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Elisa Scheer

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Beschreibung

Der selbst ernannte Womanizer Achim Wenzel wird tot im Hinterhof einer übel beleumundeten Kneipe gefunden. Niemand trauert besonders um ihn, aber offenbar hat auch niemand ein besonders ausgeprägtes Motiv - und alle haben ein Alibi. Gibt es einen Zusammenhang mit den merkwürdigen Anschlägen auf die harmlose Doktorandin Laura Cranz? Sie selbst verdächtigt zunächst den Mann, der sie aus ihrer WG gedrängt hat und auf den sie entsprechend wütend ist. Die Kripo ist erst einmal ratlos, aber Laura erkennt allmählich ihren Irrtum und trägt am Ende selbst zur Lösung bei...

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Seitenzahl: 389

Veröffentlichungsjahr: 2015

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Alles frei erfunden!

Ähnlichkeiten oder Übereinstimmungen mit real existierenden Personen, Firmen o.ä. sind purer Zufall.

Imprint

Lösung. Kriminalroman

Elisa Scheer

Freitag, 15.04.2005 - 19:00

„Schnucki, ich krieg noch ein Weißbier!“

„Sag nicht immer Schnucki zu mir“, war die mürrische Antwort. „Hast du echt schon wieder nichts mehr im Glas? Das war schon dein drittes und du bist noch keine Stunde hier.“

„Na und? Lass mich doch, wenn´s mir schmeckt“, meinte Achim Wenzel beleidigt. „Und besoffen bin ich noch lange nicht!“ Zu Bekräftigung ließ er einen prachtvollen Heferülpser hören.

„Saubär!“, schimpfte die Bedienung und stellte ihm ein frisches Weißbier hin. Die Kumpels johlten begeistert: „Sauber, Achim!“ Achim strahlte beifallheischend in die Runde. „Man muss den Mädels schließlich zeigen, wo´s langgeht!“

„Genau!“ stimmte der lange, dünne Ulli mit dem arg gelichteten Haar zu. „Mensch, ich hab da gestern eine aufgerissen, ich sag euch -!“

„Erzähl! Ordentlich was dran?“ Hajo vollführte entsprechend ausladende Handbewegungen vor seiner Brust. „Logisch!“, krähte Ulli, der zu den ersten beiden Weißbieren auch einen Obstler gekippt hatte. „Weich und willig. Wie die Weiber sein müssen.“

„Nix gegen meine Cora“, trumpfte Achim auf. „Die ist jetzt echt zahm geworden. Und vorgestern hab ich mit ihr -“, er beugte sich vor und raunte seinen Kumpels etwas ins Ohr. Die fielen mit weit aufgerissenen Augen auf ihre Stühle zurück. „Ehrlich? Mann...!“

„Da würde mir meine aber was husten“, gestand Dieter.

„Nicht fragen, einfach machen“, verkündete Achim. „Und darauf kriege ich jetzt auch noch einen Schnaps. Schnucki!!“

„Alter Depp. Wenn dir deine Alte mal eins mit dem Nudelholz überzieht, hast du´s echt nicht besser verdient. Da, erstick dran!“ Sie knallte ihm einen Obstler hin. Achim kippte den Schnaps und kicherte. „Die ist so blöd...! Die Cora ist doch gar nicht meine Alte. Meine Alte, die hat schon gar nichts mehr zu melden. Die soll sich um die Blagen kümmern und die Klappe halten.“

Dieter seufzte: „Weiber!“, und alle vier ergaben sich ihrem Leid, bis Achims Handy die Melodie von Zehn nackte Frisösen dudelte. Neues Gejohle. Er nahm ab, lauschte und starrte etwas verwirrt auf das Display. „Ach so... SMS.“

Er tippte herum und las stirnrunzelnd, dann steckte er das Handy wieder ein und erhob sich nicht ohne Probleme. „Muss mal eben... komm gleich wieder. Dann schmeiß ich ne Runde, versprochen...“

Er tappte in Richtung Toiletten. „Jetzt muss ihn schon eine anrufen und ihn erinnern, pissen zu gehen“, gackerte Hajo. „Der kommt langsam auch ganz schön runter.“

„Dabei ist er gerade mal dreißig“, fügte Dieter hinzu.

„Naja, der Suff eben.“ Uli nickte weise mit dem Kopf. „Glaubt ihr, er weiß nachher noch, dass er eine Runde schmeißen wollte?“

Freitag, 15.04.2005: 19.15

Der Reifen hatte zu wenig Luft. Überhaupt brauchte das ganze Fahrrad mal wieder eine gründliche Überholung. Wütend stieg Laura ab und schob.

Typisch! Erst der hastige Umzug in diese grässliche Popelbude – ach, wie schön war es in der WG gewesen, als die WG eben noch eine richtige WG gewesen war! Dann die blöden Sprüche von Professor Theilhammer über ihre Willehalm-Arbeit, und jetzt gab auch noch das Scheißfahrrad den Geist auf, dabei war es weder alt noch nachlässig gepflegt.

Sie war zurzeit einfach schlecht bestrahlt.

Und die Pumpe hatte man ihr natürlich schon längst geklaut. Bis in die Emilienstraße war es noch ein ganz schönes Stück, wahrscheinlich würde sie saftig zu spät kommen. Und bei ihrem Glück hatte Bille wahrscheinlich bis dahin längst aufgegeben und war wieder gegangen.

Sie blieb stehen. Bille anrufen! Genau, sie hatte doch irgendwo das Handy! In der Tasche herrschte das übliche Chaos, aber schließlich fand sie es.

Na bravo – kein Saft mehr. War ja wohl nicht anders zu erwarten. Sie warf es in die Tasche zurück und schob mit erhöhtem Tempo weiter. Immerhin war sie doch schon fast an der Uni, an der nächsten Ecke musste schon die Krasse Kati kommen, dieses ekelhafte Pennerlokal. Wenn die Prinzessin Katharina, nach der die Straße hinter der Uni benannt war, wüsste, wozu ihr Name missbraucht wurde, würde sie in ihrem Marmorsarg rotieren. Sie bog um die Ecke und warf fast eine Fußgängerin um.

Die Frau, elegant in ein dunkles Kostüm mit langem Rock gekleidet, taumelte gegen die Hauswand. Laura ließ ihr Rad fallen. „O Gott, das tut mir Leid! Hab ich Ihnen wehgetan? Kommen Sie, ich helfe Ihnen, Sie wären ja fast hingefallen. O du lieber Himmel, Ihr Rock! Das ist Seide, nicht? Und an meinem Reifen war so viel Dreck...“

Die Frau atmete noch etwas stoßweise, aber sie wehrte sofort ab. „Lassen Sie nur, mir fehlt gar nichts. Und den Dreck kann man rausklopfen. Ich hab´s eilig, also wenn es Ihnen nichts ausmacht...“

„Ich will Sie ja gar nicht aufhalten – aber wenn Sie das Kostüm doch in die Reinigung geben müssen – ich heiße Laura Cranz, wie der Siegeskranz, aber mit C. Ich gebe Ihnen noch schnell meine Handynummer, ja?“ Sie wühlte in ihrer Tasche nach dem Notizblock und dann nach einem Kuli. Der dritte funktionierte. Die Frau nahm den Zettel sichtlich ungeduldig entgegen und steckte ihn achtlos ein, ihren Rock flüchtig abklopfend.

„Tut mir Leid“, rief Laura ihr noch nach, dann schob sie ihr Rad weiter, an der Hofausfahrt der Krassen Kati vorbei in die Emilienstraße. Ganz in der Ferne war das rote Ratlos-Schild zu sehen, durch den aufkommenden Nebel etwas unscharf. Laura seufzte und schob weiter.

