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Epische High Fantasy mit Helden, Schlachten, Magie und einer Romanze, die sich wie ein rotes Seidenband durch die Geschichte zieht und weder drohende Niederlagen noch selbst den Tod fürchtet.
Kardinal Shadac führt im Auftrag seines Königs ein Doppelleben. Auf der einen Seite sorgt Hochwürden für das Seelenheil im Königreich, auf der anderen ist er der finale Diplomat, der notfalls drohenden Krieg mittels eines Mords im Keim erstickt. Bis er ausgerechnet einen alten Magier unter die Erde bringen soll, in dessen Gewalt sich die vergnügungssüchtige Asmyn befindet.Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2021
Shadac
Tanja Rast
Kann Spuren von Erdnüssen enthalten!
Es gibt Inhalte, die Betroffene triggern können, das heißt, dass womöglich alte Traumata wieder an die Oberfläche geholt werden. Deswegen habe ich für diese Personen eine Liste mit möglichen Inhaltswarnungen für alle meine Romane zusammengestellt:
www.tanja-rast.de/inhaltswarnungen
Niemals hätte Asmyn gedacht, dass es so langweilig sein könnte, eine verheiratete Frau zu sein. Ihre Phantasie hatte ihr die Szenerie stets mit Bällen, viel Romantik und einem Ehemann ausgemalt, der ihr zu Füßen lag, sie mit Geschmeide und Geschenken überhäufte und sie vor allem hemmungslos anschmachtete.
Nun, das war gewesen, bevor sie sich entschlossen hatte, den Antrag von Cosmon anzunehmen. Gegen den Willen ihrer Mutter, die ihr jeden Abend in den Ohren gelegen hatte, diesen Schritt um der Götterzwillinge willen nicht zu tun. Doch Asmyn hatte den Kopf hochgetragen, einen wunderschönen Ring geschenkt bekommen und war nach der Zeremonie zu einem Dasein vollkommen unromantischer Langeweile verdammt worden.
Das Lustigste, was bislang geschehen war – und auch das Interessanteste, was Asmyn aus der Lethargie der Eintönigkeit gerissen hatte -, war jener Tag gewesen, an dem Cosmon, der senile Narr, vergessen hatte, seine Hose anzuziehen. Wenigstens trug er sie nicht als Kopfschmuck, das hätte Asmyn ihm nämlich auch allzu leicht zugetraut. Doch als er auf kalkweißen Stelzen, die mit einem blauschimmernden Netz von dicken Adern überzogen waren, in das Frühstückszimmer trat, musste Asmyn sich ganz fest auf die Zungenspitze beißen, um nicht lachend vom Stuhl zu fallen.
Die Diener verzogen ebenfalls keine Miene, was Asmyn darin bestärkte, dass die das schon lange gewohnt waren. Von allen grässlichen Ehemännern hatte sie den vollkommen Abscheulichsten erwischt. Und denjenigen, der die besten Methoden erfand, seine junge Frau sich mit jedem Tag mehr zu entfremden. Genau, das konnte auf gar keinen Fall Asmyns Schuld sein.
Ein Diener verdarb den Bruch in der Monotonie, indem er dicht an seinen Herrn trat und diesem etwas ins Ohr flüsterte, bevor Cosmon noch ganz die Frühstückstafel erreicht hatte. Die Feuerröte, die dem Alten nach etlichen Augenblicken und vielen geraunten Worten seitens des Lakaien ins Gesicht stieg, entschädigte Asmyn ein klein wenig. Nicht genug, aber immerhin.
Sie stützte den Ellenbogen auf die Tischplatte und das Kinn in die Faust, als der alte Mann hastig aus dem Raum stakste. Jedes Argument ihrer Mutter hatte Cosmon schon am ersten Tag bestätigt. Doch obwohl Asmyn romantische Ideen über eine normale Ehe hegte, hatte sie von Anfang an gewusst, dass sie nichts dergleichen bei Cosmon finden und erleben würde. Keine riesigen Rosensträuße, keine Tanzveranstaltungen und ganz bestimmt kein Feuer der Leidenschaft. Cosmon reichte es, hin und wieder Asmyns Wange zu tätscheln und töricht zu grinsen. Mit nur noch wenigen verbliebenen Zähnen, die – ihrem Anblick nach zu urteilen – sich bald an die Verfolgung ihrer verlorenen Geschwister machen würden.
