Nephilim, Band 2: Der Goldene Pfad - Clayton Husker - E-Book

Nephilim, Band 2: Der Goldene Pfad E-Book

Clayton Husker

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Beschreibung

Verborgen im unterirdischen Hive wächst eine neue Spezies von Untoten heran: die Nephilim. Ihr Anführer, eine gefährliche und abscheuliche Kreatur, sendet seine Truppen aus, um Menschen zu fangen und zu versklaven. Mit den alten Waffen aus vergangenen Zeiten könnte die Menschheit die Nephilim womöglich besiegen, aber solche Waffen gibt es nicht mehr in den von der Kirche beherrschten Stadtstaaten. Runa erkennt das Ausmaß der Gefahr. Sie erschafft ein Kriegswerkzeug, das mächtig genug ist, um die fast unbesiegbaren Nephilim zu vernichten. Diese Waffe ist ihre eigene Tochter. Runa lässt die junge Xiuna bei der Obersten Kongregation aufwachsen, einem militärischen Orden der Kirche. Dort erhält Xiuna eine wahrhaft mörderische Ausbildung. Clayton Husker ist ein vielseitiger Autor mit schottischen Wurzeln, aufgewachsen in Norddeutschland und seit seiner Kindheit Fan von SciFi und Weird Fiction. Er lebt sehr zurückgezogen mitten in Schleswig-Holstein, dem Land zwischen den Meeren. Seine Romane sind packend ausgearbeitet und erzählen mitreißende Geschichten.

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Seitenzahl: 285

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Nephilim

 

 

Die Zombie-Serie

von

 

Clayton Husker

Inhalt

Titelseite

Band 2: Der Goldene Pfad

23. Juni im sechsundzwanzigsten Baktun (I)

23. Juni im sechsundzwanzigsten Baktun (II)

12. Juli im einunddreißigsten Baktun (I)

12. Juli im einunddreißigsten Baktun (II)

13. Juli im einunddreißigsten Baktun (I)

13. Juli im einunddreißigsten Baktun (II)

15. Juli im einunddreißigsten Baktun

16. Juli im einunddreißigsten Baktun (I)

16. Juli im einunddreißigsten Baktun (II)

11. August im einunddreißigsten Baktun (I)

11. August im einunddreißigsten Baktun (II)

11. August im einunddreißigsten Baktun (III)

12. August im einunddreißigsten Baktun

14. August im einunddreißigsten Baktun

21. August im einunddreißigsten Baktun (I)

21. August im einunddreißigsten Baktun (II)

22. August im einunddreißigsten Baktun

9. Oktober im einunddreißigsten Baktun

11. November im einunddreißigsten Baktun (I)

11. November im einunddreißigsten Baktun (II)

11. November im einunddreißigsten Baktun (III)

12. November im einunddreißigsten Baktun (I)

12. November im einunddreißigsten Baktun (II)

12. November im einunddreißigsten Baktun (III)

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Impressum

Band 2:Der Goldene Pfad

 

 

»Ich bin mehr als jemals überzeugt, daß man durch den Begriff der Stetigkeit den organischen Naturen trefflich beykommen kann.«

Johann Wolfgang von Goethe, »Briefe an Schiller«

10. 8. 1796

23. Juni im sechsundzwanzigsten Baktun (I)

»Sehen Sie die Geschmeidigkeit ihrer Bewegungsabläufe. Es ist, als ob sie einen Tanz aufführen würde.«

Die Übungsleiterin Mistress Bajanne stand mit ihrer Vorgesetzten auf einer Tribüne über dem Trainingsraum der Akolythen des vierten Grades und bewunderte ihren Schützling. Die Sechzehnjährige wirbelte dort unten herum und ließ die planmäßigen Figuren der Kampftechnik mit einer Leichtigkeit ineinander übergehen, dass man meinen konnte, sie spiele mit ihrem Körper. Schwester Clara jedoch zeigte sich nicht sonderlich beeindruckt von den Leistungen der jungen Kämpferin. Seit sie von der Leiterin des Instituts für ganzheitliche Entwicklung zur stellvertretenden Verwaltungschefin der Obersten Kongregation erhoben worden war, hatte sich ihr Verhältnis zu Untergebenen weit über das Maß des Erwartbaren hinaus abgekühlt.

»Ich will sie in fünfzehn Minuten im Pit sehen, suchen Sie einen kräftigen Hunter-Zed als Sparringsgegner aus.«

Für die meisten Auszubildenden der unteren Akolythenlaufbahn wäre eine solche Begegnung der sichere Tod, doch Xiuna von Vovin bestach durch herausragende Fähigkeiten, was die Nahkampftechniken des Ordens anging. Während die meisten Jugendlichen, die hier zu Diakonen ausgebildet wurden, noch mit Trockenübungen und gemeinsamem Training an die möglichen Kampfsituationen herangeführt wurden, trainierte Xiuna als einziges Mädchen bereits mit den über zwanzigjährigen Männern in der höheren Akolythenlaufbahn.

Die beiden Ausbilderinnen verließen die Tribüne und begaben sich in das Erdgeschoss hinunter, wo sich ihre Wege für eine Weile trennen sollten.

