Schatten über Asbury Isle - Justin C. Skylark - E-Book

Schatten über Asbury Isle E-Book

Justin C. Skylark

0,0
5,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Deputy Rick Mason und sein Freund Sam möchten im idyllischen Badeort Asbury Isle ein neues Leben beginnen. Doch die konservativen Inselbewohner machen es dem Paar nicht leicht. Zudem terrorisiert ein Hai die beliebte Küste der Insel und Rick sieht sich gezwungen, den Kampf gegen Intoleranz und Raubfisch aufzunehmen. Doch hat er eine Chance?

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 310

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Schatten über Asbury Isle

Impressum

© dead soft verlag, Mettingen 2017

http://www.deadsoft.de

© the author

Cover: Irene Repp

http://www.daylinart.webnode.com

Bildrechte:

© theartofphoto – fotolia.com

© vsurkov – fotolia.com

© ramon carretero – fotolia.com

1. Auflage

ISBN 978-3-96089-138-3

ISBN 978-3-96089-139-0 (epub)

Inhalt:

Deputy Rick Mason und sein Freund Sam möchten im idyllischen Badeort Asbury Isle ein neues Leben beginnen. Doch die konservativen Inselbewohner machen es dem Paar nicht leicht. Zudem terrorisiert ein Hai die beliebte Küste der Insel und Rick sieht sich gezwungen, den Kampf gegen Intoleranz und Raubfisch aufzunehmen.

Doch hat er eine Chance?

Prolog

Kreischende Möwen und schreiende Kinder unterbrachen die Ruhe am Strand. Rick betrachtete das Wasser und die kleinen Wellen, die sich darauf bogen. Es war heiß. Nur eine leichte Brise kitzelte ihn an den nackten Armen. Mühsam erkämpfte er sich den Weg durch den Sand und versackte mit den Stiefeln darin.

Sam saß am Ufer. Die Sonne schien ungnädig und ließ ihn blinzeln.

Ihr Strandhaus stand nicht weit entfernt. Seit Anfang der Woche beherrschte ein Hochdruckgebiet ihre Region. Der Sommer begann und das registrierten auch die anderen Bewohner von Asbury Isle. Immer mehr Menschen besuchten den Badestrand; sie legten die Handtücher ab und genossen eine Abkühlung im Meer.

„Was tust du denn hier?“, fragte Sam überrascht. „Nichts los am ersten Arbeitstag, Deputy?“

Rick lächelte. Er kniff die Augen geblendet zusammen und rieb sich verlegen das Kinn, an dem ein Dreitagebart spross.

„Kleine Mittagspause.“ Er ging in die Knie, streichelte Sam über den Rücken und vermied den Kontakt mit dem sandigen Boden.

„Sind sie nett, die Kollegen?“, hakte Sam nach. Er setzte sich auf und rieb den Sand von den Handflächen. Rick deutete ein Nicken an.

„Hast du es ihnen erzählt?“

„Wäre nicht sinnvoll, es zu verheimlichen, oder?

„Was hast du gesagt?“ Sam zog die Beine an. Er strahlte Nervosität aus. Typisch für ihn.

Rick zuckte mit den Schultern. „Ich habe keine große Nummer daraus gemacht. Sie fragten, ob ich Kinder habe und verheiratet bin. Ich habe ihnen gesagt, dass ich ein Haus auf der Insel zusammen mit meinem Partner bewohne.“

Sam schluckte bewegt. „Gut.“

„Ja, gut …“ Rick ließ den Blick schweifen. Er war kein Mensch vieler Worte. Auch das liebte Sam an ihm. „Und die Arbeit? Anstrengend?“

Rick kratzte sich den Nacken, er lockerte den ersten Knopf des Hemdes, denn in der Sonne war es viel zu warm. „Der Chief macht mir wenig Hoffnung“, meinte er nicht ohne Ironie. „Ein paar Diebstähle, Vandalismus, leichte Autounfälle. Mehr gibt es nicht zu regeln.“

„Das klingt beschaulich.“

„Ja.“ Sie sahen sich an. Ohne, dass sie es aussprachen, wussten sie, dass es das war, was sie sich erträumt hatten: ein idyllisches Leben am Meer.

1.

In der Mitte der Kaffeetafel stand ein Kuchen und in einer Vase steckten frische Blumen. Da die Sonne schien, hatten sie auf der Terrasse gedeckt. Die Verandatür war angelehnt. Rick hörte das Klingeln an der Haustür und verspannte sich unwillkürlich. „Ich gehe!“ Er rannte ins Haus und kaum, dass er die Tür aufgerissen hatte, stürmte Mira auf ihn zu.

„Hallo, Onkel Rick!“ Sie schlang die Arme um seine Hüften. Kurzentschlossen entschied er sich dagegen, sie wie gewohnt auf den Arm zu nehmen. Ihr letztes Treffen lag lange Zeit zurück. Sie war gewachsen und wirkte mit ihren elf Jahren zu alt für eine derartige Begrüßung.

„Na, junge Frau, alles in Ordnung?“ Er drückte sie und lächelte, beugte sich vor, um seiner Schwester Claire einen Kuss auf die Wange zu hauchen. „Das ist ja ein Empfang!“ Sie lachte herzlich und deutete auf ihre Tasche, aus der eine Kuchenform lugte. „Wo kann ich ihn hinstellen?“

„Du hast gebacken?“, fragte Rick erstaunt. Er sah ihr hinterher, als sie ins Esszimmer marschierte. Da dort der Tisch nicht gedeckt war, spähte sie durch die Verandatür. Mira zerrte an seiner Hand. Sie wollte folgen, doch Rick blieb abwartend stehen. „Was ist mit Hank?“, rief er. Von seinem Schwager fehlte jede Spur.

„Oh, der hat geschäftlich zu tun!“, antwortete Claire „Vielleicht kommt er nach.“

„Aha.“ Rick schloss die Tür. Schwerfällig setzte er sich in Gang. Er hatte fest mit Hanks Erscheinen gerechnet, denn im Grunde genommen hatte er das Treffen zum Kaffeetrinken seinetwegen arrangiert. Der Nachmittag im Kreise der Familie war als nette Geste gedacht, als ein Entgegenkommen.