Freitag, 15.04.2005: 19:30

Noch eine Akte, dann musste endlich Schluss sein, schließlich war Freitagabend. Joe Schönberger schielte zu seinem Chef hinüber, der ganz versunken einige Schriftstücke studierte. Kunststück, seine Freundin war auf Geschäftsreise, da hatte er wohl nichts Besseres zu tun. Er, Joe, leider eigentlich auch nicht. Höchstens die letzte Flasche echtes Pilsner und vielleicht eine Tiefkühlpizza und dann vor den Fernseher. Ach nein – freitags gab´s überall nur Krimis, die reichten ihm tagsüber schon.

Na gut, joggen. Oder was lesen. Jedenfalls knurrte ihm mächtig der Magen. Er seufzte halblaut und heftete einen Bericht der Spurensicherung an die richtige Stelle. Der Fall war doch klar! Fehlte bloß noch die Aussage dieses einen Zeugen. Und der Abschlussbericht. Die Aussage fand er nach heftigem Rühren in den Zetteln auf seinem Schreibtisch, der Abschlussbericht lag immer noch im Druckerschacht. Erleichtert heftete er alles ab, kontrollierte die Akte noch einmal auf Vollständigkeit und warf sie mit einem befriedigten Laut in den Ausgangskorb. Dann stapelte er den übrigen herumliegenden Krempel säuberlich auf, warf ein, zwei irrelevante Rundschreiben weg, pinnte ein wichtigeres an die Korkwand und lehnte sich im Schreibtischstuhl zurück. Jetzt konnte das Wochenende kommen – und wenn er hundertmal keine Ahnung hatte, was er unternehmen sollte.

Der Chef grinste ihm über die Schreibtische hinweg zu. „Fertig? Dann hauen Sie mal ab ins Wochenende. Ich mach hier noch ein bisschen klar Schiff, ich komme nicht gerne in eine leere Wohnung.“

Joe angelte gerade nach seiner Jacke, die hinter seinem Drehstuhl auf dem Boden lag, mit einem Ärmel unter einer Stuhlrolle, als das Telefon klingelte.

„Wehe!“, stöhnte Spengler und nahm ab, weil Joe noch in den Kampf mit Stuhl und Jacke verstrickt war. Er lauschte, seufzte, schrieb sich etwas auf und sagte schließlich Worte, die Joe das Schlimmste befürchten ließen. „Ja gut, wir kommen. In zehn Minuten sind wir da.“

„Harry, hol schon mal den Wagen?“, fragte Joe beklommen.

Spengler nickte. „Eine Leiche im Hinterhof. Univiertel. Sieht nach Messerstecherei unter Betrunkenen aus. Bestellen Sie den Wagen, ich fordere die Spurensicherung an.“

Nach zwei hastigen Telefonaten machten sie sich auf den Weg.

Der Tatort war durch den Streifenwagen, der mit eingeschaltetem Blaulicht davor stand, leicht zu erkennen, und die übliche Gruppe Zuschauer hatte sich auch bereits eingefunden, allerdings noch keine Presse. Hörten die bei Local One etwa nicht mehr den Polizeifunk ab? Oder kamen sie nicht mehr an alle Fakten, seitdem die Polizei zunehmend mit Privathandys kommunizierte?

Joe parkte gegenüber und sie betraten den Hof, der bereits mit zwei tragbaren Scheinwerfern erleuchtet war. Ein uniformierter Beamter kam auf sie zu: „Ein Gast der Krassen Kati. Erstochen.“

„Bitte?“, konnte sich Joe nicht verkneifen.

„Erstochen“, wiederholte der Beamte leicht erstaunt.

„Nein. Krasse Kati? Wer ist das denn?“ Es klang nach einer Unterweltgröße.

„Das Lokal hier heißt halt so“, erläuterte der Polizeimeister. „Wahrscheinlich, weil die Adresse Katharinenstraße lautet. Jedenfalls, der Tote hat hier mit Freunden getrunken -“

„Bitte“, unterbrach Spengler, „lassen Sie doch dieses Zombiegerede. Meinetwegen sagen Sie das Opfer – aber ein Toter kann nicht trinken.“

Der Uniformierte nahm noch etwas mehr Haltung an und las die übrigen Fakten mit beleidigtem Unterton von seinem Notizblock ab: „Also, das Opfer heißt Wenzel, Achim Wenzel, dreißig Jahre alt, hat hier mit drei Freunden gesessen und Bier getrunken. Dann wollte er wohl zur Toilette und kam nicht zurück, also haben seine Freunde, die selbst nicht mehr ganz nüchtern sind, den Wirt alarmiert. Der hat auf der Toilette nachgesehen und dann im Hof. Anscheinend neigen die Gäste, wenn sie etwas angeschlagen sind, dazu, sich lieber auf dem Hof – äh – zu erleichtern, anstatt die steile Treppe in den Keller zu nehmen.“

Ja, so roch es hier auch: Bier, Müll, Abgase und Urin. Joe sah sich naserümpfend um – ein typischer Hinterhof zwischen unrenovierten Altbauten, düster, eng, voll gestellt, mit feuchten Wänden und ohne das geringste Fitzelchen Grün.

„Gut, danke.“ Spengler trat an die Leiche heran, die unter einem Tuch lag.

„Arzt und Spurensicherung kommen gleich“, informierte er den zweiten Beamten, der neben dem weißen Bündel hockte, und nickte ihm zu, worauf der das Tuch ein Stück zurückschlug. Zum Vorschein kam das Gesicht eines recht gut aussehenden jungen Mannes, der erstaunt wirkte und sie aus babyblauen Augen anstarrte. Das helle Haar war zerzaust, die Haut leicht gebräunt.

„Hübscher Kerl“, kommentierte Spengler. „Vielleicht war´s eine Frau“, schlug Joe etwas schüchtern vor. „Eifersucht oder so.“

„Warten wir´s ab.“

Der Beamte schlug das Tuch weiter zurück, zum Vorschein kam ein sorgfältig gebügeltes weiß-blau gestreiftes Hemd, das durch einen großen und zwei kleine Blutflecke verunziert wurde.

„Drei Stiche“, murmelte Spengler. „Die kleinen Flecken – Joe?“

„Entweder nicht tödlich oder post mortem?“, antwortete dieser etwas unsicher.

„Brav. Könnte durchaus sein. Naja, warten wir auf den Arzt, der kann uns sicher mehr sagen. Wo sind denn diese Saufkumpane?“

„Drinnen. Im Nebenzimmer. Der Kilian passt auf sie auf.“

„Ausgerechnet!“, seufzte Spengler. POM Franz Kilian pflegte den Zeugen jedes Gespräch zu verbieten, anstatt einfach mitzuschreiben.

Sie betraten das Lokal durch den Hintereingang. Sehr attraktiv präsentierte es sich nicht: Direkt neben der Tür ging es steil hinunter zu den Toiletten, wie man auch deutlich riechen konnte; die Wände des schmalen Gangs waren voll gestellt mit Putzeimern (die anscheinend selten benutzt wurden), leeren Bierträgern, zwei Körben Altpapier und einem Stapel leerer Kartons, der jeden Moment in sich zusammenzufallen drohte. „Was für ´ne Kaschemme“, murmelte Spengler.

„Vielleicht ist das Bier gut?“, mutmaßte Joe. Spengler angelte eine der leeren Flaschen aus dem Träger. „Finden Sie? Ich weiß ja nicht...“

Joe betrachtete traurig die Flasche. „Nein, wirklich nicht. Und essen würde ich hier auch nichts. Ist ja ekelhaft!“

Durch einen Perlenvorhang betraten sie das Lokal, wo die Bedienung eifrig Gläser spülte. „Sind Sie von der Polizei? Die drei sitzen da drüben.“ Im Nebenraum fanden sie die drei, die alle in ein Bierglas starrten und schwiegen; Kilian stand neben der Tür stramm und fixierte sie, als habe er sie bereits des gemeinschaftlichen Mordes überführt. Spengler schickte ihn nach draußen, was ihn zu kränken schien.