»Mir ist sehr wohl aufgefallen, dass Sie der Akolythin eine gewisse Zuneigung entgegenbringen, Mistress Bajanne«, rügte Schwester Clara unterwegs die jüngere Ordensschwester, die das Training der Kategorie MA leitete. »Sie wissen doch, dass eine solche Beziehung nicht geduldet wird.«

»Nun ja, Schwester Clara, es ist nicht so, dass man sagen könnte, es gäbe da eine Beziehung, die über das Ausbildungsverhältnis hinausginge. Ich habe das Mädchen ja erst seit ein paar Wochen hier in der Kampfschule. Ich sehe in ihr viel von Ihrer konsequenten Ausbildungsmethodik, Schwester Clara. Das macht es für mich leicht, sie weiter zu formen.«

»Unterlassen Sie das einschmeichelnde Gerede. Hier tut jeder seine Pflicht, und das muss nicht extra erwähnt werden. Um auf das ursprüngliche Thema zurückzukommen: Sie bewegen sich emotional zu dicht an dem Mädchen. Sie wird von Ihnen fast schon bemuttert. Ich muss Sie sicherlich nicht an die Ordensstatuten zur Ausbildung aus den Codices Clerisei erinnern, in denen unzweideutig festgeschrieben steht, dass emotionale Bindungen oder Handlungen, die als solche interpretierbar wären, zu unterlassen sind. Emotionen erzeugen Weichheit und diese Weichheit ist im Kampf der Weg in den Tod.«

»Ich weiß, Schwester Clara.«

Eigentlich stand der stellvertretenden Verwaltungschefin der Titel Domina Clara zu, sie verzichtete jedoch auf diese Anrede, da sie die Ansicht vertrat, dass solche Titel lediglich die Eitelkeiten förderten. Sie erwartete deshalb, auch weiterhin mit Schwester Clara angesprochen zu werden. Sie galt als vorbildlich: fleißig, gottesfürchtig und sehr streng. Die Frau, die mittlerweile die sechzig hinter sich gelassen hatte, arbeitete vierzehn Stunden am Tag, sie betete drei Stunden und schlief niemals länger als sechs Stunden.

»Dann sollten Sie sich besser distanzieren, Mistress. Ich erwarte, dass die Akolythen zu fähigen Kämpfern ausgebildet werden, und das geht nicht, wenn sie irgendwelchen romantischen Gefühlen nachhängen.«

»Ich versichere Ihnen, dass es sich lediglich um eine Wertschätzung der Fortschritte handelte, die das Mädchen macht.«

»Auch so etwas verfälscht das Ergebnis. Ihre Aufgabe ist es, die Fähigkeiten unserer Kämpfer zum Vorschein zu bringen, ihre Stärken zu unterstützen und ihre Schwächen zu eliminieren. Sie müssen nicht gelobt werden; es reicht, wenn sie bei Einhaltung der Anforderungen nicht sanktioniert werden. Ich hoffe, ich konnte mich klar genug ausdrücken, Mistress Bajanne.«

»Natürlich, Schwester Clara. Wie immer unmissverständlich. Ich werde meine Verhaltensmuster verändern.«

Die Schwester nickte der Trainerin zu und bog nach links ab, wo es zu den kreisförmigen Übungsarenen ging, die man hier als Pits bezeichnete. Die Wände dieser käfigartigen Rundbauten waren gute sechs Meter hoch. Im oberen Bereich gab es eine Galerie hinter dicken Eisengittern, von der aus die Trainer das Kampfgeschehen im Pit überwachen konnten. Das Rund selbst maß etwa zehn Meter im Durchmesser, der Boden bestand aus dicken Holzbohlen. Wie in den Arenen des Circus Maximus gab es gegenüberliegende Tore, von denen eines zu den Käfiganlagen in einem Nebengebäude führte, in denen die Kongregation mehrere Dutzend Zeds gefangen hielt, ein anderes zu den Umkleideräumen der Auszubildenden. Es gab insgesamt drei dieser Pits in einer großen Mehrzweckhalle am Ufer des nördlichen Pregel-Armes.

Mit elektrischen Viehtreibern bemühten sich die Stallwärter redlich, einen Hunter durch das Labyrinth aus vergitterten Gängen in Richtung Arena zu treiben. Die Kreatur wehrte sich, fauchte, kreischte und schnappte nach den Elektroden. Letztlich stand sie dann doch plötzlich im Pit. Eine Sekunde brauchte der Hunter, um sich zu orientieren, dann rannte er plötzlich los und krallte sich an die Gitter.

Es handelte sich um ein einstmals männliches Wesen, das keine Kleidung mehr über seiner von zahlreichen Wunden geschundenen Haut trug. Das ehemals menschliche Gesicht hatte sich durch die Verzerrungen bereits völlig entfremdet, es glich inzwischen mehr einer Horrorfratze. Nur noch wenige Haare bedeckten den Körper dieses Wesens, das völlig ausgezehrt aussah. Unter der ledrigen, an vielen Stellen von Frostschäden verfärbten Haut konnte man fast jeden Knochen erkennen. Doch die Bestie war zäh, man durfte diese Hunter-Zeds nicht unterschätzen.

Fauchend und kreischend hechtete das Wesen von einem Ort zum anderen innerhalb des Rondells, wie eine Katze im Käfig, der man den Schwanz angezündet hatte. Die Gitter schepperten, und immer wieder traktierten die Wärter das Biest mit ihren Viehtreibern, was den Hunter völlig in Rage brachte.

Dann öffnete sich quietschend die Käfigtür auf der Seite, wo die Umkleideräume der Akolythen lagen. Der Hunter stutzte und beobachtete. Aus der Tür heraus trat Xiuna. Sie war in einen schwarzen Dress gehüllt und schwarzes, bis zu den Ellenbogen reichendes Haar floss an ihren Schultern herab. Ihr schmales Gesicht, das mit den hohen Wangenknochen und dem schmallippigen Mund dem ihrer Mutter sehr ähnelte, wurde von zwei saphirblauen, strahlenden Augen dominiert.

Sie trat in den Käfig und stand vollkommen still da, als sich die Tür hinter ihr schloss. Dies war ihr erster Kampf gegen einen echten Zed, heute stieg sie in die Gilde der Kämpfer auf, wenn sie diese Auseinandersetzung überlebte. In der Kameradschaft der höheren Akolythen, die ausnahmslos aus Männern bestand, hatte sie bereits von diesen Pitfights gehört. Die Kameraden erzählten sich so einige Geschichten über Akolythen, die nach ihrem ersten Kampf den Pit durch die andere Tür verließen, weil sie infiziert worden waren.