Doch Cosmon besaß etwas, was kein anderer Freier um Asmyns Hand hatte bieten können. Cosmon war Magier, angeblich sehr mächtig und ungemein belesen. Zumindest Letzteres konnte stimmen, wenn er denn nur einen Bruchteil seiner gewaltigen Bibliothek studiert hatte. Asmyn lächelte. Nun, ganz genau genommen hatte sie nicht Cosmon geheiratet, sondern seine Sammlung an alten, kostbaren Büchern, auf die sie als Frau sonst niemals die Hände hätte legen können. Doch mit einem Tattergreis von Ehemann, der sie immer nur dümmlich anlächelte und nichts von dem mitbekam, was Asmyn über Tag – und auch in der Nacht – so tat, stand ihr die Welt des Wissens offen. Verbotene Bücher. Verboten zumindest für eine Frau. Denn Magie, so dachte nicht nur Cosmon, gehörte nur in die erfahrenen Hände eines Mannes. Selbst senil und mit aderblauen Beinen hielt Cosmon sich immer noch für überlegen, sein Gehirn für brauchbarer als das einer Frau.
Asmyn lächelte immer noch, während sie in ihrem Tee rührte und sich fragte, wie lange der alte Kerl wohl brauchte, um in seine Hose zu finden. Mit der Hilfe mindestens eines Dieners. Und wie lange Cosmon noch benötigte, um das Zeitliche zu segnen. Nach allem, was Asmyn bislang an Hinweisen gesammelt und Gerüchten gehört hatte, suchte die magische Gabe dann einen neuen Wirt. Möglicherweise. Andere Texte sprachen von scheuen Gaben, deren Vertrauen der neue Inhaber erst gewinnen musste. Asmyn behauptete, sehr geduldig sein zu können. Außerdem war sie ja keine Wildfremde für Cosmons Gabe. Doch wäre alles einfacher, wenn Asmyn sicher wüsste, was im Todesfall eines Magieträgers wirklich geschehen würde. Die Bücher widersprachen sich zum Teil, als hätten ihre Autoren nicht mehr Ahnung besessen als die suchende Asmyn. Eines aber wusste sie sicher: Sie hatte nicht vor, einen anderen Mann in der Nähe zu dulden, wenn Cosmon sein Dasein aushauchte. Gesetzt den Fall, dass die Gabe wirklich auf die Suche ging, würde sie nur einen einzigen Menschen in der Nähe finden: Asmyn von Katalas.
Doch bis es so weit war, gab es die Bücher. Seitenweise knisterndes Pergament in lederner Hülle. Fein ziselierte Verschlüsse, geprägte Verzierungen und Titelei auf den Buchrücken. Winzige Buchstaben in roter und schwarzer Tinte, schnurgerade Zeilen und schwungvoll ausgeführte Anfangsbuchstaben auf jedem Seitenbeginn. Und Wissen, von dem Asmyn das Gefühl hatte, das es direkt aus dem dicken Folianten in sie hereinströmte, sie begreifen ließ, was es mit der Magie auf sich hatte.
Cosmon besaß Feuermagie. Eine relativ häufige Gabe. Es gab Seltenere, und so gerne Asmyn sich auch im Besitz des Feuers wüsste, lechzte sie doch nach mehr, nach anderem, das ungewöhnlicher war.
Mit allem Anschein von Geduld und ehefraulicher Tugend und sich der Gegenwart zweier Diener nur zu bewusst trank sie ihren Tee und wartete auf die Rückkehr ihres Gatten. Spätestens, wenn Cosmon sich wieder in seinem Arbeitszimmer verschanzte, konnte Asmyn zu dem Buch zurückkehren, das sie in der Kommode unter ihren Socken versteckt hatte. Zuerst hatte sie erwogen, den dicken Band unter Unterwäsche zu verbergen, doch das war ihr zu riskant erschienen, obwohl Cosmon keinerlei fleischliche Gelüste mehr zu hegen schien. Die Götterbrüder mochten wissen, wie der Kerl sich vielleicht doch irgendwie zu erregen versuchte. Socken waren sicherer.
Lesen, Lernen, wichtige Passagen in ein eigenes kleines Buch kopieren. Asmyn begriff mit jedem Tag mehr von den Wundern der Magiegabe. Was sie durchaus mit einer gewissen Bitterkeit füllte, dass all dies voller Selbstverständlichkeit alleine den Männern vorbehalten blieb. Doch nicht mehr lange, denn es gab mehr Frauen wie Asmyn. Sie lächelte ihr Rosinenbrötchen versonnen an, das klein und einsam auf dem Teller lag. Asmyn wollte nicht dumm und fügsam wie ihre Mutter werden. Auf gar keinen Fall.
