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Epische High Fantasy mit Helden, Schlachten, Magie und einer Romanze, die sich wie ein rotes Seidenband durch die Geschichte zieht und weder drohende Niederlagen noch selbst den Tod fürchtet. Entehrt und vom Königshof verstoßen schlägt der vormalige Paladin Niro sich mit Gelegenheitsdiebstählen und anderen Aufträgen durch, während er prachtvolleren Zeiten hinterhertrauert. Als wäre das alles noch nicht schlimm genug, stellt ihm seit Neuestem ein geflügeltes Mädchen nach, das ihm seine Seele entreißen möchte. Schmutzig mag Niros Seele sein, aber er hängt doch an ihr! Er kann die junge Elee fangen, ihr aber doch nicht einfach den Hals umdrehen. Denn sie ist bezaubernd unschuldig, sehr neugierig und obendrein nur das Werkzeug eines viel mächtigeren Gegners. Um diesen aufzuhalten und sowohl sich selbst als auch das ganze Reich zu retten, muss Niro Elees Vertrauen gewinnen.
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Veröffentlichungsjahr: 2019
Niro
Tanja Rast
Für Darius
Kann Spuren von Erdnüssen enthalten!
Es gibt Inhalte, die Betroffene triggern können, das heißt, dass womöglich alte Traumata wieder an die Oberfläche geholt werden. Deswegen habe ich für diese Personen eine Liste mit möglichen Inhaltswarnungen für alle meine Romane zusammengestellt:
www.tanja-rast.de/inhaltswarnungen
Elee blickte rasch auf, als der Herr nach ihr brüllte. Die Stimme erklang verzerrt von ihrem Weg die Wendeltreppe herauf. Beinahe hatte Elee das Gefühl, dass jeder Stein ihres Zimmers, ja sogar die Außenwände des Turmes mit diesem Ruf vibrierten, ihn verstärkten durch die Macht des Herrn.
Leichtfüßig sprang sie vom Bett, auf dessen Rand sie über ein Buch gebeugt gesessen hatte. Mit einer fahrigen Bewegung fuhr sie sich mit den Fingern durch Haar, atmete tief ein und bemühte sich um ein ausdrucksloses Gesicht. Dann ließ sie die Flügel ein wenig hängen, sodass die Spitzen den Boden berührten. Der Herr hatte einmal zu ihr gesagt, dass sie aufsässig aussähe, wenn sie die Flügel hochtrüge. Arrogant, hatte er gesagt.
Elee lernte schnell dazu. Eine Ohrfeige schmerzte und stellte eine Erniedrigung dar, eine unverdiente Strafe, nur weil Elee etwas nicht besser gewusst hatte. Das passierte ihr kein zweites Mal. Ebenso hart wurde Trödeln bestraft, und so verlor sie keinen weiteren Augenblick, sondern stieß die Kammertür auf und eilte die Treppe hinab, bevor der Herr ungeduldig wurde und ein zweites Mal nach ihr rufen musste. Das verärgerte ihn. Und dann wurde er sehr streng, und manchmal schlug er dann auch zu oder – schlimmer – funkelte Elee zornig und wortlos an. Das tat weh und machte ihr Angst.
Sie konnte in seinem Gesicht oftmals keinerlei Gefühle ablesen und wusste nicht, was hinter dem schmallippigen Mund und den harten grauen Augen vor sich ging. Was der Herr gerade dachte, was er vorhatte, welche Strafe er plante.
Auf ihrem Weg die Treppe hinab vernahm Elee die Stimme der Frau, die im Turm des Herrn lebte. Laut und ein wenig schrill, als würde sie sich ärgern. Noch war Elee sich nicht ganz sicher, welche Rolle die Frau im Dasein des Herrn spielte. Doch manchmal verspürte sie Eifersucht. Auf Geheiß des Herrn durfte sie sich der Frau nicht nähern, und diese zeigte sich niemals offen, wenn Elee sich im Turm bewegte. Nur aus der Ferne hatte sie die Frau beobachtet und sich im Stillen geärgert, dass diese groß und blond und stets elegant gekleidet war. Langeweile schien die Natur der Dame zu sein, und Elee beneidete sie darum. Langeweile und eine sehr laute Stimme, die den Stein mühelos durchdrang. Besonders nachts, wenn die Frau schrie.
Lautlos betrat Elee das große Zimmer, in dem der Herr seine meiste Zeit verbrachte. Bücherregale säumten die Wände, ein Kamin befand sich mitten im Raum, der Schreibtisch war bequem zwischen Wärmequelle und Fenster gerückt, damit der Herr am besten arbeiten konnte.
Meistens saß er hinter seinem Arbeitstisch, wenn Elee auf seinen Befehl herbeieilte. Dieses Mal stand er am Kamin, eine Hand auf das gemauerte Sims gestützt, den Kopf leicht gesenkt, um in die flackernden Flammen zu starren.
»Herr, du hast gerufen?«
Er fuhr mit einem Ruck hoch, ließ den Blick über Elee fliegen und nickte schließlich. »Ich habe eine Aufgabe für dich. Komm her.«
Folgsam eilte sie näher. Ihre nackten Füße verursachten keinen Laut auf dem Teppich, der im Arbeitszimmer den kalten Steinboden bedeckte. Nur die Spitzen ihrer Schwingen schleiften leise über das bunte Knüpfwerk und begleiteten Elees Schritte bis zum Kamin.
»Sieh in die Flammen«, sagte der Herr und legte eine Hand auf ihre Schulter, kaum dass sie in Reichweite war.
Folgsam tat sie es, erblickte die glühenden Kohlen, die feinen Flämmchen und wartete.
Mit einer knappen Bewegung stieß der Herr sich vom Kaminsims ab, streckte die freie Hand über der wärmenden Glut aus und murmelte zwei Wörter. Oder zwei Silben? Elee war sich nicht sicher. Dies war die geheime Sprache, die nur der Meister verstand und die über so viel gebot. Im schlimmsten Fall auch über Elee.
Die Flammenzungen veränderten ihre Farbe, schimmerten grün wie Edelsteine, verwandelten den Ton zu einem klaren Blau wie das des Meeres rund um die Insel, in deren Mitte der Turm aufragte.
Elee zwinkerte, als sich in der Lohe ein Bild formte. Sie meinte, eine Straße zu erkennen. Häuser, die eine enge Gasse säumten. Der erste Stock eines jeden Hauses ragte weiter in die Straßenflucht hinein, schien den Himmel aussperren zu wollen, so nah, wie sich die Dachgiebel kamen. Wäscheleinen verliefen zwischen den Fenstern der oberen Stockwerke. Tücher, Hemden und Hosen flatterten in der milden Brise, die vom Meer die Straße hinauf wehte.
Ebenso bewegte sich ein Schild in rostigen Ketten über einer Tür. Elee konnte die verwitterten Buchstaben nicht entziffern, aber das Bild auf dem Schild war klar für sie zu erkennen. Trauben, ein Weinkelch, eine Krone. Eine Kneipe.
»Merke dir das gut, Elee«, flüsterte der Herr direkt in ihr Ohr.
Sie nickte.
Das Bild veränderte sich leicht, als würde der Herr die Augen eines Menschen nutzen, der die Gasse entlang spazierte, vor der Tür zur Schänke anhielt, den Kopf in den Nacken legte, um das Schild neuerlich zu betrachten. Dann schwang die Pforte auf, und das Innere der Schankwirtschaft wurde sichtbar.
Elee rümpfte die kleine Nase, als sie im Halbdunkel Tische entdeckte, auf denen schmutzige Teller und Krüge standen. Bierpfützen hatten das Holz fleckig werden lassen, und fast meinte sie, den Geruch sauren Weins, abgestandenen Biers und gebratenen Fischs zu riechen.
Ein dicker, kleiner Mann befand sich hinter dem Tresen und wischte mit einem Tuch dessen Oberfläche trocken. Von sauber konnte keine Rede sein. Halbvolle Flaschen standen dort, nur nachlässig verkorkt, als erwarte der Wirt, dass sie ohnehin in Kürze geleert sein würden. Vielleicht störten sich seine Gäste auch nicht an der einen oder anderen ertrunkenen Fliege in ihrem Getränk. Vermutlich bemerkte das auch niemand in diesem schlechten Licht.
Im Hintergrund führte eine Holztreppe in das Obergeschoss, und als hätte der unsichtbare Träger des Augenlichts nur auf diese Erkenntnis seitens Elees gewartet, nahm er die Stufen auch schon in Angriff.
Oben mündete die Treppe in einen kleinen, fensterlosen Flur, dessen Bodendielen vor Dreck starrten. Elee konnte Schmutzstraßen sehen, die sich hier gabelten und zu jeweils einer von vier Türen führten. Eine von ihnen schwang auf.
Ein kleines Zimmer tat sich vor Elee auf. Ein breites Bett dominierte die Kammer, die kleiner war selbst als der Raum, den sie im Turm des Herrn bewohnte. Vorhänge schirmten das Tageslicht ab. Das Bild hielt an und zeigte das Bett.
Und den Hünen, der darin lag und tief und fest zu schlafen schien.