Doch das würde heute nicht geschehen, das war Xiuna absolut klar. Selbst nach den Trainingsregeln der Kongregation war sie in ihrer Entwicklung schon weiter als die über Zwanzigjährigen, das hatte Mistress Bajanne ihr im Vertrauen gesagt. Und niemand hier wusste von den Unterweisungen in der Traumzeit, wo die Meisterin Nu sie seit ihrer Geburt unterrichtete. Xiuna hatte bereits in der Umkleidekabine durch eine ausgewogene Mischung aus Meditation, Körperübungen und Atemtechnik das Prana-Bindu hergestellt. Damit war sie in der Lage, jeden einzelnen Muskel ihres Körpers willentlich zu kontrollieren.

In einer unglaublichen Geschwindigkeit zuckten plötzlich ihre Augäpfel hin und her, nach oben und unten. Sie scannte den gesamten Käfig und berechnete in Windeseile ihre beabsichtigten Bewegungen. Das alles dauerte keine drei Sekunden. Der Hunter griff ohne jede Vorwarnung an. Er hatte sich in erhöhter Stellung an den Gittern festgekrallt und saß dort wie die sprichwörtliche Fliege an der Wand. Nun drückte er sich kräftig ab und sprang in Xiunas Richtung. Das Mädchen hatte die Bewegungsmuster des Hunters längst anhand kleinster Nuancen analysiert und die Flugbahn seines Körpers vorausberechnet. Sie knickte im rechten Bein ein, streckte das linke und schob ihren Oberkörper damit seitlich aus der Bahn des Hunters, der sie um Haaresbreite verfehlte und krachend auf den Holzboden knallte, wo er sich mehrfach überschlug, bevor er an den Käfig schepperte. Xiuna hatte dreimal ein leises Knacken vernommen, ein fast unhörbares Geräusch, das ihr jedoch zeigte, dass der Zed sich an der linken Körperhälfte drei Rippen angebrochen hatte. Das würde seine Bewegungsfreiheit nach links ein wenig einschränken.

Blitzschnell kehrte sie wieder in ihre Ausgangsposition zurück. Der Hunter befand sich nun hinter ihr. Aus dem Stand schlug sie ein Rad und landete etwa vier Meter weiter in der Mitte des Pits. Dort führte sie grazil wie eine Ballerina ihre Beine zusammen und vollzog mit ihren Armen einige Bewegungen, die eher an Tai-Chi erinnerten. Ihren Gegner verlor sie dabei nicht aus den Augen.

Der Zed hatte sich erholt und kreischte wie irre, dann stürmte er auf Xiuna zu. Die drehte sich aus der Bewegungslinie des Zeds heraus, und als er mitten in ihrer Drehung an ihr vorbeijagte, schlug sie mit dem rechten Ellenbogen und kurz darauf mit der linken Faust in seine Fratze, was ein lautes Krachen seiner Gesichtsknochen zur Folge hatte.

»Selbst bei absolut neutraler Betrachtung«, meinte Mistress Bajanne oben auf der Galerie zu ihrer Vorgesetzten, die das Geschehen in dem Käfig analytisch betrachtete, ohne dabei eine Miene zu verziehen, »muss man zugeben, dass ihre Leistungen weit über dem Durchschnitt liegen. Sie hat noch nicht einmal eine Waffe gezogen.«

Die Stimme von Schwester Clara war eiskalt wie immer, ohne jede Emotion. Man konnte meinen, ein Satz aus ihrem Mund könnte die Hölle zufrieren lassen.

»Sie spielt mit ihrem Gegner, statt ihn sofort zu eliminieren.«

»Es ist eine neue Situation für sie. Ich denke, sie versucht zu lernen, Schwester Clara.«

»Sie ist nicht mit dem nötigen Ernst bei der Sache. Ich erwarte, dass sie dafür sanktioniert wird. Habe ich mich klar ausgedrückt?«

»Ich bin nicht sicher, ob das ein richtiges Signal wäre.«

»Ich bin mir sicher, dass das eben kein Vorschlag war, Mistress Bajanne.«

»Natürlich, Schwester Clara.«

Im Pit standen sich die Kontrahenten nun gegenüber. Der Hunter hatte bemerkt, dass er mit seiner vermeintlichen Beute kein besonders leichtes Spiel haben würde, zumal er ernste Schwierigkeiten hatte, sie durch Geruchsortung zu lokalisieren. Auch die Geräusche der Umgebung lieferten ihm keine Daten, denn mittlerweile hatten sich gute zwei Dutzend Akolythen um den Pit herum versammelt, die den Kampf um nichts in der Welt verpassen wollten. Unter ihnen war nicht ein einziger, der je einen Übungskampf gegen Xiuna gewonnen hätte; nun wollten sie alle sehen, wie das Wunderkind sich schlug.

Der Hunter-Zed musste seine Augen einsetzen, um den Gegner zu fokussieren, was ihm angesichts der schwarzen Kleidung auch nur mäßig gut gelang. Diesmal jedoch nahm Xiuna ihm die Initiative ab. Sie begann damit, eine Reihe von komplexen Bewegungen mit ihren Armen zu vollziehen und federte dabei in den Knien, bis sie plötzlich losstürmte, ohne dass man dies anhand ihrer Körperstellung hätte erahnen können. Mit vier weit ausladenden Schritten erreichte sie den Standort des Zeds und rammte ihm eine ausgestreckte Hand in die Kehle, was ein seltsam lautes, glucksendes Geräusch erzeugte. Nun griff sie hinter sich, zog aus den Halterungen an ihrem Rücken zwei kurze, doppelklingige Dolche und stieß sie dem Zed bis zum Heft links und rechts in den Schädel. Die Kreatur brach sofort zusammen. Xiuna hatte den Kampf für sich entschieden.