Rick folgte auf die Terrasse.

„Ach, es ist Kuchen da?“ Claires Stimme senkte sich enttäuscht, als sie die Biskuittorte erblickte. Zögernd schob sie ihren Schokoladenkuchen daneben.

„Natürlich“, erwiderte Rick. „Den hat Sam gebacken.“

„Tatsächlich?“ Claire staunte und reichte dem Besagten die Hand. „Schön, dich zu sehen.“

Sam lächelte unter Anspannung. Genau das hatte Rick vermeiden wollen: dass ihr Treffen eine krampfhafte Begegnung wurde.

„Setzt euch!“, warf er in die Runde. Er griff zur Kaffeekanne und schenkte ein. Mira grinste unbekümmert über das ganze Gesicht, als Sam ihr ein Kuchenstück auf den Teller schob. Claire konnte ihre Augen noch immer nicht vom Kuchen abwenden und kam aus dem Staunen gar nicht mehr heraus.

„Der Kuchen sieht fantastisch aus, Sam! Dass du backen kannst!“

Sam hob die Schultern an. „Warum nicht?“

Claires Mundwinkel wanderten nach oben. „Dann kümmerst du dich um den Haushalt und Rick arbeitet?“

„Ehm, na ja …“ Sam hielt inne.

„Sam hat einen Job. Er malt, falls du es vergessen hast. Wir eröffnen eine Galerie, wenn alles läuft.“

„Verdienst du mit der Malerei Geld?“ Claire machte große Augen.

Sam nickte. „Meine Kundschaft ist etabliert und es kommen stetig neue Interessenten hinzu.“

„Für die Hausarbeit bleibt wenig Zeit. Wir sehen uns nach einer Reinigungskraft um“, fügte Rick hinzu und nahm Platz. Seine Stimmung erreichte den Nullpunkt. Er hatte mit einem derartigen Gesprächsverlauf gerechnet, doch dass der Dialog von Anfang an in die verkehrte Richtung lief, war niederschmetternd.

Claire lehnte sich zurück. Bemerkte sie ihren Fauxpas? „Entschuldige, Rick. Ich habe keine Ahnung, wie ein Paar wie ihr lebt.“

„Wir sind ein Paar wie jedes andere“, presste Rick hervor. Er starrte auf den Tisch, wollte sie nicht ansehen. Zu oft hatte er das Entsetzen in ihrem Gesicht ertragen müssen.

„Es gibt bei uns keine Rollenverteilung, falls du das denkst.“

Ihre Lippen zitterten angespannt, doch sie behielt das Lächeln bei. „Reg dich nicht auf“, sagte sie. „Ich wusste nicht …“

Er wagte den Blickkontakt und die Konfrontation. „Was ist das mit Hank?“, fragte er. „Das ist eine Ausrede mit der Arbeit am Wochenende, oder?“

Sie senkte den Blick. Für Rick ein deutliches Zeichen und die Bestätigung dafür, dass er mit der Behauptung richtiglag. Sam strich ihm über die Hand, die sich auf dem Tisch zu einer Faust ballte.

„Wovor fürchtet er sich?“, fuhr Rick fort. „Davor, dass wir im Tutu herumlaufen und mit Wattebäuschen werfen? Oder sieht er in uns zwei Perverse, die ihn mit irgendwelchen Krankheiten anstecken könnten?“

„So denkt er bestimmt nicht“, erwiderte sie peinlich berührt, doch Rick winkte ab. Er bemerkte die erschrockene Miene seiner Nichte. „Eigentlich ging ich davon aus, dass wir die Vorurteile ein für alle Mal beiseiteschaffen. Wir leben jetzt hier, Claire. Ich hatte gehofft, dass nach Moms und Dads Tod eine neue Bindung in der Familie entsteht.“ Er deutete auf Mira. „Die Kleine ist mein Patenkind. Es bedeutet mir viel, sie heranwachsen zu sehen. Dazu gehört ein problemloses Auskommen mit dir und Hank.“

Claire rang mit den Tränen. „Das kann ich verstehen.“ Ihr Lächeln sah verloren aus.

Rick stach die Gabel in den Kuchen, nahm einen Bissen und kaute hektisch. „Ihr seid bei uns jederzeit willkommen“, sagte er. „Und ich wünsche mir, dass Hank endlich über seinen Schatten springt.“

*

Er winkte zum Abschied. Das ungute Gefühl in der Magengegend wich allerdings nicht. Das gemeinsame Kaffeetrinken war anders verlaufen als erhofft. In der Vergangenheit war er auf Hank zugegangen, meist ohne Erfolg. Die Krönung ihres Disputs hatte sich bei der Einschulung von Mira ereignet, auf der zu einem späteren Zeitpunkt Kommentare gefallen waren, die unter der Gürtellinie landeten. Der Kontakt war abgebrochen.

Rick hatte Nachsicht walten lassen, denn Hank hatte getrunken und die zügellose Zunge nicht halten können. Vielleicht hatte er nur das ausgesprochen, was viele Gäste dachten?

Doch warum passierte das in der heutigen Zeit? Wieso kamen er und Sam nicht umhin, sich zu winden und zu rechtfertigen, um akzeptiert zu werden?

Rick stieß ein unzufriedenes Brummen aus. Er stand unter Spannung, doch er schwor sich, nicht aufzugeben. Allein Mira zuliebe wollte er das Kriegsbeil begraben und für ein harmonisches Miteinander kämpfen.

„Nimm es dir nicht so zu Herzen“, murmelte Sam. Er schob sich hinter Rick und legte das Kinn auf dessen Schulter ab. Mit den Händen fuhr er an Ricks Seiten entlang. Sie trafen sich vor seinem Bauch, wo sie sich ineinander verhakten.

