Notärztin Andrea Bergen 1466 - Hannah Sommer - E-Book

Notärztin Andrea Bergen 1466 E-Book

Hannah Sommer

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Beschreibung

"Asystolie! Nulllinie!" Für einen kurzen Moment scheint im OP-Saal des Elisabeth-Krankenhauses alles stillzustehen. Dann sieht Eva Jacobi plötzlich gleißendes Licht, aus dem ihr Freund Elias hervortritt. Elias, der ihr lächelnd die Hand entgegenstreckt - obwohl er vor zwei Jahren bei einem Autounfall ums Leben kam! Was passiert hier nur? Eva blickt verständnislos auf den Körper - ihren Körper! - der an Schläuchen und Maschinen hängt und bei dem Dr. Valentin Lichter gerade eine Herzdruckmassage durchführt, während Andrea Bergen die Adrenalinspritze aufzieht. Eigentlich will sie gar nicht zurück in diese schwere Hülle, denn da ist Elias, der sie mitnehmen will und den sie so vermisst hat.
Doch irgendetwas hält Eva davon ab, mit ihm mitzugehen. Ist es die fehlende Versöhnung mit ihrem Bruder, dem sie die Schuld am Unfall vor zwei Jahren gab, oder sind es all die vielen Dinge, die sie noch in ihrem Leben machen wollte? Und was war das für ein aufregendes Kribbeln jedes Mal, wenn sie Dr. Lichter gegenübergestanden hat?
Eva hat kaum Zeit, darüber nachzudenken, denn auf einmal spürt sie einen Sog, der sie zurück in diese Schwere zieht, und sie hört eine erleichterte Stimme: "Sinusrhythmus. Sie ist wieder da!"


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Seitenzahl: 128

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Inhalt

Cover

Nahtod

Vorschau

Impressum

Nahtod

Nahtoderfahrung! Schon oft haben mir Patienten, die für kurze Zeit klinisch tot waren, von diesem einschneidenden Erlebnis erzählt – doch noch nie hat mich eine Schilderung so tief berührt wie die von Eva Jacobi! Während mein Kollege Valentin Lichter und ich verzweifelt versuchten, Eva ins Leben zurückzuholen, war es für sie, als verließe sie ihren Körper! Ihr Freund Elias, der vor zwei Jahren starb, trat aus einem gleißenden Licht – mit ausgestreckten Armen, um sie mitzunehmen in eine Welt, die wir alle noch nicht kennen. Kurz war Eva versucht, alles abzustreifen, was sie ans Leben bindet, und ihm zu folgen in dieses Licht. Doch irgendetwas hat sie davon abgehalten, und sie ließ Elias gehen ...

Diese Erfahrung hat Eva geprägt. Nun will sie noch mal ganz neu anfangen – und alles, was war, hinter sich lassen! Ich weiß nicht, was mit ihr passiert ist, aber ich halte das für einen riesengroßen Fehler, den Eva noch bitter bereuen wird ...

Regen prasselte gegen die Windschutzscheibe und perlte in kleinen Bächen daran herunter. Die Scheibenwischer versuchten auf höchster Stufe, die immer neuen Tropfen wegzuwischen. Das Blaulicht zuckte durch die Dunkelheit, begleitet vom gleichmäßigen Heulen des Martinshorns.

Mit halsbrecherischer Geschwindigkeit lenkte Jupp Diederichs den Rettungswagen um die engen Kurven der Landstraße. Dr. Andrea Bergen, die Notärztin, sah angespannt nach draußen. Kein Wunder, dass bei diesen Witterungsverhältnissen ein Unfall passiert war.

»Da vorne ist es!«, rief Ewald Miehlke, der Rettungsassistent des Teams, als er die beiden verbeulten Fahrzeuge sah, die sich ineinander verkeilt hatten. Nicht weit davon entfernt standen zwei weitere Fahrzeuge am Straßenrand, deren Warnblinkanlagen in asynchronem Rhythmus aufleuchteten.

Der Rettungswagen kam neben dem aufgestellten Warndreieck zum Stehen. Als Dr. Bergen, zusammen mit ihrem Team, ausstieg, krochen ihr die Kälte und der Regen in den Halsausschnitt ihrer orangefarbenen Rettungsjacke. Es roch nach ausgelaufenem Benzin, warmen Motoren und Metall.