Ihre Kameraden johlten und applaudierten ihr. Xiuna hatte ihre Feuerprobe bestanden. Zwei Wärter kamen in den Käfig und schleiften den Zed hinaus.

»Eine eindrucksvolle Demonstration … für ein Sonntagstänzchen.«

Schwester Claras eiskalte Stimme beendete jedes andere Geräusch in Hörweite. Alle starrten nach oben zur Galerie, wo die Schwester in ihrer Nonnentracht stand wie der Racheengel des Herrn daselbst. Xiuna sah zu ihr auf, kniete nieder und legte die Dolche auf den Boden. Dann senkte sie den Blick. Ihre Haare hingen hinunter und verbargen ihr Gesicht hinter einem schwarzen Vorhang.

»Es ist der Akolythin nicht gestattet, den Pit zu verlassen.«

Damit wandte sich die Schwester ab und erschien kurz darauf in der Käfigtür, die ihr ein verunsicherter junger Mann aufhielt. Die Schwester betrat den Pit und sah Xiuna mit eisigem Blick an.

»Sie hat eitel und selbstherrlich gekämpft. Der Kampf gegen die Bestien soll schnell und effektiv geführt werden. Ziel ist die Überwindung des Gegners, nicht die Darbietung eines Eurythmieballetts. Aufstellung!«

Xiuna verstand zunächst nicht, doch dann sah sie, dass die Schwester kaum merkbar in den Knien federte. Sie nahm ihre Messer auf und schleuderte sie in Richtung Tor, wo sie zitternd im Boden stecken blieben. Dann spreizte sie die Beine und federte etwas in den Knien ein. Ihre Vorbereitungen waren noch nicht abgeschlossen, da traf sie ein gewaltiger Hieb vor die Brust, der sie durch den gesamten Pit schleuderte. Auf dem Hosenboden sitzend und nach Atemluft ringend, fand sich Xiuna wieder. Die Schwester hatte die drei Meter Distanz zu ihr in einer Geschwindigkeit zurückgelegt, die für das Auge nicht sichtbar war. Mit der ausgestreckten und angewinkelten Handfläche hatte sie Xiuna einen Stoß versetzt, dem die Kraft eines Dampfhammers innewohnte, ohne dass ihr Habit auch nur merklich eine Falte geworfen hatte. Xiuna war völlig perplex. Eine solch gewaltige Reaktion hatte sie der alten Frau überhaupt nicht zugetraut, und genau das war ihr Fehler.

Sie erhob sich und schwor sich innerlich, einen solchen Fehler nicht noch einmal zu begehen. Die Schwester stand noch immer da, als könne sie kein Wässerchen trüben. Xiuna setzte zum Angriff an. Sie wollte ihre Gegnerin täuschen, einen Ausfall vortäuschen und dann linear und frontal angreifen. Sie programmierte die Bewegungsabläufe in ihre Muskelzellen ein und startete ihr Vorhaben.

Ihr ausgeklügeltes Bewegungsmuster hatte sie noch nicht einmal zur Hälfte vollzogen, da hatte die Schwester bereits eine Gegenmaßnahme eingeleitet und trat mit einer Kraft nach Xiunas Knie, dass zu befürchten war, es würde brechen. Glücklicherweise war das Gelenk in dem Moment nicht belastet, sodass es nachgeben konnte. Ein gewaltiger Schlag traf Xiuna oberhalb der Nierengegend. Die Schwester hatte in Anwendung der Kyusho-Technik einen Ippon-Ken-Stoß zum Dim Mak vollführt. Diese Schläge von einer solchen Präzision konnten absolut tödliche Wirkung entfalten. Sie hatte einen empfindlichen Nerv getroffen und Xiuna drohte zusammenzubrechen. Noch im Fallen trafen sie zwei harte Schläge ins Gesicht, von denen einer ihr das Nasenbein brach. Ein gewaltiger Schwall Blut floss aus Xiunas Mund und Nase gleichzeitig, während der Schmerz sich in ihr Gehirn bohrte.

Sie erhob sich unter größten Schmerzen, um sich keine Blöße zu geben. Weit kam sie nicht. Schwester Clara wirbelte herum und versetzte ihr dabei einen mächtigen Tritt, der Xiuna endgültig zu Boden gehen ließ.

Die Schwester war nicht einmal außer Atem, als sie sprach.

»Das wird die Akolythin lehren, dass nicht Eitelkeiten einen Kampf entscheiden, sondern Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten. Sie wird von ihrer zuständigen Ausbilderin wegen ihrer Anmaßung gerügt.«

Damit war die Sache für Schwester Clara erledigt. Sie verließ den Pit und begab sich zu ihrem Bürogebäude. Zwei der männlichen Kameraden stürmten in den Käfig und hoben Xiuna aus ihrer Blutlache. Ihre Haare klebten aneinander und hingen strähnig von ihrem Kopf, aus Mund und Nase zog das Blut Fäden.

»Mann«, meinte einer der beiden Helfer, den Xiuna nur noch als Schemen durch ihr zuschwellendes Auge wahrnahm, »du hast das alte Grendel aber richtig angepisst, Xiuna. So was hat sie noch nie zuvor getan.«

Sie brachten Xiuna in die Umkleidekabine, wo sie das Mädchen auf einer Lattenholzbank ablegten. Als Mistress Bajanne den Raum betrat, genügte ein kurzes Nicken und die beiden jungen Männer zogen sich aus dem Raum zurück. Die Ausbilderin ging zum Waschbecken hinüber, füllte eine Emailleschüssel und tunkte einen Schwamm in das kalte Wasser. Dann setzte sie sich am Kopfende zu Xiuna auf die Bank und begann, ihr mit dem feuchten Schwamm das Gesicht abzutupfen. Langsam färbte sich das Wasser in der Schüssel rötlich.