„Nun, meine Herren“, begann er dann und setzte sich zu den dreien, während Joe sich bescheiden an den Nachbartisch verzog und sein Notizbuch aufschlug, „dann bräuchte ich zunächst mal Ihre Namen.“

Joe notierte Dieter Regensburger, Hans-Joachim Pfeifer und Ulrich Löbl und harrte weiterhin der Dinge mit halb erhobenem Kugelschreiber.

„Sie waren hier mit Achim Wenzel verabredet?“

„Ja“, sagte Pfeifer, „wie jeden Freitag. Das ist sozusagen unser Stammtisch. Schauen Sie, wir schuften die ganze Woche für einen Hungerlohn, und am Wochenende haben wir die liebe Familie am Hals. Da braucht man doch wenigstens mal einen schönen Abend.“

„Ah ja. Und was schuften Sie so für einen Hungerlohn?“

Pfeifer war Elektriker, Regensburger Verwaltungsangestellter (Joe bemühte sich, nicht höhnisch zu prusten – schuften? Hungerlohn??) und Löbl machte die Büroarbeit bei einer Spedition.

„Und Herr Wenzel?“

„Der war was Besseres – aber das hat er sich nie raushängen lassen. Naja, fast nie. Er war Diplomkaufmann“, verkündete Löbl so stolz, als falle von diesem akademischen Glanz auch etwas auf sie ab.

„Und worüber haben Sie sich so unterhalten, bei Ihren Stammtischen?“

„Sagen Sie das bloß nicht so, als hätte Achim mit uns Prolls kein gemeinsames Thema finden können!“, brauste Regensburger auf.

„So hab ich das doch gar nicht gemeint“, beschwichtigte Spengler. „Also?“

„Naja – das Übliche eben. Fußball... Weiber... was man mal machen müsste...“

„Und, was müsste man mal so machen?“

„Zum Beispiel eine Reise. Ohne unsere Ehekreuze. Vielleicht mal nach Asien...“ Löbl schaute so lüstern, dass es Joe in der rechten Faust zu jucken begann. „Oder mal eine Saison lang zu jedem Auswärtsspiel.“

„Oder mal zusammen in einen richtig scharfen Puff“, warf Pfeifer ein und zwinkerte Spengler zu. Der warf ihm einen mitleidigen Blick zu, sagte aber zunächst nichts. „Obwohl“, sinnierte Regensburger, „der Achim, der war ja ganz gut versorgt...“

„Aha. Seine Frau ist also kein Ehekreuz?“

„Die? Und wie! Drei Bälger, das müssen Sie sich mal vorstellen! Drei Bälger in vier Jahren!“

„Na“, warf Joe ein, „die hat sie ja wohl nicht ganz alleine gemacht, oder?“

„Reingelegt hat sie ihn! Er musste sie heiraten! Und dann hat sich´s nicht mal gelohnt. Und aufpassen kann sie auch nicht, immer wieder – zack!“

„Wieso hat er denn nicht aufgepasst?“, wollte Spengler wissen, von dieser Ehe nun doch fasziniert.

„Er? Wieso denn er? Das ist doch Weiberkram. Und so mit ´nem Gummi, das macht ihm keinen Spaß, hat er gesagt. Nee, die Iris ist nicht die Traumfrau. Aber er hat ja noch die Cora. Und was er von der erzählt hat, was die alles mit sich machen lässt – Junge, Junge! Da hat er uns vorhin erst Sachen ins Öhrchen geflüstert..."

„Zum Beispiel?“

Pfeifer wand sich, anscheinend war er einer von der Sorte, die gerne Obszönitäten hörte, sie aber nicht aussprechen konnte. Je lüsterner, desto verklemmter, dachte Joe und spitzte die Ohren. Was dieses sagenhafte Cora mit sich anstellen ließ, interessierte ihn nun doch. Außerdem musste es in den Bericht.

„Naja, also – äh – er hat nicht den üblichen Weg genommen... Ich meine, so was sieht man ja sonst nur im Film, nicht... da haben wir dann schon gestaunt.“ Sobald er die Klippe umschifft hatte, sprach er schneller, als sei er erleichtert. „Analverkehr?“, fragte Spengler, und Joe staunte, wie geschäftsmäßig, beinahe gelangweilt seine Stimme dabei klang.

„Äh – also, ja. Kann man so sagen, ja.“ Pfeifer wischte sich über die Stirn.

„Und das hat er so herumgetratscht.“ Spengler stellte das einfach fest.

„Na, warum auch nicht? Ich meine, er hat ganz gerne mal ein bisschen erzählt, wie gut er es mit den Mädels konnte. Er war ja auch ein toll aussehender Kerl.“ Naja, besser als ihr drei Jammergestalten allemal, dachte sich Joe. Hühnerbrust, Halbglatze, Bierbauch. Instinktiv fuhr sich durch sein volles dunkelblondes Haar und spannte kurz seine wohltrainierten Bauchmuskeln an.

„Außerdem waren wir seine Freunde“, mischte sich Löbl ein. „Wem hätte er es denn sonst erzählen sollen? Seiner Alten vielleicht?“

„Vielleicht hatte er sogar noch eine dritte Tussi“, überlegte Regensburger.

„Was?“, fragten Spengler, Löbl und Pfeifer zugleich und starrten ihn an. Pfeifer, der am blödesten geglotzt hatte, fasste sich auch als erster: „Du meinst den Anruf vorhin? Stimmt. Das war sicher seine Neueste.“

„Was hat sie denn gesagt?“, fragte Spengler und versuchte, nicht allzu neugierig zu klingen. „Gar nix. War ´ne SMS. Schauen Sie doch auf sein Handy! Wir haben noch geblödelt, weil wir erst dachten, er kriegt eine SMS und geht sofort aufs Klo, als ob er nicht von selbst merkt, dass das Bier wieder raus will.“

„Joe, haben wir sein Handy?“

Joe sah auf. „Soll ich fragen gehen?“

„Ich bitte darum. Und bestellen Sie noch drei Bier, ja?“

„Sie sind richtig!“, lobte Pfeifer. „Für´n Bullen, meine ich.“

Joe eilte in den Hof und orderte unterwegs drei Helle. Die Spurensicherung war noch zugange, und ein Beamter überreichte ihm eine Plastiktüte: „Die Geldbörse des Toten und seine Uhr. Und ein Kamm.“

„Kein Handy?“

„Nö. Kein Handy, kein Ehering.“

Joe hastete zurück. Spengler sah auf und registrierte stirnrunzelnd Joes bedauerndes Kopfschütteln. Die drei Freunde des Opfers bekamen gerade ihr frisches Bier und waren abgelenkt, so konnte Joe seinem Chef kurz die Tüte mit den übrigen Habseligkeiten zeigen. Spengler wandte sich wieder den dreien zu, die alle drei ein frischer Schaumschnurrbart zierte. Unisono hoben sie die Gläser. „Prost – und danke!“

„Der Achim wollte ja eine Runde schmeißen, wenn er wiederkommt“, sinnierte Löbl. „Schöne Scheiße.“

Freitag, 15.04.2005: 20:00

„Ich werde hier noch zur Frustesserin“, verkündete Bille und machte ihrem üppigen Geflügelsandwich den Garaus. „Wem sagst du das“, seufzte Laura. „Alles grau in grau. Und jetzt löst sich auch noch mein Fahrrad auf!“

„Wenigstens hast du nicht immerzu das Gefühl, einen gigantischen Fehler gemacht zu haben“, beharrte Bille darauf, die weitaus Ärmere zu sein.

