Nordmond: Kaamos - Jona Dreyer - E-Book

Nordmond: Kaamos E-Book

Jona Dreyer

0,0
4,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

»Überlegst du gerade, ob du mich umbringen sollst?« Lauri sucht das Abenteuer in der weiten Natur. Mit Motorschlitten und Zelt macht er sich auf den Weg in die winterliche Wildnis Lapplands, doch ein unbedachter Moment auf einem zugefrorenen See hat fatale Folgen und nur im letzten Augenblick rettet ihn ein fremder Hundeschlittenführer vor dem sicheren Tod.Der geheimnisvolle Ville, der sich für ein Leben in der Einsamkeit Muotkatunturis entschieden hat, erweist sich allerdings nicht als der glorreiche Retter, als der er zunächst erschien.Lauri sitzt in der Wildnis fest – allein mit einem Mann, der offenbar etwas Ungeheuerliches zu verbergen hat ... Ein Roman voller Romantik, Spannung und unerwarteter Wendungen!

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Nordmond: Kaamos

Gay Romance

© Urheberrecht 2019 Jona Dreyer

Impressum:

Tschök & Tschök GbR

Alexander-Lincke-Straße 2c

08412 Werdau

Text: Jona Dreyer

Coverdesign: Jona Dreyer

Coverbild: depositphotos.com

Lektorat/Korrektorat: Kelly Krause, Kristina Arnold, Shan O’Neall & Sandra Schmitt

Kurzbeschreibung:

»Überlegst du gerade, ob du mich umbringen sollst?«

Lauri sucht das Abenteuer in der weiten Natur. Mit Motorschlitten und Zelt macht er sich auf den Weg in die winterliche Wildnis Lapplands, doch ein unbedachter Moment auf einem zugefrorenen See hat fatale Folgen und nur im letzten Augenblick rettet ihn ein fremder Hundeschlittenführer vor dem sicheren Tod.

Der geheimnisvolle Ville, der sich für ein Leben in der Einsamkeit Muotkatunturis entschieden hat, erweist sich allerdings nicht als der glorreiche Retter, als der er zunächst erschien.

Lauri sitzt in der Wildnis fest – allein mit einem Mann, der offenbar etwas Ungeheuerliches zu verbergen hat ...…

Über die Autorin

»Fantasie ist wie ein Buffet. Man muss sich nicht entscheiden – man kann von allem nehmen, was einem schmeckt.«

Getreu diesem Motto ist Jona Dreyer in vielen Bereichen von Drama über Fantasy bis Humor zu Hause. Alle ihre Geschichten haben jedoch eine Gemeinsamkeit: Die Hauptfiguren sind schwul, bi, pan oder trans. Das macht sie zu einer der vielseitigsten Autorinnen des queeren Genres.

Vorwort

Der Winter kommt unaufhaltsam und so ist es auch für mich wieder an der Zeit, literarisch in den hohen Norden zu reisen.

Obwohl es auch hier Huskys, Polarlichter, viel Schnee und gemütliches Kaminfeuer gibt, unterscheidet sich die Geschichte jedoch von meinen bisherigen Lappland-Romanen, denn sie wartet mit ein paar Überraschungen auf, mit denen ihr vermutlich nicht rechnen werdet.

Und nun lasst uns den Schlitten anspannen – die Wildnis ruft!

Glossar

Äiti: finnisches Wort für »Mama«

Glögi: Glühwein auf finnische Art mit Johannisbeersaft und Wodka

Huussi: Toilettenhäuschen

Kaamos: finnisches Wort für »Polarnacht«

Lavvu: traditionelles Zelt der Sámi

Leipäjuusto: »Brotkäse«, traditionell aus dem Kolost rum der Kuh hergestellt

Mökki: Ferienhäuschen in der Art einer Laube mit Sauna, meist im Wald und in der Nähe eines Sees

Mene: entspricht dem Befehl »Go!«

Musher: Hundeschlittenführer

Pulla: finnisches Kaffeegebäck aus Hefeteig

Puuro: Haferbrei/Porridge

Sámi: Eigenbezeichnung der indigenen Bevölkerung Lapplands

Prolog

Kälte machte taub. Sie fror das Leben in einem Körper ein, bis ein Funken Wärme es wieder auftaute oder es vergessen wurde und die flackernde Flamme einfach erlosch.

Kälte hüllte ihn ein wie ein transzendenter Mantel, der seine Haut durchdrang, in das Gewebe einwuchs und mit seinem schweren Gewicht den letzten Rest Luft aus seiner Lunge presste. Es hieß, dass das letzte Sinnesorgan, das beim Sterbeprozess seinen Dienst aufgab, das Gehör war. Das mochte stimmen, denn er hörte noch den fremdartigen und doch so vertrauten Gesang, das rhythmische Trommeln. Das rötliche Flackern hinter seinen Lidern war längst in tiefes Schwarz getaucht, nicht mehr sichtbar, die Augen bereits tot, auch wenn das Feuer noch immer leise knisterte.

Die Kälte hatte sich durch Haut und Fleisch gefressen, an seinen Knochen genagt wie ein Wolf am Kadaver eines erlegten Rentiers, hatte sich auch von dem Fell nicht abhalten lassen, in das man ihn eingehüllt hatte. Der Punkt, an dem er vor Schmerz hätte schreien wollen, war bereits überwunden und er verspürte gar die trügerische Illusion von Wärme. Er hätte auch nicht mehr zu schreien vermocht, seine Stimme war bereits so tot wie seine Augen. Es konnte nicht mehr lange dauern, denn sie halfen ihm hinüber, ebneten seinen Weg ins Jenseits mit ihren rhythmischen, schamanischen Gesängen. Er ließ los. Ließ sich von den Trommeln forttragen, die seinen Körper vibrieren ließen, wurde zu dem letzten Sinn, der ihm noch geblieben war.

Hum-ha. Hum-ha. Hum-ha.

Das schlagende Herz der Erde. Der Puls der Natur, der umso kräftiger wurde, je mehr sein eigener zu einem kraftlosen Flattern verkam. Plötzlich fühlte es sich so an, als wüchsen seine Blutgefäße in die Erde hinein wie Wurzeln, als verbanden sie sich mit dem Ursprung allen Seins, wurden eins mit der Seele des einsamen, kalten Nordens.

Wir sind eins.

Gern hätte er eine Träne der Glückseligkeit darüber vergossen, aber es wäre ein Eiskristall geworden, der sich mit einem leisen Klingen zu all den anderen gelegt hätte.

Die Wurzeln gruben sich tiefer, verbanden ihn fest und unverrückbar mit der Erde, pumpten ihr kaltes, reines Blut in seine Adern. Der Gesang wurde sphärischer, die Trommeln schlugen im Rhythmus des Pulses der Natur.