»Das ist dein Auftrag. Viel hast du mir schon gebracht, jeden meiner Befehle brav befolgt. Ich bin zufrieden mit dir. Deshalb erhältst du nun von mir den Auftrag, mir das Letzte zu bringen, damit ich mein Werk vollenden kann. Der Mann, den du da siehst, besitzt die letzte Kostbarkeit. Bring mir seine Seele, Elee. Ich brauche die Seele eines gefallenen Helden, und seine ist in Reichweite und wie gemacht für meine Zwecke. Ich will dich reich belohnen. Ich biete dir deine Freiheit an, wenn du mir seine Seele bringst. Ein Kinderspiel für jemanden wie dich. Flieg los, Elee.«
Sie nickte, und das Bild des Mannes auf dem Bett zerstob in Funken und Rauch. Doch nicht schnell genug, denn sie sah noch, wie der Mann sich aufsetzte, die Augen aufschlug und um sich blickte, als würde er einen Eindringling spüren.
»Sofort, Herr«, sagte sie, während sie den Anblick des Mannes kaum aus ihrem Kopf verbannen konnte. Schließlich musste sie sich an ihr Ziel erinnern, ihren Auftrag. Nur so konnte sie den Befehl des Herrn erfüllen.
Er reichte ihr eine Pergamentrolle: »Hier ist eine Karte, auf der ich dir markiert habe, wo du ihn am besten erwartest, Elee.«
Doch das Aufschrecken des Opfers, sein wachsamer Blick, das klang in Elee nach und irritierte sie. Noch auf dem Weg in ihre Kammer trug sie die weitaufgerissenen Augen, die angespannten Muskeln im Geist. Sie schüttelte energisch den Kopf. Der Kerl konnte gerne so wachsam sein, wie er wollte. Sie hatte einen Auftrag zu erfüllen, und die letzten Worte des Herrn hatten ihren Herzschlag beschleunigt. Freiheit in Aussicht! Entschlossen stampfte Elee auf, während sie zu ihrer Truhe eilte. Niemand konnte sich dem Herrn entgegenstellen. Elee würde diesen Auftrag erfüllen, um das Lebenswerk des Herrn in voller Pracht und Vollendung zu sehen. Dann würde der Herr dankbar und stolz auf seine Dienerin sein. Vielleicht würde er sogar einmal lächeln und nicht nur knapp die Zähne blecken in einer Grimasse, die sehr viel eher bedrohlich denn freundlich wirkte.
Seit Monaten schon strebte der Herr der Vollendung seiner Visionen entgegen. Elee hatte für ihn geraubt, kleinere Aufträge erfüllt, die sie sogar über die Grenzen von Amiens Hav getragen hatten.
Sie wand einen Ledergürtel um ihre Mitte und überprüfte, ob der kleine Dolch fest in seiner Hülle saß. Dann atmete Elee tief durch und eilte zum Fenster. Sie musste auf Zehenspitzen stehen und die schwarzen Schwingen zur Balance leicht ausbreiten, um hinaussehen zu können.
Die Turminsel befand sich weit draußen im Meer, dem Festland vorgelagert, wo Amiens Hav, die Küstenstadt des Reiches, sich in Terrassen über dem Hafen die Klippen hinaufschwang. Bunte Häuser, keines glich dem anderen. Eine fremde Welt, der Elee viel zu selten einen Besuch hatte abstatten können. Nur nachts bestand die Möglichkeit, durch die duftenden, fremdartigen Gassen zu schlendern – wenn Elee einen weiten Mantel trug, der die Schwingen maskierte. Die Kapuze zog sie tief in die Stirn, damit niemand ihr Gesicht sehen konnte.
Mit einem Segelboot, das nun in der geschützten Bucht zu Füßen des Turmes ankerte, war der Herr vielleicht zwei oder drei Stunden unterwegs, um Amiens Hav zu erreichen, in dessen Hafen Schiffe an den Molen lagen oder weiter draußen ankerten. Bunte Segel und Flaggen, die mit der Farbenfreude der Häuser zu wetteifern schienen, hatte Elee an sonnigen Tagen schon gesichtet. Sie hatte sich vorzustellen versucht, woher diese Schiffe wohl kamen und wohin sie als nächstes segeln würden.
Elee trat zurück. Schöne Schiffe und Häuser. Was würde aus der Stadt werden, wenn der Plan des Herrn aufging? Sie wusste es einfach nicht. Ein wenig Angst machte es ihr. Sie schob den Gedanken beiseite. Die Freiheit war der Preis. Besser, Elee beeilte sich. Je schneller sie diesen Auftrag erledigte, umso besser für sie.
Sie packte ein Bündel, in dem auch der lange Mantel Platz fand, und zog die Riemen über die Schultern, sodass das Gepäck sich fest an Brust und Bauchdecke drückte. Elee war bereit. Mit energischen Schritten verließ sie die kleine Kammer und eilte die Wendeltreppe hinauf.
Den Turm krönte ein Observatorium mit großen Öffnungen in alle Himmelsrichtungen. Salziger Wind vom Meer blies durch den hellen Raum, über dem sich ein kreisrundes Spitzdach in den Himmel bohrte.
Elee trat auf eines der breiten Simse und breitete die Flügel aus, fühlte das Rauschen des Windes in den Federn und genoss für einen Moment das prickelnde Gefühl. Von hier oben konnte sie mühelos losfliegen. Bei einem Abheben vom Boden brauchte sie einige Schritte Anlauf, bis die Schwingen sie vom Erdboden hochrissen. Sie rannte dann dem Wind entgegen, bis sie den Kontakt zur Erde verlor. War Elee erst in der Luft, war Fliegen einfach und angenehm. Doch jene schrecklichen Momente lang, in denen sie darum rang, endlich in die Höhe zu gelangen, fühlte Elee sich schutzlos.
Aber nun stand sie auf dem Sims, und bevor der Herr sie des Trödelns bezichtigen konnte, stieß sie sich ab, schlug mit den nachtschwarzen Schwingen, als eine Böe unter sie griff und für zusätzlichen Auftrieb sorgte.
Die blaue See raste unter Elee hinweg, und mit jedem Flügelschlag, der sie weiter vom Turm wegtrug, wurde ihr leichter ums Herz. Die Enge der Steine blieb zurück, und vor Elee breitete sich Amiens Hav aus, das in leuchtenden Reihen die Felsen emporstieg. Ein buntes Haus neben dem anderen begann die Stadt direkt am Sandstrand. Ein kleiner Wall schützte vor Fluten, hinter der Umfriedung lag eine der breiteren Straßen der Siedlung, und dann folgten die Häuser und ein unüberschaubares Gewirr von Gassen und noch engeren Gängen, wo nicht einmal ein Pferdegespann noch hindurch passte.
Das alles gehörte nun Elee, bis sie ihren Auftrag vollbracht und ihrem Herrn die Seele des fremden Mannes gebracht hatte. Die Seele eines gefallenen Helden.
Niro schreckte hoch. Seine Hand schoss zum Dolch, der neben ihm lag. Dann sah er sich schwer atmend in dem kleinen Raum um, umfasste die erbärmliche Einrichtung, spähte nach einem Eindringling.
Das Gefühl, beobachtet zu werden, hielt an, und nach dem ersten, schnellen Blick ringsum sprang Niro aus dem Bett und erreichte mit zwei raschen Schritten die Tür zum Flur. Mit einem Ruck riss er die Pforte auf. Der Gang davor lag gähnend leer da.
Doch noch immer prickelte es leise und warnend in Niros Nacken, stellte die hellen Haare dort auf, als drohte von irgendwoher Gefahr. Langsam schloss er die Tür wieder und warf noch einen prüfenden Blick auf das muffig riechende Zimmer, die Unordnung der letzten Tage, die in der Meeresbrise leicht flatternden Vorhänge.
Nur um gründlich zu sein, zog Niro den dünnen Stoff beiseite und spähte auf einen Hinterhof, der eine Kombination aus Misthaufen, Hühnerauslauf und Lagerplatz offenbarte.
Niro zog den Vorhang wieder zu und richtete sich gerade auf. Mit einem Mal verschwand das bedrohliche Gefühl, dass jemand ihn im Schlaf betrachtet hatte. Es ließ Unruhe zurück.
Niemand in dieser Stadt konnte wissen, wer er war. Die Jahre der Flucht und des fortgesetzten Versteckens hatten ihn verändert. Nicht länger der große Herr auf einem herausgeputzten und schwer gepanzerten Pferd, sondern ein stiller Tagelöhner, der sich nicht zu schade war, im Hafen Schlick zu schaufeln, Ställe auszumisten oder Ladung zu den wartenden Schiffen zu tragen. Niemand konnte den einfachen Mann mit dem anderen verwechseln, den Niro vor vier Jahren begraben musste, als alles ans Tageslicht gekommen war.
Verdammt!
Er schob diese fruchtlosen Gedanken von sich. Das war vergangen und erledigt. Jetzt beschäftigte ihn vielmehr seine Alarmbereitschaft, die durch das Gefühl der Nähe eines anderen Menschen ausgelöst worden war. Alle Sinne waren zur Höchstleistung angespornt und schrien nach sofortigen Gegenmaßnahmen.
Er packte den einzigen Stuhl und schob ihn unter die Türklinke. Dem altersschwachen Riegel traute Niro nicht. Dann zerrte er die dünne Decke vom Bett und verhängte das Fenster damit gründlich und sicher.