Ein Klopfen, beharrlich doch leise erreichte Shadacs schlummerndes Hirn und brachte ihn dazu, müde den Kopf zu heben. Weiße Laken raschelten, und neben Shadac stöhnte jemand tief und kehlig. Er versuchte, einen Überblick zu erhalten, gab es jedoch rasch auf, denn erneut erklang das Pochen an der dicken Holztür. Außerdem hatte er keine Ahnung, wer die dunkelhaarige Schöne an seiner Seite war. Er schob behutsam einen wohlgeformten Unterschenkel von seinem, drehte sich halb und betrachtete mit einigem Erstaunen die zweite Frau, die platt auf dem Bauch lag und leise in das Kopfkissen schnarchte.
Das Bett unter scharlachroter Himmelbespannung aus Samt war gewiss breit genug. Trotzdem runzelte Shadac in Verwunderung über sich selbst die Stirn, als er neben der Dunkelhaarigen die Konturen eines dritten Frauenkörpers unter den Decken ausmachte. Kurzerhand wählte er die kürzeste Route über das Fußende des Betts, kam leichtfüßig auf dem hochglanzpolierten Holzboden auf und nahm sich nicht die Zeit, nach Kleidung, seiner Robe oder auch nur einer Hose zu suchen, denn der Weg zur Tür war gepflastert mit hastig abgeworfenem Stoff. Das meiste weiblichen Ursprungs.
Noch einmal das Klopfen, das so drängend klang und trotzdem von der Diskretion des Mannes vor der Tür sprach. Shadac kannte nur einen Menschen, der solcherart um Aufmerksamkeit bitten konnte. Er riss die Pforte auf und fand sich erwartungsgemäß Auge in Auge mit Desin. Und nur mit diesem, was gut war. Der Flur stand schon in klares Morgenlicht getaucht, während das hinter Shadac liegende Schlafzimmer von vielen Vorhängen in Dämmerlicht gehalten wurde.
»Wie spät ist es?«, fragte Shadac.
»Die neunte Stunde ist angebrochen, Leutnant.«
»Ich bin mir beinahe sicher, dass ich darum bat, heute ausschlafen zu dürfen. Die gestrige Feierlichkeit fordert ihren Tribut. Was ist los, Desin?«
Eine cremefarbene Rolle aus dickem Papier, darauf in leuchtendem Goldschimmer das Siegel des Königshauses streckte Desin als Erklärung vor.
Shadac entriss dem Diener das Schreiben, und Desin tauchte an ihm vorbei ins Schlafzimmer, während Shadac das Siegel aufbrach und das schwere Papier entrollte. Er entzifferte mit halb zusammengekniffenen Augen die übertrieben schwungvolle Handschrift, die sich mit zu vielen Schnörkeln in Wichtigtuerei erging. Dann spürte er Stoff auf den Schultern, als Desin zumindest den Versuch unternahm, Shadacs Blöße im Eingang zu einem zugigen Flur ein wenig zu bedecken und seinen Herrn irgendwie in eine Robe zu hüllen, ohne ihn beim Lesen zu stören.
»Audienz beim Kanzler«, sagte Shadac knapp.
»Ich lasse die Garde antreten.«
»Noch nicht. Ich will ein Bad und frische Kleidung. Solange mir der Geruch einer offenbar ziemlich wilden Nacht anhaftet, trete ich bestimmt nicht vor den Bruder unseres Königs.«
»Das verstehe ich, Leutnant.«
Shadac rollte das Schreiben wieder fest auf, zerrte nun seinerseits die Robe über die Arme und zog den dicken Stoff vorne zusammen. »Du wirst die Damen aus meinen Gemächern geleiten, während ich weg bin.«
»Natürlich, Leutnant.«
»Desin?«
»Entschuldigung. Kardinal.«
Shadac legte dem kleineren Mann die Hand auf die Schulter – behutsam, denn Desins Glanztage lagen weit in der Vergangenheit. »Wenn jemand mich Leutnant nennen darf, bist du es, Desin. Aber nur, wenn wir alleine sind.«
»Ich weiß. Lange und dumme Angewohnheit, Shadac. Aber ich hüte meine Zunge.«
Shadac nickte zufrieden und machte sich auf den Weg zum Badezimmer. Einer der schönsten Räume im Turmbau neben dem Tempel der Zwillingsgötter. Das Schlafgemach mochte luxuriös und wundervoll sein, doch selbst das breite Bett konnte Shadac nicht so sehr reizen wie ein heißes Bad, nachdem aus zischenden und knarrenden Wasserleitungen zuerst nur Dampf austrat, bevor sehr heißes Wasser sich in die Wanne ergoss, die bunten Fensterscheiben umgehend beschlagen ließ und erst nach Zugabe von viel kaltem Wasser aus dem zweiten Rohrsystem ein Bad möglich war. Luxus, den Shadac jahrelang entbehrt hatte, an den er sich in kürzester Zeit gewöhnt hatte, den er niemals wieder missen wollte.