„Ich versuche es weithin“, antwortete Rick zuversichtlich. „So lange, bis er Einsicht zeigt.“

Die dünne Bettdecke war entbehrlicher Stoff auf ihrer Haut. Rick schob sie beiseite. Er wollte Sams Körper unverfälscht genießen. Hingebungsvoll räkelten sie sich auf dem kühlen Laken und tauschten innige Küsse miteinander aus. Seitdem sie in dem Haus wohnten, war die behagliche Zweisamkeit zurückgekehrt. Sam entspannte, er gab sich Raum. Zweifel und Sorgen schienen vergessen. Er ließ sie zurück. Sie hatten keinen Platz im Umzugswagen gefunden. Das Liebesspiel an einem fremden Ort, in einem neuen Bett, nahm andere Dimensionen an. Ihre Leidenschaft wurde ein weiteres Mal entfacht und brannte noch heißer als am ersten Tag.

Rick rutschte auf Sams Kehrseite, er hauchte feuchte Küsse auf seinen Nacken und drang vorsichtig in ihn ein. Im Schlafzimmer fehlte ein Fernseher, was sich als Vorteil erwies. Nichts hielt sie von ihren körperlichen Aktivitäten ab. Er begann mit sanften Stößen.

Sam stöhnte ins Kissen und Rick umarmte ihn. In dem Moment gab es nur sie beide und die unbekümmerte Lust. Rick verlangsamte das Tempo. Sein Blick streifte das Fenster, das eine Sicht auf einen klaren, dunkelblauen Himmel bot. Er hörte Möwen kreischen. Fernab lachten Leute, die sich an dem lauwarmen Abendwetter erfreuten. Und sie vereinten sich hier innig, gaben sich Gelüsten hin, um die sie mancher beneidet hätte. Rick schluckte, spannte sich an, sein Rhythmus wurde wider Erwarten schneller. Die letzten Stöße waren hart und verlangten ihm einiges ab.

Rick schloss die Augen. Er untermalte den Höhepunkt mit einem erleichterten Keuchen und genoss das Gefühl, in seinem Partner zu kommen, ihn in dem Augenblick zu besitzen und glücklich zu wissen. Sam drückte den Unterleib auf die Matratze. Das tat er, wenn er unten lag und Ricks Männlichkeit ihn zum Orgasmus trieb. Selten setzten sie ihre Hände ein, um den Akt zu beenden. Rick rollte zur Seite weg, atmete tief ein und aus. Die Feuchtigkeit zwischen ihren Beinen und der Geruch nach frischem Schweiß verliehen dem Zustand einen verruchten Touch. War es das, was die anderen fürchteten, was sie ablehnten? Rick meinte, dass der Sex unter Mann und Frau nicht anders ablief, obwohl er an Frauen nie Gefallen gefunden hatte. Er war sich darüber klar geworden, als er das erste Mal in der Schuldisko ein Auge auf einen Klassenkameraden geworfen und abends heimlich mit dem Gedanken an ihn onaniert hatte. Sie waren nicht miteinander befreundet gewesen, doch die Erinnerung daran war geblieben.

Rick redete sich nie heraus. Er vertrat seine Neigung wie sein Leben. Als Polizist lernte er, über den Dingen zu stehen. Emotionale Einbrüche konnte er sich nicht leisten, die brachten ihn nicht weiter. Er verkörperte Stärke. Vielleicht ging Claire zurecht davon aus, dass es in ihrer Beziehung unterschiedliche Rollen gab, denn Sam war gefühlvoller.

Er liebte es, wenn Rick seine Polizeiuniform trug, das hellblaue Hemd akkurat in der dunkelblauen Hose saß und Funkgerät, Pistole, Handschellen und Schlagstock ihren Platz fanden. Dann verkörperte er für Sam jene Dominanz, die ihm entgegenstand und das spiegelte sich sogar in seinen Berührungen wider. Rick registrierte die warme Hand, die auf seinem Oberkörper ruhte, die sanft über sein Brusthaar strich. Er genoss diese Geste, denn sie riss ihn aus Gedanken, die ihn öfter heimsuchten.

Der rote Streifen am Horizont kündigte den Sonnenaufgang an. Ricks Schlaf war unruhig gewesen. Mehrfach hatte er sich hin- und hergedreht, die Bettdecke weggeschoben oder zurück auf den Körper gezerrt. Er reagierte sofort, als das iPhone vibrierte. Es knurrte wie ein Tier und entwickelte auf dem Nachtschrank ein Eigenleben.

Rick schaltete kein Licht an. Vorsichtig angelte er das Handy von der Ablage. Das Display verriet, dass das Police-Departement anrief. Müde nahm er das Gespräch entgegen.

„Mmh, ja …“ Er sprach leise. „Jetzt? … Ist es wichtig? Aha.“ Er richtete sich auf. „Ist schon jemand vor Ort …? Ach so, ehm … Und das ist ungewöhnlich? … Ja, verstehe. Ich mache mich auf den Weg.“ Er legte auf. Sam drehte sich um. „Was ist los?“

„Ich muss zum Strand …“ Rick schlug die Bettdecke zurück. Im halbdunklen Raum taumelte er zum Kleiderschrank. „Um diese Uhrzeit?“ Obwohl nur die morgendliche Dämmerung das Zimmer erhellte, sah er, dass Sam sich das Haar aus dem Gesicht strich. Unwillkürlich dachte Rick an ihre Liebesnacht.

„Man hat irgendwelche Knochen gefunden, keine Ahnung“, murmelte er. Ohne eine Dusche zu nehmen, zog er sich an. Der Anruf klang alarmierend. Er war neu auf seinem Posten und wollte sofortige Bereitschaft und Präsenz zeigen.

„Knochen? Du machst Witze …“

Rick ob die Augenbrauen an. „Weiß nicht, was da los ist. Ich muss hin.“ Er schloss die Knöpfe des Hemdes und trat nochmals auf das Bett zu. Sam reckte sich ihm entgegen. „Bis nachher.“ Er gab Sam einen Kuss. „Bin zum Frühstück zurück.“

2.

Der Strand lag nur drei Kilometer von ihrem Wohnhaus entfernt. Rick stieg in den Dienstwagen – ein Yukon SUV – und schaltete das Blaulicht an, aber keine Sirene. Um diese Uhrzeit hielt sich der Verkehr in Grenzen. In der Ferne erkannte er den Tatort. Andere Warnleuchten kreisten und wiesen den Weg. Seitlich parkte ein Krankenwagen, doch der fuhr davon, als Rick am Straßenrand hielt. Die Coroner waren ebenfalls vor Ort. Was für ein Aufgebot! Kam er als Letzter an?

