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Mehr als tausend Jahre hatte sie in tiefer Finsternis verbracht. Anfangs hatte sie versucht, sich mit bloßen Händen nach oben zu graben, während um sie herum die Stimmen flüsterten. Bald jedoch hatten sie ihre Kräfte verlassen, und so lag sie nun in der kalten Erde und wartete. Eines Tages würde er zurückkehren, um sie zu retten, denn er brauchte sie. So hatte er es ihr jedenfalls erklärt, nachdem er sie zu seinem Geschöpf gemacht hatte.
Ihr blieb nichts anderes übrig, als zu hoffen.
Eines Tages aber verstummten die Stimmen ...
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Seitenzahl: 146
Veröffentlichungsjahr: 2024
Cover
Melisende
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Impressum
Melisende
von Michael Schauer
Mehr als tausend Jahre hatte sie in tiefer Finsternis verbracht. Anfangs hatte sie versucht, sich mit bloßen Händen nach oben zu graben, während um sie herum die Stimmen flüsterten. Bald jedoch hatten sie ihre Kräfte verlassen, und so lag sie nun in der kalten Erde und wartete. Eines Tages würde er zurückkehren, um sie zu retten, denn er brauchte sie. So hatte er es ihr jedenfalls erklärt, nachdem er sie zu seinem Geschöpf gemacht hatte.
Ihr blieb nichts anderes übrig, als zu hoffen.
Eines Tages aber verstummten die Stimmen ...
»Habt ihr die Vögel gesehen?«, stieß Louis Mereux so unvermittelt hervor, dass die Männer neben ihm am Tresen zusammenzuckten. Nachdem er den ganzen Tag über seine Beobachtungen nachgegrübelt hatte, hatten sich die Worte mit einem Mal wie von selbst ihren Weg aus seinem Mund gebahnt. »Sie fliegen ungewöhnlich hoch und landen nicht mehr. Jedenfalls nicht in unserem Dorf.«
»Was willst du damit sagen?«, fragte Maurice LeCapaurd, der hagere Wirt des Petit Chalet, entkorkte eine frische Flasche Rotwein und füllte Pascal Chevaliers Glas. Der Inhaber und einzige Mechaniker der kleinen Autowerkstatt von Houlgate saß neben Mereux auf dem Barhocker und hatte wie üblich zu dieser späten Abendstunde mächtig Schlagseite. Mit einer Hand hielt er sich am Tresen fest, während er mit der anderen nach dem bis fast zum Rand vollen Glas griff. Ohne einen Tropfen zu verschütten, führte er es zum Mund. Eine beachtliche Leistung in seinem Zustand.
Wie beinahe jeden Abend war das Petit Chalet gut gefüllt. Am Tresen und an den Tischen saßen überwiegend Männer, die eine der Kleinigkeiten aus Maurice' Küche aßen oder ihren Durst mit Wein und Bier stillten. Lediglich zwei Paare befanden sich unter ihnen. Allen gemeinsam war, dass sie Mereux in einer Mischung aus Argwohn, Neugier und Belustigung musterten.
Darum scherte er sich nicht. Er war einundachtzig Jahre alt und weit über den Punkt hinaus, dass es ihn kümmerte, was andere von ihm dachten.
»Du weißt, was ich damit sagen will«, antwortete er auf Maurice' Frage. »Hast du heute zum Beispiel auch nur einen Spatzen zu Gesicht bekommen? Sonst sitzen sie scharenweise auf den Dächern.«
In dem kleinen, von dunklem Holz dominierten Gastraum, war es so still geworden, dass man einen Weinkorken hätte fallen hören können.
»Keine Ahnung, was mit den Viechern los ist«, entgegnete der Wirt. »Trink einen Pastis, Louis. Geht aufs Haus.«
Während er nach der Flasche griff, konnte Mereux in seinen dunklen Augen die Worte lesen, die er nicht ausgesprochen hatte.
Und ansonsten halt die Klappe und mach die Leute nicht nervös.
»Louis spielt auf das Märchen von der Blutnacht an. Ist es nicht so?«
Mereux fuhr herum und warf dem rothaarigen Burschen um die Zwanzig einen scharfen Blick zu. Seine zwei Jahre ältere Schwester, die neben ihm auf der Eckbank saß, war Daniel Parcere wie aus dem Gesicht geschnitten. Jedoch hatte sie im Gegensatz zu ihm immerhin so viel Grips im Kopf, dass sie eine Anstellung als Verkäuferin in der örtlichen Bäckerei gefunden hatte. Daniel dagegen verdingte sich als Tagelöhner. Für mehr reichte es bei ihm nicht.
