Gespenster-Krimi 126 - Michael Schauer - E-Book

Gespenster-Krimi 126 E-Book

Michael Schauer

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Beschreibung

Sie war müde. So unendlich müde. Es kam ihr wie Jahre vor, dass sie auf der Flucht war, dabei waren seit den Ereignissen in Germanien erst wenige Monate vergangen. Sie war von Versteck zu Versteck gehetzt, da es ihren Verfolger immer wieder gelang, sie aufzustöbern. Zwar war sie stark genug, um Einzelne von ihnen zu vernichten, doch einer solchen Überzahl hatte sie nichts entgegenzusetzen ...
Nachdem sie Castor Pollux bei seinem Kampf gegen die Meerjungfrau Borania geholfen hatte, hätten die Jägerinnen sie beinahe erwischt. Eine fingerlange Narbe an ihrem rechten Oberarm zeugte davon, wie knapp sie dem Tod entgangen war.
Nun jedoch gab es vielleicht Hoffnung für sie. Ein Ruf hatte sie ereilt. Ein Ruf, der sie zu einer sicheren Zuflucht leitete, wo sie sich ausruhen und neue Kräfte sammeln konnte.
Doch noch war sie nicht am Ziel ...


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Inhalt

Cover

Tod der weißen Hexe

Vorschau

Impressum

Tod der weißen Hexe

Von Michael Schauer

Cassia war müde. So unendlich müde. Es kam ihr wie Jahre vor, dass sie auf der Flucht war, dabei waren seit den Ereignissen in Germanien erst wenige Monate vergangen. Sie war von Versteck zu Versteck gehetzt, da es ihren Verfolger immer wieder gelungen war, sie aufzustöbern. Zwar war sie stark genug, um Einzelne von ihnen zu vernichten, doch einer solchen Überzahl hatte sie nichts entgegenzusetzen ...

Nachdem sie Castor Pollux bei seinem Kampf gegen die Meerjungfrau Borania geholfen hatte, hätten die Jägerinnen sie beinahe erwischt. Eine fingerlange Narbe an ihrem rechten Oberarm zeugte davon, wie knapp sie dem Tod entgangen war.

Nun jedoch gab es vielleicht Hoffnung für Cassia. Ein Ruf hatte sie ereilt. Ein Ruf, der sie zu einer sicheren Zuflucht leitete, wo sie sich ein wenig ausruhen und neue Kräfte sammeln konnte. Endlich ...

Als das orangefarbene Licht aufflammte und die fünf Gestalten in ihren dunklen Umhängen aus dem Dunkel riss, atmete Cassia unwillkürlich tief durch. Die Welt der Finsteren war ihr inzwischen vertraut, auch wenn es so viele Rätsel und Mysterien gab, dass sie daran zweifelte, jemals alle Zusammenhänge durchschauen zu können. Den Richtern gegenüberstehen flößte ihr dennoch gehörigen Respekt ein. Selbst die meisten Finsteren wagten nur flüsternd über sie zu sprechen. In ihren Händen lag große Macht, und ihre Urteile waren gefürchtet. Wer versagte und dabei nicht den Tod gefunden hatte, musste sich vor ihnen verantworten. Gnade gewährten sie höchst selten.

Cassia hatte nicht versagt, ganz im Gegenteil. Ihr war es zu verdanken, dass große Teile des verhassten Roms niedergebrannt und Tausende Menschen ums Leben gekommen waren.* Der Bezwinger und seine Freunde hatten zwar überlebt, und es war ihnen gelungen, den Feuerdämon Colso zurück in die Schwärze zu stoßen, aus der er gekommen war. Trotzdem war die Mission ein Erfolg gewesen. Sogar der größte, seit sich der Riss geöffnet hatte.

Sie war also nicht hier, damit die Richter über sie urteilten. Ballurat, ihr Herr und Förderer, hatte sie zu ihnen gesandt. Es gab eine Aufgabe zu erledigen, und er war davon überzeugt, dass sie dafür die Richtige war. Die Richter mussten nur noch zustimmen. Eine Formsache, wie er ihr versichert hatte.