Ein Funke flammte in der Zunderbüchse auf, wärmte für einen Moment Niros Finger, bevor er die kleine Lohe an den Kerzendocht hielt und sich bei dessen Licht zum Kleiderschrank umwandte. Nun, eher ein schmalbrüstiger Spind, der schief an der Wand lehnte, um eine offene Feuerstelle zu verstellen. Wärme lieferten in diesem Zimmer die Sonne oder eine Kerze, für mehr war der Hausbesitzer zu geizig. Wer fror, sollte gefälligst in die Schankstube kommen. Die meisten Männer, die sich ein solches Herbergszimmer leisteten, waren Arbeiter im Hafen – wie Niro. Dank harter Arbeit, einem halben Liter Bier und heißer Suppe im Bauch fielen die Männer am Ende des Tages ins Bett und schliefen wie die Steine. Keiner von ihnen hatte Zeit und Muße, am Tag einige Stunden in der Kammer zu hocken und zu frieren.
Niro atmete tief durch, dann rückte er so leise wie möglich den Kleiderschrank von der Wand und fort von der rußigen Aushöhlung, in der früher einmal Flammen gelodert hatten, um durchgefrorene Reisende zu wärmen. In Zeiten, in denen diese Kneipe vielleicht ein kleines, aber feines Gasthaus gewesen war.
Erleichterung schwappte wie eine warme Welle durch Niros Muskeln, als das Kerzenlicht die schwarze Truhe auf dem alten Feuerrost offenbarte, die noch genauso dastand wie vor einigen Tagen, als er zuletzt nach ihr gesehen hatte. Er kniete nieder, prüfte das Schloss, das ihm intakt schien. Alles mutete nach bester Ordnung an, doch Niro musste sich überzeugen. Er öffnete das Schloss und klappte den Deckel auf.
Ein feines Aroma, in diesem dreckigen Loch vollkommen fehl am Platze, stieg ihm entgegen. Lederöl, ein wenig Pferdeschweiß, gewaschene Wolle. Er streckte die Hand aus und legte sie auf die Schuppen des Panzers. Die Kühle des Materials wirkte beruhigend und massiv genug, um die letzten Anflüge von Beklemmung zu vertreiben. Rötlich schimmerndes Metall, das in spitzzulaufenden Schuppen auf eine Unterrüstung aus gestepptem Leder genietet war.
Sanft glitten Niros Fingerkuppen über die Rüstung, bis sie die Stelle fanden, an der früher das Wappen geleuchtet hatte. Raues Metall dort, ein scharfkantiger Dorn, der zur Befestigung des Abzeichens gedient hatte. Das war fort, schon seit vier Jahren, und doch tat es immer noch weh. Eine allzu harte Bestrafung, die er auch jetzt noch nicht anerkennen konnte und wollte.
Er zog die Hand zurück, betrachtete das im Kerzenlicht flackernde Schuppenmetall, beugte sich vor und sah auf die beiden ebenfalls mit Schuppen geschützten Axtstiele. Er ließ die Fingerkuppen über ein Waffenheft gleiten, das mit von Schweiß und Blut schwarz gefärbtem Leder umwickelt war. Wie gemacht, um sich in Niros Hand zu schmiegen. Die gebogenen Waffenköpfe, die wie Keile durch feindliche Rüstungen dringen und Knochen und Fleisch zerhacken konnten. Todbringer.
Niro vermisste diese alte Pracht, die vertrauten Waffen. Doch es wäre Irrsinn und eine direkte Herausforderung aller Königstreuen, die Rüstung auch nur in der Abgeschiedenheit der schmutzigen Kammer anzulegen, so sehr jeder Muskel auch danach verlangte, das altvertraute Gewicht zu spüren, sich in der schützenden Panzerung zu strecken und zu wärmen.
Mit einer energischen Bewegung schloss er die Truhe, verriegelte das Schloss und atmete dann tief durch. Das war vorbei. Seit vier Jahren. Seit der greise Schwachkopf etwas bemerkt und vollkommen überzogen darauf reagiert hatte. Keine Möglichkeit für Niro, auch nur ein vernünftiges Wort mit dem Alten zu reden, sich in irgendeiner Weise zu verteidigen. Nicht einmal das war noch gestattet gewesen.
Dann eben nicht!
Er stand auf, packte den Kleiderschrank und schaffte ihn wieder an den richtigen Platz.
Wer brauchte schon einen alten Narren, der mit einem knappen Winken der welken Hand alles durchriss, was ihn mit Niro verband? Alles leugnete, was Niro für ihn getan und geleistet hatte? Alles in den Staub trat und ein Todesurteil aus gekränkter Selbstüberschätzung sprach? Niro nicht, das stand einmal fest. Der Alte konnte nicht ewig leben. Sein Todestag würde Grund für eine Feier sein.
Tief atmete er durch und ging zum Fenster, zerrte die Decke beiseite und sah nach draußen auf den stinkenden Hof, hob den Blick zur Sonne. Bald war es Zeit. Nicht für den Hafen, wo er nur arbeitete, um eine Erklärung für ein wenig Geld in seiner Börse liefern zu können.
Er lächelte. Nein, nun kam die Zeit für die Arbeit, die ihm sehr viel Besseres als dieses Rattenloch ermöglichen könnte – wenn er denn dumm genug wäre, ein Auffallen und solcherart eine Entdeckung riskieren zu wollen. Haftbefehl und Todesurteil schwebten immer noch über ihm, selbst vier Jahre danach. Seine Flucht war bislang erfolgreich gewesen, und nur weil er sich nach einem heißen Bad, nach einem sauberen Bett sehnte, riskierte Niro keinesfalls sein Leben. Aber es würde guttun, in einem anderen Viertel der Stadt ein gutes Essen einzunehmen – bei einem Straßenhändler gekauft, der in dem großen Kerl nicht gleich den vermeintlichen Hafenarbeiter erkannte.
Mit einem bösen Lächeln öffnete Niro den Kleiderschrank, schob einen langen Mantel beiseite und zerrte das zweite größere Gepäckstück hervor, das er in diese Absteige getragen hatte. Die Truhe in totaler Dunkelheit, damit niemand sie sah. Dieses schwarze Leinenbündel hatte Niro hingegen wie einen Seesack geschultert ganz offen hineingebracht. Jetzt bettete er ihn auf die schmale Liege, zog die Schnüre auf und rollte den Stoff auf.
Metall blinkte bösartig selbst unter der tarnenden Rußschicht. Nette Kleinigkeiten. Der kleine Reiterbogen ruhte in schützender Lederhülle neben dem kurzen Köcher, in dem nur dunkel gefiederte Pfeile steckten, deren Schäfte mit winzigen Markierungen auch in finsterer Nacht gestatten, dass Niro den Richtigen auswählte. Aber nicht für diesen Auftrag. Häuser boten nicht das optimale Betätigungsfeld für einen Bogen, und war dieser noch so handlich. Mitnehmen würde Niro die Waffe trotzdem. Für alle Möglichkeiten gerüstet. Dumme Zufälle durften gerne anderen zustoßen.
Ein Pferd im Mietstall oben auf der Klippe war bereits bestellt. Der Ritt würde nicht länger als eine halbe Stunde dauern, ohne das Tier zu überanstrengen. Einmal mehr ballte Niro die Faust. Seine Pferde, aus seiner eigenen Zucht, hatten ihn leicht getragen. Aber solche Tiere fand man nicht in einem Mietstall. Stuten und Hengste waren zusammen mit dem übrigen Besitz eingezogen worden. Und ausgerechnet in sein altes Zuhause führte ihn der neueste Auftrag. Er lächelte und streichelte zärtlich einen Wurfstern. Nun, dann war es wenigstens ausgeschlossen, dass er sich im Haus verirrte oder in einer Abstellkammer landete.
Er lachte leise auf und wandte sich erneut dem Kleiderschrank zu. Daneben hing auf einem klapprigen Rüstungsständer unter speckigem Leinen die zweite Panzerung. Sollte sie gefunden werden, würde man sich wundern, was ein einfacher Hafenarbeiter mit solcher Ausrüstung anfangen wollte. Doch eine flüchtige Erwähnung des Militärdienstes würde schon ausreichen, um Verdächtigungen zu zerstreuen.
Nur ein Lederpanzer, einfach gearbeitet und schwarz geölt, der eindeutig bessere Tage gesehen hatte. Kein Helm, kein Schwert. Die lange Klinge war für jeden verboten, der nicht zur königlichen Streitmacht gehörte. Ein Bauer würde eine Hand verlieren, wenn man ihn mit einem Schwert erwischte. Ebenso ein vermeintlicher Hafenarbeiter, falls er sich nicht den Fluchtweg freikämpfen konnte.
Keine halbe Stunde später befand Niro sich schon auf dem Weg die gewundenen Straßen hinauf zum Kopf der Klippen. Der lange Mantel verbarg Rüstung und Ausstattung, verdeckte Bogen, Seile und Pfeilköcher zulässig. Dunkle Farben ließen Niro selbst in den engen Gassen zwischen den leuchtend bunten Häusern leichter mit den Schatten verschmelzen, ihn kleiner und weniger wuchtig erscheinen.