Auch wenn das Schreiben des Kanzlers sehr wohl genau das bedeuten konnte. Etwas zog sich kalt in Shadacs Magengrube zusammen, während er die Robe ein weiteres Mal von sich warf und sie achtlos auf den Boden fallen ließ. Der Geruch nach Schweiß und schwerem Parfumöl haftete auf der Haut, überlagerte beinahe selbst den allgegenwärtigen Geruch der Räucherharze, die zum Wohlbehagen der Götter überall auf der Insel verbrannt wurden.
Shadac öffnete den Wasserhahn, wartete auf die erste Dampfwolke, der nur einen Wimpernschlag später die heiße Flut folgte und das ganze Zimmer in einen weißen Nebel hüllte, der einfach nur sauber und frisch duftete. Tief atmete Shadac ein, versuchte, das eisige Gefühl in seinen Eingeweiden durch den heißen Dampf zu vertreiben, und öffnete auch den zweiten Hahn, aus dem klares, kaltes Wasser sprudelte. Mit geschlossenen Augen wartete Shadac neben der Wanne, lauschte auf die Geräusche des rauschenden Nasses, die sich langsam veränderten, je höher der Pegel stieg. Langsam streckte Shadac die Hand aus, tauchte sie in die Fluten und glitt in das Bad, während immer noch Nachschub aus den beiden Hähnen floss. Wohlige Wärme umgab ihn, lockerte seine Muskeln und löste den kalten Knoten ein wenig. Nicht vollkommen. Denn niemals riefen Kanzler oder König nach dem obersten Diener der Götter, wenn sie nicht eine schwierige oder gar widerwärtige Aufgabe auf silbernem Tablett zu reichen gedachten.
Alles hatte seinen Preis, dachte Shadac bitter. Und er selbst konnte sich nur als käuflich bezeichnen. Der Geschmack von Galle wollte aufsteigen, und Shadac riss die Augen auf und setzte sich hastig auf. Ein tiefer Atemzug vertrieb die Schwäche, und obwohl erneut Kälte tief im Magen nistete, ging es nun besser. Seife, um den Geruch der Frauen zu vertreiben. Frische Kleidung. Ein Marsch über die Königsbrücke, um die Stadthälfte zu erreichen, in dem der Palast lag. Keine Sänfte, keine Kutsche, erst recht kein Reittier. Nicht für den Kardinal von der Götterinsel.
Er wusch sich gründlich und tauchte schließlich im warmen Wasser unter, um den letzten Schaum abzuspülen. Solange er die Luft anhalten konnte, blieb Shadac unter Wasser, spürte die Reinheit, die der Widerwärtigkeit der königlichen Pläne weichen musste. Er setzte sich auf, schnappte nach Luft und wischte Wasser aus Gesicht und Haaren. So fühlte er sich einigermaßen gewappnet. Käuflich wie eine Dirne in den schmutzigen Straßen entlang der Hafenanlagen. Nun, es gab Schlimmeres, und Shadac hatte es erlebt und vor allem überlebt. Was man von vielen anderen aus seiner Truppe nicht sagen konnte.
Er stieg aus der Wanne und entdeckte wie gewohnt auf der Truhe neben der Tür viel roten Stoff. Desin war offenkundig lautlos wie immer eingetreten und hatte für frische Wäsche gesorgt. Dass ein alter, hinkender Soldat so leise sein konnte, verblüffte Shadac immer wieder. Aber angenehm, so wie Desins Gegenwart auf der Götterinsel ihm wohl tat.