Es ging um Merle. Die weiße Hexe war nach wie vor auf der Flucht.

Wenn Cassia an sie dachte, spürte sie kalte Wut in sich aufsteigen. Das britannische Miststück hatte ihre Pläne durchkreuzt. Merle hatte das Tor zur Finsternis in Germanien geschlossen, indem sie sich hineingestürzt und Cassia dabei mitgerissen hatte. Es war ein bitterer Rückschlag für die Finsteren gewesen. Wenn sie durch das Tor in Scharen in die Menschenwelt eingefallen wären, hätten sie den endgültigen Sieg erringen können. Nicht einmal Castor Pollux wäre in der Lage gewesen, sie aufzuhalten.

Sie waren so nah dran gewesen!

Damals war Cassia noch ein Mensch gewesen, deshalb hatte sie sich für diesen Misserfolg nicht verantworten müssen. Ballurat hatte seine schützende Hand über sie gehalten. Statt sie zu bestrafen, hatte er sie zu einer Halbdämonin gemacht, bevor er sie nach Rom schickte, um Colso aus seinem Gefängnis zu befreien.

Sein Vertrauen in sie hatte sich ausgezahlt.

Durch die Verwandlung war sie stärker geworden. Gleichzeitig hatte sich ihr persönlicher Einsatz erhöht. Ihr war klar, dass Fehlschläge künftig empfindliche Konsequenzen haben konnten. Den Richtern gegenüber war selbst Ballurats Einfluss begrenzt.

Ebenso begrenzt wie seine eigene Geduld. Was das anging, gab sie sich keinen Illusionen hin. Er hielt große Stücke auf sie, ja. Enttäuschte sie ihn zu oft, würde er sie dennoch fallen lassen wie ein Stück ausgeglühte Kohle.

Die Richter standen nebeneinander aufgereiht auf einem Balkon etwa zehn Fuß über ihr und blickten über die steinerne Brüstung hinweg auf sie herab. Ihre Gesichter wurden von Kapuzen verhüllt. Auf ihren Schädeln saßen große, spitze Hüte, die in einem matten Violett leuchteten und auf deren Krempen kleine Totenköpfe befestigt waren. Es handelte sich nicht um menschliche Schädel. Wo sich normalerweise zwei Augenhöhlen befanden, wiesen sie ein dreieckiges schwarzes Loch auf.

Die Gestalt in ihrer Mitte beugte sich vor. Der Sprecher der Richter war etwas größer als die anderen.

»Du bist also Cassia«, richtete er mit hohler Stimme das Wort an sie. »Wir haben viel von dir gehört. Ballurat hält große Stücke auf dich. Und nicht zu Unrecht, wie uns scheint. Du hast der Menschheit einen schweren Schlag versetzt und einen großen Sieg für uns errungen.«

Cassia überlegte, ob sie in einer Demutsgeste den Kopf neigen sollte, entschied sich jedoch dagegen.

»Ich danke euch«, antwortete sie schlicht.

»Mein Name ist Bonifazius«, fuhr er fort. »Ich bin der Oberste der Richter und spreche für uns alle. Unsere Worte sind Gesetz, unsere Urteile sind unanfechtbar. Eines davon wartet seit geraumer Zeit auf seine Vollstreckung. Zeige dich, Tasch!«

Cassia hörte Schritte hinter sich und wandte den Kopf. Eine große, schlanke Gestalt in einem blutroten ledernen Gewand schälte sich aus den Schatten. Die Haut der Frau schimmerte in einem fahlen Gelb. Ihre Ohren liefen an den oberen Enden spitz zu. Aus dreieckigen, rotglühenden Augen warf sie Cassia einen Blick zu, in dem sich Verachtung mit Misstrauen mischte. Sie öffnete den Mund und entblößte zwei Reihen nadelspitzer Zähne.