»Hilfe, bitte!«, rief ein Mann, und sofort sah die Notärztin in seine Richtung. Es musste einer der Ersthelfer sein, denn er schien unverletzt zu sein. Bei dem Zustand der Fahrzeuge bezweifelte sie, dass die Insassen ohne Blessuren davongekommen waren.

Mit raschen Schritten lief sie auf ihn zu. Er kniete neben einem anderen Mann, den er in die stabile Seitenlage gebracht hatte.

»Einer der Fahrer«, berichtete er. »Ich habe ihn aus dem Fahrzeug geholt.«

»Was ist mit ihm?«, hörte Andrea Bergen immer wieder eine schrille Frauenstimme rufen. Sie sah, wie ein anderer Mann mit einer Platzwunde am Kopf die Frau zurückhielt. Auch sie war nicht unversehrt geblieben, ihr rechter Arm war blutüberströmt. Vermutlich die Beifahrerin, schätzte Andrea Bergen aufgrund der Verletzungen.

Mit fliegenden Fingern tastete sie nach den Vitalfunktionen des Patienten vor ihr auf dem Boden. Ein Glück, er atmete, der Puls schlug schwach und viel zu schnell, aber er lebte!

»Ein Mann ist noch im Auto«, informierte der Ersthelfer sie. »Eingeklemmt auf der Beifahrerseite. Wir haben ihn nicht herausbekommen.«

Mit zusammengepressten Lippen nickte die Notärztin.

»Beobachten Sie ihn weiter. Wenn sich sein Zustand verschlechtert, rufen Sie mich.« Sie stand auf und lief zu ihren beiden Sanitätern, die sich um den anderen Mann in dem verbeulten Fahrzeug kümmerten. Neben den Autos stand eine weitere Frau, sie hielt einen Verbandskasten in der Hand. Vermutlich ebenfalls eine Ersthelferin, denn auch sie wirkte zwar aufgeregt, aber unverletzt.

»Er kommt nicht zu sich«, berichtete sie verzweifelt.

»Wir kümmern uns um ihn.« Andrea Bergen nahm ihren Platz ein und kletterte über die Fahrerseite zu dem Mann, während ihre Sanitäter von der hinteren Tür aus zu helfen versuchten. Der Airbag war geöffnet und hing schlaff vor dem Lenkrad, der Mann war zwischen dem verbeulten Metall eingequetscht. »Ich bekomme ihn so nicht heraus!«, sagte Andrea Bergen, die sich blitzschnell ein Bild der Lage gemacht hatte.

»Es kommt Unterstützung!«, rief Jupp Diederichs gegen die Sirene der Feuerwehr und der Polizei an.

Ein Glück, ihre Kollegen von der Feuerwehr könnten den Mann bestimmt aus dem Auto frei schneiden.

»Oh nein!« Das war die Stimme von Ewald Miehlke. »Die Frau ist zusammengebrochen.«

»Sehen Sie nach ihr!«, wies Andrea Bergen ihn an. »Ich bleibe hier bei dem Verletzten.« Sie tastete nach einem Puls, doch sie konnte nichts erspüren. Aus der Kopfwunde an der Stirn sickerte Blut, wie auch aus seiner Nase. Das sah nicht gut aus.

Es waren endlose Minuten, in denen die Feuerwehr das Dach des Pkw abschnitt, sodass sie endlich Zugang zu dem Patienten erhielten. Gemeinsam mit ein paar Leuten von der Feuerwehr zogen sie den Schwerverletzten aus dem Wagen und betteten ihn auf einer Rettungsdecke, die Andrea Bergen auf dem Asphalt ausgebreitet hatte. Rasch tastete sie erneut über den Körper des Mannes, doch sie konnte keine Vitalzeichen feststellen.

»Reanimation!«, rief sie Jupp zu, und dieser nickte.

Sofort hatte er den Sauerstoffbeutel über Mund und Nase gelegt, versetzte dem Patienten zwei Hübe, ehe Andrea Bergen dreißig Mal kräftig seinen Brustkorb eindrückte.

Endlose Minuten vergingen, in denen die Notärztin um das Leben des Patienten kämpfte. Es war vergeblich. Schließlich spürte sie eine Hand auf ihrer Schulter. Ein weiterer Sanitäter, der kurz nach ihnen eingetroffen sein musste. Sie wusste, dass sie aufhören musste, dass es keinen Sinn mehr hatte, es weiter zu versuchen. Schweren Herzens ließ sie die Arme sinken, setzte sich auf ihre Fersen und sah auf den Mann, der reglos vor ihr lag. Noch immer strömte der Regen auf sie nieder, tropfte an ihren dunkelblonden Haarsträhnen herunter, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatten.

