder zu Wort. »Das soll keine Drohung sein, nur ein guter Ratschlag.«
Sein Sohn packte das Gewehr fester. Der Lauf neigte sich in Whitecamps Richtung.
»Na gut«, zischte er. »Ich weiche der Gewalt.« Dann wandte sich auf dem Absatz um und verließ mit ausgreifenden Schritten den Saloon. Der Appetit war ihm gründlich vergangen.
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»Freut mich, dass Sie es so schnell einrichten konnten, Mr. Lassiter«, sagte George Folks und bot ihm den Stuhl vor seinem Schreibtisch an. »Möchten Sie einen Drink?«
Lassiter nahm Platz. »Wird in der Kirche gebetet?«, stellte er eine Gegenfrage, die Folks auflachen ließ.
»Sie haben Humor. Ich mag Leute mit Humor. Trifft man in der Brigade Sieben eher selten. Wobei ich noch nicht mit allzu vielen ihrer Angehörigen zu tun hatte, wie ich zugeben muss.«
Er erhob sich, ging zu einer Anrichte neben der Tür, nahm eine Flasche Whisky und zwei Gläser und kehrte zu seinem Schreibtisch zurück. Lassiter sah zu, wie der schlanke Mann in dem eleganten grauen Anzug beide Gläser zu je einem Fingerbreit füllte und ihm eins davon hinschob. Er nahm es und probierte. Warm rann der Alkohol seine Kehle hinunter.
»Das ist ein guter Tropfen«, urteilte er.
Folks lächelte und nahm ebenfalls einen Schluck. »Fragen Sie nicht, was die Flasche gekostet hat.«
»Ihrem Büro nach zu urteilen, können Sie es sich leisten.«
Folks' Kanzlei war mit sichtlich teurem Inventar eingerichtet, zu dem auch der dicke Teppich unter Lassiters Stiefeln gehörte. An der holzgetäfelten Wand hinter dem Anwalt hing ein Gemälde des Präsidenten, der gütig auf ihn herabzuschauen schien und den Eindruck vermittelte, als sei er mit dessen Arbeit überaus zufrieden.
Mit dem Glas in der Hand lehnte sich Folks in seinem Sessel zurück. Das schwarze Leder knarrte leise.
»San Francisco ist eine Stadt, die einem tüchtigen Mann viele Möglichkeiten bietet. Ein guter Jurist, und ich denke, ich kann behaupten, dass ich ein solcher bin, kann hier ein Vermögen machen. Ich arbeite hart, aber ich genieße auch das Leben.«
»Es sei Ihnen gegönnt, Mr. Folks. Wollen wir zur Sache kommen?«
»Natürlich. Ihr neuer Auftrag.« In einer beiläufigen Geste strich er durch sein dichtes schwarzes Haar, das die ersten grauen Strähnen aufwies. »Vor knapp zwei Wochen hielten sich der Regierungsbeamte Horace Whitecamp und sein Mitarbeiter Spence Myers in Pendon auf, das ist eine kleine Stadt etwa zwei Tagesritte östlich von hier. Whitecamp wurde Zeuge einer Gerichtsverhandlung, bei der ein Mann namens Sam Thompson zum Strang verurteilt wurde. Angeblich hatte er einen anderen Mann im Streit erstochen. Bill Cunning, so der Name des Opfers, erfreute sich dem Vernehmen nach zu Lebzeiten großer Beliebtheit. Ganz im Gegensatz zu Thompson, der den Ruf besaß, vor keiner Schürze Halt zu machen, auch wenn die Besitzerin vergeben war.«
Lassiter setzte das Glas an die Lippen und genoss den nächsten Schluck Whisky, während er aufmerksam zuhörte.