Aus den Häusern drangen Düfte nach gebratenem Fisch, frischem Brot. Gelächter wehte zu Niro heraus, der stumm Stufen hinaufsprang, eine Abkürzung durch eine besonders enge Gasse nahm, die ihn an einem blühenden Obstgarten vorbeiführte. Unter einer Brücke hindurch, die zwei Häuser in ihren Obergeschossen miteinander verband. Noch eine breite Treppe, dann trat er durch ein Tor, welches das Ende der Stadt markierte, obwohl auf der Ebene oberhalb der Klippe das Leben erst zu beginnen schien. Bäume reckten sich dem abendgrauen Himmel entgegen. Viehweiden, Bauernhöfe und noch mehr Obstgärten. Immer noch prangten die Häuser in allen Farben des Regenbogens, als stritten die Eigentümer sich darum, wessen Gebäude mehr im Sonnenlicht leuchtete. Das Abendrot tauchte alles in die Farbe frischer Glut und konnte doch die Unterschiede nicht ausmerzen.
Niro wandte knapp den Kopf. Zur Rechten ragte die Festung von Amiens Hav auf. Schneeweiß bei Sonnenlicht, sodass es in den Augen schmerzte, in der Mittagsglut zu ihr aufzusehen, wie sie sich krass vom dunkelblauen Himmel abhob. Jetzt schien sie aus einem Stück glühendem Fels gemeißelt worden zu sein.
Mit einem Zähneknirschen, das in den Kiefergelenken schmerzte, richtete Niro den Blick zurück nach vorne und eilte auf den Stall zu, wo ein Pferd auf ihn wartete.
Amiens Hav als Aufenthaltsort war der höchste Unsinn, doch Niro klammerte sich daran fest, dass die Jahre ihn genug verändert hatten, dass niemand in ihm den vormaligen Kommandanten der Festung erkennen konnte. Vier Jahre waren eine lange Zeit. Hinzu kam, dass die Menschen einen Beschützer, ein Symbol in ihm gesehen hatten. Über die rotglänzende Rüstung hinweg hatte doch niemand nach mehr Ausschau gehalten.
Es war der Auftrag, der Niro hierhergebracht hatte, wo er Jahre seines Lebens im Dienste des alten Geizhalses verschwendet hatte!
Nur eine letzte nächtliche Diebestour, und Niro konnte den Staub von Amiens Hav von seinem Mantel schütteln, Truhe und Gepäck mit sich nehmen, ein gutes Pferd kaufen und weit ins Land reiten, das sich wie ein grüner Teppich vor den Hufen des Tieres entrollte. Dieses Reich bot mehr als genug Platz und Gelegenheit für jemanden, der sich nun als seines eigenen Glückes Schmied betätigte und bereit war, einem König mindestens vor die Füße zu spucken.
Die Seuche sollte den alten Schwachkopf holen!
Elee hatte den Tag auf einem Möwenfelsen vor der Stadt verbracht, sich in eine dunkle Nische gekuschelt und Amiens Hav mit Blicken verschlungen.
So nah war sie bei Tageslicht der Stadt noch nie gekommen. Sie umschlang die Schienbeine mit den Armen, stützte das Kinn auf die Knie und hüllte sich gegen den Seewind in die Schwingen.
Ein gefallener Held. Ein großer Mann, der die Magie des Herrn auf irgendeine Weise bemerkt und durch sie aus tiefem Schlaf gerissen worden war.
Elee begriff, dass es keinesfalls ein Kinderspiel sein würde, diesem Mann – sterbend, tödlich verwundet – die Seele zu entreißen. Der Herr hatte es als so leicht bezeichnet, doch wenn es das wäre, hätte er die Sache in die eigene Hand genommen.
Nach dem Dolch tastend sagte Elee sich, dass sie selbst wohl kaum Aussicht auf Erfolg haben würde, den riesigen Fremden zu seinen Ahnen zu befördern. Mit einem Angriff aus der Luft konnte er zwar nicht rechnen, aber trotzdem blieb ein mulmiges Gefühl. Wie schnell der Mann sich aufgesetzt hatte! Wie rasch er vom Tiefschlaf zur Wachsamkeit gewechselt hatte.
Außerdem … ein gefallener Held musste in seinem Leben schon einiges durchgemacht haben, um von hellster Anerkennung zu dumpfer Einsamkeit in einer solchen Kaschemme zu gelangen.
Sie versuchte, sich das Gesicht des Fremden klarer in Erinnerung zu rufen. Er musste etwa das Alter des Herrn haben. An Erfahrungen im Kampf mangelte es ihm bestimmt nicht.
Sie schüttelte die Federn sacht aus, als die Sonne unterging und ganz Amiens Hav in roten Widerschein hüllte.
Gut. Selbst umbringen würde vielleicht scheitern. Aber auf einen Versuch musste Elee es ankommen lassen. Wenn das nicht gelang, musste sie andere Wege finden, den Mann dem Tod näher zu bringen. So nahe, dass sie die Seele greifen konnte. Flüchtig war dieses Gespinst aus Energie, Erinnerungen und Resten des Seins. Immer an der Grenze, den Körper zu verlassen.
Das konnte doch nicht so schwierig sein!
Elee stand auf, streckte die nachtschwarzen Schwingen weit und stieß sich von dem kleinen Felsgesims ab, auf dem sie den Tag mit Träumen, Betrachten und Grübeln verbracht hatte. Gelangweilt hatte sie sich keinen Moment lang, nur die vorübergehende Freiheit ebenso genossen wie den Meereswind, der die nackten Zehen kitzelte und die Federn sanft streichelte.
Doch nun wartete Arbeit auf Elee.
In einem dichten Hain am Rande der Felder band Niro das Pferd an und hoffte, dass es hier ebenso saumselig verweilen würde, wie es ihn zum Ziel getragen hatte. Wieder klopfte Sehnsucht an und erinnerte ihn an seine eigenen Pferde, von denen nicht ein einziges für den kurzen Weg so unermesslich lange gebraucht und sich jedem Beschleunigungsversuch hartnäckig wiedersetzt hätte.
Im Schatten der Bäume eilte Niro zum Feldrain und überblickte die hohen Halme, die von Büschen gesäumten Wege zwischen den Ackerflächen. Natürlich fand er an jeder entdeckten Einzelheit etwas auszusetzen. Der schwarze Boden war nach dem Pflügen nicht ausreichend geebnet worden. Die Saat hatte man unregelmäßig ausgebracht, und zumindest zwei Dornengebüsche wucherten auf den Weg und würden Fetzen aus Kleidung und Haut der Arbeiter zupfen.
Niro hob den Kopf und blickte zu dem flachen, lang gestreckten Gebäude. Lichter brannten überall. Helle, leichte Vorhänge bewegten sich sanft in der Abendbrise. Feuerkörbe flackerten auf den großzügigen Terrassen in der Nähe der Sonnensegel und gemauerten Gartenteiche. Die Wirtschaftsgebäude lagen ein wenig abseits. Auch dort brannten noch Lampen. Alles in allem wirkte das Anwesen vertraut und doch schmerzhaft fremd.
Niros Kiefermuskeln spannten sich unwillkürlich an. Egal. Auch das hatte der alte Schwachkopf ihm genommen. Also war es nur in Ordnung, wenn Niro den Schmarotzer, der jetzt hier wohnte, um eine Kleinigkeit erleichterte. Immerhin schlummerte der in Niros Bett, aß von den Tellern, die Niros Frau auf dem Markt gekauft hatte. Und ritt vielleicht auf Niros Pferden …
Er setzte sich in Bewegung, lief lautlos und nur als ein Schatten unter vielen die vertrauten Wege entlang, die er selbst im Schlaf gefunden hätte. Einen Umweg nahm er in Kauf, um nicht über den weißen Kies gehen zu müssen, der nachts besonders laut zu knirschen schien.
Dann überwand Niro eine niedrige Balustrade, hinter der er geschmeidig in die Hocke ging, um die Deckung auszunutzen. Wasser plätscherte in einem der kleinen Teiche. Fische in allen Farben des Regenbogens pflegten sich dort zu tummeln und einer reich geschmückten Frau die Brotstückchen zwischen den Fingern hervorzuziehen. Für einen bitteren Moment meinte Niro sogar, das stets aufreizende Lachen der Frau zu vernehmen. Dann verschwand die Einbildung, und zurück blieben dunkle Terrassen, nur sporadisch durch rote Glut in Feuerkörben erhellt.
Es roch nach Wein und kaltem Braten. Der neue Herr des Anwesens hatte genau hier zu Abend gegessen, bevor er sich in Niros Schlafzimmer zurückgezogen hatte. Die Versuchung, den Kerl einfach im Bett mit einem Kissen zu ersticken oder mit bloßen Händen zu erwürgen, flackerte verlockend in Niro auf. Doch dafür war er nicht hierhergekommen.
Stattdessen spähte er angespannt um sich, ob er Wächter entdecken konnte. Nichts und niemand. Niro runzelte die Stirn. Das war beinahe zu einfach für seinen Geschmack. Oder der Kerl war ein noch größerer Dummkopf, als Niro sich in seinen kühnsten Träumen vorstellen konnte. Doch war das nicht zu erwarten gewesen? Seinen besten Mann hatte der König ja in Schimpf und Schande enteignet, der Würden für bar erklärt und zum Tode verurteilt. Was blieb denn da noch übrig außer dem tölpelhaften Bodensatz des Adels?
Wie ein von der Sehne geschnellter Pfeil sprang Niro auf, flog lautlos über die Terrasse, wich aus langer Gewohnheit einer kleinen Treppe aus und sprang stattdessen über eine halbhohe Mauer, hinter der sich der Blumengarten verbarg. Ohne Rücksicht auf die Blüten, an denen er sich selbst nicht mehr erfreuen konnte, rannte Niro geduckt weiter, durch die kleine Pforte, die in den Küchengarten führte, und dort direkt in den Schutz des auf Spalieren gezogenen Weins.