„Was? Wo ich mich täglich frage, ob das nicht der größte Blödsinn war, einfach so Knall auf Fall auszuziehen?“

„Bei dir geht´s doch bloß um eine Wohnung, du findest bestimmt wieder was Schöneres. Aber ich bin für den Rest meines Lebens an diesen Idioten gefesselt!“ Es geht absolut nicht bloß um eine Wohnung, ärgerte sich Laura, aber bevor sie das erklären konnte, musste erst einmal Bille Dampf ablassen dürfen. Also fragte sie gehorsam: „Was hat er denn gemacht?“

„Frag nicht“, seufzte Bille, aber das war rein rhetorisch. „Er macht eben gar nichts! Er liest beim Frühstück Zeitung, geht zur Arbeit, kommt heim, isst kommentarlos, was ich ihm vorsetze, und verschwindet in den Keller. Irgendwann geht er schlafen – zu was anderem kommt er auch nicht mehr ins Bett – und am nächsten Morgen geht das Ganze von vorne los.“

„Wie lange seid ihr jetzt verheiratet?“

„Zwei Jahre. Das Haus haben wir jetzt seit zehn Monaten, und es ist fertig eingerichtet. Er muss nichts basteln! Tut er eigentlich auch nicht“, fügte sie nach kurzem Überlegen hinzu, „jedenfalls sehe ich keine Ergebnisse. Vielleicht guckt er da unten bloß Fußball, da steht noch ein alter Fernseher. Aber verdammt, Laura, er führt sich auf, als wären wir schon dreißig Jahre verheiratet! Grade, dass er mich nicht Mutti nennt!“

„Und wann redet er noch mit dir?“

„Wenn der Service nicht stimmt“, antwortete Bille bitter. „Wenn kein gebügeltes weißes Hemd mehr da ist oder ich was koche, was er nicht mag. Er kümmert sich ja um nichts, er hat mal gesagt, er hat nicht geheiratet, um weiter Dosenravioli zu essen.“

„Stell ihm ein paar Dosen Ravioli hin und fahr ein paar Tage weg“, schlug Laura vor.

Bille knurrte. „Wie denn? Erstens krieg ich im Moment keinen Urlaub, bis die Präsentation durch ist, und zweitens fällt ihm dann auch bloß wieder auf, dass der Service hakt. Er soll mich vermissen, nicht bloß sein Futter! Da hätte ich mir auch eine Katze kaufen können, die würde nach dem Fressen wenigstens schnurren.“

„Hm.“ Laura nahm einen großen Schluck Bier. „Hast du ihm das mal gesagt? Ich meine, dass du unzufrieden bist?“

„Klar. Er hat überhaupt nicht verstanden, was ich wollte – ich hätte doch alles!“

„Was hast du denn?“

„Hab ich auch gefragt. Sagt er doch glatt, das Haus! Als ob ich das Riesending gewollt hätte! Er hat wegen Altersvorsorge rumgepanikt, und ich putze mich darin tot! Meinetwegen hätten wir´s ruhig eine Nummer kleiner nehmen können. Ich habe einen Haufen Arbeit neben meiner Arbeit und in meiner Freizeit nur Langeweile. Sagt er, ich muss ja nicht arbeiten. Sag ich, dann langweile ich mich ja endgültig zu Tode, den ganzen Tag in der Hütte und vierundzwanzig Stunden lang redet keiner mit mir. Sagt er doch glatt, ich soll nicht so übertreiben – acht Stunden davon würde ich doch eh schlafen.“

„Wie wär´s mit einem Liebhaber?“

„Hab ich auch schon überlegt. Aber so was mag ich nicht – Fremdgehen ist irgendwie doch immer mies. Meinetwegen, wenn einen der Blitz trifft, aber so kaltblütig losgehen und sich was zum Vögeln suchen – das kann ich nicht. Wahrscheinlich sollte ich an der Volkshochschule so einen Hausfrauenkurs machen und Leidensgenossinnen kennen lernen.“

„Blumenstecken? Oder Spanisch für den Urlaub?“

„Urlaub?“, jaulte Bille. „Welchen Urlaub? Aber Bille, wir haben doch den Garten, wozu dann noch wegfahren?“

„Und den Garten musst du pflegen.“

„Klar. Und ihm ab und zu ein frisches Bier bringen. Und sobald ich das Wort an ihn richte, verzieht er sich wieder in den Keller, angeblich, weil es ihm zu heiß ist. Und jetzt im Winter war das Schneeschaufeln natürlich auch mein Job. Einmal war er ehrlich sauer, weil ich zwar den Fußweg und den Weg zum Gartentor geräumt hatte, aber nicht extra einen Weg für ihn zur Fahrertür. Ich glaube, ich frage ihn mal, wozu er mich eigentlich geheiratet hat.“

„Täte ich auch. Aber ich kann´s mir denken. Für den guten Service und weil man in seiner Position ab einem gewissen Alter eben verheiratet sein muss. Sonst hat der Chef Angst, dass sein neuer Assistant Manager Gott behüte schwul ist oder in einem ungebügelten Hemd auftaucht. Solche alten Säcke halten Frauen doch immer noch für Dienstboten.“

„Junge Säcke schon auch noch. Chris ist schließlich kein bisschen besser. Ich glaube, ich lass mich scheiden.“

„Überstürze nichts. Droh ihm doch erstmal damit!“

„Wenn er das überhaupt als Drohung auffasst“, meinte Bille düster und bestellte sich ein neues Bier.

Freitag, 15.4.2005: 20:30

„Nicht übel“, meinte Joe und blickte an der Jugendstilfassade in der Sophienstraße hoch. „Hätte ich nach all diesen Erzählungen nicht gedacht. Die hörten sich so nach Sozialbau an, diese Kerle.“

„Stimmt. Nur Fußball, Saufen, Weiber. Aber die haben ja selbst gesagt, dass dieser Achim etwas Besseres war.“

„Genützt hat´s ihm nicht viel. Und er scheint genauso primitiv gewesen zu sein wie die anderen. Die arme Frau.“

„Warten wir´s ab. Himmel, ich hasse es, die Familie zu informieren“, murrte Spengler und klingelte.

Im zweiten Stock öffnete sich eine reich geschnitzte Tür und eine zierliche junge Frau in Jeans und einem flauschigen Pullover sah sie fragend an. Joe schluckte. „Frau Wenzel?“

„Ja? Wer sind Sie?“

Spengler hielt seinen Ausweis hoch. „Kripo Leisenberg. Dürfen wir eintreten?“

Sie öffnete die Tür etwas weiter. Drinnen herrschten Parkett und Stuck vor – eine Traumwohnung, allerdings schäbig eingerichtet und etwas unordentlich. Ein kleiner Junge im Teletubbies-Schlafanzug sauste davon und im Hintergrund schrie ein Baby.

„Entschuldigen Sie“, murmelte die junge Frau. „Setzen Sie sich doch, ja? Ich bin sofort wieder da.“

Joe und Spengler setzten sich und sahen sich um. Die Möbel waren alt – nicht antik, sondern einfach unmoderne und ziemlich abgewohnte Möbel aus den frühen Sechzigern. In einer Ecke lagen Legosteine, in einer anderen einige Bilderbücher und die Wagen einer Plüscheisenbahn.

„Die arme Frau“, wiederholte Joe.

Spengler grinste. „Sie ist genau der schutzbedürftige Typ, auf den Sie anspringen, was?“

Frau Wenzel kam zurück, ein Baby auf dem Arm, das halblaut vor sich hin quengelte. Sie setzte sich auf das scheußliche Sofa mit den Kunstlederarmlehnen und platzierte das Baby auf ihrem Schoß, von wo aus es die beiden Fremden misstrauisch beäugte.