»Hör zu, Xiuna. Ich weiß, was du kannst. Und auch wenn es mir verboten ist, mit dir darüber zu sprechen, aber als deine Ausbilderin bin ich selbstverständlich stolz auf die Fortschritte, die du machst. Normalerweise dauert es bei Jugendlichen, die uns vom Institut überstellt werden, Jahre, bis sie ihren ersten Pitfight haben, nicht Wochen, wie bei dir. Du hast mich mit deiner Performance sehr beeindruckt.«

Xiuna hustete unter Schmerzen und verteilte einen Sprühregen aus winzigen Blutströpfchen im Raum.

»Ich glaube, Schwester Clara hat es auch gefallen.«

»Aber sie hat dir eine ganz schöne Abreibung verpasst, ebenfalls ein Novum.«

»Ja, deshalb. Sie ist ein echter Fan.«

Xiuna versuchte zu lachen und hustete erneut. Mistress Bajanne tupfte sie weiterhin ab.

»Ich muss mir jetzt überlegen, wie ich deinen Erfolg sanktioniere.«

»Wieso?«

»Schwester Clara hat das angeordnet. Sie will nicht, dass dir der Erfolg zu Kopf steigt. Du wirst also für zwei Tage den Tischdienst im Speisesaal der Akolythen verrichten.«

»Wenn es sein muss …«

»Es muss, Mädchen. Glaub mir, was der alte Drachenzahn da heute gezeigt hat, das ist noch nichts im Vergleich zu dem, was sie noch alles draufhat. Du solltest dich in ihrer Nähe vorsehen und sie nicht herausfordern.«

»Ja, ich habe verstanden, Mistress Bajanne. Ich werde mich fügen.«

»Gut, mein Kind. Und nun geh, wasch dich und begib dich nach dem Nachtmahl gleich zu Bett. Dein Körper benötigt jetzt Zeit, um sich zu erholen.«

Mistress Bajanne nahm die Schüssel, trug sie zum Waschbecken und entleerte sie dort. Dann spülte sie nach. Als sie sich umdrehte, fragte sie:

»Diese Art, dich zu bewegen … das Leichte, Tänzerische … wo hast du das gelernt, Xiuna?«

»Ich … äh … ich hatte immer das Gefühl, es ist richtig so.«

»Eigentlich«, entgegnete die Ausbilderin, »sollte ich in Anbetracht der Tatsache, dass ich spüre, dass du mir etwas verheimlichst, etwas strenger mit dir sein. Mir ist keineswegs entgangen, dass du Techniken benutzt, welche dir hier niemand beigebracht hat. Schwester Clara hat solche Techniken vorhin ebenfalls eingesetzt, aber sie lehrt diese hier nicht. Wie bist du eigentlich zu deinem Namen gekommen?«

»Meine Mutter gab ihn mir. Es war ihr letzter Wunsch, bevor sie starb.«

»Wurde sie verurteilt?«

»Die Kleriker in Neo Colonia haben sie getötet.«

»Aus welchem Grund?«

»Ich weiß es nicht.«

Als Bajanne das Handtuch ergriff und zu Xiuna hinüberwarf, fragte sie:

»Hast du eigentlich eine Ahnung, was dein Name bedeutet?«

»Nein, was bedeutet er?«

»Das weiß ich auch nicht«, log Mistress Bajanne und verließ den Raum.

Xiuna rappelte sich mühsam auf. Es würde einige Tage dauern, bis der Nerv, den der Schlag der Schwester betäubt hatte, wieder verlässlich funktionieren würde. Ihr Knie fühlte sich an, als sei es unter einen Panzer gekommen, und ihr Gesicht sah wahrscheinlich aus wie eine mutierte Fleischtomate. Xiuna zog es vor, eine heiße Dusche zu nehmen, und begab sich in den Duschraum.

Als das heiße Wasser über ihren geschundenen Körper lief und einige der windelweich geprügelten Lebensgeister zurückkehrten, grübelte sie nach. Sechzehn Jahre lebte sie nun schon hier. In dieser Zeit hatte sie zwar schon immer unter der Fuchtel von Schwester Clara gestanden, aber was sie heute erlebt hatte, sprengte jeden Rahmen. Sie hatte der Schwester nichts getan, sie nicht provoziert, keinen Anlass zu einer derartigen Reaktion gegeben. Xiuna hatte den Zorn der Schwester förmlich spüren können, als sie ihr gegenüberstand. Von ihr war eine deutlich wahrnehmbare Welle der Aggression ausgegangen. So sehr das Mädchen auch nachgrübelte, es gab dafür keine rationale Erklärung. Und dann dieser unerwartete Kampfstil. Was war mit dieser Frau los?

Vielleicht lag die Antwort näher als erwartet, vielleicht war Schwester Clara einfach nur eifersüchtig auf die Fortschritte, die Xiuna machte. Allerdings hätte sie doch auch in der Zeit, in der sie als Leiterin des Instituts für Xiunas Erziehung zuständig war, bereits gegen sie vorgehen können, und das noch dazu wesentlich unspektakulärer, als es vorhin passiert war.

Vielleicht hatte es mit ihrer Herkunft zu tun, um die hier ein ziemliches Geheimnis gemacht wurde. Mistress Bajanne hatte ihr zwar versichert, man wisse nichts von ihrer Abstammung, aber ob das wirklich die Wahrheit war, ließ sich an nichts festmachen. Xiuna hatte in Erfahrung bringen können, dass sie der erste Säugling gewesen war, den man an das Institut überstellt hatte. Bis dahin hatte man hier lediglich Prioren ausgebildet, die in den Sturmtruppen der verschiedenen Städte ihren Dienst versehen sollten. Offenbar hatte man sich irgendwann vor anderthalb Jahrzehnten entschlossen, mit den Diakonen eine Einheit aufzustellen, welche direkt von der Obersten Kongregation gelenkt würde. Einen Grund dafür hatte Xiuna nie in Erfahrung bringen können. Vielleicht hatte das auch etwas mit diesen Nephilim zu tun, von denen Xiuna in jungen Jahren gehört hatte. Allerdings hatte sie seit ihrem dritten Lebensjahr diesen Begriff hier nie wieder vernommen. Offenbar war dieses Thema den höheren Graden des Ordens vorbehalten.