Würzig zog der Duft der zahlreichen Kräuter durch die kühle Luft, während in den Steinen von Mauerwerk und geziegelten Wegen noch die Wärme des Tages anhielt. Wieder sah Niro sich angespannt und wachsam um. Dann erhob er sich behutsam aus der Hocke, wandte sich um und packte die festen Weinranken, die im Laufe von Jahrzehnten armdick gewachsen waren.
Nicht im Geringsten außer Atem zog Niro sich auf das flache Dach des ersten Stocks, rollte zur Seite in den Schatten der nächsten Hauswand und lauschte angespannt. Irgendwo schnaubte ein Pferd, sonst war es still.
Behutsam richtete er sich auf und schlich zum Fenster, das zu einem Badezimmer führte. Seinem Badezimmer.
Die Läden waren noch nicht geschlossen und nicht einmal der Rahmen verriegelt worden. Das Fenster stand sogar einen Spalt offen, um die warmen Schwaden eines genossenen Bads entweichen zu lassen. Der Duft nach Seife und Blütenblättern schlug Niro entgegen, als er über das Sims kletterte und auf dem gefliesten Boden landete. Nasse Handtücher lagen achtlos auf dem Rand der Wanne, in der noch Wasser glitzerte.
Vier schnelle Schritte, und Niro hatte die Tür zum Flur erreicht. Er lauschte auf Geräusche und drückte dann behutsam die Klinke nieder, zog die Tür auf und trat auf den dicken Läufer, der die obere Galerie komplett bedeckte und das Geräusch jeden Schritts verschluckte.
Niro näherte sich dem hölzernen Geländer, fühlte die Wärme der ungezählten Wachskerzen im großen Leuchter, der von der Decke hing und Galerie wie Halle im Erdgeschoß mit gelbem Licht flutete.
Unten stand die große Truhe, wie sie es schon zu Niros Zeiten als Herr über dieses Haus getan hatte. Der selbe runde Teppich aus Seide und weicher Wolle, die Blütenmuster vertraut, als hätte Niro dieses Heim nicht vor vier Jahren verlassen. Auf der anderen Seite der Halle eine Rüstung auf einem hölzernen Gestell. Niros alte Rüstung, die rotleuchtenden Schuppen matt und seit ungezählten Tagen nicht geputzt.
Jetzt knirschte er mit den Zähnen, dass es weh tat. Welcher Schmarotzer schmückte sich mit dieser Panzerung, die Niro für König und Vaterland in Kriege getragen hatte, um die sich die Truppen geschart hatten, um die Befehle des Paladins des Königs zu vernehmen und auszuführen?
Elee zog den langen Mantel über die Schwingen, knotete unter dem Kinn die Bänder zu und zog die Kapuze über den Kopf. Sie bebte vor freudiger Aufregung.
Ja, es war wieder Nacht, sodass sie sich möglichst unbemerkt durch die Gassen von Amiens Hav schleichen konnte. Doch hatte sie den ganzen Tag die sonnenbeschienene, bunte Stadt betrachten können. Sie hatte sich ein Haus ausgesucht, das sie besonders schön fand. Einfach so, nicht aus der Erwartung heraus, hier jemals leben zu können. Doch hatte sie sich vorgestellt, wie es wohl sein würde, die Brücke zu überschreiten, die das Haus mit seinem Nachbarn verband und über eine schmale Gasse führte. Beide Seiten des zweigeteilten Heims leuchteten im selben kraftvollen Rosa. Fensterrahmen und auch die Läden wiesen ein dunkles Kobaltblau auf, und vor jedem Fenster, das vom Boden bis zur Decke des dahinterliegenden Raumes reichen musste, befand sich ein kleiner Balkon, an dessen Geländer Körbe und Krüge mit blühenden Blumen befestigt waren. Wie kleine, schneeweiße Wasserfälle ergossen sich die Blüten hängend aus ihren Gefäßen, umhüllten die Metallstäbe des Geländers und wirkten wie stürzende Wolken, wie die Gischt auf dem Meer.
Resolut zog Elee ihren Dolch und verbarg die Hand mit der Waffe in den Falten des Mantels. Dann eilte sie los, barfuß über geschotterte Wege, bis sie die ersten Häuser erreichte und Straßenpflaster unter den Sohlen spürte. Warm noch von der Sonne, die den ganzen Tag die Steine beschienen hatte.
Aufgeregt und voller Freude über die momentane Freiheit schlüpfte Elee in die dunkleren Schatten zwischen den Häusern, deren Fundamente eins waren mit dem Stein der Klippe, in die man die Gebäude gebettet hatte. Sie schienen aus dem Fels zu wachsen, sich in den Abendhimmel zu schrauben und wurden mit jeder Handbreit, die sie sich vom Gestein entfernten, bunter und schöner.
Kerzenlicht und Straßenlaternen beleuchteten die Gassen, wo Händler ihre Stände zusammenbauten, die bunten Markisen aufrollten und Waren in die hinter dem Markstand liegenden Häuser trugen. Der Duft nach Obst, Gewürzen, gebratenem Fleisch hüllte Elee ein.
Zu gerne hätte sie einen der geschäftigen Männer gefragt, ob sie etwas haben dürfte. Nur einen Bissen Brot, ein Stückchen des würzigen, in Fett gebratenen Fleisches. Doch hielten Vorsicht und auch eine gewisse Schüchternheit sie davon ab, während sie sich ihren Weg weiter hinauf suchte.
Eine Frau trug einen Korb voller fremdartig aussehender Früchte in das Haus, blieb stehen, als sie Elee sah, und lächelte. Eine kräftige Hand hob eine leuchtend gelbe, kugelrunde Frucht aus dem großen Korb. »Hier, willst du?«
Elee hatte Mühe, nicht zurückzuzucken, als sie solcherart angesprochen wurde. Sie musste ein Zittern unterdrücken, als sie ihrerseits die Hand ausstreckte. »Darf ich wirklich?« Ihre Stimme klang ihr grell und unsicher in den Ohren.
»Sonst hätte ich es dir nicht angeboten, Kleines. Nimm ruhig. Und dann sieh zu, dass du nach Hause kommst. Es ist doch schon ganz dunkel!«
Ihre Finger berührten sich in dem Augenblick, da die Frucht den Besitz wechselte. Elees Herzschlag raste, aber sie schloss die Hand um das vollkommen unerwartete Geschenk. »Danke«, flüsterte sie, von einer Mischung aus Fassungslosigkeit und Rührung erfüllt. Noch nie hatte jemand ihr etwas geschenkt!
Die Frau nickte, lächelte noch einmal und verschwand dann mit der restlichen Ware im Haus.
Elee blieb alleine auf der Straße zurück, hob das Geschenk zur Nase und schnupperte daran. Süß und ein wenig würzig, irgendwie wild roch das Obst. Elee schlug die Zähne hinein, riss gierig einen Bissen heraus, der wie Honig und ganz geheimnisvoll schmeckte.
Saft lief ihr über das Kinn, und sie wischte ihn mit dem Handrücken weg, eilte weiter und vertilgte dabei das Obst, das ihren Magen zu wärmen schien und die Sonne zurückbeschwor.
Erst als die Gasse mit der Kneipe erreicht war, wurde Elee klar, dass das Bild der Stadt sich verändert hatte. Noch immer konnte sie im Laternenlicht die strahlenden Farben der Häuser erkennen, doch lag hier Unrat auf der Straße, und auch der Geruch nach Meer war matter geworden.
Dies, so sagte Elee sich, war keine schöne Wohngegend, wo die Menschen sich morgens fröhlich grüßten und keine Angst hatten, einen Fuß vor die Tür zu setzen, kaum dass es dämmerte.
Die Finger fest um das Dolchheft gespannt, ging Elee weiter und achtete darauf, nicht in Dreck, Tonscherben oder stinkende Pfützen zu treten. Sie atmete auf, als sie das in seinen Ketten knarrende Schild der Gastwirtschaft entdeckte. Lautlos huschte Elee zu einem der Fenster neben der Tür, stellte sich auf die Zehenspitzen und spähte in den Schankraum, den der Herr ihr mit seiner Magie bereits gezeigt hatte.
Gelbes Kerzenlicht flackerte, und an jedem Tisch kauerten Männer. Doch nirgends entdeckte Elee die hochgewachsene Gestalt, wegen der sie gekommen war.
Sie ließ sich wieder auf die Sohlen sinken, sah rasch um sich und huschte dann zu einem großen Durchgang zwischen der Gastwirtschaft und einem Haus mit verschlossenen Läden.
Der Geruch nach Tierdung schlug Elee entgegen. Sie rümpfte die Nase, raffte den Mantel fester an sich und hob deutlich die Schwingen, damit deren Spitzen nicht durch Mist und Jauche schleiften. Schlimm genug, dass der schwarze Dreck die bloßen Füße beschmutzen würde. Zwischen den Zehen hervorquoll und widerlich stank.
Instinktiv wollte Elee sich in die Schwingen hüllen, deren trockenen Duft atmen, um den Gestank nach Mist auszuschließen. Aber sie entsann sich ihrer Tarnung und eilte weiter.
Der Hof war klein und überfüllt. Hühner gackerten träge in einem Verschlag. Ein Schwein grunzte, und scheinbar überall waren Mist und Vorratskisten, Bierfässer, die in der Jauche standen und die widerliche Flüssigkeit in ihr Holz sogen und doch bestimmt den Geschmack an das Getränk weitergaben.