Etwas in ihm löste sich. Er spürte es, eine nie da gewesene Leichtigkeit, eine Schicht, die von ihm abplatzte wie dünnes Eis über einem Bachlauf im späten Frühjahr. Er begann zu schweben, löste sich von dem fest mit der Erde verwurzelten Körper und gewann einen Sinn zurück: das Sehen. Gräuliche, verschwommene Schemen begannen klar zu werden, gewannen an Farbe und Schärfe.

Er sah sich selbst. Seinen leblosen Körper neben dem Lagerfeuer, bedeckt mit einem Fell. Um ihn herum tanzte der samische Schamane in seiner rituellen Kleidung mit einem mächtigen Rentiergeweih auf dem Kopf und ledernen Bändern vor dem Gesicht, die ihn aussehen ließen, als besäße er keine Augen, nur tanzende Schlangen vor leeren Höhlen. Er schlug seine Trommel, versetzte alle in eine singende Trance. Gab den Takt der Schritte in das Jenseits vor.

Hum-ha. Hum-ha. Hum-ha.

Er verspürte einen Sog, dem sein körperloses Bewusstsein sich nicht entziehen konnte. Einen Augenblick noch verharrte er über sich selbst, blickte hinab auf seinen zerschrammten, verletzten Körper und ließ los. Auf einmal war er alles und die Welt nichts.

Der Sog war wie ein Vakuum, er wurde schneller, flog dem Horizont entgegen, an dem der frühe Abendhimmel dämmerte. Die Dämmerung war von jeher seine liebste Tageszeit gewesen und er war glücklich, dass sie wohl das Letzte war, was er auf dieser Welt zu sehen bekam. Er flog in den Wald hinein, durch das Geäst von Nadelbäumen, das ihn nicht streifen konnte. Ein Schmerz begann an ihm zu ziehen, als ob etwas versuchte, die schwebenden Teilchen, aus denen er bestand, auseinanderzureißen. Der Sog wurde unerträglich und er hatte das Gefühl, eine Masse zu sein, die durch ein zu enges Loch gepresst wurde.

Und plötzlich war da wieder Leben. Ein irdisches Leben. Ein Körper mit Gliedmaßen, Augen zum Sehen, Ohren zum Hören und einer Nase zum Riechen. Er spürte den Schnee unter seinen Sohlen, hörte das leise Knirschen der sich verdichtenden Kristalle. Die Kälte war kein schwerer Mantel mehr, sondern eine Wohltat, die den brennenden Schmerz fortkühlte. Er machte einen Schritt. Es war fremd, es war anders, aber er hatte ein Herz, das kräftig schlug.

Hum-ha. Hum-ha. Hum-ha.

Kapitel 1

Muotkatunturi. Wenn es eine Wildnis gab, dann war sie hier, frei von Straßen und markierten Wegen, frei von Verkehr und von Menschen an sich. Wer Angst vorm Alleinsein hatte, war hier fehl am Platze.

Lauri hatte keine Angst. Zumindest redete er sich das ein. Er suchte das Abenteuer und die Freiheit, um jene Furcht, die ihn so oft zurückhielt, zu überwinden oder zumindest zu lernen, mit ihr zu leben. Für eine geführte Bergbesteigung im Himalaya oder Rafting in Kanada hatte er nicht genug Geld, aber das Schicksal hatte dafür gesorgt, dass er in einem Land geboren und aufgewachsen war, in dem es genug Abenteuermöglichkeiten in der freien Natur für jeden gab, der danach suchte.

Hier im Muotkatunturi-Wildnisgebiet musste man abseits der Wege gehen, weil es schlicht und ergreifend keine Wege gab. Nur endlose Weite, ein paar Moorbirken- und Kiefernwälder und Aapamoore, die jetzt unter einer dicken Schicht Schnee begraben lagen. Lauris Herz schlug schneller bei diesem Anblick, der sich vor ihm auftat, und die Vibration des Schneemobilmotors tat ihr Übriges dazu. Drei Tage Tour lagen vor ihm. Im Grunde waren es nur wenige Kilometer, aber die Tageslichtzeit war knapp bemessen und im Dunkeln zu fahren, wollte er nicht riskieren. Dazu kannte er das Gebiet zu wenig und war mit dem Schneemobil nicht erfahren genug. Noch. Nach dieser Tour würde er hoffentlich um viele Erfahrungen reicher sein und den nächsten Schritt seines Plans in Angriff nehmen können.

Lauri war nie der Typ Mensch gewesen, der zu Hause vor dem Rechner hockte, Videospiele daddelte und das Haus nur dann verließ, wenn ihm nichts anderes übrig blieb. Wann immer er freie Zeit hatte, zog es ihn vor die Tür. Und nach den Sommerferien, die er und seine Familie größtenteils in ihrer Mökki im Wald verbracht hatten, war er stets in eine depressive Stimmung verfallen, wenn es hieß: Es geht zurück in die Stadt.

Er schätzte die Stadt und ihre Möglichkeiten durchaus. Einkaufsläden waren in der Nähe, Ärzte, Restaurants, Veranstaltungen, die Universität. Alles Dinge, die er nicht missen wollte, aber hin und wieder brauchte er eine Auszeit und er wusste, dass es auch anderen Menschen so ging. Deshalb war er hier. Deshalb machte er diese Tour, um eine Wildnis zu erschließen für alle, die sich danach sehnten.

»Also dann«, sagte Lauri zu sich selbst. Die kalte Luft ließ seinen Atem sofort zu weißen Wölkchen kondensieren. »Auf geht’s!«

Er fuhr los. Vernünftig und umsichtig, langsam, auch wenn ein Motorschlitten durchaus achtzig Sachen fahren konnte. Steine, Bäume oder Buckel konnten sonst zur Falle werden, den Schlitten beschädigen und zu Unfällen führen. Das wollte Lauri nicht riskieren. Außerdem musste er dem Flusslauf des Peltojoki folgen, um an sein Ziel zu gelangen, und der Fluss war durch Schnee und Eis nicht an jeder Stelle sofort erkennbar. Wenn Lauri hier Menschen durch die Wildnis führen wollte, musste er verantwortungsvoll handeln und nicht kopflos herumrasen.

Am frühen Nachmittag, als bereits die Nacht heraufdämmerte, erreichte er eine Wildnishütte. Sie war winzig, besaß aber sogar eine Trockentoilette. Für seine Zwecke völlig ausreichend und er konnte sich den Aufbau seines Zelts sparen. Er brachte sein Gepäck in das Häuschen und heizte den kleinen Kaminofen an. Viele solcher Hütten gab es hier nicht, also würde er die Gelegenheit nutzen. Wenn er mit mehreren Menschen hier aufschlug, wäre sie allerdings zu klein für eine Übernachtung.