Mit einer vorsichtigen, liebevollen Geste schloss sie ihm die Augen, warf einen Blick auf ihre Armbanduhr.

»Zeitpunkt des Todes: dreiundzwanzig Uhr vierzehn.« Ihre Stimme war tonlos, ihre Zunge bleischwer. Mit dem Handrücken strich sie sich die Haarsträhnen aus dem Gesicht, die an ihrer Stirn klebten. Die Situation um sie herum kam ihr auf einmal wie ein Film vor.

»Alles okay bei Ihnen?«, hörte sie eine Stimme von irgendwoher.

Andrea Bergen schlug die Augen auf. Sie war in einem kleinen Zimmer mit weißen Wänden. An ihrem Fußende ein helles Rechteck, in dem sie schemenhaft eine Person ausmachte.

»Frau Dr. Bergen? Geht es Ihnen gut? Ich habe Sie rufen hören.«

Andrea richtete sich auf. Sie war im Dienstzimmer des Elisabeth-Krankenhauses, das den diensthabenden Notärzten in der Nacht für eine Pause zur Verfügung stand. Ihr Puls war viel zu schnell, ihr Körper schweißnass.

»Ja ...«, murmelte sie. »Nur ein schlimmer Traum.« Sie fuhr sich mit der Hand übers Gesicht und atmete tief durch.

»Kaffee?« Dr. Valentin Lichter hielt fragend eine Tasse in die Höhe.

Andrea Bergen nickte. »Ich glaube, den kann ich jetzt gut gebrauchen.« Sie folgte ihm in den angrenzenden Bereitschaftsraum, wo er ihr bereits eine zweite Tasse füllte und über den Tisch zuschob.

»Wollen Sie drüber reden?«

Andrea Bergen nahm einen großen Schluck. Die Wärme und das Koffein taten ihr gut, halfen ihr, etwas Abstand zu den Bildern zu bekommen.

»Ein schlimmer Unfall«, berichtete sie. »Ich war damals mit meinem Team im Einsatz. Zwei Autos sind auf einer Landstraße ineinander gefahren. Ein Pärchen, die Frau hatte eine leichte Verletzung am Arm, der Mann war bewusstlos. Ich habe mich um die Insassen des anderen Pkw gekümmert. Der Fahrer war nur leicht verletzt, er hat versucht, die Frau des anderen Fahrzeugs zu beruhigen. Aber sein Beifahrer ...«

Sie brauchte einen Augenblick, um sich zu sammeln. »Die Fahrzeuge sind auf seiner Seite ineinandergefahren. Das Blech der Motorhaube, zusammengefaltet wie eine Ziehharmonika, der Rahmen der Karosserie komplett verzogen. Wir haben die Tür nicht richtig aufbekommen, konnten ihn nicht herausholen.« Sie schluckte. »Er musste von der Feuerwehr frei geschnitten werden.«

Dr. Valentin Lichter sah sie mitfühlend an. »Konnten Sie ihm helfen?«

Andrea Bergen schüttelte den Kopf. »Ich habe alles versucht, es war zu spät.«

»Das tut mir sehr leid.«

»Wahrscheinlich habe ich mich deshalb an den tragischen Abend erinnert, weil sich das Ereignis heute jährt.«

Ihr Kollege nickte stumm. Er wollte etwas erwidern, als Andrea Bergens Pager piepte.

»Ich muss los, ein Einsatz!« Rasch schob sie den Stuhl zurück und stand auf. »Danke für den Kaffee!«

Als sie auf den Flur trat, begegnete sie ihrem Einsatzteam, Jupp Diederichs und Ewald Miehlke. Auch sie hatten sich wohl zum Ruhen in die bereitstehenden Dienstzimmer zurückgezogen, jetzt aber waren sie hellwach.

»Was liegt an?«, erkundigte sie sich.

»Eine Frau ist auf dem Gehweg gestürzt«, informierte Ewald Miehlke sie. »An der Bergstraße.«

»Na, dann auf in den Außenstadtring!«, erwiderte Jupp Diederichs, der Fahrer, während sie schon in die Fahrzeughalle zum Rettungswagen spurteten.