Elee legte den Kopf in den Nacken, entdeckte ein offen stehendes Fenster und zerrte sich in fieberhafter Eile den Mantel über den Kopf, entfaltete die Schwingen und begann, Luft zu schlagen, um die Leichtigkeit des Fliegens zu kämpfen in einem Mauergeviert, das viel zu eng dafür schien. Einmal streifte eine Flügelspitze eine Wand, doch gerade in diesem Moment verlor Elee den Boden unter den Füßen, stieg lautlos auf und streckte eine Hand nach dem Fenstersims aus, zog sich dichter heran. Immer noch schlugen die Schwingen, bis Elee sich mit einem Ruck vorwärtskatapultierte und auf der Fensterbank landete. Sie atmete tief durch und zog die Flügel eng an den Körper. Hastig stieß sie den Vorhang beiseite und sprang mit dem blanken Dolch – in Kopfhöhe erhoben – in das Zimmer.
Leer.
Aber es war das richtige, die Unordnung und der Schmutz vertraut aus dem Bild im Kaminfeuer des Herrn.
Über den Kopfnoten von Schmutz und Männerschweiß nahm Elee den Geruch von Leder und Stahl war. Sie eilte zum Bett, zog die Decke an sich und atmete tief den Duft des Opfers. In jeder Nuance prägte sie sich ein, wonach der Mann roch, so wie sie sein Gesicht mit den vor Anspannung geweiteten Augen genau vor sich sah. Die Erinnerung an die einsatzbereiten Muskeln, als der Hüne so abrupt aufgewacht war, hatte Elee deutlich vor Augen, Ein wenig wie ein wildes Tier, und ebenso alarmbereit und zwischen Flucht und Angriff schwankend. Wobei die Tendenz zum Angriff deutlicher gewesen war.
Eine Gänsehaut überlief Elee. Sie ließ die Decke sinken und blickte in der engen Kammer um sich, prägte sich alles ein, was später für sie wichtig sein könnte. Unvorbereitet wollte sie diesem großen Kerl nicht an die Kehle fliegen. Unbestimmt und doch nicht zu ignorieren machte sich die Gewissheit in Elee breit, dass man diesen Mann nicht überraschen konnte. Wenn das wirklich stimmte, musste sie auf anderem Wege dafür sorgen, dass der Krieger an des Todes Schwelle getragen wurde. Erst dann konnte Elee den Auftrag ihres Herrn erfüllen.
Doch wo steckte der gefallene Held nun? Siedend heiß fiel ihr die Karte ein, die der Herr ihr zugesteckt hatte. Mit fliegenden Fingern zerrte Elee das Pergament aus ihrem Bündel und entrollte die Karte. Es brauchte einen Augenblick, bis Elee sich orientieren konnte. Sie hatte einen Überblick über Amiens Hav erwartet, doch die Zeichnung zeigte sehr viel mehr. Vielleicht sogar das ganze Königreich.
In der leicht gezierten Handschrift des Herrn waren Orte markiert – und nummeriert. Der Herr wusste gewiss, dass Elee es nicht ganz im Handumdrehen schaffen würde, den großen Krieger seiner Seele zu berauben. Stationen einer Reise waren auf dem Pergament vermerkt. Rückfalloptionen, falls Elee bei den ersten Versuchen scheiterte. Woher auch immer der Herr die möglichen Reisewege der Beute kannte, er hatte sie auf dem Pergament vermerkt, das eine Welt zeigte, die Elee nicht kannte:
Hier Amiens Hav und der Turm im Meer, dort die Hauptstadt, eine rote Linie die Grenze zu den Nachbarreichen, die Wasserfälle mitten im Land ein Hindernis, das Menschen zur Verzweiflung treiben könnte. Die Bergreihe in Richtung des Sonnenaufgangs, die Ebenen, Felder, kleineren Städte. Alles war da und zeigte Elee, wie groß die Welt war, von der sie erst so wenig gesehen hatte, dass alleine diese Karte sie schwindelig machte.
Die Ziffer Eins beschrieb ein Haus gar nicht weit von Amiens Hav auf der Klippenhochebene. Daneben in winziger Schrift letzte Instruktionen.
Elee atmete tief durch, verstaute diesen kostbaren Reisebegleiter wieder in ihrem Bündel und stopfte auch den Mantel gleich hinterher, bevor sie auf das Fenstersims stieg und die Schwingen über dem stinkenden Hof ausbreitete. Nicht hoch genug für einen perfekten Abflug. Aber doch eine Erleichterung gegenüber einem Standort am Boden.
Eine leichte Brise fuhr durch die Federn, Mondlicht ließ sie erglänzen, tauchte sie für einen Moment in silbriges Licht, sodass sie grau statt schwarz erschienen. Langsam hoben und senkten die Flügel sich, und Elee sprang von der Fensterbank in die laue Luft der Meeresbrise, schlug mit den Schwingen und gewann an Höhe, flog über die Mauer hinweg, die den Hinterhof von seinen Nachbarn abgrenzte.
Niro trat von der Brüstung zurück, wandte sich gemächlich nach links und schritt auf die Tür zu seinem eigenen Schlafzimmer zu. Dort lagen der Schatz und ein feiger Schmarotzer.
Unwillkürlich ballten Niros Hände sich zu Fäusten. Er lockerte die Finger wieder und ging weiter. Der Geruch des Hauses hatte sich verändert. Ein saurer Mief wie von Essig hing in der Luft, die früher nur vom Duft nach Blumen und frischem Heu geschwängert gewesen war.
Vor Niro ragte dunkel die Tür auf, und er blieb einen Moment stehen, sammelte sich, bevor er behutsam die Klinke niederdrückte und wie ein Schatten in das Zimmer glitt, sich dicht an die Wand presste und die Pforte lautlos ins Schloss zog. Seine Finger glitten tiefer, fanden den runden Griff des Schlüssels. Es klickte leise, als Niro die Tür verriegelte.
Seine Kiefermuskeln spannten sich an. Ein Beben durchlief die gewaltige Rückenmuskulatur, die sich ebenfalls leicht verhärtete und erwärmte.
Wie Nebelschwaden bewegten sich die hauchdünnen Vorhänge rund um das Bett in der milden Abendluft, die durch das Fenster hereinströmte. Grillen zirpten im Garten, der Geruch des Rauchs aus den Feuerkörben wehte ins Zimmer. Im Bett schemenhaft eine Gestalt, die sich bis zur Kehle zugedeckt hatte. Ein massiger Arm auf der Bettdecke, ein dunkler Kopf auf dem Kissen.
In Niros Bett. Für einen Moment musste er die Augen schließen, während ein bitterer Geschmack ihm in die Kehle stieg. Dann hatte er sich endlich wieder im Griff, sah sich kurz um, und wie erwartet stand die Vitrine aus dunklem Holz immer noch seitlich der Feuerstelle.
Niro verdiente sich seinen Lebensunterhalt mit kleineren Diebstählen, mit Aufträgen zu größeren Raubzügen, mit Einbrüchen, um Kostbarkeiten für zahlende Kunden zu beschaffen. Er hatte auch anderes schon getan und sich weise im Voraus bezahlen lassen. Taten, auf die er durchaus nicht stolz war, die sein Gewissen als Soldat aber nicht sonderlich belasteten. Seinen Hauptauftraggeber hatte er niemals zu Gesicht bekommen, aber der Kerl musste in Gold schwimmen und sich an den merkwürdigsten Dingen erfreuen. Die Liste der Einbrüche war lang und Niro überzeugt, dass der Ramsch, den der Kerl zum Teil unbedingt besitzen wollte, nicht ein Zehntel des Lohns wert sein konnte. Aber das sollte Niro nicht stören.
Langsam ging er über den dicken Fellteppich zur Vitrine, immer ein waches Auge auf den Schläfer in jenem breiten Bett, in dem Niro die Nächte neben Talany verbracht hatte, bis er verhaftet worden war. Götter! Sie hatten es gewagt, den Paladin des Königs, Niro von Amiens Hav, in Ketten zu schlagen. Sie hatten Glück gehabt, dass er noch so viel Selbstbeherrschung besessen hatte, sie nicht allesamt zu erschlagen und zu ihren Ahnen zu senden, bevor sie noch begriffen, dass Stahl in ihre Schädel und Brustkörbe eingeschlagen war. Bis zuletzt hatte Niro gedacht, dass ein schiefes Grinsen, eine Entschuldigung und der reine Anblick seines Paladins den alten König wieder zur Vernunft bringen würden.
Niro hatte sich geirrt. Verdammt.
Es kostete ihn beinahe körperliche Anstrengung, diese Bilder von sich zu schieben. Schuld war seine Umgebung, er wusste es. Sein Haus, sein Schlafzimmer, sein Bett – mit einem fremden Schmarotzer darin, der sich wie eine Made im Speck in fremdes Eigentum gefressen und dort eingenistet hatte.
Doch deswegen war Niro nicht hier. Er hatte einen Auftrag, und diesen gedachte er, mit üblicher Zuverlässigkeit und Präzision zu erfüllen. Eine Vase aus Alabaster, fein geschliffen, sodass Sonnenlicht durch sie hindurch scheinen konnte. Im Hochrelief erschienen Szenen aus einer Göttergeburt auf dem edlen Stein. Augen, Lippen und natürlich jene Körperstellen, die für Geburten und vor allem Götterzeugung wichtig waren, akzentuiert mit Blattgold.