Er schwang die Beine aus dem Wagen. Die Jacke ließ er zurück. Im Laufschritt eilte er auf die Ansammlung von Leuten zu, dabei überprüfte er seine Krawatte. Es war kurz nach fünf Uhr und die drückende Hitze des vorherigen Tages war noch nicht verflogen.

„Ah, da ist Mason …“ Rick sah sich um, als er seinen Namen hörte. „Mason!“

„Ja?“ Er hob die Hand. Scheinwerfer, die den Strand ausleuchteten, blendeten ihn. Sein Kollege Officer Wallace kam auf ihn zu. „Gut, dass Sie da sind, Mason“, sagte er.

„Kaffee, Deputy?“

Rick staunte. Officer Green, eine klein gewachsene, drahtige Beamtin, reichte ihm einen Plastikbecher mit Kaffee an. Perplex griff er zu. Hatten sie ihn deswegen aus dem Bett gerissen? Für ein Kaffeekränzchen am Strand? „Was ist geschehen?“, fragte er gespannt.

Wallace gab keine Antwort, er winkte ihn nur hinter sich her. Gemeinsam bahnten sie sich einen Weg durch die Beamten und Schaulustigen, die hinter einem rot-weißen Absperrband standen. „Ein Jogger fand einen Torso. Er kann noch nicht lange hier liegen. Gestern Abend herrschte reger Betrieb am Strand.“

Man gab die Sicht frei. Rick sah auf den Fundort und erstarrte für einen Augenblick. Auf dem Boden im Sand lag ein nackter Leib mit abgetrennten Beinen. Der rechte Arm bestand aus Fetzen von Muskeln und Knochen. Die Brust war intakt, der Unterleib unverhüllt. Es war eindeutig eine Frau.

In ihrem Gesicht klafften fleischige Wunden, ihr Haar war nass und sandig. Rick unterdrückte ein Würgen. In seiner Laufbahn hatte er so manches gesehen, doch das, was sich ihm hier bot, übertraf alles Vorangegangene. Er strich mit Daumen und Zeigefinger an den Seiten seines Mundes entlang und tastete sprießende Bartstoppel. Einen Frisör hatte er auch schon lange nicht aufgesucht: Der Undercut an den Seiten war nahezu rausgewachsen. Wenn er das längliche Deckhaar nicht mir Gel bändigte, kräuselte es sich zu Wellen. Der Zustand erinnerte ihn an die Zeit in Camden. Die wollte er eigentlich nicht mehr erleben.

Er nahm einen Schluck Kaffee, sortierte die Gedanken. „Wer hat den Fund gemeldet?“ Langsam ging er in die Knie. Aus nächster Nähe sah er die Leiche an.

„Der Jogger. Er war mit einem Hund unterwegs“, berichtete Wallace.

Rick nickte. „Der muss eine exakte Aussage zu Protokoll geben.“

„Wir sind dabei …“

„Hat jemand etwas Verdächtiges beobachtet?“ Rick stand auf.

„Nein.“

„Ist der Chief informiert?“

„Noch nicht“, antwortete Wallace. „Wir wandten uns gleich an Sie.“

Rick stutzte. Er trat einen Schritt zurück. „An mich? Wieso?“

„Sie sind der Deputy“, erinnerte Wallace. „Der Fall ist Ihnen zugeteilt. Der Strandabschnitt gehört zu unserem Einsatzgebiet. Sie haben viele Jahre als Detective gearbeitet.“

„Ja, schon, aber …“ Rick stoppte. Alle Augen richteten sich auf ihn. „Wer ist der leitende Rechtsmediziner?“

„Ich.“ Ein Mann löste sich aus der Runde. Er war dunkler Hautfarbe, zivil gekleidet und trug Handschuhe aus Latex. „Dr. Bent“, stellte er sich vor.

„Erste Erkenntnisse?“

„Wir gehen nicht von einem Gewaltverbrechen aus“, berichtete er.

„Wie bitte?“ Rick neigte den Kopf, als hätte er die Aussage nicht verstanden. „Der Körper ist verstümmelt. Ich schließe nicht aus, dass hier jemand eine Leiche schlichtweg entsorgen wollte, indem er sie ins Meer warf.“

„Dann hätte er es weit draußen getan.“ Bent deutete auf die toten Überreste. „Der Todeszeitpunkt liegt nicht länger als drei Stunden zurück. Die Tote spülte offensichtlich kurz nach ihrem Ableben an. Der Vorfall ereignete sich also nicht weit von der Küste.“

„Und wo sind die anderen Körperteile?“, fragte Rick.

Bent hob die Schultern an. „Wir finden sie vielleicht, wenn wir suchen.“

Rick stieß die Luft geräuschvoll aus. „Hören Sie, ich habe Fälle erlebt, in denen man eine Leiche zerstückelte und versucht hat, sie verschwinden zu lassen. Haben Sie einen Plastiksack gefunden, einen Beutel oder Koffer?“

Auf Bents Gesicht schlich sich ein Lächeln. „Wir sind nicht in der Bronx, Deputy Mason, sondern auf Asbury Isle. Der letzte Mord geschah hier vor zehn Jahren.“ Er grübelte. „Oder vor fünfzehn?“

Rick bewahrte die Haltung. Die Blicke der anderen Leute schnitten ihn wie ein scharfes Messer. „Und woran denken Sie? An eine Schiffsschraube?“

„Weniger“, antwortete Bent. „Die Tote brach vermutlich zu einem nächtlichen Schwimmen auf. Sie ist sicher nicht in die Schiffsrinne geraten.“

Rick presste die Lippen aufeinander. Das Unvorstellbare wollte er nicht aussprechen. „Dann … ein Tier?“

„Wir finden es heraus“, erwiderte Bent. „Wenn Sie uns den Körper jetzt überlassen?“

„Natürlich.“ Rick trat zur Seite. Bents Begleiter bargen die Leichenteile in einen Leichensack.

Rick sah ihnen zu. „Wann können Sie mir erste Ergebnisse liefern?“

„Ich melde mich morgen bei Ihnen!“, kam zur Antwort.