»Vielleicht sollte ich bis Februar oder März nur Tagestouren anbieten«, murmelte er zu sich selbst.

Touren mit Übernachtungen hatten nicht viel Sinn, wenn der Tag nur ein, zwei Stunden lang war oder bald nur noch von der Dämmerung wieder direkt in die Nacht überging. Zwar war die Polarnacht nicht bedrückend dunkel – vor allem, wenn der Mond schien, so wie heute, reflektierte der Schnee so stark, dass man sogar ohne Licht Zeitung lesen könnte –, aber mit unerfahrenen Touristen wollte er nicht unbedingt bei kritischen Lichtverhältnissen herumfahren. Das traute er sich zur Zeit ja noch nicht einmal selbst zu. Und für die Leute wäre es sicher auch ziemlich langweilig, den größten Teil des Tages im Zeltlager verbringen zu müssen, anstatt voranzukommen. Wobei man vielleicht ein paar Schneewanderungen in die Umgebung machen könnte. Jagd auf Polarlichter, etwas in der Art. Ab Ende Februar jedenfalls, wenn die Tage wieder deutlich länger wurden, könnte er mehrtägige Touren anbieten. Lauri musste sich noch ein genaues Konzept überlegen. Aber allein die Vorstellung, Menschen den Zauber der lappländischen Wildnis nahezubringen, versetzte ihn in freudige Aufregung.

Langsam wurde es mollig warm in der Hütte. Auf seinem Campingkocher bereitete er sich Instant-Nudeln mit Tomatensoße zu und während er anschließend darauf wartete, dass sein Kaffeewasser kochte, beschloss er, seine Mutter anzurufen.

Sie hob schon nach einem halben Klingeln ab. »Hei Lauri!«

»Hei Äiti. Alles gut bei dir?«

»Hm. Ja. Aber mein Rücken bringt mich um.«

Er stellte sie auf Lautsprecher und ließ sie reden. Ihr Rücken war das Lieblingsthema seiner Mutter, ständig zwickte und zwackte er sie und sie ließ keine Gelegenheit verstreichen, ihm bis ins kleinste Detail davon zu berichten. Seine Idee, mit Gymnastik dagegen anzuwirken, fand sie blöd.

»Und du? Was machst du heute?«, fragte sie, nachdem sie ihren Sermon beendet hatte.

»Ich, äh ... ich werde wohl noch ein bisschen fernsehen«, log Lauri.

Äiti hatte keine Ahnung, was er hier trieb, sonst würde sie alle fünf Minuten versuchen, ihn zu erreichen, um sicherzugehen, dass er noch lebte. Naturverbundenheit mochte sie nur in Form einer privaten Mökki am See, möglichst nicht mehr als drei, vier Kilometer von der nächsten Ortschaft entfernt. Vor allem nicht im tiefsten Winter, wenn es auf die Polarnacht zuging.

»Ja, mach das«, sagte sie. »Da soll heute eine Sendung kommen über diesen Trump.«

»Äh, ja. Dessen Visage will ich nicht unbedingt anschauen. Werde wohl eher irgendeine Comedyserie gucken. Hör mal, ich muss jetzt schlussmachen. Hab noch ein bisschen was zu tun.«

»Na gut. Schön, dass du angerufen hast. Und vergiss nicht, am Samstag hat Onkel Pertti Geburtstag, dem musst du gratulieren, er hat dir immerhin sein altes Auto geschenkt.«

»Klar, ich denk dran.« Bis dahin wäre Lauri ja auch längst wieder zurück in Jyväskylä. »Bis dann!«

Er legte auf und seufzte. Der Abend und die Nacht waren noch sehr lang, aber er hatte sein Handy, eine Powerbank und zwei Bücher dabei – eins über das Überleben in der Wildnis, das andere ein spannender Roman, den er vor ein paar Tagen zu lesen begonnen hatte. Er würde sich die Zeit schon vertreiben. Er hatte keine Angst vorm Alleinsein.

Später beschloss Lauri, noch einmal vor die Tür zu gehen, eine Runde um die Hütte zu laufen und frische Luft zu schnappen. Nirgendwo war die Luft so rein und klar wie hier, so frei von menschengemachten Verschmutzungen, durchsetzt vom leicht metallischen Geruch von Schnee. Er atmete tief durch und hatte das Gefühl, dass sich kleine Eiskristalle in seiner Nase bildeten, so unglaublich kalt war es. Aber der Mond schien hell, gestern war Vollmond gewesen, der Schnee leuchtete bläulich und das Sternenzelt spannte sich wie eine Kuppel über ihm auf, durchwoben vom Schleier der Milchstraße. Leider waren weit und breit keine Polarlichter zu sehen, aber was nicht war, konnte noch werden.

Die Stille, die hier herrschte, war fast schon wieder laut, weil die Ohren nach einem gewohnten Klangteppich suchten, aber nichts fanden. Kein Zeichen von Leben war zu hören, alles schien begraben unter der dichten Schneedecke. Das Einzige, was Lauri hörte, waren seine eigenen Schritte, das Knirschen unter seinen Stiefeln und sein Atem, sogar das Klirren der winzigen Eiskristalle, in denen er kondensierte, auch wenn er sich das wohl eher einbildete.

Er blieb stehen, legte den Kopf in den Nacken und schaute in den Himmel. Ein winzig kleiner Punkt im Universum war er, vielleicht nicht einmal das. Dieser Himmel, diese Stille, sie machten ihn ehrfürchtig. Er vernahm wieder knirschende Schritte und es dauerte einen Moment, ehe Lauri begriff, dass diese Schritte von einem anderen Wesen – Mensch oder Tier – stammen mussten, denn er selbst stand immer noch auf der Stelle. Angestrengt lauschte er in die Stille. Das Schrittmuster und ein leises Schnaufen zeigten eindeutig, dass er es mit einem Tier zu tun hatte.

Zeit, zurück in die Hütte zu gehen.

Die Geräusche kamen näher und Lauri bewegte sich langsam im Rückwärtsschritt auf die Tür der Hütte zu. Er hatte keine Angst, allein zu sein, aber plötzlich hatte er Angst, nicht allein zu sein. Wilde Tiere waren kein Streichelzoo. Endlich bekam er die Klinke zu fassen, öffnete die Tür, glitt mit einer schnellen Bewegung in die Hütte und verriegelte hinter sich. Das Herz schlug ihm bis zum Hals und er wagte es nicht einmal, aus dem Fenster zu sehen. Das Tier konnte alles Mögliche sein – ein Fuchs, Luchs, Elch, Rentier, schlimmstenfalls ein Wolf oder ein Braunbär. Seine eigene Angst war Lauri ein wenig peinlich vor sich selbst, denn auch bei der Mökki hatte es wilde Tiere gegeben, aber hier draußen allein in der Wildnis war das trotzdem noch mal etwas anderes. Er hielt sein Pfefferspray fest umklammert. Jede Muskelfaser war bis zum Zerreißen gespannt, sein Gehör schien schärfer als sonst. Er hielt den Atem an. Von draußen erklangen Scharren und Kratzen, nicht an der Hütte, aber in der Nähe. Er stellte sich vor, wie es näherkam, seine Witterung aufnahm, nach Möglichkeiten suchte, in die Hütte zu gelangen und ihn anzugreifen.