Wenige Minuten später fuhren sie durch die noch schlafende Stadt. Jetzt, gegen halb fünf Uhr morgens, war kaum jemand wach. Nur hier und da war mal ein Auto zu sehen oder ein Fußgänger, der sich vermutlich auf den Weg zur Arbeit machte. Jupp Diederichs bog in eine Straße ein und parkte gleich darauf den Rettungswagen am Straßenrand.

»Hausnummer zehn«, sagte er und deutete auf ein beigefarbenes Haus mit kleinem, gepflegtem Vorgarten.

Das Team stieg aus und machte sich auf den Weg zur Haustür. Als Andrea Bergen das Klingelschild las, durchrieselte sie es eiskalt. Jacobi, stand dort. Ein Name, den sie kannte. Sie drückte auf den Knopf.

Der Summer ertönte, und als sie durch das Treppenhaus nach oben in die Wohnung liefen, bestätigten sich Andreas schlimme Befürchtungen.

An der Tür stand ihre Freundin Eva, allerdings nur auf einem Bein, das andere schien sie zu entlasten. Bei genauerem Hinsehen erkannte Andrea, dass es rot-blau meliert war.

»Guten Morgen«, grüßte die Notärztin sie. »Was hast du gemacht?«

»Ich bin beim Gehwegfegen auf dem nassen Laub ausgerutscht und dabei unglücklich gestürzt. Jetzt kann ich nicht mehr auftreten.«

»Das sehe ich mir mal genauer an.«

Eva humpelte ins Wohnzimmer und setzte sich aufs Sofa. Dort legte sie den Fuß auf die Kissen, auf denen sie ihn schon vorher gebettet haben musste, denn eine Kühlkompresse lag neben dem Kissenberg. »Es tut höllisch weh«, erklärte Eva.

Andrea Bergen setzte sich an den Rand des Sofas und tastete vorsichtig das Bein ihrer Freundin ab. »Du hast es dir gebrochen«, informierte sie sie dann.

Eva legte die Hand an die Stirn. »Auch das noch«, seufzte sie.

»Wieso kehrst du auch in aller Herrgottsfrühe den Gehweg?«

»Ich konnte nicht schlafen«, murmelte Eva.

Andrea entging ihr rasches Blinzeln nicht. Der Todestag ihres Freundes ...

Als sie nach dem schrecklichen Unfall vor zwei Jahren ins Elisabeth-Krankenhaus zurückgekommen waren, hatte Eva Jacobi dort bereits auf sie gewartet. Sie war als Notfallkontakt in einem der Portemonnaies eingetragen gewesen, und Andrea Bergen hatte die Nummer angerufen. Voller Nervosität war die Frau auf das Rettungsteam zugelaufen, hatte sich nach ihrem Lebensgefährten Elias und ihrem Bruder Daniel erkundigt. Daniel, der als Fahrer nur leichte Blessuren erlitten hatte und Erste Hilfe geleistet hatte, wurde eingehend untersucht, doch zu Elias hatte Andrea Bergen ihr nichts Positives mitteilen können.

Sie hatte Eva gebeten, sich in die Warteecke zu setzen, und neben ihr Platz genommen, ihr dann in allen Einzelheiten den Unfall geschildert. Das Paar, das in dem anderen Auto anscheinend von der Straße abgekommen und in das Fahrzeug ihres Freundes gefahren war, wurde ebenfalls gerade untersucht. Sie berichtete von Daniel, der zuerst den Mann aus dem anderen Wagen versorgt hatte und sich schließlich um dessen Frau gekümmert hatte. Sie berichtete von den Ersthelfern, die sich währenddessen Elias angenommen hatten, von der Feuerwehr, die ihn hatte frei schneiden müssen, von dem strömenden Regen und von ihren endlosen Versuchen, Elias zu reanimieren, die schließlich gescheitert waren.

Eva hatte mit angehaltenem Atem zugehört und war schließlich weinend zusammengebrochen. Obwohl Andrea Bergen da bereits Feierabend gehabt hatte, hatte sie sich um die Frau gekümmert und ihr schließlich angeboten, einen Kaffee mit ihr trinken zu gehen. Sie hatte Eva nicht alleine lassen wollen, und ihr persönliches Schicksal hatte sie bewegt, denn Eva und Elias hatten sich erst wenige Tage zuvor verlobt und sich den Traum von einem eigenen Musikinstrumentengeschäft erfüllt.