„Und wie gehen wir vor, Sir?“, unterbrach die Stimme von Wallace. Der sah ihn mit weiten Augen an. Auch Officer Green musterte ihn fragend. Erwarteten sie Anweisungen? War das tatsächlich sein erster Fall? Trug er die Verantwortung für die Ermittlungen? Rick räusperte sich.

„Gibt es Hinweise auf die Identität der Toten?“

„Wir fanden eine Stofftasche mit Kleidung, ein Handy und ein Handtuch“, berichtete Green.

„Finden Sie heraus, wer der Inhaber des Handys ist. Kontaktieren Sie die Familie, wenn Sie etwas herausgefunden haben. Und lassen Sie es mich wissen, wenn eine Vermisstenanzeige eingeht.“

„Okay!“ Green nickte entschlossen und stapfte davon.

Rick betrachtete den Sonnenaufgang. Dafür lohnte es sich, früh aufzustehen. „Sobald es hell ist, suchen wir den Strand nach Hinweisen ab“, sagte er, ohne sich Wallace zuzuwenden. „Organisieren Sie ein Boot und Taucher.“

„Ich verständige die Wasserwache.“ Auch Wallace setzte sich in Bewegung. Plötzlich beschlich Rick das Gefühl, wieder in seiner alten Position zu stecken. Hatte er das mit dem Umzug nicht verhindern wollen?

*

Sam stand auf der Terrasse vor einer Staffelei. In den Händen hielt er Farbpalette und Pinsel. Immer, wenn er malte, sah er verbissen aus, dann wirkte seine gerade Nase spitz, sein blasser Teint kränklich und seine rosafarbenen Lippen spröde.

Er trug eine schwarze Brille, die er eigentlich nicht benötigte. Er verfügte über eine tadellose Sehkraft und Rick meinte, dass Sam die Gläser nur trug, weil er sich damit sicherer fühlte. Zudem verlieh sie ihm ein intellektuelles Aussehen. Seitdem sie auf Asbury Isle wohnten, bevorzugte Sam luftige Kleidung. Genau wie an diesem Tag. Er trug Shorts, ein Hemd, das nicht zugeknöpft war und dessen Ärmel er bis zu den Oberarmen hochgekrempelt hatte. Sein schulterlanges Haar war am Hinterkopf zu einem kleinen Knoten gebunden. Abwartend stand er vor dem Bild, den Kopf zur Seite geneigt. Vorsichtig trug er die Farbe auf. Das Meer, brausende Wellen und fliegende Vögel am Himmel. Das Werk entsprang diesmal nicht aus einer Fantasie heraus. Die Kulisse befand sich direkt vor ihrer Haustür.

„Sieht schön aus“, entwich es Rick. Seine Einsatzschuhe hinterließen sandige Spuren auf der hölzernen Terrasse. Er trat hinter Sam, hatte Lust, ihn zu umarmen, doch er zügelte sich. In der Öffentlichkeit wollte er kein Aufsehen erregen. Intuitiv war er nicht zu ihrem Wohnsitz im Kern der Insel gefahren. Er war davon ausgegangen, Sam beim Strandhaus anzutreffen, und so hatte er den Fußweg dorthin genommen.

„Wolltest du nicht zum Frühstück zurück sein?“ Sein Freund warf einen letzten Blick auf das Bild, dann drehte er sich um. „Und nun kommst du zur Mittagspause?“

„Der Fall ist tragischer als angenommen“, erklärte Rick.

Sam nickte. „Hab die Absperrung am Strand gesehen. Was ist denn passiert?“

„Eine Tote, schlimm zugerichtet …“

„Oh.“ Bestürzt schüttelte Sam den Kopf. „Aber du sagtest, dass es hier die niedrigste Kriminalitätsrate von New Jersey gibt, wieso …?“

Rick hob ratlos die Hände. „Ich weiß es nicht, mein Gott!“, gab er aufgebracht zurück und schob die Zähne über die Oberlippe. Schweiß stand ihm auf der Stirn. Er wischte ihn nicht weg.

„Warum musst du dich damit befassen?“, fragte Sam. „Du hast deutlich zu verstehen gegeben, dass du nicht mehr als Detective arbeiten willst.“

„Das Departement hat mich mit dem Auftrag behelligt“, erklärte Rick. „Der Fundort der Leiche liegt in meinem Bezirk, sie denken, dass ich mit dem Anliegen ex officio klarkomme.“

„Gibt es keine anderen fähigen Leute?“, fragte Sam. Die Farbpalette vibrierte in seiner Hand.

„Hier läuft das anders“, erwiderte Rick. „Ich rede mit dem Chief, auf jeden Fall, aber ich möchte nicht sofort den Anschein erwecken, dass ich dem nicht gewachsen bin. Das verstehst du hoffentlich?“

„Klar.“ Sam ließ die Schultern hängen. Er legte Palette und Pinsel beiseite, als wäre ihm das Malen für den Tag vergangen. Rick bemerkte seine emotionale Diskrepanz. Er hatte das Gefühl, sich erklären zu müssen. Wieder einmal, wie damals …

„Ich helfe den Kollegen auf die Sprünge, unterstütze sie, bis wir etwas Konkretes in der Hand haben. Danach gebe ich den Fall ab, okay?“ Er strich über Sams Rücken. „Das verspreche ich dir.“ Dieser Satz war ausgelutscht. Zu oft hatte er ihn in der Vergangenheit von sich gegeben und ebenso oft hielt er dessen Inhalt nicht ein.

Rick schlief ein, kaum dass er die Augen geschlossen hatte. Das Sandwich mit Erdnussbutter lag angebissen auf dem Teller. Nun weckte ihn eine bleierne Stimme aus dem Funkgerät. Es war Wallace, der ihm mitteilte, dass die Wasserwache für das Auslaufen bereit war. Rick kündigte sein sofortiges Erscheinen an und stand auf. Hastig stopfte er den Rest des Brotes in den Mund.

„Du wirkst gehetzt.“ Sam verweilte vor der Küchenzeile. Unaufgefordert stellte er eine Tasse Kaffee vor Rick auf den Tisch.