Ein schauriger Anblick, von dem sich Cassia nicht beeindrucken ließ. Sie wusste, wen sie vor sich hatte, denn Ballurat hatte ihr von Tasch erzählt: Sie befehligte die Jägerinnen, eine Art Soldatentruppe, die für unterschiedliche Missionen eingesetzt wurde. Unter anderem dafür, Feinde zu vernichten oder Finstere einzufangen, die aus irgendwelchen Gründen auf der Flucht waren.

Ballurat hatte aus seiner Abneigung gegen sie keinen Hehl gemacht. Als Castor Pollux im Circus Maximus zu einem mörderischen Wagenrennen angetreten war, war unter seinen Gegnern eine der Jägerinnen gewesen.* Tasch hatte sie eigens für diese Aufgabe unter Ballurats Befehl gestellt. Sie hatte jämmerlich versagt.

»Was hast du zu berichten, Tasch?«, richtete Bonifazius das Wort an sie. »Gibt es Neuigkeiten?«

In einer trotzigen Geste reckte sie ihm ihr Kinn entgegen.

»Die weiße Hexe ist weiter auf der Flucht.«

»Und das schon viel zu lange«, donnerte der Richter mit so lauter Stimme, dass Cassia beinahe zusammengezuckt wäre.

»Sie ist sehr geschickt«, erwiderte Tasch mit einer, wie Cassia fand, überaus erstaunlichen Gelassenheit. »Auch wenn ihre Kräfte nach der langen Flucht allmählich schwinden, müssen wir vorsichtig sein.«

»Man sagt, Vorsicht sei die kleine Schwester der Feigheit.«

Der ironische Unterton konnte ihr nicht entgangen sein. Die Jägerin presste die Lippen zusammen.

»Man sagt, dass ihr sie seit einigen Tagen nicht mehr aufspüren könnt. Stimmt das?«

»Ja, das ist wahr. Aber wir finden sie schon.«

Der Richter machte eine kurze Pause, als wolle er seinen Worten dadurch mehr Nachdruck verleihen. Dann sagte er: »Wir haben beschlossen, in dieser Angelegenheit einen neuen Weg zu beschreiten.«

Taschs Augenlider flatterten für einen kurzen Moment, was Cassia nicht entging.

»Was bedeutet das?«, wollte sie wissen.

»Der Name der Frau neben dir lautet Cassia. Ist sie dir bekannt?«

»Ich hörte von ihr.«

»Wir werden sie mit der Jagd auf Merle betrauen.«

Ein Ausdruck wilden Zorns huschte über Taschs scharf geschnittenes Gesicht. »Sie ist nur eine Halbdämonin.«

»Eine Halbdämonin, die Großes vollbracht hat. Rom stand in Flammen, wie auch dir nicht entgangen sein dürfte. Zahlreiche Feinde haben den verdienten Tod gefunden.«

Tasch wandte den Kopf. Cassia spürte den Blick aus den glühenden Augen förmlich auf ihrer Haut brennen.

»Ballurat!«, zischte die Gelbhäutige. »Er steckt dahinter, nicht wahr, Bonifazius? Er hat dich dazu überredet.«

»Hüte deine Zunge«, grollte der Richter. »Unterstelle uns nicht, dass wir uns zu etwas ... überreden lassen, wie du es genannt hast. Unsere Entscheidungen treffen wir stets wohlüberlegt. Es ist wahr, der Vorschlag stammt von Ballurat. Wir haben eingewilligt, jedoch einzig und allein deshalb, weil es uns vernünftig erschien. Du hattest lange genug Zeit.«

»Aber ...«

»Ich wünsche keine Widerworte. Treib es nicht zu weit! Ich weiß, du hältst dich für unangreifbar, doch ich warne dich. Im See der versunkenen Seelen ist auch für dich noch Platz.«

Wie aufs Stichwort war hinter ihnen ein feuchtes Platschen zu hören. Cassia drehte sich nicht um. Sie wusste, was sich dort abspielte. Auf ihrem Weg zu den Richtern hatte sie das blutrote Gewässer passiert. Bleiche Hände mit spinnenartigen Klauen hatten sich daraus hervorgereckt. Bei dem Versuch, nach ihr zu greifen, hatten sie jenes platschende Geräusch erzeugt.