Er trocknete sich ab und versuchte, klare Erinnerungen an die Feierlichkeiten des Vorabends aus Gedankenfetzen an warme Haut und überwältigenden Parfumduft zu schälen. Drei Frauen in seinem Bett, und er hatte keine Ahnung, wie er mit ihnen dort gelandet sein konnte.
Ein Thronjubiläum, meinte er, sich erinnern zu können. Eine Feier, die im Palast begann und vor Mitternacht in den Tempel umzog, um noch vor dem Tageswechsel den Segen der Götter zu erbitten und dann gnadenlos die Vorratskammern der Götterinsel zu plündern. Shadac hasste solche Festlichkeiten. Zu sehr erinnerten sie ihn an die Siegesfeiern, obwohl es bei denen doch wirklich nichts zu bejubeln gab. Hunderte, Tausende tot, und die Überlebenden feierten keinen Sieg, sondern das eigene Entkommen aus dem Feuerschein des Krieges, suchten Vergessen in Wein, Bier und Völlerei, um sich nicht länger an die starren Augen ihrer getöteten Kameraden erinnern zu müssen.
Doch Shadac entsann sich der leichenstarren Gesichter. Nicht nur die der Gefallenen, sondern vor allem jener, die zwischen zwei Heeren zermalmt worden waren. Landbevölkerung, Priester, Frauen, Kinder. Und er wusste, dass eine Frau sich glücklich schätzen konnte, wenn sie durch das Schwert fiel, statt als Truppenhure einige Zeit mitgeschleift zu werden.
Er schluckte hart, warf das Handtuch von sich und beeilte sich, in die kostbaren Kleider zu kommen, die Desin ihm hingelegt hatte. Silberstickerei auf roter Seide. Eine Audienz beim Kanzler schrie danach, dass der Kardinal in aller verfügbaren Pracht erschien, und niemand wusste das besser als Desin. Wie ein Kindermädchen spielte er sich auf, doch hielt er sich stets still im Hintergrund und war einfach zur Stelle, falls Shadac seine Unterstützung benötigte.
Seide und Leinen raschelten leise, schmiegten sich an Shadacs vom Bad erhitzte Haut, brachten Kühle und Frische mit sich, errichteten einen Schutzwall zwischen dem Kardinal und den Erinnerungen eines Leutnants.
Rot wie frisch vergossenes Blut, doch selbst das störte Shadac nicht mehr. Er schnürte die Stiefel zu, den Fuß auf die Truhe gestützt, strich über Hemd und Hose und warf sich dann die lange, vorne von Kragen bis Saum geknöpfte Robe über die Schultern.
Als hätte er nur auf das Geräusch von flatterndem Stoff gewartet, trat Desin lautlos ein, stellte ein Tablett mit einem Becher auf die Truhe, öffnete Fenster, um die warmen Dunstschwaden zu vertreiben, und kniete dann vor Shadac nieder, um am unteren Saum beginnend winzige, allzu zahlreiche Perlmuttknöpfe zu schließen.
Shadac wartete geduldig, bis Desins knorrige Finger die Reihe beendet hatten und behutsam den pelzverbrämten Kragen der Robe richteten. Dann streckte er dem Diener die Handgelenke hin, wo ebenfalls noch jeweils zehn kleine Knöpfe darauf warteten, den eng anliegenden Unterärmel fest zu schließen, während Seide zügellos in langen Ärmelüberwürfen zu Boden floss.
»Was ist gestern auf dieser Feierlichkeit geschehen?«, fragte Shadac leise.
Desin blickte fragend von den kleinen Knöpfen auf.
Tief atmete Shadac durch. »Ich lande nicht allzu oft mit drei Frauen in meinem Bett, ohne die geringste Erinnerung auch nur an ihre Namen zu haben, Desin. Und ich trinke keinesfalls so viel, dass ein Rausch als Begründung für meine Erinnerungslücke herhalten kann.« Außerdem fühlte er sich keineswegs wie nach einer durchzechten Nacht. Keine Kopfschmerzen, keine Übelkeit außer der nistenden Kälte in seinem Magen, und wo die herkam, ahnte Shadac ja schon.
»Es war ein ziemlich wildes Fest.«
»Trotzdem!«
»Du hast die Kinder fortgeschickt, bevor es zu hoch hergehen konnte.«
»Wenigstens das.«
»Aber du erschienst mir ein wenig benommen, als du mit den Damen abzogst.«
Shadac starrte Desin fassungslos an und schüttelte schließlich schwach den Kopf.