Die Geschwister lebten in dem kleinen Haus ihrer verstorbenen Eltern und schliefen in einem Bett, wie sie es seit Kindertagen getan hatten. Was sie dort sonst so treiben mochten, darüber wagten sich selbst die größten Klatschmäuler von Houlgate nur flüsternd zu unterhalten.
Die Blutnacht.
Lina Chantaine hatte ihm von der Legende erzählt, wie so vielen anderen im Ort. Allerdings war sie zu diesem Zeitpunkt älter gewesen als er heute, und ihr Geist war zu jener Zeit mit jedem Tag ein wenig tiefer in Umnachtung versunken. Nur mit Mühe schaffte sie, ihren Aufgaben als Haushälterin des Pfarrers nachzukommen. Der brachte es nicht übers Herz, jemand anderen einzustellen, und heuerte Mereux als Laufburschen an, um ihr unter die Arme zu greifen.
Lina hatte an ihm einen Narren gefressen und genoss seine Gesellschaft. Sie liebte es, ihm von ihrer Kindheit und ihrem Leben zu erzählen. Ihren eigenen Worten nach stammte sie aus einer sehr alten Familie, deren Wurzeln bis in die Zeit der römischen Besatzung zurückreichte.
Die anderen Leute im Ort lachten über sie, wenn sie von der Geschichte mit der Blutnacht anfing. Mereux hatte nie gelacht. Als hätte er sie erst gestern zum letzten Mal gehört, hatte er ihre Worte darüber im Ohr, gesprochen mit dieser rauchigen, dunklen Stimme, die ihr zu einer Art Markenzeichen geworden war. Dabei hatte sie ihn aus grauen Augen mahnend angesehen.
»Dieses Dorf wurde auf unheiliger Erde errichtet«, hatte sie gesagt. »Hüte dich, mein Junge. Wenn die Vögel nicht mehr auf den Dächern landen wollen, der Mond am Himmel rot scheint und der Wind weht, versucht er zurückzukehren, er und seine Engel des Todes. Alle tausend Jahre bietet sich ihm dazu die Gelegenheit. In nicht allzu ferner Zukunft wird es wieder so weit sein. Gebe Gott, dass es ihm auch diesmal nicht gelingen wird und wir von den Monstern verschont bleiben.«
Er hatte nie den Mut aufgebracht, sie zu fragen, um wen oder was genau es sich dabei handelte. Nichtsdestotrotz hatte er irgendwie gespürt, dass die Blutnacht keine Ausgeburt von Linas zunehmend wirrem Geist war. Sondern die Wahrheit. Die Überzeugung hatte er nicht für sich behalten, was dazu führte, dass man über ihn ebenfalls lachte, und zwar bis heute. Denn vor allem, wenn er ein wenig zu viel getrunken hatte, konnte er es nicht lassen, die alte Geschichte wieder und wieder zu erzählen. Ihm war bewusst, dass ihn seine Mitbürger schätzten und mochten, ihn hinter seinem Rücken aber für ein klein wenig sonderbar hielten.
Lina lag inzwischen längst auf dem Friedhof vor den Toren des Dorfs. Viele Jahre waren seitdem ins Land gegangen.
Und jetzt landeten die Vögel nicht mehr.
Da er auf Pascals Bemerkung nichts erwidert hatte, hatten die anderen Gäste das Interesse verloren und sich wieder ihren Getränken und Gesprächen zugewandt. Auch Pascal selbst hatte es aufgegeben, ihn provozieren zu wollen.
Mit einem leisen Seufzen rutschte Mereux vom Hocker, nickte dem Wirt zu und verließ das Lokal. Seit seine Frau Marie vor fünf Jahren gestorben war, wartete zu Hause niemand mehr auf ihn. Kinder hatte er keine. Gelegentlich schaute er auf ein spätes Schwätzchen bei seiner Nachbarin Amelie Chaté rein, die nebenan mit ihrer elfjährigen Tochter Isaline lebte.
Nach Maries Tod hatte sie sich rührend um ihn gekümmert. Dabei hatte sie selbst einen schweren Schicksalsschlag zu bewältigen gehabt, denn ihr Mann war kurz zuvor verstorben. Sie war eben eine Seele von Mensch. Er dankte es ihr, indem er ihr half, wo er nur konnte. Wozu auch gehörte, dass er gelegentlich auf Isaline aufpasste. Längst hatte er die Kleine ins Herz geschlossen.
Heute jedoch war es etwas zu spät für einen Besuch. Wie er wusste, pflegte Marie früh zu Bett zu gehen, und Isaline schlief sicher sowieso schon.