Ein scheußliches Ding, das Talany unbedingt hatte haben wollen. Was nützte es dem Weib jetzt? Wo auch immer Talany inzwischen steckte, die Vase bekam Niros geheimnisvoller Auftraggeber, für den Niro kreuz und quer durch das Reich gezogen war. Das Wiedersehen mit Amiens Hav war schmerzhaft gewesen, das gab Niro zu. Der Einbruch in das eigene Haus hatte etwas Lächerliches und war trotzdem gefüllt mit Bitterkeit. Die Vase hingegen … das konnte er wirklich als komisch ansehen.
Lautlos öffnete er die Vitrine, hob die Alabasterscheußlichkeit hervor, wickelte sie in ein Tuch und verstaute sie im Bündel, bevor er die Glastür wieder schloss.
Der Fremde im Bett schnarchte mit einem Mal, und Niro zuckte zusammen. Den widerlichen Kerl hatte er beinahe vollkommen aus seinen Gedanken verdrängt.
Lautlos ging Niro über die Felle zurück zur Tür des Schlafzimmers. Irgendwie juckte es ihn in den Fingern, dem Schnarcher eine Nachricht zu hinterlassen. Und wenn er nur an den Bettpfosten pinkelte. Aber das widerstrebte Niro im gleichen Augenblick, in dem er noch darüber lächelte. Immerhin war das sein eigenes Bett, und der röchelnde Kerl darin war der Fremdkörper, die Entweihung.
Niro blieb am Fußende des breiten Schlaflagers stehen und sah durch die sich wie Spinnweben in der Brise bewegenden Vorhänge auf das feiste Gesicht, den Bartschatten, die in alle Richtungen stehenden Haare. Es juckte ihn in den Fingern – nicht für eine Nachricht, einen derben Scherz, sondern diesem Mann die Kehle zuzudrücken.
Doch so tief gesunken war er noch nicht, sagte Niro sich, um gegen den immer stärkeren Drang anzukämpfen, dass er einen Mann im Schlaf ermordete.
Mit einem Mal erklang draußen Lärm wie von schnellen Schritten, von klappernden Rüstungen. Niro wandte verwundert den Kopf, blieb aber, wo er war. Wachwechsel? Nein, unmöglich, es hatte nicht einen einzigen Wächter gegeben, als Niro sich dem Anwesen näherte. Er schoss einen Blick zurück zu der Made im Bett, doch die rührte sich nicht.
Niro eilte zum Fenster und spähte nach draußen. Auf der Terrasse sammelten sich Soldaten. Im flackernden Feuerschein konnte er ihre Wappen und Waffenröcke ausmachen. Keine Männer des Königs. Das war sehr viel wert. Vielleicht war einfach ein übereifriger Hauptmann in die Unterkunft der Soldaten gekommen und hatte das faule Pack aufgescheucht, weil niemand an eine Nachtwache dachte. Das würde vor allem die Eile der Männer erklären. Gefallen konnte Niro selbst das nicht. Doch machte er sich keine Sorgen um seinen Rückzug. Niemand kannte dieses Anwesen so gut wie er. Es gab so viele Wege und Verstecke, die Niro nutzen konnte – und würde, während die Wachmannschaft noch Aufstellung bezog.
»Wir haben auf dich gewartet, Niro. Paladin von Amiens Hav. Hast du eine Ahnung, welcher Preis auf deinen Kopf steht?« Das Rascheln der Decke begleitete diese Worte.
Langsam und würdevoll drehte Niro sich um. Er wusste um die Wirkung seiner Körpergröße und Muskelmasse, und dass viele Leute ihn für einen langsamen Klotz hielten. Und wie sehr sie sich irrten.
Der Schmarotzer hatte sich aufgesetzt und zielte mit einer kleinen Armbrust auf Niro. Mondlicht glitzerte kalt auf dem metallenen Bolzen. »Und ich kriege dieses Vermögen sogar, wenn du schon am Vergammeln bist, du Dreckskerl.«
»Das wäre aber eine Unannehmlichkeit, der du dich da unterziehen würdest. Ich hab ziemlich viel Fleisch, das gammeln und stinken könnte. Außerdem liegst du in meinem Bett.«
Diese Unverfrorenheit war Absicht, aber Niro hätte auch gar nichts anderes sagen können. Jetzt wäre es schön gewesen, wenn der Kerl mit der Armbrust einen feuchten, gelben Fleck in der Bettwäsche entdeckt hätte. Eine Ablenkung war nämlich genau das, was Niro nun brauchte. Nur einen Wimpernschlag lang Unaufmerksamkeit.
»Die Schätze des Königs würden mich schon entschädigen«, gab der Mann zurück und beging einen Fehler, von dem Niro nicht einmal zu träumen gewagt hätte, dass jemand so unermesslich dämlich sein könnte: Mit der Rechten hielt der Mann die Armbrust und packte mit der anderen Hand den oberen Saum der Bettdecke, um sich aus dem Stoff zu befreien. Nur für den Bruchteil eines Augenblicks flackerte der Blick des Mannes von Niro nach unten. Mehr brauchte es nicht.
Niro war groß und schwer, aber er besaß eine Schnelligkeit, um die ihn viele jüngere und erheblich agiler aussehende Männer beneideten. Es waren nur zwei Schritte, die er in einem Satz hinter sich brachte. Er stieß sich kraftvoll vom Boden ab, konnte die drohende Armbrust beiseite schlagen und auf das Bett gelangen.
Und der Idiot klammerte sich an der Waffe fest und versuchte, erneut auf Niro zu zielen, obwohl der längst bei ihm war, das rechte Bein über den Kerl warf und rittlings auf dessen Bauch zu sitzen kam – mit einem Gewichtseinsatz, der dem Mann den Atem aus dem Körper presste, noch bevor Niros rechte Hand sich wie eine Stahlklammer um den Hals des Gegners schloss.
Weiches Fleisch, unter dem die Adern hektisch pochten und der Kehlkopf auf- und absprang wie ein verrückt gewordenes Kaninchen.
Niro lächelte und drückte zu. Bewegte sich dabei auf den Knien ganz leicht nach vorne, um mehr seines Eigengewichts auf die Hand wirken zu lassen, die sich tief in feindliches Fleisch grub, während in den Augen des Mannes kleine Äderchen platzten, bis das Weiß in Rot verschwamm. Wie ein Fisch auf dem Trockenen schnappte der Kerl nach Luft, die nicht mehr durch die Luftröhre in die Lungen gelangen konnte. Die Hand mit der Armbrust zuckte unkontrolliert. Der Bolzen löste sich aus der Haltevorrichtung und schoss sinnlos durch das Zimmer, zerschlug den Kerzenhalter auf der Kommode neben dem Bett. Der Mann strampelte, wand sich, krallte die Fingernägel in Niros Unterarm.
Mit einem Ruck beugte Niro sich weiter vor, und es knackte und knirschte unter seiner Hand. Ein letzter Schauder rann durch die Made, dann lag der Mann still.
Schwungvoll katapultierte Niro sich aus dem Bett, landete lautlos auf dem Fellteppich und raffte sein Bündel an sich. Er warf sich die Riemen über die Schulter, griff an seinen Gürtel und fand dort erwartungsgemäß nur den Dolch. Eine wahrhaft kümmerliche Ausrüstung, um sich mit einer kleinen Armee von Wächtern anzulegen.
Er lächelte wieder und setzte sich eilig in Bewegung, das Schlafzimmer zu verlassen, das nun wirklich nach einem eingenässten Bett stank.
Lautlos trat Niro aus dem Zimmer zurück auf die Galerie. Einen Herzschlag lang verharrte er in den Schatten und wartete. Der Kerl im Bett hatte gesagt, man hätte mit Niros Erscheinen gerechnet. Das klang gar nicht gut. Über die Hintergründe konnte er später nachdenken. Im Augenblick zählte nur, den Häschern zu entkommen, die meinten, sie könnten sich mit ihm anlegen. Ein Wunder, dass die Kerle noch nicht ins Schlafzimmer geplatzt waren!
Schwachköpfe! Er war schon mit größeren Kriegertruppen fertiggeworden. Allerdings war er da zugegebenermaßen beritten und erheblich besser ausgerüstet gewesen.
Sein Blick flackerte in die Halle zur unpolierten Rüstung. Das Grinsen tauchte wieder auf, kerbte sich tief in die Mundwinkel, und Niro hatte Mühe, ein Auflachen zu unterdrücken.
Er rannte über die Galerie zur breiten Treppe in die Halle, sprang die Stufen zwei und drei auf einmal nehmend hinab und dann mit Schwung gegen die Tür hinter seiner Rüstung. Das Schmuckstück nun anzulegen, würde viel zu lange dauern. Aber hier befanden sich die Waffenkammer … und vier Kerle, die offenkundig auf einen übermütigen Einbrecher gelauert hatten!
»Fünf Dummköpfe – ein Gedanke«, brachte Niro hervor, bevor er den Dolch in die erste Kehle rammte, die Klinge mit einem Ruck aus dem zusammensinkenden Körper befreite und in eine Drehung flog, während der er den Stahl in die Linke wechseln ließ. Niro rang scharf nach Atem und nutze den Schwung, um einen zweiten Mann zu Boden zu schicken und gleichzeitig nach dessen Streitkolben zu greifen. Die zuckenden Finger des Sterbenden gaben das Waffenheft leicht genug frei.