„Sie kriegt Zähne, deshalb ist sie so unleidlich. Hoffentlich bleibt Luca jetzt endlich im Bett und weckt Vivian nicht auch noch auf. Sie wollten mich sprechen? Entschuldigung, möchten Sie etwas zu trinken? Ich könnte Tee -“

„Nein danke“, hinderte Spengler sie am Aufstehen. „Frau Wenzel, wir haben eine schlechte Nachricht für Sie.“

Sie seufzte. „Hat er sich geprügelt?“

„Wer? Ihr Mann?“

„Ja. Er hat doch freitags seinen Stammtisch, und wenn er zu viel getrunken hat, wird er leicht aggressiv. Da müssen bloß ein paar Bayernfans auftauchen.“

„Ob er sich geprügelt hat, wissen wir nicht“, fuhr Spengler fort, „aber wir haben ihn heute Abend gefunden. Ihr Mann ist tot, Frau Wenzel.“

Sie hörte auf, ihr Baby zu streicheln. Sie erstarrte mitten in der Bewegung und ihre Augen wurden groß. Joe spürte einen Kloß in der Kehle. Sie war noch so jung, fast noch ein Mädchen!

„Tot“, murmelte sie – keine Frage, sondern eine Feststellung.

„Tot... ein Unfall?“

„Wohl eher nicht. Er scheint erstochen worden zu sein. Ich weiß, das ist jetzt ein Schock für Sie, Frau Wenzel, und es kommt Ihnen sicher sehr rücksichtslos vor, wenn wir Sie sofort mit Fragen belästigen, aber je eher wir den Mörder haben...“ Sie machte eine müde Handbewegung und gab dem Baby die Brotkruste zurück, die ihm aus der Hand gefallen war. „Nein, fragen Sie nur. Ich kann mir bloß nicht vorstellen, wer -“

„Hatte Ihr Mann Feinde?“

Sie zuckte die Achseln. „Ich glaube nicht. Er war nicht bei allen Leuten beliebt, weil er sich gerne mit anderen angelegt hat, aber so arg war das alles nicht. Nein, richtige Feinde bestimmt nicht.“

Joe notierte sich das.

„Haben Sie ein Handy?“

„Ja, natürlich. Soll ich´s holen?“

„Bitte. Ich nehme gerne solange die Kleine. Wie heißt sie denn?“

„Zoë.“ Sie reichte ihm das Baby, das ihm gastfreundlich die durchweichte Brotkruste hinhielt und etwas brabbelte, das wie Babapp klang.

„Hat sie jetzt Papa gesagt?“, staunte Joe.

„Hat sich fast so angehört.“ Spengler wirkte richtig gerührt. Frau Wenzel kam mit dem Handy zurück. „Hier. Der Akku ist fast leer, aber es ist eingeschaltet.“

Sie nahm ihr Baby wieder an sich. „Sie kann ja schon sprechen“, lobte Joe. Als sie das Baby hochhob, rutschten ihre weiten Ärmel zurück, und was er da sah, gefiel ihm nicht.

„Eher plappern“, korrigierte Frau Wenzel. „Was hat sie denn gesagt?“

„Papa.“

„Ja, das sagen alle als erstes, glaube ich. Der P-Laut scheint leicht zu bilden zu sein. Das haben Luca und Vivian auch als erstes gesagt. Das heißt nicht, dass sie sehr an ihrem Vater hängen. Er ist selten da und kann mit so kleinen Kindern auch nicht viel anfangen. Konnte, muss ich jetzt wohl sagen.“ Sie schluckte. Spengler, der an dem Handy herumgedrückt hatte, sah auf. „Sie benutzen das Handy selten?“

„Nein, ich brauch´s ziemlich oft sogar. Warum?“

„Die letzte SMS haben Sie Anfang März verschickt.“

„Ja, SMS mag ich nicht, das dauert immer so lange. Ich hab das Handy eigentlich nur, damit ich erreichbar bin und im Notfall selbst schnell jemanden erreichen kann. Babysitter, meine Mutter, meine Schwägerin -“

„Ihren Mann...“

„Nein. Der mag es gar nicht, wenn ich ihn anrufe. Ich störe ihn doch bloß bei der Arbeit oder im Gespräch mit seinen Freunden.“

„Ich sehe gerade, Sie haben nicht einmal seine Nummer gespeichert.“

„Ja, wozu auch?“

Spengler notierte sich die gespeicherten Nummern und gab das Handy zurück. „Danke schön. Für den Moment war´s das, denke ich. Haben Sie jemanden, der heute bei Ihnen bleibt? Damit Sie nicht ganz alleine sind?“

Sie zuckte die Achseln. „Die Kinder. Und wenn das nicht reicht, kann ich ja noch meine Schwägerin anrufen. Die weiß es noch gar nicht, oder?“

„Nein. Die Schwester Ihres Mannes?“

„Ja. Sabine. Die Nummer haben Sie ja.“

Spengler ließ sich die Adresse geben: Benediktsweg – in Mönchberg.

„Dann schauen wir mal bei Ihrer Schwägerin vorbei.“

In der Tür drehte Joe sich noch einmal um und sagte: „Mein Beileid.“

Frau Wenzel lächelte trübsinnig. „Danke schön.“

Freitag, 15.4.2005: 21:00

Ferdi hatte die Wohnung wirklich herunterkommen lassen, ärgerte sich Marc, als er die so genannte Abstellkammer ausräumte. Anscheinend hatten hier alle alles hineingestopft, was sie gerade nicht mehr brauchten. Er hatte sicherheitshalber Ferdi angerufen – aber der hatte nur gesagt: „Schmeiß das Zeug weg, ich bin sicher, die anderen brauchen es auch nicht mehr. Sonst hätten sie´s ja wohl mitgenommen, oder?“

Er ärgerte sich jetzt noch, wenn er daran dachte, dass er sich fast demütig bei Ferdi für diese Erlaubnis bedankt hatte. Verflixt, es war doch schließlich seine Wohnung! Er hatte Ferdi und seine verschlampten Freunde nur hier wohnen lassen, so lange er die Wohnung selbst nicht brauchte.

Ein Zeug lagerte hier... Er stopfte einen großen Müllsack voll mit halbleeren Flaschen mit Sonnenmilch, Schuhputzlotion, dubiosen Putzmitteln, stapelte Zeitschriften in einen Korb für das Altpapier und dachte an Ferdis Mitbewohner. Die meisten hatte er ja nur noch flüchtig kennen gelernt – Ferdi hatte ihm bei der Abreise nach London flüchtig zugewinkt, Holger und Sylvia hatten geheiratet und waren aufs Land gezogen, wobei ihm nur die Rolle eines entfernt bekannten Gratulanten zugekommen war. Und Laura – tja, Laura hatte ihn vom ersten Augenblick an nicht leiden können und war nach einer Woche verkrampfter Höflichkeit Hals über Kopf ausgezogen. Spurlos verschwunden. Ihr Problem: Wenn er irgendetwas Wertvolles finden sollte, das ihr gehörte, würde er es eben wegwerfen!

Eigentlich eine Sünde – in einer Fünfzimmer-Altbauwohnung in einem klassizistischen Haus, mit Stuck und Parkett und einem Balkon mit Sandsteinbrüstung eine WG aufzuziehen! Sylvia hatte obendrein überall Dübel eingeschlagen, und Ferdi hatte den Boden in seinem Zimmer gründlich ruiniert. Hatte er da Wasser ausgegossen oder was? Das Parkett warf sich, das musste raus, es war nicht mehr zu retten.