Xiuna grub tief in ihren frühesten Erinnerungen, um die Informationen, die sie bezüglich dieser Thematik aufgeschnappt hatte, in die geistige Präsenz zu bringen. Wie kleine Fische entzogen sich diese Datenfragmente stets und ständig ihrem bewussten Zugriff, doch nach einigen Minuten gelang es ihr, einen stringenten Gedankengang zu konstruieren. Zeds – diese Nephilim waren wohl auch Zeds –, allerdings höchst gefährliche Untote. Man hatte sie stets mit den Strugglern verglichen, diesen hünenhaften Schreckgestalten, von denen noch einige besonders im Osten marodierten, nachdem die Menschen diese Art der Untoten mit einer Seuche ausgerottet hatten. Feuer mit Feuer bekämpfen, das konnten Menschen im Allgemeinen ziemlich gut.

Und da die Nephilim offenbar sowohl sehr aggressiv als auch ziemlich intelligent waren, stellte die Menschheit ihnen nun ebenbürtige Kämpfer gegenüber. Besonders geschulte, auf den Nahkampf spezialisierte Krieger: die Diakone. Während Xiunas Ausbildung hatten bereits fünf Jahrgänge das Trainingslager des Vovin-Ordens verlassen und waren in ihre Einsatzgebiete versetzt worden. Von ihnen hatte Xiuna nie wieder etwas gehört.

Die Ausbildung, die Xiuna im Institut des Ordens erfahren hatte, war hart und war stets unnachgiebig vorangetrieben worden. Bereits von früher Kindheit an wurde sie daran gewöhnt, morgens um fünf Uhr früh aufzustehen und an der Morgengymnastik teilzunehmen. Um sechs Uhr dreißig gab es Frühstück, meist eine eklige, schleimige Pampe aus Algen, Mineral- und Ballaststoffen, danach waren die körperlichen Bedürfnisse zu erledigen. Schulische Unterweisung erfolgte bis zur Mittagszeit, wobei hier neben Sprachen, Lesen, Schreiben und Rechnen die Schwerpunkte auf Fächern wie zum Beispiel Geografie, Chemie und Physik lagen. Aber auch Kurse zu strategischen und taktischen Belangen wurden – je nach Altersstufe – betont.

Das Mittagsmahl wurde wieder im Speisesaal eingenommen, danach verteilten sich die Gruppen auf ihre Übungsareale. In den verschiedenen Trainingshallen und auf dem umfangreichen Freigelände wurden diverse Kampftechniken mit und ohne Bewaffnung vermittelt. Es gab Exkursionen, Ausdauermärsche und Geländespiele für die jüngeren Auszubildenden. Das Übungsgelände erstreckte sich auf drei größeren Inseln zwischen dem nördlichen und südlichen Pregel-Arm über eine Länge von fast zwanzig Kilometern, bei einer Breite zwischen einhundert und eintausend Metern. Das Gelände war von Kiesgruben, Altarmen, Weidenhainen und riesigen Riedgrasfeldern bedeckt. Hier lernten die jungen Menschen und die Akolythen, in der Wildnis und deren lebensfeindlicher Umgebung zu überleben. Die dritte und östlichste der Inseln blieb ausschließlich den Abschlussjahrgängen vorbehalten. Hier wimmelte es nur so von Zeds und die Akolythen mussten vierundzwanzig Stunden lang unter verschärften Bedingungen überleben. Das bildete die Abschlussprüfung für die angehenden Diakone.

Xiuna hatte während der schulischen Ausbildung nie Schwierigkeiten gezeigt, sie erwies sich als gelehrig und achtsam. Die strenge Welt des Instituts mit den Regeln, die unbedingt einzuhalten waren und deren Übertretung stets empfindliche Strafen nach sich zogen, war für Xiuna nie ein Problem. Wie auch? Sie kannte nichts anderes. Sicherlich, sie konnte das real Erlebte mit ihren Erfahrungen aus der Traumzeit vergleichen, aber das waren eben nur imaginäre, durch Fantasie erschaffene Räume, und auch dort gab es sehr strenge Regeln. Die Meisterin Nu stand in puncto Konsequenz der Schwester Clara in nichts nach.

So sehr Xiuna auch angestrengt nachdachte, sie konnte nicht recht dahinterkommen, warum die Schwester ihr eine derart eindrückliche Abreibung verpasst hatte. Fast schien es, als wollte sie nicht der Schülerin, sondern der Mistress Bajanne, die ebenfalls zugesehen hatte, eine Lektion erteilen: ›Schau, ich kann dein Lieblingsspielzeug jederzeit kaputtmachen!‹

Noch immer rieselte das heiße Wasser über Xiunas Körper, der sich durch die Wärme einigermaßen regenerierte. In Dampfschwaden gehüllt vergaß sie die Welt um sich herum. Sie stützte sich an der Wand ab und ließ das Wasser an ihren langen, schwarzen Haaren herunterlaufen. Plötzlich, ohne jede Vorwarnung, wurde sie von drei oder mehr kräftigen Männern gepackt. Man zog ihr ein großes Badehandtuch über den Kopf. Noch immer durch die Verletzungen stark geschwächt, war sie unfähig, wirklich effektive Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Man hielt ihr den Mund mit dem nassen Badehandtuch zu; nur mit viel Mühe bekam sie etwas Luft durch die geschwollene und gebrochene Nase. Rasender Schmerz breitete sich in ihrem Gesicht aus. Irgendwer machte sich zwischen ihren Beinen zu schaffen und drang roh und gewaltsam in sie ein, während die anderen sie festhielten. Niemand sprach ein Wort.