Tasch senkte den Kopf. Cassia konnte ihr ansehen, dass es in ihr brodelte. Jedoch schien sie beschlossen zu haben, die Warnung zu beherzigen, denn sie blieb stumm.

»Es erfreut mich, dass du zur Vernunft gekommen bist«, sagte Bonifazius nach einer Weile. Dann wandte er sich wieder an Cassia: »Möchtest du einige von Taschs Jägerinnen als Unterstützung mitnehmen?«

Trotz des Halbdunkels bemerkte sie, wie sich Taschs Muskeln unter ihrem roten Gewand spannten. Cassia fragte sich, was wohl die größere Beleidigung für sie war: das Angebot anzunehmen oder es abzulehnen. Tatsächlich hatte sie sich bereits entschieden. Die Jägerinnen hatten den Ruf, ihrer Anführerin bedingungslos ergeben zu sein. Cassia hatte nicht vor, mit einem ihrer Speere im Rücken zu enden. Selbst wenn die Richter eine solche Tat verurteilen würden, was hätte sie davon? Sie wäre dann tot.

»Nein«, lehnte sie mit entschiedener Stimme ab. »Ich schaffe es allein.«

Tasch stieß einen zischenden Laut in ihre Richtung aus. Leise genug, damit es die Richter nicht hören konnten.

Bonifazius nickte. »Wie du willst. Du solltest nicht waffenlos auf die Jagd gehen. Nimm dieses Schwert mit dir.«

Mit dem Zeigefinger seiner roten Knochenhand deutete er auf etwas zu Cassias Füßen. Sie senkte den Blick. Wie aus dem Nichts lag dort ein Schwert. Die grünlich schimmernde Klinge war wenigstens zwei Fuß lang, leicht gebogen und endete in einer Doppelspitze, was Cassia an eine gespaltene Zunge erinnerte. Fremdartige Zeichen waren auf dem Metall eingraviert. Das Heft bestand aus blankem Knochen. Die sonst übliche Parierstange fehlte. Bei einem kräftigen Stoß würde sie aufpassen müssen, dass ihre Hand durch den Schwung nicht auf die scharfe Schneide rutschte.

Sie bückte sich und hob das Schwert auf. Der Griff fühlte sich rau und kalt an. Unter ihren Fingern spürte sie ein leichtes Vibrieren.

»Dies ist der Hexentöter«, erklärte Bonifazius. »Schon viele der verfluchten weißen Hexen haben im Laufe der Jahrtausende durch ihn den Tod gefunden. Merle jedoch bring uns lebend, sofern es dir möglich ist. Mit dem Hexentöter kannst du dich vor ihren magischen Attacken schützen.«

»Wie viele weiße Hexen gibt es?«, wollte Cassia wissen. Die Worte waren ihr wie von selbst über die Lippen gekommen.

Der Richter neigte den Schädel zur Seite. Fast schien es ihr, als rühre die Frage an eine offene Wunde. »Niemand weiß es genau«, antwortete er düster. »Merle könnte die letzte von ihnen sein. Genauso gut könnte es hundert weitere geben. Viele wissen nichts von den Kräften, die in ihnen schlummern, oder sie wissen nicht, was sie damit anfangen sollen. Und solange das so ist, bleiben sie unbemerkt.«

Sie beschloss, das Thema nicht zu vertiefen.

»Geh nun«, erklärte Bonifazius die Unterredung für beendet. »Geh und rechtfertige das Vertrauen, das Ballurat und wir in dich setzen.«

Das orangefarbene Licht erlosch. Cassia blieb mit der Jägerin allein zurück.

Eine schwere Hand mit krallenartigen Fingernägeln legte sich auf ihren Arm. »Ich wünsche dir eine gute Jagd«, knurrte Tasch und funkelte sie aus ihren dreieckigen Augen an. Dann ließ sie los, fuhr auf dem Absatz herum und verließ mit schnellen Schritten den kleinen Platz. Cassia blickte ihr nach, wie sie einem Legionär gleich über den schmalen Pfad marschierte, der an dem roten See vorbeiführte. Bleiche Klauenhände durchstießen die Oberfläche. Tasch schenkte ihnen keine Beachtung.