Andrea war auf der Beerdigung gewesen, und in den ersten Monaten hatte sie sich immer mal wieder mit Eva getroffen, um über den Unfall zu sprechen und Trauerarbeit zu leisten. Schließlich war aus der losen Bekanntschaft eine Freundschaft geworden, und Andrea hatte sich gefreut, als sie Eva nach über einem Jahr endlich wieder lachen sah. Dass es jetzt nicht spurlos an ihr vorbeiging, wenn sich der Unfall jährte, konnte die Notärztin da nur zu gut verstehen.

»Ich gebe dir ein leichtes Schmerzmittel, und dann nehmen wir dich mit ins Elisabeth-Krankenhaus«, sagte Andrea Bergen. »Dort röntgen wir dein Bein und machen uns ein genaues Bild. Aber dem ersten Anschein nach wirst du einen Gips brauchen.«

***

Die Notärztin sollte recht behalten. Eva bekam im Elisabeth-Krankenhaus einen dicken Gips angelegt, mit dem sie in den nächsten Wochen durch ihren Alltag humpelte. Es war gar nicht so leicht, einen eigenen Laden zu führen, wenn man dabei so eingeschränkt war. Doch die meisten Kundinnen und Kunden hatten dafür Verständnis, und es schien sie nicht zu stören, wenn Eva ein wenig länger brauchte, bis sie bei ihnen war, oder wenn sie selbst ihre Instrumente oder den Notenständer zur Kasse tragen mussten, weil Eva Gehhilfen brauchte.

Dennoch fühlte sich Eva nicht fit. Zu allem Überfluss hatte sie sich nämlich auch noch einen Infekt eingefangen, der ihr eine laufende Nase und leichte Kopfschmerzen bescherte. Doch sich für ein paar Tage eine Auszeit zu nehmen kam für sie nicht infrage. Sie musste sich um den Laden kümmern. Das war Elias' und ihr großer Traum gewesen, davon hatte er ihr immer vorgeschwärmt, wenn sie zusammen Musik gemacht hatten.

Eva sah sehnsüchtig zu den Gitarren, die an der Wand hingen. Seit Elias' Tod hatte sie nie wieder eine davon in die Hand genommen. Dabei hatte sie früher so gerne gespielt. Er hatte sie am Schlagzeug begleitet, und sie hatte gesungen. Sie hatte sogar ein paar Songs selbst komponiert und Texte dazu verfasst. Aber das alles war nach dem schrecklichen Unfall in die Schublade gewandert, und sie hatte es seitdem nicht mehr herausgeholt.

Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass es Zeit wurde, Feierabend zu machen, auch wenn sie eigentlich noch im Laden die Buchhaltung der letzten Monate aufarbeiten musste. Aber heute hatte sie etwas anderes vor. Sie hatte einen Termin bei einer Kartenlegerin ausgemacht. Nach Elias' Tod war das die einzige Zeit für sich, die sie sich gönnte. Ansonsten war ihr Tag mit der Arbeit recht ausgefüllt, und dafür war Eva auch sehr dankbar, weil sie so nicht ins Grübeln kam.

Sie packte ihre Sachen zusammen, warf dem Bild, das neben dem Tresen an der Wand hing und Elias und sie zeigte, einen kurzen Blick zu, schloss den Laden ab und ging zu der nahegelegenen Straßenbahnstation.

Es war eine kurze Fahrt, und schon bald stand Eva vor der Tür und klingelte an dem Türschild, um das sich ein Drache schlang und das mit Rowenas Hexenstube beschriftet war.

Eine Frau in einem langen, geraden dunkelblauen Leinenkleid mit Silberstickerei öffnete. Die dunkelbraunen Haare hatte sie in einem tief sitzenden Pferdeschwanz zusammengebunden, darüber trug sie ein helles Kopftuch.

»Hallo, Eva«, sagte sie lächelnd. »Komm rein.«

Eva folgte ihr ins Wohnzimmer. Auf dem viereckigen, halbhohen Tischchen hatte sie bereits Räucherstäbchen angezündet, die den Raum angenehm aromatisierten. Auf den Fensterbänken standen Heilsteine und Zimmerpflanzen. Um den Tisch lagen große, weiche Kissen. Eva fand es jedes Mal sehr gemütlich, und sie freute sich auf die Sitzungen mit Rowena Shasta.

»Nimm Platz«, sagte die Frau. Sie wartete, bis Eva sich auf den Kissen niedergelassen hatte, und setzte sich ihr dann gegenüber. »Was möchtest du heute erfahren?«, fragte sie freundlich.