Ich mach mir gleich in die Hose.

Warum kam das Tier so nahe, wo es ihn doch scheuen sollte? Und wie zur Hölle würde er eine solche Situation händeln, wenn er nicht in einer Holzhütte, sondern in einem Zelt wäre? Mit diesen Fragen musste er sich dringend befassen, bevor er irgendwelche Menschen hier hinausführte.

Irgendwann stellte Lauri fest, dass die Geräusche schon eine ganze Weile aufgehört hatten. Das Tier schien fort zu sein. Erleichtert atmete er auf und beruhigte sich langsam. Seine Glieder schmerzten von der minutenlangen, heftigen Anspannung.

Alles ist gut. Du bist hier sicher. Es war nur ein neugieriges Tier auf der Suche nach Nahrung. Du bist hier Gast.

Er brühte sich noch einen Kaffee auf und der karamellig-herbe Duft, der dabei durch die Hütte schwebte, half ihm, wieder herunterzukommen. Was für ein erster Abend. Und die Nacht war noch lang.

Lauri hatte kaum geschlafen und als sich die ersten Anzeichen der Dämmerung zeigten, kroch er aus seinem Schlafsack und begann alles zusammenzupacken, um weiterzuziehen. Während er in der Nacht grübelnd dagelegen und auf neue Geräusche gelauert hatte, hatte er darüber nachgedacht, die Tour abzubrechen und wieder zurück nach Hause zu fahren. Er hatte sich dagegen entschieden. Es wäre albern, sich von einem Angstmoment verunsichern zu lassen, er musste sich einfach noch an diese Dinge gewöhnen. Im Dunkeln wirkte sowieso alles viel bedrohlicher, als es in Wirklichkeit war.

Dennoch öffnete er die Tür seiner Hütte vorsichtig und spähte erst hinaus, bevor er ins Freie trat und sein Gepäck auf den Motorschlitten schnallte. Neugierig warf er einen Blick auf die Spuren, die um die Hütte und den Motorschlitten herum führten. Pfotenabdrücke. Zu groß für einen Fuchs und für einen Luchs hatten sie das falsche Muster.

Scheiße, war das etwa ein Wolf?

Lauri schauderte und beeilte sich mit dem Packen und Verstauen des Gepäcks. Zeit, weiterzuziehen. Heute wollte er den Peltojärvi erreichen und überqueren, falls die Eisschicht dick genug war. Er machte sich auf den Weg und mit jedem Meter, den er zurücklegte, fühlte er sich besser. Es war wirklich so: Bei Tageslicht erschien plötzlich alles gar nicht mehr bedrohlich, sondern wieder friedlich und schön. Der Wolf hatte ihm sicher nichts tun wollen, sondern war einfach nur neugierig auf den Besucher in seiner Wildnis gewesen.

Lauri erreichte den Peltojärvi früher als geplant. Unterwegs hatte er eine Schneeeule gesehen, ansonsten waren ihm bislang keine Tiere begegnet. Im Stillen hoffte er auf eine Rentierherde. Alle Rentiere Lapplands gehörten den Sami. Im Herbst trieben diese die Tiere zusammen, dann wurde entschieden, welche davon man schlachtete. So ganz behagte Lauri dieser Gedanke nicht, aber eine Kultur ließ sich den Menschen nur schwer austreiben. Er selbst verzichtete schon fast zwei Jahre auf Fleisch und sonstige Nahrung tierischen Ursprungs, weil er gelesen hatte, dass eine solche Lebensweise der Umwelt half. Und die war ihm als Naturfreund nun mal wichtig.

Am Ufer des Peltojärvi hielt er an. Der See war von Schnee bedeckt und unterschied sich kaum von der Umgebungslandschaft. Ein großes, weißes Feld. Und er erkannte Spuren darauf, frische Spuren, Pfoten und Schlittenkufen. Hier musste erst kürzlich jemand mit dem Hundeschlitten entlanggefahren sein. Das bedeutete, dass das Eis dick genug war und er seine Mission in Angriff nehmen konnte. Gefrorene Seen faszinierten Lauri schon immer, die großen Eisflächen und der Hauch von Nervenkitzel. Er setzte sich wieder auf seinen Motorschlitten und fuhr los. Er gab ein wenig mehr Gas als sonst. Es war eine kribbelnde Herausforderung, die ihn von innen heraus drängte. Wie ein Rausch, der über ihn hinwegfegen wollte, so wie er über die Piste. Die Sonne ließ den Schnee glitzern, die kalte Luft klärte alle Gedanken. Mitten auf dem See stoppte Lauri, um innezuhalten und den Augenblick zu genießen. Er stellte den Motor aus, atmete tief durch und blickte sich um. Das Ufer des Peltojärvi war umgeben von Fichten und kahlen Birken, die sich schwärzlich gegen den leuchtend weißen Hintergrund abzeichneten. Die harten Kontraste des nordischen Winters waren einzigartig. Zum Glück war Lauri nicht umgekehrt.

Plötzlich vernahm er ein leises Knacken. Dann noch eines. Es war direkt unter ihm, zog noch mehr Knacken und Knirschen nach sich und er begriff, was es bedeutete.

»Scheiße.«

Er schwang sich auf seinen Motorschlitten, um schnellstmöglich davonzufahren, aber genau das erwies sich als großer Fehler. Mit einem schier ohrenbetäubenden Krachen brach das Eis unter ihm und seinem Schlitten und er wurde in die tödlich kalte Tiefe gerissen. Rasend schnell durchdrang das Wasser seine Kleidung, ließ sein Herz für ein paar Takte aussetzen und seine Lunge verkrampfen. Der Sog des sinkenden Motorschlittens wollte ihn weiter in die Tiefe reißen, aber er schaffte es, sich am Rand der Eisschicht festzuhalten.

»Hilfe!«, rief er, als er es endlich wieder schaffte, nach Luft zu schnappen. Auch wenn es sinnlos war. Hier würde ihm niemand helfen.

Verzweifelt versuchte Lauri, genug Halt zu bekommen, um sich irgendwie aus dem Eisloch ziehen zu können, aber immer wieder brach ein Stück von der Kante weg und er rutschte ab. Die Kälte brannte wie Feuer auf seinen Gliedern, bereitete unerträgliche Schmerzen, während sein Herz wie wild pumpte, um ihn irgendwie am Leben zu halten.