Er schleifte Müllsack und Korb zur Wohnungstür, die würde er nachher mitnehmen. Lauras Zimmer war noch am ehesten benutzbar – sie hatte es völlig leer und picobello geputzt hinterlassen. Hier hatte er seine Matratze ausgerollt und seinen Kleidersack an die Tür gehängt.

Am schlimmsten war die Küche. Laura hatte zwar in dieser einen Woche verzweifelt geschrubbt, aber die Einrichtung war hässlich, zusammengewürfelt und abgewohnt. Typisch WG – der große, schäbige Tisch in der Mitte. Wahrscheinlich hatten sie da über den Putzplan diskutiert oder gestritten, wer sich nicht genug einbrachte – nannte man das nicht so? Marc kannte WGs nur aus Büchern.

Schließlich – wer zog schon in eine WG, wenn er nicht entweder auf alternative Lebensformen stand oder total pleite war? Und pleite war er noch nie gewesen, dazu verstand er wirklich zu viel von der Börse.

Bloß gut, dass er fast alles online erledigen konnte; dieses Chaos konnte er keinem Mandanten vorführen. Sein Laptop piepte, ein Zeichen dafür, dass sich an der NYSE etwas tat. Er eilte hin, bewegte die Maus und studierte den Bildschirm. Aha – interessant... Er dachte einige Minuten lang nach, berechnete die Möglichkeiten und kaufte und verkaufte dann schnell einige Positionen. Gut, damit hatte er mal wieder in einer Viertelstunde ein lässiges Monatsgehalt verdient. Dann konnte er ja mit der Rumpelkammer noch etwas weitermachen, die sollte nämlich mal sein Arbeitszimmer werden. Eine Rumpelkammer mit Blick auf den Balkon – Ferdi war wirklich ein Idiot! Ob der in London auch in der Abstellkammer hauste und das beste Zimmer mit Gerümpel füllte? Bei den horrenden Mieten dort konnte er sich wahrscheinlich überhaupt bloß eine Abstellkammer leisten, in einem minderen Viertel wie Clapham oder Elephant and Castle. Aber Ferdi wollte ja unbedingt in London arbeiten...

Wenn er die Rumpelkammer cremeweiß streichen ließ und den Stuck in hellem Beige... dazu das aufpolierte Parkett, eine helle Büroausstattung, Birke und Stahl vielleicht, einen cremeweißen Ledersessel... oder streng in Schwarzweiß? Nun, das hatte noch Zeit. Frühestens in zwei Wochen war die Wohnung bereit für die Maler und den Parkettfritzen. Und die Bäder, die im matten Charme der Sechziger prangten – himbeerrosa Kacheln, fast jede zweite gesprungen! – mussten ebenfalls gründlich saniert werden. Währenddessen würde er weiter in Lauras Zimmer hausen, dort musste fast nichts gemacht werden.

Er warf zwei potthässliche leere Bilderrahmen in die nächste Mülltüte und ging sich die Hände waschen. Also gut, die Rumpelkammer würde das Arbeitszimmer. Sylvias Zimmer daneben die Bibliothek – oder umgekehrt? Na, mal sehen. Sylvias Zimmer war allerdings um die Hälfte größer. Repräsentativer, das musste man schließlich auch bedenken. Ferdis Zimmer als Wohnzimmer, das von Holger als Schlafzimmer. Ja, das war eine gute Aufteilung, das bessere Bad war direkt gegenüber.

Er setzte sich auf seine Matratze. Und Lauras Zimmer? Das war irgendwie übrig geblieben. Komisch. Gästezimmer? Das andere Bad war direkt daneben... Nein, wozu denn? Wer übernachtete denn schon bei ihm? Sollte er sich wirklich wieder einmal eine Frau anlachen, würde sie ja wohl in seinem Bett schlafen!

Kein Gästezimmer. Wenn es immerzu leer stand, war das irgendwie auch deprimierend. So sehr musste er es sich ja auch nicht unter die Nase reiben, dass ihn niemand besuchte. Andererseits – wollte er überhaupt Besuch haben?

Dann blieb Lauras Zimmer eben erst einmal leer.

Trotzdem – er wusste immer noch nicht, warum sie ihn auf den ersten Blick so quer gefressen hatte. Was hatte er ihr denn getan? Dass er den Zustand bemängelt hatte, in dem die anderen ihre Zimmer hinterlassen hatten, konnte es ja wohl nicht gewesen sein – die waren objektiv verdreckt gewesen. Von dieser kollektiven Rumpelkammer ganz zu schweigen.

Wenn er an diesen kulleräugigen Blick dachte – eigentlich mochte er solche Frauen ja überhaupt nicht. Taten immer so naiv und großäugig und waren dann ganz ausgekocht, wenn es ums Abzocken ging. So was kannte er schon. Nein, wirklich nicht. Da halfen braune Kulleraugen gar nichts.

Seine Traumfrau sah überhaupt ganz anders aus. Mehr so der Typ Grace Kelly: blond, kalt, überlegen. Eine Dame eben. Mit Stil. Diese Laura... in zerrissenen Jeans und einem Sweatshirt mit saublöder Aufschrift... was hatte darauf gestanden? Bücher schenken tausend Leben. Wahrscheinlich ein Werbegeschenk aus der Unibuchhandlung. Nein, eine Frau, die in Werbegeschenken herumlief, war nichts für ihn. Und – wie hatte sie ihn genannt? Einen Taschenrechner auf zwei Beinen? Nein, einen zweibeinigen Taschenrechner. Frechheit! Er verbannte sie aus seinen Gedanken, in denen sie ohnehin nichts zu suchen hatte, und füllte die nächste Mülltüte. Was die Leute alles aufhoben! Das hätte man doch alles sofort und ohne nachzudenken in den Müll werfen können?

Freitag, 15.4.2005: 21:45

„Die Frau tut mir aber trotzdem Leid“, beharrte Joe, als sie in Mönchberg im Benediktsweg parkten.

„Gute Gegend“, lobte Spengler und öffnete seine Tür. „Ja, mir auch. Jetzt steht sie da mit drei kleinen Kindern. Aber glauben Sie, dass dieser Achim so ein Verlust war? Betrogen hat er sie schließlich auch.“

„Und grob angepackt. Haben Sie die blauen Flecken an ihren Armen gesehen?“

„Sicher. Vielleicht ist sie so besser dran. Allerdings könnte sie so auch ein ganz nettes Motiv haben, nicht?“

„Chef, das ist nicht ihr Ernst! Diese kleine Frau?“

„So klein ist sie nicht, sie wirkt nur so auf uns. Und man braucht nicht viel Kraft, um einem Angetrunkenen ein Messer hineinzurennen. Morgen fragen wir sie mal nach ihrem Alibi.“

„Die Frau hat gerade ihren Mann verloren!“

„Eben. Vielleicht war das genau ihr Ziel? So, und jetzt die Schwester.“

„Verdächtigen Sie die etwa auch?“

„Wer weiß? Aber erst mal hoffe ich, dass sie uns etwas über den teuren Verblichenen erzählen kann.“ Er klingelte, und Joe wartete neben ihm.

Nichts. Spengler klingelte noch einmal. Wieder nichts. Nur in der Ferne das Zuschlagen einer Autotür und das Fiepen einer Fernbedienung. Und noch weiter weg das Geräusch eines vorbeifahrenden Zuges.

„Treibt sich rum, die Gute“, kommentierte Joe.