›Das nun auch noch?‹, war ihr erster Gedanke, dann ließ sie es einfach geschehen; sie war zu schwach, um sich zu wehren. Die Männer waren zu fünft und sie wechselten sich ab. Als sie mit Xiuna fertig waren, schubste einer sie nach vorn, sodass sie mit dem Schädel auf die Fliesen krachte und zusammensackte. Irgendjemand drehte das Wasser ab. Dann waren die Männer plötzlich fort, sie verschwanden genauso lautlos, wie sie sich genähert hatten. Xiuna verlor das Bewusstsein. Sie lag da in der Pfütze des warmen Duschwassers; an ihren Beinen lief ein rotes Rinnsal entlang und färbte das Wasser.

Vielleicht eine Viertelstunde verging, bis sie frierend und gekrümmt vor Schmerzen aufwachte. Von Ekel und Kälte geschüttelt, betätigte sie erneut den Wasserhahn und wusch sich überall gründlich, um jede Spur der Vergewaltiger zu tilgen. Als sie fertig war, bemerkte sie, dass ihr Handtuch fehlte. Zutiefst gedemütigt und in ihrer Seele schwer verletzt, humpelte sie in den Umkleideraum, um sich anzukleiden. Doch wie es aussah, war ihre Tortur noch nicht vorbei. Jemand hatte ihre Kleidung und sämtliche Handtücher entfernt. Nackt und frierend stand sie dort in dem Raum.

Dann traf sie eine Entscheidung. Sie aktivierte ihr Prana-Bindu und blockierte die Schmerzen in ihrem Körper vollständig. Dann richtete sie ihren Körper gerade auf und ging in Richtung Tür. Bis zu den Privaträumen war es drei Blocks zu gehen und ihre Peiniger würden irgendwo auf dem Gelände hocken und erwarten, dass ein verstörtes Mädchen heulend und schluchzend über den Hof rannte, um in ihrer Nacktheit bloß ja nicht gesehen zu werden. Diesen Spaß würde sie diesen Unmenschen nicht lassen.

Sie holte tief Luft, öffnete die Tür und trat nach draußen. Stolz erhobenen Hauptes schritt sie langsam und ohne jede Hast über den großen Hof und steuerte auf ihr Quartier zu. Dutzende Augenpaare waren auf ihren Körper gerichtet. Nach wie vor lief ein dünner roter Faden an ihrem rechten Schenkel herunter. Einige der Zuschauer machten Witze, johlten oder pfiffen ihr hinterher, andere wiederum sahen betreten zu Boden. Jedem Einzelnen, der in oder an ihrem Weg stand, sah sie direkt in die Augen, ohne auch nur eine Miene zu verziehen.

Aus den Augenwinkeln sah sie an einem Fenster der Verwaltung Schwester Clara stehen, die – halb hinter einem Vorhang verborgen – das Schauspiel betrachtete. Das war es also. Schwester Clara hatte all diese Demütigungen ersonnen und auch angeordnet, das wurde Xiuna klar. Es war von Anfang an ihr Plan gewesen, Xiuna am heutigen Tage vollkommen zu demütigen. Möglicherweise waren die Vergewaltiger gar nicht freiwillig zu Werke gegangen, sondern man hatte ihnen befohlen, die junge Kameradin zu misshandeln. Doch Xiuna hatte sich – Pech für die fünf – von jedem ihrer Peiniger genauestens das Pheromonmuster eingeprägt. Sie würde jeden von ihnen sofort am Geruch erkennen. Und sie würden dafür bezahlen, genauso wie Schwester Clara.

›Eines Tages werde ich dich töten, du alte Hexe‹, dachte sie in Claras Richtung. Dann verschwand sie in ihrem Wohnblock, begab sich auf ihr Zimmer und kleidete sich neu ein. Als wäre nichts gewesen, erschien sie kurz darauf in der Küche, um sich für die Verrichtung des Tischdienstes zum Nachtmahl zu melden.

23. Juni im sechsundzwanzigsten Baktun (II)

»Ich grüße dich, Xiuna.«

»Ich grüße dich, Meisterin Nu.«

»Ich spüre sehr großen Zorn in dir, Mädchen. Was ist dir widerfahren?«

Xiuna berichtete ihrer Lehrerin von den Misshandlungen.

Für Runa bedeutete dieser Bericht beinahe eine ebensolche Tortur. Was man ihrer Tochter angetan hatte – diese furchtbaren Demütigungen – erzeugte in ihr einen Seelenschmerz, der sich wie glühendes Metall tief in ihr Herz grub. In dem Bewusstsein, all das hätte sie verhindern können, trug Runa schwer an ihrer Verantwortung für das Schicksal ihrer Tochter. Dennoch, was getan werden musste, war getan worden, und sie war sich darüber im Klaren, dass ihre Tochter über die nötige Kraft verfügte, diese traumatischen Erlebnisse zu verarbeiten.

›Guter Gott‹, dachte sie, ›das Kind ist doch erst sechzehn Jahre alt.‹

In ihrer imaginären Form, mit der sie in der Traumzeit auftrat, ließ Runa nicht erkennen, welch innere Zerrissenheit sie ob des Leidens ihrer Tochter plagte. Es fiel ihr nicht eben leicht, die distinguierte Lehrerin zu geben, während sie innerlich dicke Tränen vergoss. Auch in ihrer realen Umwelt konnte sie ihrer Trauer nicht nachgeben, ohne unangenehme Fragen auf sich zu ziehen.