„Es ist nicht wie sonst …“ Oder doch? Machte er sich nicht etwas vor? Er deutete zum Fenster, auf den Strand. „Da ist ein Mensch ums Leben gekommen und wir haben keinen Schimmer, wie es passiert ist. Das war kein klassischer Mord.“

Er schluckte zu hastig. Der heiße Kaffee verbrühte die Spitze seiner Zunge.

„Vielleicht essen wir heute Abend zusammen“, entwich es Sam. Rick nickte und küsste seinen Freund zum Abschied. Anschließend fuhr er auf schnellstem Wege zum Hafen.

*

Je weiter sie hinausfuhren, desto kraftvoller rüttelte der Fahrtwind an ihren Haaren und an ihrer Kleidung. Sie spannten ein Netz und hielten mit einem Fernglas Ausschau. Auf Höhe des Fundortes der Leiche stoppte das Boot. Fünf Taucher gingen ins Wasser.

„Ich glaube nicht, dass wir was finden“, gab Rick offen zu. „Die Knochenteile können sonst wo sein.“

„Der Form halber müssen wir alles Mögliche tun, um die Gemüter zu beruhigen. Im Besonderen soll die Familie der jungen Frau nicht denken, dass wir nichts unternehmen.“

Der Chief hatte einen Gehilfen gesandt: Detective Miller. Der kam extra aus Cleveburgh und seine Begeisterung, auf die Insel Asbury degradiert worden zu sein, hielt sich in Grenzen. Auch sah er Rick schief an, als der erklärte, neu in der Stadt und mit den Gepflogenheiten der ansässigen Polizei nicht ausreichend vertraut zu sein. Gemeinsam erklommen sie das Schiff der Wasserwache. Nun standen sie an der geschlossenen Reling und spähten über das Meer. Der Wind nahm kontinuierlich zu. Die Wellen bogen sich und liefen mit einem Rauschen dem Strand entgegen. Rick war sich sicher, dass Sam sein Surfbrett nicht mehr lange unter Verschluss halten würde. Noch stand es im Keller ihres Hauses; zusammen mit Umzugskartons, die einen Teil der alten Erinnerungen beherbergten.

„Warum haben Sie Camden verlassen?“, fragte Miller, als hätte er Ricks Gedanken gelesen. Der sah den neuen Kollegen nicht an. Stattdessen blickte er durch das Fernglas. Die Taucher bildeten im Wasser eine Reihe. Engmaschig kämmten sie das Meer ab. Das Schiff folgte in mäßigem Tempo. Sie steuerten das Ufer an; den Ort, an dem die Leiche angespült worden war.

„Private Gründe“, sagte Rick knapp. Auch er behielt die Taucher im Auge.

„Sie sind jung, Mitte dreißig?“, schätzte Miller. „Kein Interesse daran, Karriere zu machen?“

Rick verneinte. „Im Gegenteil. Ich … also wir, mein Partner und ich, kamen nach Asbury Isle, um …“

Miller hörte nicht mehr zu. Er presste das Fernglas vor die Augen, streckte den freien Arm von sich. „Da, der rechte Taucher gibt uns ein Zeichen!“

Rick reagierte, indem er das Funkgerät griff und Anweisungen an den Steuermann gab. „Nähern Sie sich bitte backbord dem letzten Froschmann.“

Das Schiff neigte sich gemächlich zur Seite. Der besagte Schwimmer trieb auf der Stelle. Er hatte den Atemregler abgenommen und hielt sich mit einer Hand über Wasser.

„Was ist los, Officer? Haben Sie etwas gesehen?“ Rick beugte sich über die Reling. „Ich weiß nicht genau“, antwortete der Schwimmer. Er schrie, denn das Rauschen des Meeres und der Motor des Bootes ließen keine normale Konversation zu. Mit der freien Hand fuhr er sich über das Gesicht. Er keuchte. „Ich dachte, ich hätte etwas gesehen. Da war ein großer Schatten.“ Er lachte verlegen. „Hat mich erschreckt. Ich habe falsch geatmet.“

„Können Sie weitermachen?“, erkundigte sich Rick. Der Taucher nickte. Er hob die Hand und einen Daumen, dann setzte er das Mundstück des Atemreglers ein.

„Nichts!“ Rick wandte sich Miller zu.

„Der Wind bleibt in den nächsten Tagen bestehen“, berichtete der. „Wenn da irgendetwas im Wasser treibt, was dort nicht hingehört, wird es angespült.“

Just kam ein Officer auf sie zugeeilt. „Im Netz verfing sich ein Stück Stoff: möglicherweise ein Teil des Badeanzugs.“

Rick hätte es wissen müssen. Kaum hatte er den Dienst in der neuen Stadt angetreten, hatte er Überstunden zu machen. Er kam später als geplant nach Hause. Von einem Tag auf den anderen wurde die Idylle, die sie sich erträumt hatten, zunichtegemacht. Absprachen galten ab sofort nicht mehr als verlässlich. Er hoffte inbrünstig, dass sich daraus kein Dauerzustand entwickelte. Nicht wie damals …

Im Haus war es angenehm kühl. Die Klimaanlage lief auf Hochtouren. Rick streifte die schweren Stiefel ab, zog die Strümpfe aus und schmiss sie in den Wäschekorb, der hinter der Kellertür stand. In dem Korb lagen T-Shirts und Unterwäsche. Die Anstellung einer Putzfrau schien überfällig. Er wollte Sam nicht mit Hausarbeit behelligen. Es war nicht seine Aufgabe, ihre Wäsche zu waschen, das Haus zu reinigen, geschweige denn zu kochen. Er war sein Partner, den er respektierte und gleichwertig behandelte. Sam musste nach den vergangenen Strapazen auf die Beine kommen. Nichts zählte mehr als das.

Dafür nahm Rick Überstunden gern in Kauf. Zumindest für eine Weile, bis Gras über die Sache gewachsen war.

Die Frauenleiche, Claires unpassende Worte, die Abwesenheit von Hank – all diese Begebenheiten kursierten abwechselnd in Ricks Kopf. Seufzend rieb er sich den Nacken. Mit der freien Hand öffnete er die ersten Knöpfe seines Hemdes. Er war total verschwitzt. Normalerweise fand er Gefallen an einem Bad im Meer nach Dienstschluss. Aber heute?