„Schönberger, bitte! Es ist Freitagabend. Verkneifen Sie sich die moralinsauren Anwandlungen. Vielleicht ist sie im Theater oder bei einer Dichterlesung.“

„Dann wäre sie aber ganz schön aus der Art geschlagen, wenn man sich den Bruder vor Augen hält. Auf jeden Fall ist sie nicht da.“

Sie wandten sich ab und stießen fast mit einer Frau zusammen, die sie nicht bemerkte, weil sie in ihrem Lacktäschchen nach dem Schlüssel kramte. Irritiert sah sie schließlich auf. Um die dreißig, registrierte Joe. Gut zurechtgemacht, aber in der Basis eher unscheinbar. Blond, blauäugig, ein bisschen rundlich. Sie kam ihm vage bekannt vor, aber ihm fiel nicht ein, woher.

„Wollen Sie etwa zu mir?“

„Wenn Sie uns sagen, wie Sie heißen?“, fragte Spengler zurück. Ihr Gesicht verschloss sich. „Wer sind Sie denn überhaupt?“

„Kripo Leisenberg. Wir suchen Frau Wenzel.“

„Das bin ich“, gab sie zu, harmlos erstaunt. „Was ist denn passiert? Hab ich falsch geparkt oder was? Ist – o Gott, ist bei mir eingebrochen worden?“ Sie wollte zur Haustür stürmen, wurde aber von ihrem wadenlangen Rock etwas behindert. „Warten Sie doch! Bei Ihnen ist nicht eingebrochen worden. Es geht um Ihren Bruder.“

„Achim? Was ist mit ihm?“ Sie schien sich wieder beruhigt zu haben.

„Es tut mir sehr Leid, aber Ihr Bruder wurde heute tot aufgefunden“, brachte Spengler es hinter sich. Ihre Augen weiteten sich, aber sie schwieg. Dann sagte sie: „Kommen Sie mit rauf.“

Sie folgten ihr in den ersten Stock, wo sie eine weißlackierte und mit Messing verzierte Wohnungstür aufschloss und den beiden bedeutete, einzutreten. Sie knipste das Licht an und wies aufs Wohnzimmer. „Setzen Sie sich doch, bitte.“

Joe fand es immer wieder interessant, sich in fremden Wohnzimmern umzusehen. Richteten die Leute sich eigentlich so ein, wie es ihnen wirklich gefiel oder so, wie sie wirken wollten? Oder gingen sie mit der Mode?

Sabine Wenzel – verflixt, auch den Namen kannte er irgendwo her! – hatte ihr Wohnzimmer, einen durchschnittsgroßen und standardmäßig weiß gestrichenen Raum mit dunkelgrauem Teppichboden, einem Fenster und einer Sprossentür, die auf den Balkon führte, sehr nüchtern eingerichtet. Weiße Regale, gefüllt mit Büchern, selbst aufgenommenen Videokassetten, die penibel mit gedruckten Etiketten beklebt waren, einigen DVDs und CDs und einigen ordentlichen weißen Pappschachteln, die ebenfalls sauber etikettiert waren: „Kassetten“, „Postkarten“, „Stadtpläne.“ Joe war beeindruckt. Bei ihm und bei allen Leuten, die er kannte, enthielten solche Kisten nie das, was draufstand – bei dieser Frau aber garantiert schon.

Zwei dunkelgraue Zweisitzer ohne Zierkissen, dazwischen ein vollkommen leerer weißer Tisch – das Standardmodell von Ikea, das Joe erkannte, weil er es selbst besaß - , an der Wand ein kleiner Esstisch in weiß mit zwei ebenfalls weißen, ungepolsterten Stühlen. Weiße, glatte Gardinen, eine weiße Lampe mit dunkelgrauem Rand. Sehr monochrom, das alles. Und alles von Ikea, wenn ihn seine Erinnerung nicht trog. Gefiel ihr genau diese Kombination oder gab es sie exakt so im Katalog? Eher nicht, glaubte er, im Katalog wäre das alles noch mit Sofakissen und diversem Schnickschnack dekoriert gewesen.

Sabine Wenzel kam zurück, nun ohne die gefütterte Jacke. Sie trug ein matt schimmerndes Kostüm aus dunkelbraunem Taft oder einem ähnlichen changierenden Stoff, Strümpfe in der gleichen Farbe und dunkelbraune Lackpumps. Sie musste wirklich etwas Besseres vorgehabt haben. Ihr Täschchen stellte sie auf den Tisch und setzte sich auf das freie Sofa.

„Nun? Ich hatte zuerst vermutet, er habe einen Unfall gehabt, aber wenn Sie sagen, Sie hätten ihn gefunden... War er betrunken?“

„Durchaus möglich. Warum fragen Sie?“

„Nun, das kam leider öfter vor. Was ist denn nun passiert?“

„Er ist ermordet worden. Im Hinterhof der Krassen Kati.“

„Krasse Kati? Die arme Frau, was für ein Name! Was hat sie damit zu tun?“

„Nichts. Es handelt sich um eine Kneipe in der Katharinenstraße.“

Sie schaute einen Moment lang angestrengt vor sich hin, dann hellte sich ihr eher rundes Gesicht auf. „Das ist hinter der Uni, oder?“

„Richtig. Sehr schockiert scheinen Sie nicht zu sein?“

Sie zuckte die Achseln. „Wir haben uns nicht wirklich nahe gestanden. Außerdem war mir schon nach Ihren ersten Worten klar, dass ihm etwas zugestoßen ist. Nur hätte ich eben als erstes vermutet, dass er betrunken Auto gefahren und dabei verunglückt ist.“

„Was hatte er denn für einen Wagen?“

„Einen roten Mazda. Diese kleinen Zweisitzer mit den Schlafaugen, kennen Sie die? So eine Art Porsche für Arme?“

„Werden die überhaupt noch gebaut?“, mischte Joe sich ein.

„Das weiß ich nicht. Er hatte ihn schon vor seiner Ehe, er ist ja erst seit etwas über drei Jahren verheiratet.“

„Und schon drei Kinder?“, konnte Spengler sich offenbar nicht verkneifen.

„Ja... unsere Eltern haben damals darauf bestanden, dass er Iris heiratet. Und ihm die Wohnung dafür überlassen – und später dann vererbt -, damit sie ein vernünftiges Dach über dem Kopf haben. Ich glaube, Luca ist drei Monate nach der Hochzeit geboren – Moment, ja. Genau. Ich muss es ja wissen, ich bin seine Patin.“ Sie lächelte kurz.

„Und dann fährt er einen Zweisitzer?“

„Naja...“ Sie wirkte verlegen. „Er war, glaube ich, in dieser Ehe noch nicht ganz angekommen. Der Wagen war wohl ein Rest von Illusion, das er noch ein freier Mann sei.“ Sie deutete bei „freier Mann“ die Anführungszeichen gestisch an.

„Oder schon wieder im Abreisen begriffen“, kommentierte Spengler. „Zumindest hatte er seinen Freunden zufolge eine Geliebte.“ Sie starrte ihn konsterniert an. „Das glaube ich nicht! Davon hätte Iris mir doch erzählt!“

„Vielleicht weiß sie´s nicht“, schlug Joe vor und notierte sich seine Eindrücke, in der Hoffnung, dass Spengler sie später nicht wieder als Beweis seiner angeblichen Naivität abtäte.