Das war’s also. Ich sterbe hier draußen. Vor dem Wolf hatte ich Angst, aber nicht vor zu dünnem Eis. Niemand wird mich hier finden. Niemand ...

Er schluchzte auf und strampelte verzweifelt. Seine Zeit wurde knapp, ebenso wie seine Kräfte. Sein Kiefer klapperte, die Zähne schlugen heftig aufeinander.

»Ich will nicht sterben«, heulte er, als er erneut am Rand des Eislochs abrutschte. »Ich will nicht ...«

Ein Schatten fiel auf ihn, verdeckte die Sonne. Lauri vernahm Atem aus vielen Kehlen und plötzlich erschien ein strenges, bärtiges Gesicht über ihm.

»Halt still«, sagte der Mann mit einer kratzigen Stimme, als hätte er sie Jahre nicht benutzt. »Hör auf zu strampeln.« Er legte sich flach auf das Eis und streckte seine Arme nach Lauri aus. »Halt dich an mir fest, ich zieh dich raus.«

Kapitel 2

Lauri hatte kaum noch Kontrolle über seine steif gefrorenen Glieder und nie im Leben war etwas anstrengender gewesen, als die Arme vom Eisrand zu lösen, aus dem Wasser zu heben und die seines Retters zu ergreifen. Aber er schaffte es. Bei Gott, er schaffte es und dieser fremde Mann musste enorme Kräfte haben, denn er schien ihn und seine vollgesogene Kleidung mit Leichtigkeit aus dem Wasser zu ziehen. Mit dem letzten Ruck zog er Lauri halb auf sich und rollte sich mit ihm zur Seite. Noch immer schluchzte Lauri unkontrolliert, er konnte gar nicht mehr aufhören, obwohl es ihm peinlich vor diesem Fremden war. Aber er war verdammt noch mal gerade dem Tod von der Schippe gesprungen und der konnte ihn immer noch erwischen, weil er klitschnass war und die Temperatur ungefähr minus zehn Grad oder weniger betrug.

»Alles ist gut«, sagte der Fremde beruhigend und blickte auf Lauri herab, die Augen so unfassbar blau wie Schnee im Dämmerlicht. »Komm, wir müssen vom Eis runter.«

Er zerrte ihn in die Höhe und erst jetzt bemerkte Lauri, woher die anderen Geräusche kamen: Schlittenhunde. Zehn oder zwölf Stück – Lauri war gerade nicht imstande, zu zählen –, die ungeduldig darauf warteten, dass es weiterging. Lauris zitternde Beine wollten kaum einen Schritt tun, aus Angst, wieder einzubrechen, als der Mann ihn zum Schlitten führte und ihm half, sich darauf zu setzen. Er hüllte ihn grob in eine Decke ein.

»Erst müssen wir vom See runter«, erklärte er, »dann musst du diese nassen Sachen ausziehen.«

»Ausziehen?«, krächzte Lauri. »Ich werde mir den Tod holen!«

»Du wirst dir den Tod holen, wenn du dich nicht ausziehst«, belehrte ihn der Fremde streng. »Die kalten, nassen Sachen entziehen dir sonst die ganze Körperwärme. Mene!«

Die Hunde liefen los und der Schlitten zog an. Meter für Meter näherten sie sich dem Ufer und würde Lauri nicht vor Kälte unkontrolliert zittern, würde er wohl erleichtert aufatmen.

»Stop!«, rief der Mann, sobald sie wieder wirklich festen Boden unter den Kufen hatten. Er stieg ab und kauerte sich neben Lauri. »Ausziehen«, befahl er knapp.

»Aber–«

»Ausziehen, hopp hopp.« Der Kerl runzelte die Stirn, nahm Lauri die Decke weg und begann den Reißverschluss seiner Jacke zu öffnen. »Ich habe noch mehr Decken dabei, du wirst sehen, ohne die nasse Kleidung wirst du schneller warm.«

Mit steifen, bebenden Fingern und der Hilfe seines Retters schälte sich Lauri aus seinen vor Nässe klebenden Klamotten. Er hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, sich vor einem Wildfremden zu entblößen, wenn er überleben wollte, und der Mann schien zu wissen, was er hier tat.

»Gut.« Er trocknete den schlotternden Lauri mit einer Wolldecke ab und hüllte ihn anschließend in eine Thermodecke und ein großes Fell. »Ich bringe dich jetzt in mein Haus.«

»Ist das hier in der Nähe?«, fragte Lauri leise.

»Zwölf Kilometer.«

»In welchem Ort ist das?«

»Kein Ort«, kam knapp zurück. »Es ist hier im Wildnisgebiet. Mene!«

Der Schlitten setzte sich wieder in Bewegung und Lauri zog die Decken fester um sich. Am liebsten würde er sich darunter begraben, denn der Fahrtwind, der auf seine Wangen traf, war schneidend kalt. Der Hundeschlitten erreichte eine erstaunlich hohe Geschwindigkeit, sie preschten regelrecht durch die Wälder und über die freien Ebenen.

Hoffentlich bauen wir keinen Unfall. Wenn es doch nur wärmer werden würde!

Die Kälte schien einfach nicht aus Lauris Körper weichen zu wollen, auch wenn es tatsächlich minimal erträglicher war, seit er die nasse Kleidung nicht mehr am Leib trug. Vielleicht starb er ja doch noch. Vielleicht war es schon zu spät und er zu ausgekühlt.

Die Sonne neigte sich jetzt rasch dem Horizont entgegen und machte dem Nachthimmel Platz. Eine erschöpfte Müdigkeit überfiel Lauri und er hatte große Mühe, die Augen offenzuhalten, was von der beruhigenden Präsenz des Mannes hinter ihm nur noch verstärkt wurde.

»Nicht einschlafen«, mahnte der, als er es offensichtlich bemerkte, »wir sind gleich da. Bleib wach.«

»Kann nicht mehr«, flüsterte Lauri schwach.

»Doch, du kannst. In fünf Minuten sind wir da. Dann darfst du schlafen. Aber nicht hier draußen.«

»Lenk mich ab«, bat Lauri.

»In Ordnung. Sag mir, wie du heißt und woher du kommst.«

»Ich heiße Lauri und komme aus ... Jyväskylä. Und du?«

»Mein Name ist Ville. In Jyväskylä habe ich vor vielen Jahren gelebt. Das ist fast neunhundert Kilometer weit weg, was machst du hier?«

»W-wollte eine Tour ... mit dem Schlitten.«

»Hm.« Lauri hörte Villes leises Grollen selbst über den Lärm des Hundeschlittens hinweg. »Das ging ja mal schief. Wir hatten eine ungewöhnlich warme Woche, das hat die Eisdecke des Sees an manchen Stellen ziemlich ausgedünnt. Mit dem Hundeschlitten geht es gerade noch, weil der leichter ist und das Gewicht besser verteilt. Aber deine Höllenmaschine war zu schwer.«

»Wird – wird Ärger geben ... Versicherung ...«

»Tja.«

Sie erreichten eine große Lichtung und Lauri wusste, dass sie am Ziel waren. Nicht nur eine Blockhütte stand hier, es gab noch mehr Gebäude, aber sein Blick war gerade so eingefroren wie die Frontscheibe eines Autos nach einer frostigen Nacht.