Er stutzte. Auf dem Küchentisch stand eine Form mit Apfelkuchen. Durch das Verandafenster sah er Sam, der auf dem Liegestuhl ruhte. Die Staffelei war aufgebaut, doch die Leinwand, die darauf lehnte, war leer.

Rick trat ins Freie. Sam registrierte seine Anwesenheit und richtete sich auf.

„Na, endlich Feierabend?“ Es klang nicht vorwurfsvoll. Eher schwang ein Hauch von Mitleid in seiner Stimme mit. Rick winkte ab. „Frag nicht, was am Strand los ist …“

„Gibt es etwas Neues?“

Rick sackte auf einen Sessel aus Rattan. Die Beine schob er auf den Hocker. Mit der Anschaffung der noblen Gartenmöbel hatte er sich einen Traum erfüllt.

„Die Tote ist identifiziert. Die Eltern meldeten sie am Morgen als vermisst.“

„Und die restlichen Teile der Leiche?“ Sam stand auf. Er trug Shorts. Rick konnte nicht feststellen, dass die Sonne eine Bräune auf seiner Haut hinterlassen hatte. Sein Freund war blass wie ein Stadtmensch.

Er verneinte. „Wir fanden nur einen Fetzen ihres Badeanzuges, mehr nicht.“

„Das ist fürchterlich“ Sam stützte sich auf die Lehnen des Sessels, beugte sich zu Rick hinunter und gab ihm einen Kuss. Diesen Moment hatte sich Rick den ganzen langen Arbeitstag herbeigesehnt.

„Du hast wieder gebacken?“ Er zog die Stirn nachdenklich zusammen. Sam lachte und schüttelte den Kopf. „Nein, der Apfelkuchen kommt von der Nachbarin Ms. Peterson. Ein Begrüßungsgeschenk.“

Rick staunte. „Wie nett …“

„Na ja.“ Sam legte die Hände auf die Hüften. „Als ich ihr sagte, dass wir als Paar zusammenleben, war ihr eine gewisse Skepsis deutlich anzumerken.“

Rick legte den Kopf in den Nacken. „Sind hier denn alle versnobt?“

„Wir müssen umdenken“, erwiderte Sam. Er stellte sich hinter Rick, legte die Hände auf dessen Schultern ab und massierte mit den Daumen dessen Nacken. „In den Großstädten plädieren sie für Toleranz und auf dieser Insel sind wir Exoten.“

Rick drehte den Kopf. „Sind wir nicht raus aus den Zeiten, in denen Homosexuelle als Exoten galten?“

Sam seufzte. „Erklär das Hank … und der Nachbarin.“

Rick schloss die Augen. Er stöhnte. Sam hatte es drauf, die Verspannungen zu lösen und so genoss er den Druck, mit dem sein Freund die verhärteten Muskeln bearbeitete. Er entspannte, rutschte im Sessel hinunter, klappte die Oberschenkel auseinander. „Ehrlich gesagt, will ich heute nichts mehr davon hören.“

*

Trotz der Hitze fühlte er sich am nächsten Tag ausgeruht. Die Verspannungen waren wie weggeblasen. Rick fasste klarere Gedanken.

Der Apfelkuchen schmeckte auch an diesem Morgen noch vorzüglich und er nahm sich vor, bei den Nachbarn vorbeizusehen, wenn sich eine günstige Gelegenheit ergab. Am besten in Uniform. Vielleicht hinterließ das einen guten Eindruck? Ja, hatte er das nötig? Er checkte das Handy. Kein Anruf, keine SMS. Seit dem Kaffeekränzchen herrschte Funkstille zwischen ihm und Claire. Er steckte das Handy ein, bevor er das Polizei-Office der Insel betrat. Das kleine Amt stand ihm, Officer Green und Officer Wallace zur Verfügung, wenn der Weg ins Departement auf dem Festland nicht erforderlich war.

Augenblicklich ereilten ihn Stimmen und das Klingeln eines Telefons. Den freien Kopf wollte er bewahren; zumindest während der Arbeitszeit. Am Eingangsbereich hielt er an. Rick leerte sein Fach, studierte die Nachrichten, die ihm Kollegen hinterlassen hatten. Eine Notiz unterrichtete ihn darüber, sich mit dem Kriminalmediziner Dr. Bent in Verbindung zu setzen. Er stutzte und wandte sich an die Schreibkraft Trudy, die am Empfangstresen saß.

„Ist es normal, dass man die Opfer noch einmal in der Pathologie betrachtet? Bin ich weder aus New York noch Camden gewohnt.“

„Wenn Dr. Bent Sie persönlich zu sich bestellt, wird es wichtig sein“, erwiderte Trudy.

Rick seufzte. Er legte die Papiere in die Ablage zurück. „Dann bin ich jetzt eine Weile unterwegs.“

Die Fahrt mit dem Auto und der Fähre sorgte für Ablenkung. Rick entspannte, je mehr er von der Insel und dem Meer Abstand nahm. Das war verrückt! Hatten sie nicht jahrelang davon geträumt, am Wasser zu leben? Keine Wolkenkratzer, kein Smog, keine vollgestopften Straßen und heulende Sirenen im Minutentakt. Nun war er hier, doch frei fühlte er sich nicht. Nur nicht einknicken, ermahnte er sich. Du regelst die Sache und dann kehrt der Alltag ein.

Auf dem Festland, in der Pathologie von Asbury Bay, kamen ihm Erinnerungen. Er marschierte die Flure entlang und erzeugte mit den Stiefeln einen Laut, der unter den hohen Decken hallte. Der Geruch nach Desinfektionsmittel drang ihm unangenehm in die Nase. Eine Mentholsalbe war nicht zur Stelle. Die Dose mit dem geruchsübertünchendem Inhalt hatte er entsorgt, in der Hoffnung, sie nie wieder gebrauchen zu müssen.