»So wie Whitecamp es schildert, wollte der Richter bloß so schnell wie möglich das Urteil fällen. Entlastendes interessierte ihn nicht. So hatte der Angeklagte angegeben, am Ort des Geschehens von einem Unbekannten niedergeschlagen worden zu sein. Das wurde unter den Tisch fallengelassen. Nach der Verhandlung stellte Whitecamp den Richter zur Rede und wurde von einem seiner Söhne bedroht.«
»Seine Söhne?«
»Es sind zwei, um genau zu sein. Am nächsten Tag stellte sich heraus, dass man tatsächlich den Falschen gehängt hatte. Ein Deputy, der von einem Verwandtenbesuch nach Pendon zurückgekehrt war, hat die Tatwaffe erkannt. Das Messer gehörte einem stadtbekannten Säufer und Schläger namens Fred Warren, mit dem er kurz vor seiner Abreise zu tun gehabt und es bei dieser Gelegenheit zu Gesicht bekommen hatte. Es war noch nicht lange in Warrens Besitz, weswegen niemand außer ihm davon wusste. Man verhaftete Warren, in seinem Haus wurde ein blutiges Hemd gefunden. Das sind ziemlich erdrückende Beweise. Zumal wenn man bedenkt, was man im Vergleich dazu gegen Thompson in der Hand hatte.«
Lassiter nickte. »Ich stimme Ihnen zu.«
»Das hat Warren wohl genauso gesehen, denn er legte wenig später ein Geständnis ab. An jenem Abend hatte er sich auf seiner Veranda wie so häufig sinnlos betrunken. Nachdem ihm der Schnaps ausgegangen war, marschierte er zum Saloon, um Nachschub zu besorgen. Unterwegs fiel ihm ein, dass er nicht genügend Geld bei sich hatte und sowieso knapp bei Kasse war. Zufällig kam er an der Seitengasse vorbei, in der sich Thompson und Cunning gerade stritten. Für Warren in seinem alkoholumnebelten Gehirn war das eine willkommene Gelegenheit. Er schlug Thompson, der ihm den Rücken zuwandte, nieder und wollte Cunning ausrauben. Als der sich wehrte, zückte er sein Messer und stach auf ihn ein. Eine Wahnsinnstat, der Whisky muss Warrens Hand geführt haben. Er hatte versucht, die Klinge aus Cunnings Brust zu ziehen, bevor er das Weite suchte, bekam sie aber nicht heraus.«
Lassiter rieb sich das Kinn. »Für Sam Thompson kam das Geständnis zu spät.«
»Als Whitecamp, der schon im Begriff war, abzureisen, davon hörte, wollte er den Richter abermals zur Rede stellen, nur war der über alle Berge. Also kehrte er nach Washington zurück und regte sich fürchterlich über den Vorfall auf. Der Name des Richters ließ ein paar Leute aufhorchen. Er lautet Abe Torringham.«
»Nie von ihm gehört.«
Folks leerte sein Glas, bevor er weitersprach.
»Ich vorher auch nicht. Inzwischen habe ich allerdings einiges über ihn in Erfahrung gebracht. Abe Torringham ist ein ausgezeichneter Vertreter seines Standes. Sehr hart, aber gerecht. Keine leichtfertigen Urteile. Man könnte sagen, dass er sich der Verantwortung seines Amts bewusst war.«
»Diesmal scheint er eine Ausnahme gemacht zu haben.«
Ein freudloses Lächeln erschien auf dem Gesicht seines Gegenübers.
»Eigentlich hätte er gar nicht dort sein dürfen. Vor drei Jahren hat er sich in den Ruhestand verabschiedet. Eine weise Entscheidung angesichts der Tatsache, dass er stolze achtundsechzig Jahre alt ist. Jetzt fragen Sie sich, was er dann in Pendon verloren hatte.«
»In der Tat.«
»Möchten Sie einen zweiten Drink?«, fragte Folks und deutete auf sein Glas. »Die Geschichte ist noch lange nicht zu Ende.«
Lassiter nickte. Wer konnte wissen, wann er das nächste Mal einen so guten Whisky serviert bekam? Der Anwalt schenkte erst ihm und dann sich selbst nach, bevor er fortfuhr.