»Stop!«

Ville hob ihn mitsamt den Decken hoch, als besäße er kein Gewicht, und schleppte ihn hinüber zu einem Häuschen neben dem Haupthaus. »Ich bringe dich direkt in die Sauna«, verkündete er. »Ich habe sie vor meiner Tour angeheizt, sie sollte jetzt gut warm sein.«

Lauri brachte keinen Widerspruch hervor. Die Aussicht auf die herrliche Wärme einer Sauna erschien ihm geradezu himmlisch. Siebzig Grad zeigte das Thermometer in dem kleinen, mit Holz verkleideten Raum an, als Ville ihm half, sich auf die Bank zu setzen und ihm die Decken abnahm. Er schöpfte Wasser auf die heißen Steine, die auf dem Saunaofen lagen und eine feuchte Wolke von Fichtennadelduft umgab sie beide.

»Ich leine eben die Hunde ab und gebe ihnen zu trinken«, verkündete Ville. »Du bleibst hier und wärmst dich auf. Solltest du Kreislaufprobleme bekommen, geh in den Vorraum. Ich geselle mich nachher zu dir.«

Lauri nickte nur stumm, weil er zu mehr nicht in der Lage war. Alle möglichen Dinge, über die er sich sonst den Kopf zerbrochen hätte, spielten plötzlich keine Rolle mehr. Dass er hier nackt in der Sauna eines Fremden saß, zum Beispiel. Dass dieser Fremde ihn einfach mitgenommen hatte. Alles, was sich Lauri gerade wünschte, waren Wärme, vielleicht eine Tasse Kaffee und etwas zu essen. Danach würde er Ville bitten, ihn in die nächste Ortschaft zu fahren oder Hilfe zu rufen. Er wollte die Gastfreundschaft seines Retters nicht überstrapazieren, aber ohne den Motorschlitten und sein Gepäck mit der gesamten Ausrüstung inklusive Handy saß er hier fest. Ville würde ihm sicher behilflich sein, bisher war er es ja auch.

Lauris Körper brauchte ewig, um zu merken, dass er nicht mehr im Kalten saß. Er zitterte noch lange, schüttelte ihn durch und hatte Schwierigkeiten, sich anzupassen. Aber dann wurde es langsam besser. Gerade, als Lauri sich auf die untere Bank setzte, wo es nicht ganz so heiß war, kam Ville in den Vorraum. Lauri sah seine Silhouette durch den Glaseinsatz der Tür. Er zog sich aus und trat einen Moment später ein. Nackt. Natürlich nackt, niemand ging angezogen in eine Sauna. Hastig wandte Lauri den Blick ab, als sich Ville ganz arglos neben ihn setzte. Ein muskulöser, behaarter Schenkel berührte flüchtig Lauris Bein und er rückte ein kleines Stück ab. Villes körperliche Nähe war verwirrend und nicht gerade das, worüber er sich jetzt und hier Gedanken machen wollte.

»Sind die Hunde versorgt?«, fragte Lauri, um irgendetwas zu sagen.

»Ja. Und du? Wird dir warm? Deine Lippen sind nicht mehr blau, das ist gut.«

»Ja. Es wird langsam. Vielen Dank für die Rettung, dich hat wirklich der Himmel geschickt. Wenn du in dem Moment nicht dort gewesen wärst ... undenkbar. War es Zufall oder hast du mich gehört oder gesehen?«

»Ich habe deine ...«, Ville unterbrach einen winzigen Moment, »deine Spuren gesehen.«

»Und bist ihnen gefolgt?«

»Ja. Aus einem Instinkt heraus.« Ville beugte sich nach vorn, um eine Kelle Wasser aus dem Aufgusseimer zu nehmen. Lauri riskierte einen Seitenblick und sah einen dicken, geäderten Penis unter buschigem, dunklem Schamhaar. Eilig starrte er wieder auf die Wand.

»Lebst du immer hier oder ist das so was wie dein Ferienhaus?«, fragte Lauri, um sich irgendwie von dem abzulenken, was er gerade gesehen hatte.

Ville schnaubte leise. »Wonach sieht es denn für dich aus?«

»Ich weiß nicht. Hab es ja noch nicht so genau in Augenschein genommen.«

»Ich lebe hier immer«, erklärte Ville und lehnte sich zurück. »Schon viele Jahre.«

Lauri wandte sich ihm zu, nicht um Ville noch einmal in den Schoß zu schauen, sondern in sein Gesicht, denn die Aussage weckte sein Interesse. »Du bist also ein Aussteiger?«

Ville zog die Brauen zusammen und zwei steile Falten bildeten sich dazwischen. Lauri fragte sich, wie alt er wohl sein mochte. Seine Konturen waren auch unter dem kurzen Bart erkennbar straff, aber die Haut schien vom Wetter gegerbt. Vielleicht Anfang vierzig? »Ich bin ein Aussteiger«, erklärte Ville schließlich.

»Warum? Schnauze voll vom Leben in der Zivilisation gehabt?«

Ville lachte verkniffen und wandte den Blick ab. »Ich glaube, das ist ein wenig zu privat, um es mit jemandem zu teilen, dem ich vor zwei Stunden das erste Mal begegnet bin.«

Lauri beobachtete die Sehnen, die für einen Moment an Villes Hals hervortraten und betrachtete dann die starken, athletischen Schultern. Er hatte schon immer ein Faible für ältere, etwas ungeschliffen aussehende Männer gehabt, aber das kam nun gerade im wirklich unpassendsten Moment. »Tut mir leid. Ich war nur neugierig. Muss ein hartes, entbehrungsreiches Leben sein hier draußen.«

»Ist es. Aber es gibt einem viel zurück.« Ville wandte sich ihm wieder zu. »Du redest viel.«

Betreten kaute Lauri auf seiner Unterlippe und kratzte sich im Nacken. »Das macht die Verlegenheit über die ganze Situation hier.«

Ville lachte auf und diesmal wirkte es ehrlich erheitert. »Das kann ich verstehen. Wollen wir hinüber ins Haus gehen? Ich denke, du könntest etwas zu essen vertragen.«

»Habe ich schon einmal erwähnt, dass dich der Himmel schickt?«, erwiderte Lauri lächelnd.