Leichen sind von nun an passé, hatte er auf der Abschiedsfeier zu den damaligen Kollegen gutgläubig gesagt und herzlich gelacht. Der freie Job im Außendienst, als führender Deputy eines Badeortes, war genau das, was er gesucht hatte. Ohne zu zögern hatte er sich beworben. Das Vorstellungsgespräch war reine Formsache gewesen und man hatte ihn eingestellt.

In diesem Moment, in dem er durch die Gänge der Rechtsmedizin eilte, stellte er jedoch fest, dass sich rein gar nichts geändert hatte.

Er fragte sich durch, bis er vor dem Seziersaal stand und anklopfte. Dr. Bent öffnete die Schiebetür. „Schön, dass Sie es einrichten konnten“, sagte er.

„Um es klarzustellen: Ich habe zwar den höchsten Posten auf Asbury Isle, doch ich arbeite nicht mehr als Detective. Warum haben Sie nicht Miller herzitiert?“

„Nun, es ist Ihr Strand vor Asbury Isle. Es sollte Sie interessieren, was dort vor sich geht.“

Ohne Vorwarnung klappte Dr. Bent das grüne Tuch zurück, das die sterblichen Überreste bedeckte. Rick starrte auf den zerfetzten Körper der jungen Frau. Auf dem Metalltisch – frei von Sand und getrockneten Algen – sahen die Knochen fürchterlicher aus, als er in Erinnerung gehabt hatte.

Rick schluckte bewegt, er sah weg und atmete tief durch. „Wissen Sie inzwischen, was mit der Frau passiert ist?“

„Eindeutig ein Haiangriff“, gab Bent bekannt. „Eine Schiffsschraube hinterlässt keine derartigen Wunden. Der Radius der Bisswunde am Thorax ist charakteristisch.“

„Und welcher Hai ist dazu in der Lage?“

„Ein Bullenhai“, antwortete Bent; er wägte ab, „der ist eher südlich der Küste angesiedelt, von daher schließe ich einen Weißen Hai nicht aus.“

„Das ist grauenvoll“, entwich es Rick. Mit einer Hand fuhr er sich über den Mund. Noch einmal betrachtete er die Leiche.

„Nun, so ein Anblick darf Sie doch nicht aus der Bahn werfen. In Camden haben Sie es sicherlich mit übleren Verbrechen aufnehmen müssen.“

Rick schüttelte den Kopf.

„Ich vergleiche das ungern mit Machenschaften einer Straßengang, eines Serientäters oder Vergewaltigers. Da ist irgendetwas im Meer, das wir nicht einschätzen können.“

„Da gebe ich Ihnen recht. Das Gehirn eines Weißen Hais ist gegenüber der Körpergröße nicht überragend, dennoch sind es intelligente Tiere. Sie wissen, wo es was zu holen gibt.“ Bent deckte die Tote wieder ab.

„Woher wollen Sie wissen, dass dieser Fisch nicht längst weg ist? So tragisch das auch ist – Haiangriffe finden jedes Jahr vor den Küsten statt. Die Studentin war zur falschen Zeit am falschen Ort. Das Tier hat zugebissen und wird verschwunden sein.“

Bent hörte zu. Als Rick seinen Redeschwall unterbrach, hob er lehrend den Zeigefinger.

„Ich habe Sie herbestellt, weil ich Bedenken habe. Dieser Fisch ist groß und Haie dieser Größe suchen sich ein Territorium, in dem sie verharren, bis das Futter ausgeht.“

„Und warum jetzt?“, erwiderte Rick aufgebracht. „Warum ausgerechnet jetzt?“

„Haie wandern. Sie legen lange Strecken zurück. Behagt ihnen ein Ort, bleiben sie …“ Bent zog die Handschuhe von den Fingern. Er stellte sich ans Waschbecken und seifte die Hände ein. „Wenn Sie mich fragen, haben wir ein typisches Haijahr, wie 1916. Vor der Küste New Jerseys wurden damals fünf Menschen durch Haiangriffe verletzt und getötet.“

„Was meinen Sie mit ‚Haijahr‘?“, hakte Rick nach.

Dr. Bent trocknete die Hände mit einem Papierhandtuch ab. „Es ist heißer als in den letzten Jahren. Es kommen mehr Besucher zum Strand. Sie schwimmen hinaus und verweilen hier nicht nur in den Ferien. Der Sommer dauert länger an als üblich.“

„Und das zieht mehr Haie an?“, schlussfolgerte Rick. Dr. Bent nickte.

Rick starrte ins Leere. Sollte er die Warnung ernst nehmen? War es, wie Bent vermutete? Mussten sie mit weiteren Angriffen rechnen? Verstört sah er sein Gegenüber an. „Und was sollen wir Ihrer Meinung nach unternehmen?“

Dr. Bent lachte. „Das müssen Sie entscheiden. Sie sind der Polizist. Ich liefere nur die Fakten.“

3.

Rick stolperte ins Freie. Plötzlich spürte er die Hitze überall. Es war brütend heiß. Wärmer als in den letzten Jahren? Er wusste es nicht, denn es war sein erster Sommer in Asbury. Das erste Mal, seitdem sie hier wohnten, zweifelte er an dem Entschluss, hergezogen zu sein. Mit gezielten Schritten nahm er Kurs auf den Wagen, ebenso entschlossen fuhr er die Strecke zurück.

In Asbury Bay lebten nur 30.000 Einwohner, auf der dazugehörigen Insel lediglich 13.000. In den letzten Tagen schien es jedoch so, als verdoppelte sich die Anzahl durch Touristen. In den Straßen herrschte Trubel, die Fähre nach Asbury Isle war ständig überfüllt. Leicht bekleidete Menschen liefen herum. Sie lachten und ahnten nicht, welche Sorgen Rick belasteten. Als er zurück auf der Insel war und am Strand hielt, hatten die Geschäfte geöffnet. Nachdem er einen prüfenden Blick auf die Brandung und die darin schwimmenden Badegäste geworfen hatte, marschierte er zum einzigen Buchladen des Ortes.

Er studierte die hohen Regale, die unterschiedlichste Lektüre enthielten. Da er nicht fand, was er suchte, bat er eine Verkäuferin um Rat.

„Entschuldigen Sie bitte. Haben Sie Bücher über Haie?“