Ein Windhauch erfasste Mereux und streichelte über seine faltige Wange. Unwillkürlich legte er den Kopf in den Nacken. Ein Keuchen entfuhr seiner Kehle. Am wolkenlosen Nachthimmel stand der beinahe volle Mond und beschien die Straßen und Häuser unter ihm mit seinem kalten Licht. Das allein wäre kein ungewöhnlicher Anblick gewesen, hätte nicht ein wabernder roter Nebel die silbrige Scheibe eingehüllt.
Im nächsten Moment hatte sich der Nebel aufgelöst. So plötzlich, wie es in einem fensterlosen Raum dunkel wurde, wenn jemand die einzige Kerze darin auspustete.
Ein kalter Schauer lief Mereux über den Rücken. Er war sicher, dass er sich den Nebel nicht eingebildet hatte. Zu dumm, dass er ganz allein auf der Straße war und er niemanden fragen konnte, der es auch gesehen hatte.
War die Blutnacht wirklich nahe?
Morgen würde er Amelie aufsuchen. Vielleicht konnte er sie davon überzeugen, mit ihrer Tochter für ein paar Tage den Ort zu verlassen. Nur zur Vorsicht.
Unwillkürlich bekreuzigte er sich und warf einen letzten Blick zum Himmel, bevor er davonstapfte.
Gallien, zweitausend Jahre zuvor.
Brigantus mühte sich die Dunkelheit zu durchdringen, doch es war zu finster, um mehr als ein paar Schritte weit sehen zu können. Der Himmel war wolkenverhangen und ließ den Mond und die Sterne nur gelegentlich ihr Licht auf die Erde abstrahlen. Bis auf das Rauschen des nahen Meeres herrschte Stille. Der Strand war kaum dreihundert Schritte von seiner Position entfernt.
Sein Blick fiel auf den Baum neben ihm. Schattenhaft ragte der mächtige Stamm einem drohenden Finger gleich aus der grasbewachsenen Ebene empor. Längst hatte er seine Blätter abgeworfen. Der Herbst war dieses Jahr mit Riesenschritten über das Land gekommen.
Der Kopf des Mädchens ruhte auf seiner Brust. Die Augen waren geschlossen. Es hatte den Anschein, als schliefe sie und werde nur von den Stricken aufrecht gehalten, mit denen sie an den Baum gefesselt war. Selbst im Dunkeln konnte Brigantus ihr langes schwarzes Haar erkennen, das ihr fast bis zu den Hüften reichte.
Der intensive Geruch nach Öl stieg ihm in die Nase. Seine Männer hatten die brennbare Flüssigkeit großzügig über der Gefangenen und rund um den Baumstamm verteilt. Ein Funke, und das Mädchen würde in Flammen aufgehen. Überrascht stellte er fest, dass ihm der Gedanken Unbehagen bereitete. Ärgerlich schüttelte er das Gefühl ab. Ja, sie war ein Kind, vielleicht zwölf oder dreizehn Jahre alt. Doch die Sicherheit seines Dorfs musste ihm wichtiger sein. Außerdem war sie kein Mensch, sondern ein Schattenwesen.
Eine Bewegung dicht neben ihm ließ ihn zusammenfahren. Zu seiner Erleichterung handelte es sich bloß um seinen Vertrauten Pirmin. Wie Brigantus und die anderen Männer lag er flach auf dem Bauch und spähte in die Finsternis.
»Die Warterei zerrt an meinen Nerven«, murmelte er. »Seit zehn Minuten muss ich pissen, traue mich aber nicht aufzustehen.«
»Lass es laufen.«
»Kannst du vergessen. Ich habe vor, es Eileen tüchtig zu besorgen, wenn das hier vorbei ist. Komme ich nach Hause und stinke nach Pisse, lässt sie mich nicht ran, da ist sie eigen.«
Trotz seiner Anspannung umspielte ein amüsiertes Schmunzeln Brigantus' rissige Lippen. Mit ihren langen blonden Haaren, dem prächtigen Hintern und den ausladenden Brüsten war Eileen seit ihrer Jugend das begehrteste Weib im Dorf. Dass sie ausgerechnet dem pockennarbigen Pirmin mit seiner Krähennase ihre Gunst gewährte, ließ die meisten anderen Männer nur neiderfüllt mit dem Kopf schütteln.
»Glaubst du wirklich, dass es funktioniert?«, durchbrach Pirmin das kurze Schweigen, das nach seinen letzten Worten entstanden war.