Abermals lachte Ville. »Du würdest dich wundern.« Er stand auf und öffnete die Tür zum Vorraum. »Ich habe dir frische Kleidung mitgebracht. Sie ist von mir und wird dir demnach zu groß sein, aber sie wird ihren Zweck erfüllen. Du kannst dich vorher noch abduschen, wenn du willst. Das Wasser wird über den Saunaofen mitgeheizt und ist jetzt warm.«

»Danke.«

Lauri betrat den Vorraum und genoss eine kurze, warme Dusche, während Ville versprach, vor der Tür auf ihn zu warten und ihn mit hinüber zum Haus zu nehmen. Anschließend trocknete er sich ab und nahm die Kleidung zur Hand – Unterhose, Unterhemd, eine Hose aus robustem Stoff, einen Wollpullover, Anorak und Fellstiefel. Er befühlte jedes Kleidungsstück, bevor er es anzog. Warum, wusste er nicht, aber gerade war jeder Handgriff, den er tun konnte, wie ein Geschenk. Ein Geschenk des Lebens, das er beinahe verloren hätte, weil er für einen Moment zu sehr dem tückischen Zauber des Augenblicks erlegen war.

Als er vor die Tür trat, war der Himmel sternenklar. Wie spät mochte es sein, sechzehn, siebzehn Uhr? Lauri hatte das Gefühl für die Zeit verloren und beinahe verlor er auch die Fähigkeit, zu atmen, als Ville nackt vor ihm im Schnee stand, als sei das die größte Selbstverständlichkeit der Welt.

»Fertig?«

»Ja, ich ...« Lauri schüttelte den Kopf. »Ist dir nicht kalt?«

»Wenn ich jetzt noch eine Weile hier herumstehe, dann wird es das sicher irgendwann. Aber jetzt noch nicht. Ich bin noch ordentlich durchgewärmt. Lass uns ins Haus gehen.«

Ville nahm sein Kleiderbündel aus dem Vorraum der Sauna und sie stapften hinüber zu dem größeren Blockhaus, durch dessen Fenster ein einladendes, heimeliges Licht schien, das Wärme und prasselndes Kaminfeuer versprach. Vielleicht würde Ville ihn einladen, bei ihm zu übernachten, weil er ihn heute nicht mehr aus dem Wildnisgebiet herausfahren konnte und weil niemand mehr kommen würde, um ihn zu holen. Er musste zugeben, dass ihm diese Aussicht angenehmer erschien als eine Nacht im Zelt. Andererseits: Nachdem er einen Einbruch ins Eis überlebt hatte, konnte ihn so schnell wohl nichts mehr schrecken. Irgendwie war er gerade motivierter als je zuvor, ein Motorschlitten-Wildnisführer zu werden. Als hätte diese Sache ihn abgehärtet.

Sobald sie das Haus betraten, entkam Lauri ein Seufzen. Es war genauso mollig warm, wie er es sich erhofft hatte, und urgemütlich. Alles befand sich in einem großen Raum, Küche, Wohn- und Ess- sowie Schlafbereich. Die hölzernen Wände waren naturbelassen, im Kamin brannte ein Feuer und vor dem mit Fellen bedeckten Bett, das hinter einem halb zugezogenen Vorhang stand, lag ein zerzauster Mischlingshund, der neugierig den Kopf hob, als sie eintraten.

»Bleib, Kaarna«, befahl Ville dem Hund. »Das ist nur ein vorübergehender Besucher.«

Kaarna kam trotzdem her, um an Lauri zu schnüffeln und er kraulte ihr den Kopf. »Na, du bist ja eine Hübsche.«

Ville seufzte. »Wenn meine Schlittenhunde meine Befehle so ignorieren würden wie sie, hätte ich ein echtes Problem. Komm, setz dich an den Tisch, Lauri. Möchtest du einen heißen Tee trinken?«

Lauri zog Jacke und Stiefel aus und nahm zögerlich Platz. »Hast du auch Kaffee?«

»Nein. Nur selbstgesammelte und getrocknete Teemischungen.«

»Also gut, dann ... dann einen Tee. Ich lasse mich überraschen.«

Ville nickte und setzte einen Kessel Wasser auf den altmodischen, mit dem Kamin verbundenen Holzofen, auf dem ein weiterer Topf stand, in dem irgendetwas herzhaft Riechendes vor sich hin simmerte. Seit sie das Haus betreten hatten, wirkten seine Bewegungen seltsam steif und verunsichert, so als sei es ihm unangenehm, einen Fremden in sein privates Reich zu lassen. Vielleicht war hier schon Jahre niemand mehr gewesen. Lauri bekam Bauchweh bei dem Gedanken, diesem Mann so viele Umstände zu bereiten. Zum Glück war es nur vorübergehend.

Ville nahm zwei Schüsseln von einem Wandregal neben dem Herd und füllte sie mit dem Essen, das in dem Topf schmorte. Es schien ein Eintopf zu sein. Mit Fleisch. Unwillkürlich zog Lauri die Lippen ein.

»Ich ... ich will nicht unhöflich sein und ich bin auch wirklich hungrig, aber hättest du vielleicht einfach nur ein Stück Brot? Oder Nudeln?«

Ville runzelte verständnislos die Stirn. »Wieso?«

»Ich esse kein Fleisch«, gestand Lauri.

»Dann fisch es raus, wenn es dir nicht schmeckt. Es sind auch Kartoffeln und etwas Wurzelgemüse im Eintopf.«

»Es geht nicht um den Geschmack«, erklärte Lauri. »Fleisch hat mir früher durchaus geschmeckt. Aber ich lebe vegan, der Umwelt zuliebe.«

Ville warf ihm einen Blick über die Schulter zu und schnaubte. »Wenn du dir das leisten kannst.«

»Das ist keine Geldfrage. Wenn man ohne die teuren Ersatzprodukte–«

»Ich meinte das nicht aufs Geld bezogen«, unterbrach ihn Ville vieldeutig. »Na schön. Was ist mit Fisch?«

»Keine Tiere, wie gesagt.«

Ville seufzte und fasste sich an die Stirn. »Es tut mir leid, aber freilaufendes Tofu kommt mir hier in Sápmi selten vor die Flinte.«

Lauri bekam ein schlechtes Gewissen und registrierte nur nebenbei, dass Ville das samische Wort für Lappland benutzte.

»Ist nicht schlimm, ich habe sowieso keinen großen Hunger«, erklärte Lauri schließlich. »Mach dir meinetwegen keine Umstände.«

»Du musst etwas essen. Ich habe Kartoffeln hier. Würdest du die essen? Und vielleicht ein paar eingelegte Pilze dazu?«

»Sehr gern«, sagte Lauri, auch wenn er immer noch ein schlechtes Gewissen hatte.