Einer der Überlebenden holte Luft, um einen Alarmruf abzusenden. Der von unten heranrasende Streitkolben schloss ihm nicht nur effektiv das Maul, sondern riss den Kopf vom Hals und ließ den Soldaten vom Schwung rückwärts in die Waffengestelle fliegen.
Der Dolch zuckte wie eine Schlange vor und bohrte sich bis zum Heft in die Augenhöhle des letzten Wächters.
Niro stand alleine in einem nach Blut und menschlichen Ausscheidungen stinkenden Raum und wusste nun sicher, dass der Schmarotzer im Bett die Wahrheit gesagt hatte. Man hatte ihn erwartet. Der Auftrag war nichts anderes als eine Falle – und die Made ein noch größerer Hohlkopf als Niro. Wie hatte der Kerl nur so überheblich sein können, sich ohne Wachen schlafen zu legen? Er musste auf die Männer außerhalb des Hauses gebaut haben. Verdammt.
Niro schob den Dolch in den Gürtel, ließ den Streitkolben fallen und bediente sich aus seiner Waffenkammer. Vier Jahre! Und hier sah es aus wie an jenem Tag, als die Soldaten des Königs ihn aus dem Bett geholt hatten.
Zwei kleine, handliche Kriegsäxte, schlicht und tödlich und Niro vollkommen vertraut. Er atmete tief durch. Von hier kam er leicht in die Felder, wo er Verfolger abschütteln konnte. Besaß der Hauptmann der Wache aber nur eine Unze Hirn, wusste der Kerl das und sorgte dafür, diesen Weg unpassierbar zu machen. Vielleicht hatte er Bogenschützen auf dem Dach.
Diese Lederrüstung war leicht und bot ein wenig Schutz. Kein Vergleich mit dem Metallschuppenpanzer. Doch Niro hatte das sichere Gefühl, keine Zeit zu haben. Außerdem war das Ding in der Halle seit Jahren nicht gepflegt worden. Ein unkalkulierbares Risiko. Und der andere Paladinpanzer steckte in der Truhe in der Gastwirtschaft.
Der Fluchtweg durch die Felder schied aus, beschloss Niro. Zu vorhersehbar. Die Wächter wussten, dass er sich hier auskannte. Das bewiesen die vier Toten in der Waffenkammer. Je länger er hier herumstand, desto eher würden weitere Truppenteile zu ihm aufschließen.
Er spähte in die Halle, zur großen Haustür. Diese schwang auf, und ein ganzer Trupp Bewaffneter stürmte im Laufschritt die Treppe hinauf. Niro wartete, dass die Kerle die obere Galerie erreichten. Angespannt lauschte er auf das Geräusch der Schlafzimmertür. Dann rannte er los. Um Lautlosigkeit bemüht bog er in den Seitenflügel zu Speisesaal und Küchentrakt ein. Niro folgte einer Treppe am Ende des Flures nach unten. Er horchte auf Geräusche der Wächterhorden. Es konnte nicht bei der einen Gruppe bleiben. Die würde ohnehin gleich Alarm auslösen. Es wurde eng, und Niro rannte schneller. Er knirschte mit den Zähnen, spürte den vertrauten Schmerz in den Kiefergelenken. Im gleichen Augenblick erreichte er die schwere Holztür zum Weinkeller und zu den anderen Vorratsräumen.
Wie der Blitz schoss er in die dunklen, von Säulen gestützten Hallen, rannte an den bauchigen Fässern vorbei, über den mit gebrannten Ziegeln gepflasterten Hauptweg durch den dunklen Irrgarten. Voraus das Tor zum Hauptvorratsraum, rechts eine kleinere Pforte zur Milchkammer. Dorthinein schlüpfte Niro, zog die Tür hinter sich zu, atmete tief durch und spürte den Dunst nach Käse in der Lunge. Kühl und feucht mit einem Hauch Schimmel. Die Milchmädchen waren also auch schlampig geworden. So hatte es hier früher nie gerochen.
Er schob beide Axtstiele von oben in seinen Gürtel, packte eine der Milchtonnen mit metallenem Deckel und rückte das schwere Rund zu einem der Fenster. Dann kletterte er auf die Tonne und drückte das kleine Glasgeviert behutsam auf, um sich einen Überblick zu verschaffen, wie es draußen aussah.
Dunkel und erstaunlich still. Lichtschein kam nur von den Stallungen und Wirtschaftsgebäuden. Wieder erreichte der Duft nach Pferden Niro.
Verdammt, warum nicht? Mit ein wenig Glück waren nicht alle seine Zuchttiere verkauft und über das ganze Königreich verteilt worden. Vielleicht war noch ein Tier da, das er kannte, das ihn erkennen mochte – und das ihn auch mitsamt voller Ausrüstung tragen konnte.
Niro sprang vom Fass, entriegelte die Außentür und rannte die Schräge hinauf, über welche die Milchwagen in die Meierei gerollt wurden. Geduckt hetzte er zum Obstgarten, wo die Bäume und Beerensträucher ihm ein wenig Deckung verliehen.
Rechneten seine Gegner damit, dass er sich ein Pferd suchen würde? War dieser Weg der richtige? Er hatte keine Ahnung, aber er musste schnell sein, in Bewegung bleiben und seine Ortskenntnis ausnutzen. Keine Zeit, einen vernünftigen Rückzugsplan auszudenken.
Jemand schrie und klang außerordentlich zornig dabei. Jetzt rasselten überall Rüstungen und strebten auf den Ursprung des Gebrülls zu. Wahrscheinlich war der Kadaver im Bett entdeckt worden. Niro sollte es nur recht sein, wenn die Idioten erst einmal alle ins Haus rannten. Das verschaffte ihm einen freien Weg zu den Stallungen.
Seine Lippen formten ein Stoßgebet zu den Göttern, und Niro biss sich auf die Zunge, um diesen Unsinn zu unterbrechen. Das machte vielleicht ein Paladin vor einer Schlacht. Aber ein vogelfreier Dieb, dem die Todesstrafe drohte, sollte man ihn erwischen, konnte kaum auf Gehör seitens des blasierten Packs hoffen. Die kümmerten sich um Prinzen und schöne Damen, störten sich nicht einen Dreck um arme Leute, Hungernde und die arbeitende Bevölkerung – zu der Niro sich von ganzem Herzen hinzurechnete.
Statt also sinnlose Worte an taube Ohren zu schicken, sparte er sich den Atem für einen Lauf Richtung Stallungen, nur um nach weniger als hundert Ellen lautlos zu fluchen und sich in Richtung der Schweineausläufe zu werfen, wo er hinter niedrigen Stallbauten Deckung suchte.
Man hatte ihn nicht nur in diesem Anwesen erwartet und in der Waffenkammer auf ihn gelauert. Die drei Kerle, die rund um einen Feuerkorb hockten, mit Wollumhängen und dicken Stiefeln, hatten im Leben noch keine Mistforke berührt. Niro war Krieger genug, um Soldaten auf den ersten Blick zu erkennen. So hockte kein Knecht nach vollbrachtem Tagewerk am Feuer. So sah kein Bauer um sich, geduckt und sprungbereit.
Drei nur. Unter normalen Umständen überhaupt kein Problem, aber Niro legte keinerlei Wert darauf, Aufmerksamkeit auf seinen derzeitigen Standort zu lenken. Er hob den Kopf, betrachtete das Dach des Pferdestalls und grinste. Liebevoll streichelte er einen Axtkopf, der hart gegen seine Bauchdecke drückte und danach zu schreien schien, sich in feindliches Fleisch zu versenken. Doch das kam später. Vielleicht.
Niro hetzte geduckt weiter, umrundete das Areal der Schweine, das aus kleinen Ausläufen vor Backsteinhütten bestand. Matsch bedeckte auch die Wege zwischen den abgezäunten Grundstücken, was ein schnelles Vorwärtskommen erschwerte.
Beinahe zu spät entdeckte Niro zwei weitere Soldaten, die sich nicht der Mühe der Tarnung als Knechte unterzogen hatten, sondern im Windschatten einer Schweinehütte standen und scharf stinkenden Alkohol aus einer Korbflasche in ihre Kehlen schütteten
Die altvertraute Wut kochte in Niro hoch. So sah es nicht nur hier aus. Das ganze Reich zerfiel, weil dieser Schwachkopf von König der Meinung gewesen war, dass Gold mehr zählte als ein Paladin, der sein Handwerk verstand. So wie diese Wächter faulpelzten, gab es überall im Reich Wachtürme, die leer standen, während die Mannschaften sich in Kneipen betranken oder herumhurten. In Amiens Hav war dies ebenso spürbar gewesen wie auf dem Weg hierher durch verschlafene Weiler und Städte. Niro mochte sich nicht vorstellen, wie es in der Hauptstadt aussah.
Der alte Narr! Statt seinen Kopf zu benutzen und Niros großzügige Auslegung der gerechten Verteilung von Steuergeldern milde zu betrachten, hatte der König auf Ratgeber und den Magier gehört und alles verpfuscht! Was immer Niro mühsam aufgebaut hatte, der König ließ es vor die Hunde gehen und verstand wahrscheinlich noch nicht einmal, welchen Verlust er dem Reich und sich selbst zugefügt hatte.