»Wäre ich davon nicht überzeugt, würden wir in unseren Betten liegen und nicht hier draußen im Gras, denkst du nicht?«
»Natürlich. Entschuldige meine Zweifel.«
Brigantus' hätte ihm gerne gestanden, dass auch er selbst in Wahrheit alles andere als sicher war, nur wollte er das nicht zugeben. Diese Nacht konnte auf zwei Arten enden. Entweder schalteten sie die Bedrohung aus – oder sie starben.
Vor etwa sechs Wochen hatte alles angefangen. Auf mysteriöse Weise verschwanden nachts plötzlich Menschen aus ihrem Dorf Malasa. Manchmal war es nur einer, dann wieder gleich zwei oder drei auf einen Schlag. Bald traute sich nach Anbruch der Dunkelheit niemand mehr aus seiner Hütte. Schattenhafte Gestalten mit rot glühenden Augen waren beobachtet worden, wie sie um die Siedlung herumschlichen. Bei Tag hatten seine Krieger erfolglos die Umgebung abgesucht. Sie hatten keinerlei Spuren gefunden, selbst dann nicht, als der Boden nach einem Wolkenbruch weich und schlammig gewesen war. Die Vermissten waren nicht mehr aufgetaucht.
Was ihnen ein Kaufmann auf der Durchreise zu berichten hatte, trug nicht eben zu ihrer Beruhigung bei. Demnach war es in einem einige Tagesritte entfernten Dorf, das er regelmäßig aufgesucht hatte, zu ähnlichen Zwischenfällen gekommen. Inzwischen lebte dort niemand mehr. Auch hier hatten sich in der Nacht unheimliche Wesen mit glühenden Augen herumgetrieben.
Schnell waren sich alle einig, dass sie es nicht mit normalen Menschen zu tun hatten. Sie mussten also äußerst vorsichtig vorgehen.
Als ihr Anführer war es Brigantus' Aufgabe, einen Plan zu schmieden, und das hatte er getan. Zwei seiner Wächter war in den vergangenen Nächten eine Gestalt aufgefallen, bei der es sich der Größe nach um ein Kind handeln musste und die sich immer an derselben Stelle herumtrieb. Bei Einbruch der Dunkelheit vor wenigen Stunden war er mit zwanzig seiner kräftigsten Krieger losgezogen und hatte sich in der Nähe dieser Stelle auf die Lauer gelegt.
Tatsächlich war die besagte Gestalt kurz nach Sonnenuntergang aufgetaucht. Allein, wie von ihm erhofft. Sie hatten sich auf sie gestürzt und sie überwältigt. Obwohl sie sich als schmächtiges Mädchen entpuppt hatte, waren vier Männer nötig gewesen, um sie niederzuringen und an den Baum zu fesseln. Anschließend hatten sie mit noch mehr Öl einen großen Ring um die Stelle gezogen. Brigantus und seine Leute hatten sich dicht vor dem äußeren Rand postiert.
Sie rechneten damit, dass ihre Artgenossen früher oder später auftauchen würden, um das Mädchen zu suchen. Sobald sie innerhalb des Rings standen, würde Brigantus das Öl entzünden lassen. Einer solchen Todesfalle konnten selbst Spukwesen nicht entgehen. Die reinigende Kraft des Feuers würde sie vernichten.
Jedenfalls hoffte er das.
Ein Geräusch irgendwo vor ihnen riss ihn aus seinen Gedanken. Er neigte den Kopf und lauschte. Neben ihm spannte Pirmin den sehnigen Körper an. Auch er musste es gehört haben.
Kein Zweifel, da näherten sich Schritte.
Brigantus schluckte. Seine Hand umklammerte den Schaft des Speers, der zwischen ihm und Pirmin im Gras lag. Langsam richtete er sich auf. Das war für seine Männer hinter ihm das Signal, im Schutz ihrer Schilde die Fackeln zu entzünden. So hatten sie es besprochen, und er wusste, dass er sich auf sie verlassen konnte.
Gestalten schälten sich aus den Schatten. In der Finsternis konnte Brigantus nur ihre Umrisse erkennen. Dutzende roter Augenpaare schienen in der Luft zu schweben. Bei dem Anblick musste er schlucken. Es waren mehr, als er gedacht hatte. Viel mehr. Er konnte nur hoffen, dass sie den Ölkreis groß genug gezogen hatten.
»Halt!«, rief er.
Sie gehorchten auf der Stelle. Nur eine trat einen weiteren Schritt vor und wandte sich in seine Richtung. Sie war größer als die anderen, größer gar als Brigantus, obwohl der zu den Hünen im Dorf gehörte. Das Gesicht konnte er nicht erkennen.