Er sah sich von seinem Platz aus weiter in der Hütte um, während Ville ihm die Kartoffeln zubereitete. Der Tisch und die Sitzbank waren vermutlich selbst gezimmert und auch die anderen Möbel bestanden aus rustikalem, gebeiztem Holz, genau wie die Dielen auf dem Fußboden. Als Teppiche dienten Tierfelle und als Wandbehang ein Rentiergeweih über der Tür, was Lauri etwas unbehaglich stimmte, aber er würde sich hüten, seinem Retter und Gastgeber Vorwürfe über dessen Einrichtung zu machen. Und am Ende war es ja besser, diese einmal existierenden Dinge zu verwenden, anstatt sie wegzuwerfen.

Langsam kroch die Müdigkeit in seine Glieder und ließ sie schwer werden. Er gähnte und auch das Essen, das ihm Ville schließlich servierte, vermochte es nicht mehr, die Energie zurück in seinen Körper zu bringen. Er begann wieder zu frösteln. Ville schien es zu bemerken.

»Vielleicht solltest du dich hinlegen«, schlug er vor. »Du bist erschöpft. Dein Körper und deine Seele haben gerade viel mitgemacht. Morgen werden wir sehen, wie wir dich wieder zurück in die Zivilisation bringen.«

»Einverstanden«, erklärte Lauri und fiel wie ein gefällter Baum in Villes Bett, das der ihm freundlicherweise für diese Nacht zur Verfügung stellte.

Als er einige Stunden später wieder kurz erwachte, fühlte er sich sterbenskrank.

Kapitel 3

Ville bekam Magenkrämpfe. Der Umstand, einen Fremden im Haus zu haben, forderte ihm bereits alles ab, aber nun schien es so, als sollte sich dieser Zustand noch verlängern.

Normalerweise war Ville gnadenlos und der Ansicht, dass jemand, der sich leichtsinnig der Wildnis aussetzte, es nicht besser verdiente, wenn er darin umkam. Aber er hatte den Jungen nicht einfach so absaufen lassen können, schließlich war der noch ein halbes Kind. Nur um den Motorschlitten war es nicht schade, diese Dinger hasste Ville wie die Pest.

Und nun lag der Bengel in seinem Bett und war krank. Er hatte Fieber, Schüttelfrost und seit der Morgendämmerung hustete er zum Gotterbarmen. So schnell wie das gegangen war, musste der Infekt bereits in ihm geschlummert haben und der Kälteschock hatte ihm die Pforten geöffnet. Kräutertee sowie Zwiebeln und Honig würden ihm schon wieder auf die Beine helfen. Ville war nicht imstande, einen Rettungshubschrauber oder Ähnliches zu rufen, da er weder Handy, Computer noch Funkgerät besaß, seit er sich vor mehr als zehn Jahren entschieden hatte, im vollkommenen Einklang mit der Natur zu leben. Und selbst, wenn er die Möglichkeit hätte: Er würde sie nicht nutzen. Denn das Letzte, was er wollte, waren noch mehr Fremde, die in sein privates Reich eindrangen. Sobald der Junge wieder gesund war, würde er ihn zurück nach Inari bringen oder von wo auch immer er gekommen war.

Der Kleine stöhnte leise und drehte sich auf die andere Seite. Wenigstens konnte er in diesem Zustand nicht unentwegt plappern und ihm Fragen stellen. Ville hatte gestern Abend wohl mehr reden müssen, als in den vergangenen zehn Jahren zusammengerechnet. Auch nicht gerade seine liebste Beschäftigung, denn selbst für finnische Verhältnisse war er ungesprächig.

Kopfschüttelnd betrachtete er den Jungen. Lauri. Sein rötlich-blondes, welliges Haar war vom Liegen zerdrückt, die Wangen gerötet vom Fieber. Sein Mund stand offen, weil er durch die Nase keine Luft bekam.

Sein Geruch macht mich nervös.

Er weckte Instinkte, die zur Vorsicht mahnten. Ville zog den Vorhang vor und ging hinüber in seine kleine Küche, um das benutzte Geschirr abzuwaschen. Als er Lauris Teller zur Hand nahm, schüttelte er unwillkürlich wieder den Kopf. Bitte kein Tier. Der Bengel würde keine drei Tage in der Wildnis überleben mit dieser Einstellung. Allein unterwegs mit dem Motorschlitten, veganes Essen, alles an ihm schrie förmlich verwöhntes Stadtkind. Nun war Jyväskylä nicht gerade der Puls der Welt, kaum zu vergleichen mit Helsinki, aber es war eine Universitätsstadt und Lauris Kommilitonen fanden es sicher obercool, dass er wie ein echter Pseudo-Abenteurer durch ein lappländisches Wildnisgebiet brettern wollte. Wenn Lauri bei seinem Scheitern nicht beinahe sein Leben verloren hätte, würde Ville ihm wünschen, dass ihn seine Kommilitonen kräftig auslachten.

»Hab Durst ...«, murmelte Lauri leise aus seiner Ecke.

Ville goss ihm eine Tasse lauwarmen Kräutertee ein und rührte einen Löffel Honig hinein, bevor er zu ihm hinüberging. Ein Blick aus glasigen, bernsteinfarbenen Augen traf ihn, als er den Vorhang beiseitezog.

»Da, Tee mit Honig. Schön langsam trinken, Schluck für Schluck.«

»Danke.« Hustend setzte sich Lauri auf, nahm die Tasse entgegen und schlürfte einen Schluck. Zum Glück kein Gejammer wegen des Honigs. »Gott, ich bin so fertig. Wie spät ist es?«

»Zweiundzwanzig Uhr.«

»Oh. Ich will ... keine Umstände bereiten. Morgen bin ich bestimmt wieder fit.«

»Das glaube ich kaum«, gab Ville amüsiert zurück.

»Vielleicht«, Lauri musste unterbrechen, weil er wieder hustete, »könnte ein Hubschrauber vom Rettungsdienst kommen und mich holen.«

»Und die ganze Natur hier aufscheuchen wegen eines erkälteten Jungen? Nein, das will ich nicht. Leg dich hin, schlaf, ich bereite dir Zwiebelhonig zu, den du brav nehmen wirst und sobald du wieder transportfähig bist, bringe ich dich zurück.«

»Na gut.« Lauri nahm noch ein paar Schlucke Tee, stellte die Tasse auf dem Nachttisch ab und ließ sich wieder in die Kissen fallen, nur um Momente später erschöpft einzuschlafen. Ville würde heute wohl tatsächlich auf seiner kleinen Couch nächtigen müssen.

Lauris Fieber stieg an und in den Morgenstunden war er nicht mehr wirklich bei Sinnen. Ville legte ihm kühlende Lappen auf die Stirn, verabreichte ihm seinen Zwiebelhonig und bekam selbst kaum Schlaf.

---ENDE DER LESEPROBE---