»Was man dir angetan hat«, sprach Meisterin Nu zu ihrer Schülerin, »ist unmenschlich. Du weißt, warum deine Ausbilderin das tat?«

»Nicht genau.«

»Aus deiner Beschreibung ihres Kampfstils schließe ich, dass sie irgendwann eine fundierte tantrische Ausbildung genossen hat. Sie hat das Chi in dir erkannt und hat versucht, dein Selbstvertrauen zu zerstören, um den Fluss der Energie in deinen Meridianen zu irritieren. Diese Frau fürchtet sich vor dir.«

»Und sie tut gut daran.«

»Sei nicht voreilig, Xiuna. Hassgefühle sind nie ein guter Ratgeber. Diese Schwester Clara versucht planmäßig, Hassgefühle in dir zu wecken. Kannst du dir vorstellen, warum sie das tut?«

»Weil Hass blind macht?«

»Genauso ist es. Der Hass vernebelt die klaren Gedanken. Er verleitet dazu, Fehler zu machen. Schwester Clara hat heute gleich drei Exempel statuiert. Zuerst hat sie dir – und den Zuschauern – ihre kämpferische Überlegenheit demonstriert, mit den Ziel, Angst zu verbreiten. Der Übergriff im Waschraum und der Diebstahl deiner Kleidung sollten dich zu Hassgefühlen in Verbindung mit dieser Angst verleiten. Deshalb hat sie auch dafür gesorgt, dass du sie gesehen hast, als du nackt über den Hof gingst. Sie versucht also, in deinem Geist eine Verbindung aus Hass und Angst zu erzeugen, um dich damit von deinem Weg abzubringen.

»Du sagtest: drei Exempel.«

»Richtig. Die dritte Botschaft richtete sich an sämtliche Auszubildenden und besagte: ›Schaut nur, was ich tun kann, wenn ihr gegen mich aufbegehrt.‹«

»Aber ich habe gar nicht gegen Schwester Clara aufbegehrt.«

»Aus ihrer Sicht sieht das vielleicht anders aus. Verändere deinen Standpunkt.«

Xiuna überlegte.

»Also … sie ist in der Lage, das Prana-Bindu zu erkennen. Das betrachtet sie als Angriff, weil sie sich nicht vorstellen kann, woher ich diese Technik kenne, da ich ja unter ihrer Ägide groß geworden bin. Also wartet sie, bis das Ausbildungsverhältnis offiziell beendet ist, um mir dann zu zeigen, dass sie stärker ist und dass sie die Macht hat, mich zu demütigen, wie es ihr gefällt.«

»Und«, erwiderte Runa, »sie versucht, durch diese emotionale Angst-Hass-Brücke die freie Entfaltung deiner Energie zu sabotieren. Sie versucht, dir ein Programm einzupflanzen, das dich, wenn sie es aktiviert, daran hindert, die Kundalini Shakti aufsteigen zu lassen, also dein volles Potenzial zu entfalten.«

Xiuna verschlug es fast den Atem. Sie schüttelte den Kopf.

»Diese alte Hexe ist wohl noch durchtriebener, als ich ohnehin schon vermutet habe. Kann man wirklich so abgrundtief böse sein? Ich dachte immer, wir alle kämpfen gemeinsam gegen die Bedrohung durch die Zeds. Klar, dass die Unterweisungen streng sein müssen, das leuchtet mir ein. Aber so was …«

»Nun ist es aber an der Zeit, daraus zu lernen, Xiuna«, dozierte die Meisterin, »denn du bist an der Situation nicht ganz unschuldig. Ist es nicht so?«

»Ich wollte im Pitfight Mistress Bajanne zeigen, dass ich würdig bin.«

»Und es war kein Fünkchen Eitelkeit dabei, wo doch alle anderen Akolythen zugeschaut haben?«

»Na ja, ein bisschen schon, ich gebe es ja zu.«

»Und dieses kleine Fünkchen Eitelkeit«, mahnte Runa, »hat zum Ausbruch der Gewalt geführt. Rein ursächlich, ohne jede moralische Betrachtung der Angelegenheit. Durch deine offen zur Schau gestellte Präzision hast du Schwester Clara einen Vorwand geliefert, um ihren lange gehegten Plan, dich zu dominieren, in die Tat umzusetzen. Die Abfolge der Ereignisse zeigt, dass sie diese Strafaktion von langer Hand vorbereitet hatte und nur auf einen klitzekleinen Aufhänger gewartet hat, um dir zu schaden. Was also ist – daraus resultierend – deine Aufgabe? Was denkst du?«

Xiuna lag eine Erwiderung auf der Zunge, aber bei genauerer Betrachtung hatte Meisterin Nu ja recht. Sie hatte zeigen wollen, was sie konnte, und dabei die Umstände außer Acht gelassen. Ihr Bestreben hatte darin gelegen, eine Inszenierung zu präsentieren, und sie hatte die möglichen Folgen nicht in ausreichendem Umfang bedacht.

»Ich habe mich von meinem Gemüt verleiten lassen«, gab sie zurück, »und ich habe den Zorn der Schwester massiv unterschätzt, weil sie es verstand, ihn zu verbergen.«

»Nicht weil sie ihn verbarg, Xiuna, sondern weil du nicht auf die Zeichen geachtet hast. Selbst eine beherrschte Kämpferin wie Schwester Clara sendet Signale. Du hättest gut daran getan, ihre Signale besser zu deuten, statt darauf zu vertrauen, dass sie es gut meint.«

»Was ist mit deinen Signalen, Meisterin Nu? Soll ich die auch besser deuten?«

»Aber natürlich, Xiuna. Auch oder gerade meine Signale solltest du möglichst exakt deuten.«

»Wo du doch von Vertrauen sprachst, Meisterin …«

Runa lachte.

»Das schließt sich nicht aus. Ich werde dir im Verlaufe unserer Übungen bewusst bestimmte Signale senden, die du wirst korrekt deuten müssen, um meine Taktik zu erraten. Machst du dabei Fehler, dann hast du Schmerzen.«

»So hat es Schwester Clara auch gemacht.«

»Für mich wirst du nicht nackt umherlaufen müssen. Aber auf dein Nasenbein solltest du schon achtgeben.«