Als sie hinter einer Biegung verschwunden war, kerbte sich ein grimmiges Lächeln in Cassias Mundwinkel.

Sie hatte schon einen Plan.

Rom, 64. n. Chr.

Als Merle die Lider öffnete, blickte sie in das ebenmäßige Antlitz einer Frau, die nicht älter als dreißig Jahre alt sein mochte. Dunkelbraune Locken umrahmten ihr Gesicht, in dem besonders die leuchtend grünen Augen hervorstachen. Ihre Nase war klein und gerade, die Lippen dünn, aber wohlgeformt. Mit dem Handrücken strich sie über Merles Wange. Die Berührung fühlte sich kühl an.

»Du bist erwacht«, sagte sie schlicht und schenkte ihr ein freundliches Lächeln.

Vorsichtig setzte sich Merle auf und sah sich um. Sie lag in einem Bett in einer kleinen, schmucklosen Kammer mit kahlen, weißgetünchten Wänden. Auf einem Tischchen neben ihr standen ein Tonbecher und eine Öllampe, die für schummriges, flackerndes Licht sorgte. Außer ihr und der Frau, die in ein einfaches weißes Gewand gekleidet war, war niemand im Raum.

Eine Hand legte sich auf ihre Brust und drückte sie sanft auf die Matratze zurück. Erst jetzt bemerkte Merle, wie schwach sie sich fühlte, und sie ließ es widerstandslos geschehen.

»Wer bist du?«, wollte sie wissen. Die Worte waren kaum mehr als ein heiseres Flüstern.

»Mein Name ist Aqua. Ich bin die Oberpriesterin der Vestalinnen.«

»Der Vestalinnen? Was ist das?«

»Wir dienen der Göttin Vesta. Es war mein Ruf, der dich hierher geführt hat.«

Langsam kehrte ihre Erinnerung zurück. Sie war irgendwo zwischen den Welten auf der Flucht gewesen, als sie eine unbekannte Stimme ihren Namen rufen hörte. Diese Stimme versprach ihr Sicherheit und Zuflucht, und da sich Merle vor Erschöpfung kaum noch auf den Beinen hatte halten können, gab sie dem Ruf nur zu gerne nach. Sie streckte eine Hand ins Dunkel aus und wurde von einer unsichtbaren Kraft ergriffen. Dann verlor sie das Bewusstsein.

»Was für eine Göttin ist das?«, fragte sie leise.

»Vesta ist die Hüterin der Flamme. Kein anderer Gott, mit Ausnahme von Jupiter selbst, wird von uns Römern so verehrt wie sie, und das aus gutem Grund. Ohne Feuer gibt es im Winter keine Wärme, und wir müssten unsere Nahrung roh verzehren. Du befindest dich in ihrem Tempel am Rand des Forum Romanum. Vesta ist erzürnt, weil die Finsteren die Macht des Feuers missbraucht und große Teile der Stadt zerstört haben. Viele von uns sind dabei ums Leben gekommen. Deshalb hat sie beschlossen, sich an ihnen zu rächen, indem sie dir Zuflucht gewährt und dich ihrem Zugriff entzieht.«

»Dann ... bin ich in Rom?«

Aqua nickte. »In Rom und in Sicherheit. Keiner der Verfluchten kann den Tempel betreten, und sie werden nie herausfinden, dass du hier bist. Hier drin hält Vesta selbst schützend ihre Hand über dich. Du kannst dich ausruhen und dich von den Strapazen deiner Flucht erholen. Möchtest du etwas Wasser?«

Merle leckte sich über die Lippen. Sie fühlten sich trocken wie altes Stroh an. »Sehr gerne.«

Die Priesterin griff nach dem Tonbecher, führte ihn an Merles Lippen, schob gleichzeitig ihre freie Hand unter ihren Nacken und hob sanft ihren Kopf an. Das Wasser war kühl und erfrischend.