»Ich bin Gallax«, erhob sie die Stimme. Sie klang rau, kalt und drohend. »Ihr habt meine Tochter gefangen genommen. Gebt sie frei. Auf der Stelle.«
Das musste der Anführer sein, und sie hatten ausgerechnet seine Tochter erwischt. Einen besseren Fang hätten sie kaum machen können. Da ihm sicher bewusst war, dass ihre Existenz auf dem Spiel stand, würde Gallax bestimmt kein Risiko eingehen wollen.
»Ihr Leben liegt in deiner Hand«, antwortete Brigantus fest. »Verschwindet von hier, du und deine Kreaturen. Dann lassen wir sie frei.«
In Wahrheit dachte er gar nicht daran. Aber er wollte Zeit gewinnen für den Fall, dass die Fackeln noch nicht entzündet worden waren.
Obwohl er das Gesicht nur schemenhaft erkennen konnte, hätte er geschworen, dass sein Gegenüber grinste. Was nicht die Reaktion war, die er erwartet hatte.
»Wir werden nicht gehen«, erwiderte Gallax in einem so unverfänglichen Ton, als würden sie über das Wetter plaudern. »Hier gibt es Blut. Viel Blut. Wir werden erst verschwinden, wenn niemand mehr am Leben ist. Wir hätten dich und dein armseliges Dorf längst auslöschen können, Brigantus. Offensichtlich war es ein Fehler, es nicht zu tun.«
Brigantus schauderte und fragte sich gar nicht erst, woher Gallax seinen Namen kannte. Ein Knistern in seinem Rücken sagte ihm, dass mindestens eine der Fackeln brannte. Er hob den linken Arm, was das vereinbarte Zeichen war. Gleich darauf riss das flackernde Licht Gallax' Erscheinung aus den Schatten. Der Anblick war so grässlich, dass Brigantus' Herz einen Sprung überschlug.
Das bleiche Gesicht mit den eingefallenen Wangen wurde von strähnigen dunklen Haaren umrahmt, die dem Unheimlichen bis auf die Schultern fielen. Die Augen glühten jetzt nicht mehr, sondern ruhten wie schwarz glänzende Steine in ihren Höhlen. Gallax' Körper steckte in einer Rüstung aus poliertem Leder. Weder hielt er ein Schwert in der Hand, noch trug er eines an dem breiten Gürtel, der um seine Hüften lag. Ein grausames Lächeln umspielte seine blassen Lippen. Dabei entblößte er zwei dolchartige Schneidezähne, die je einen Fingerbreit über die Unterlippe hinausragten.
Brigantus umfasste den Speerschaft fester. Trotz der kühlen Luft war seine Handfläche nass vor Schweiß. Der Geruch nach frischem Urin stieg ihm in die Nase. Heute Nacht würde Pirmin bei Eileen wohl nicht zum Zuge kommen. Bei dem Gedanken hätte er beinahe aufgelacht.
Worauf warteten seine Krieger? Weshalb warfen sie die Fackeln nicht ins Öl? Waren sie etwa vor Angst erstarrt?
»Vika«, rief Gallax in Richtung der Gefangenen. »Bist du wohlauf?«
Aus den Augenwinkeln sah Brigantus, dass das Mädchen den Kopf hob.
»Mir geht es gut, Vater. Diese Sterblichen haben dir eine Falle gestellt.«
»Ich weiß. Doch es wird ihnen nicht gelingen, den Ring aus Öl in Brand zu setzen.«
Kaum hatte Brigantus den Sinn dieser Worte erfasst, hechtete Gallax aus dem Stand mit einem riesigen Satz auf ihn zu. Gleichzeitig stürmten mehrere seiner Krieger vor. In einem Reflex riss Brigantus den Speer hoch. Bevor er zustoßen konnte, traf ein gewaltiger Schlag seine Brust und warf ihn zurück. Hart landete er mit dem Rücken im Gras. Sein Blick fiel auf die Lanze, die er instinktiv festgehalten hatte. Die Spitze war abgebrochen, das Holz darunter gesplittert. Ein scharfes Stück stach wie ein übergroßer Zeigefinger hervor.
Überall um ihn herum war Bewegung. Kampfesschreie brüllend, warfen sich seine Männer den Angreifern entgegen. Es gab einen dumpfen Knall, dann stand der Baum in Flammen. Das schrille Kreischen des Mädchens ging ihm durch Mark und Bein. Eine Stichflamme schoss in den Nachthimmel hinauf.
Plötzlich stand Gallax über ihm. Grenzenloser Hass loderte in seinen dunklen Augen. Die Arme hatte er halb erhoben. Seine Finger ähnelten mit scharfen Krallen bewehrten Klauen.
»Du hast Vika getötet«, spie er ihm entgegen. »Dafür wirst du selbst sterben.«