„Was haben Ihre Eltern Ihnen denn vererbt?“, wechselte Spengler das Thema. „Mir? Ich brauchte doch nichts“, wehrte sie ab. „Diese Wohnung hier ist praktisch abbezahlt, ein Auto habe ich auch, und im öffentlichen Dienst bin ich ja unkündbar. Naja, theoretisch habe ich noch den Pflichtteil zu kriegen, aber wie sollte Achim das denn machen? Außer der Wohnung haben meine Eltern nicht allzu viel hinterlassen, und das bisschen Bargeld brauchten Achim und Iris für die Kinder. Ich hab ja keine...“

„Man hat Sie also praktisch enterbt?“

„Unsinn! Das klingt ja so, als hätten meine Eltern Achim vorgezogen. Nein, es ging einfach danach, wer die größeren Bedürfnisse hatte. Und das war eben Achim. Damals hatte er keinen festen Job, eine schwangere Freundin und eine ganz furchtbare winzige Wohnung. In Spitzing! Dort kann man doch keine Kinder aufwachsen lassen! In der Sophienstraße gibt es sogar einen pädagogisch gestalteten Spielplatz im Hof.“

Spitzing war wirklich das Letzte, überlegte Joe. Das einzige Spiel, das die Kinder dort lernten, war, Telefonzellen abzufackeln. Obwohl – mittlerweile hatte die Telecom die wahrscheinlich schon alle abgebaut. Und diese Sabine Wenzel wirkte zwar nicht so, als neidete sie Achim das Erbe, aber konnte man´s wissen? Er kritzelte Neid? schräg an den Rand der Seite.

„Wo waren Sie eigentlich heute Abend?“, fragte Spengler nun, erneut das Thema wechselnd. „Auf einer Vernissage“, antwortete Sabine Wenzel. „Verdächtigen Sie mich etwa? Nein, nein, lassen Sie nur, ich habe schon den einen oder anderen Krimi gelesen. Reine Routine, ich weiß. Die Vernissage war in der Galerie Leyenschläger, kennen Sie die?“

„Nein. Wo ist die?“

„In der Avenariusgasse. Sehr interessant, übrigens. Junge russische Fotografen. Vielleicht kaufe ich mir eins der Bilder.“

„Und dort hat man Sie auch gesehen? Und kann sich an Sie erinnern?“

„Ja... ich denke schon. Ich meine, der Inhaber, Michael Leyenschläger, kennt mich. Ich habe dort schon einmal ein Bild gekauft.“

Joe sah sich um – nur kahle Wände. Sie hatte seinen Blick bemerkt. „Es hängt im Schlafzimmer. Möchten Sie es sehen? Gerrit Heldenberg, Lösung. Ein tolles Bild. Sehr beruhigend.“

„Später“, wehrte Spengler ab. „Von wann bis wann waren Sie dort?“

„Ich glaube, ich bin so gegen kurz vor sieben gekommen“, überlegte sie. „Ja, stimmt. Ich muss eine der ersten gewesen sein, der Parkplatz im Hof war noch ganz leer.“

„Und wann sind Sie gegangen?“

„Schwer zu sagen. Wann war ich denn hier? Jetzt ist es zehn nach zehn – Viertel vor? Dann dürfte ich um halb zehn gefahren sein. Die Veranstaltung war so gegen zehn nach neun vorbei... ja, genau.“

„Aha. Aber was haben Sie zwischen zehn nach neun und halb zehn gemacht? Wenn Sie um zehn nach die Galerie verlassen haben, hätten sie doch kurz vor halb schon hier sein können?“

„ Der Parkplatz auf dem Hof war total zugeparkt, und Sie kennen das ja: Wer als erster kommt, kann dafür erst als letzter fahren. Ich musste warten, bis die Autos weg waren, die die Zufahrten blockierten. Das hat bestimmt eine gute Viertelstunde gedauert.“

„Gut... Michael Leyenschläger, ja? Wenn Sie uns dann noch das Bild zeigen würden?“

Sie erhob sich würdevoll. „Kommen Sie bitte?“ Es gab außer dem Wohnzimmer nur noch ein weiteres Zimmer. Joe schätzte die Wohnung auf insgesamt knapp fünfzig Quadratmeter. Und der Bruder hatte mehr als Doppelte – gut, die waren auch zu fünft.

Das Schlafzimmer war genauso streng eingerichtet wie das Wohnzimmer – ein weißer Einbauschrank, ein weißes Bett, das nicht in der Mitte stand (typisch alte Jungfer, dachte Joe und tadelte sich selbst dafür), höchstens einszwanzig breit, weiße Wände, weiße Vorhänge, eine einfarbig dunkelgraue Tagesdecke aus zugegebenermaßen teuer aussehendem gesteppten Stoff – und das Bild.

Es war eher klein, vielleicht vierzig mal sechzig, und zeigte auf cremefarbenem Grund dicke schwarze Linien, die in der oberen linken Ecke wild verknäuelt waren und sich dann auf ihrem Weg in die gegenüberliegende Ecke entwirrten. Einige wurden gebündelt, einige ordentlich miteinander verflochten, manche endeten in einem dicken roten Punkt; die übrigen liefen zunehmend parallel bis in die rechte untere Ecke, wo sie gesittet aus dem Bild verschwanden. Joe fand das Bild blöd und ertappte sich bei dem Gedanken, das könne er auch. Spengler baute sich vor dem Bild auf und betrachtete es schweigend. „Haldenberger?“, fragte er dann.

„Heldenberg“, korrigierte Sabine Wenzel. „Gerrit Heldenberg.“

„Schreiben Sie das auf, Schönberger. Heldenberg. Lösung – oder Lösungen?“

„Lösung. Gefällt es Ihnen?“

„Es beschreibt unsere Arbeit“, antwortete Spengler und drehte sich um. „So, wie sie laufen sollte, jedenfalls. Im Moment befinden wir uns leider noch hier.“ Er zeigte auf das Knäuel. „Ich hoffe, es gibt Drucke davon. Oder wenigstens ein Poster.“

Freitag, 15.4.2005: 22:30

Dieser Arsch! Wütend knallte Cora den Hörer auf die Gabel. Wo steckte er bloß? Wenn er sie wieder angelogen hatte, konnte er beim nächsten Mal was erleben! Noch mal würde sie ihn nicht anrufen. Nicht einmal seine Mailbox ging dran. Und zum siebten Mal musste sie sich Der Teilnehmer ist vorübergehend nicht erreichbar nicht anhören.

Überhaupt hatte sie die Faxen allmählich satt. Er kam, wann er wollte, ging, wann er wollte, machte, was er wollte – und erzählte ihr, wie furchtbar seine Frau war, wie sehr sich gehen ließ und dass er sie schon seit fast zwei Jahren nicht mehr angerührt hatte. Dann schaute er wieder wie ein kleiner Junge, den niemand lieb hatte, und sie ließ sich erweichen, dumme Kuh, die sie war. Der würde sich nie scheiden lassen. Mittlerweile war ihr das auch klar; ihre Freundinnen hatten es ihr ja von Anfang an gesagt – aber sie hatte geglaubt, Achim sei anders. Er wirkte so aufrichtig, so gar nicht ausgekocht.

Im Bett war er freilich gar nicht wie ein kleiner Junge – da war er toll. Ihm fiel immer wieder etwas Abgedrehtes ein, manchmal sogar Dinge, vor denen sie im ersten Moment zurückschreckte, aber dann war es doch immer wieder grandios, wie er ihre Grenzen erweiterte.

Trotzdem! Sie schleuderte ein Kissen an die Wand und traf die Vase mit den Rosen, die sie sich selber gekauft hatte – Achim dachte ja nie an so was. Das Wasser tropfte auf den Teppich. Auch das war Achims Schuld. Alles war seine Schuld! Aber jetzt war Schluss. Endgültig. Superhengst hin oder her – hatte sie das nötig? Er behandelte sie ja wie irgend so ein Flittchen, nur fürs Bett und dumme Sprüche. Sie trocknete den Teppich, zerriss Achims Foto, nachdem sie es noch einen Moment lang betrachtet hatte, und warf die Fetzen ins Klo. Darauf pinkeln müsste man! Sie setzte den Gedanken in die Tat um und fühlte sich geringfügig besser. Und um Achim endgültig zu eliminieren, löschte sie auch noch seine Nummer aus dem Handyspeicher. So!