»Ich danke dir«, sagte Merle, nachdem Aqua den Becher zurückgestellt hatte. »Seit wann bin ich hier?«

»Seit drei Tagen. Du hast ununterbrochen geschlafen. Bestimmt hast du eine Menge durchgemacht.«

Vor Merles geistigem Auge erschienen die Bilder von geisterhaften, gelbhäutigen Kreaturen, die mit Speeren hinter ihr herhetzten und dabei obszöne Beschimpfungen brüllten. Mehr als einmal war sie ihnen nur knapp entkommen. Bei der Erinnerung überlief sie ein Schaudern.

»Woher weiß Vesta von mir?«, wollte sie wissen.

»Ich habe sie darum gebeten, dir zu helfen.«

»Du? Wir sind uns nie zuvor begegnet.«

Aqua beugte sich vor, bis ihre Gesichter nur wenige Handbreit voneinander entfernt waren. Als sie sprach, spürte Merle ihren warmen Atem auf ihrer Haut. Die Vestalin verströmte einen angenehmen Duft, den sie nicht einordnen konnte.

»Meine Mutter war wie du, Merle. Eine weiße Hexe. Sie ist lange tot, gestorben bei einem Unglück während einer Reise. Ich trage ihr Erbe in mir. Ich konnte dich spüren. Deine Verzweiflung, deine Furcht. Als ob ein unsichtbares Band zwischen uns existieren würde. In mehreren Nächten hintereinander habe ich dich in meinen Träumen gesehen, habe zusehen müssen, wie du von diesen schrecklichen Monstren verfolgt wurdest. Also beschloss ich, etwas zu unternehmen. Ich wandte mich an Vesta, und nach dem furchtbaren Feuer erhörte sie die Bitte ihrer treuen Dienerin nur zu gern.«

»Deine Mutter war eine weiße Hexe?«

»Außer mir hat sie sich nie jemandem offenbart. Sie wollte nicht, dass andere davon erfuhren, weil sie befürchtete, man würde sie davonjagen. Eines Tages stand eine alte Frau vor unserer Tür. Wie sich schnell herausstellte, war sie ebenfalls eine von uns. Sie erzählte meiner Mutter von der Existenz der Finsteren und offenbarte ihr, dass diese Veranlagung, oder wie immer man es nennen mag, auch in mir schlummerte. Weil der Riss damals geschlossen war, drohte uns keine unmittelbare Gefahr. Dennoch war meine Mutter außer sich. Ich musste ihr versprechen, niemals zu versuchen, meine Kräfte zu gebrauchen, denn nur dann wäre ich sicher vor ihnen. Ich tat es und habe mein Versprechen bis heute gehalten.«

»Kennst du einen Mann namens Castor Pollux?«

Ein Lächeln huschte über das Gesicht der Oberpriesterin. »Er ist der Bezwinger. Obwohl kaum jemand in Rom etwas von seiner Existenz ahnt, verdanken wir alle ihm sehr viel. Ohne ihn wäre die Stadt dem Erdboden gleichgemacht worden.«

»Sagt dir auch der Name Kimon etwas?«

»Ich glaube, er ist der Gefährte des Bezwingers.«

»Er ist ... ein Freund von mir.«

»Ein Freund also?« Aqua musterte sie mit einem nicht zu deutenden Blick. »Merle, bitte denke nicht einmal daran, Kontakt mit ihm aufzunehmen. Du darfst den Tempel nicht verlassen. Nur innerhalb dieser Mauern bist du vor den Finsteren geschützt, verstehst du das?«

»Könnte er nicht hierherkommen? Wenn du jemanden zu ihm schickst, und ...«

Aqua lachte leise auf. »Das kann ich leider nicht zulassen. Je weniger von deiner Anwesenheit wissen, desto besser. Wenn die Verfluchten es herausfinden würden, wärst nicht nur du in Gefahr, sondern auch ich. Du kannst dich hier verbergen, solange du willst. Neue Kräfte schöpfen und dich ausruhen.«

»Lebst du allein hier?«