Der Diener konzentrierte sich wieder vollkommen auf die kleinen Knöpfe und fuhr leise fort: »Vorher hatte der Kanzler dich beiseite genommen. Erinnerst du dich daran?«
»Nein, auch nicht. Doch … ein wenig. Kann es sein, dass er das heutige Schreiben angekündigt hat?«
Desin hob zwei Ledermanschetten von der Truhe. Breit genug, Shadacs Unterarme komfortabel zu umschließen, jedes Lederband mit einer Scheide besetzt, aus der beinahe zierlich das Heft eines schmalen Dolchs herausragte. Fragend sah Desin seinen Herrn an.
Shadac schüttelte den Kopf. »Die brauche ich im Palast nicht. Außerdem steht draußen meine Garde. Beantworte meine Frage, Desin, bitte.«
»Ich befand mich nicht in Hörweite. Seine Leibwache gestattete es nicht.«
Fest presste Shadac die Lippen zusammen. Es stellte schon eine gewisse Beleidigung dar, dass der Kanzler seine Wächter mit auf die Götterinsel gebracht hatte. Wenn es irgendwo sicher war, dann im Tempel und den angrenzenden Hallen. Nicht umsonst ragten die Bauwerke auf einer Insel mitten im Strom auf, erreichbar nur durch die Königsbrücke zur Alten Stadt und Bauernbrücke zur zweiten Stadthälfte. So verbanden sie die rechts und links des breiten Flusses wuchernde Stadt mit ihrem Herzstück und den ältesten Bauten, der Keimzelle der Hauptstadt. Die Götterinsel besaß eigene Wächter, und Shadac hielt diese handverlesenen Männer für erheblich zuverlässiger als alles, was der Palast aufbieten konnte.
»Aber nun gehst du zu ihm, Leutnant, und findest mehr heraus, nicht wahr?« Desin hatte die Knöpfe besiegt und schüttelte liebevoll den Umhang aus, der über der Robe mit drei Schulterstücken, einer Kapuze, noch mehr Pelz und einer fast drei Ellen langen Schleppe aufwarten sollte.
Shadac hielt still, während Desin ihm das voluminöse Kleidungsstück anlegte, liebevoll die Falten der Schulterstücke zurechtrückte und die beiden großen Spangen schloss, die den Umhang mit der Robe verbanden und alles an ihrem Platz hielten.
»Es regnet. Ich habe Baldachinträger gerufen. Die Garde steht bereit, Leutnant.«
Shadac nickte, zog die Kapuze über den Kopf und schüttelte die flatternden Ärmel aus. Er atmete tief durch, ließ sich von Desin die Türen aufhalten und schritt durch den Turm, Treppenstufen hinab auf den Platz zu Füßen des Tempels, wo Garde, Baldachin und zwei Dutzend Tempelkinder mit Räuchergefäßen an langen Ketten ihn schon erwarteten.
Würzig und süß umwogte Rauch Shadac. Kein Vergleich zu dem rußigen Qualm auf Schlachtfeldern oder von brennenden Häusern. Ein Gruß an die Götter, die über die Insel, die Stadt und das Reich wachten. Wenn man derlei Dinge glaubte.
Shadac tat das schon seit fast genau sechs Jahren nicht mehr.
Donner ließ das kleine Herrenhaus erzittern, bis Staub aus den Deckenbalken rieselte und Glas in Schränken nicht nur zart aneinander klirrte, sondern zu Scherben zerbrach.
Ein Mann schrie auf dem Flur vor Asmyns Gemach, dann stampften schwere Stiefel über die Steinplatten des Ganges.
Asmyn blickte sich unruhig um, ballte die Hände zu Fäusten und rannte zur Kommode, um Socken beiseitezuschaffen, um die darunter getarnten Bücher – zwei aus Cosmons Sammlung sowie ihr eigenes – hervor zu zerren. Sie konnte nicht klar denken, keinen einzigen vernünftigen Satz im Geist finden, doch alles in ihr trieb sie zur Eile an. Sie erstarrte beinahe, als draußen noch ein Schrei erklang, dem ein ominöses, dumpfes Geräusch vorangegangen war. Als wäre … Nein, das war unmöglich!
Und doch stopfte Asmyn alle drei Bücher in eine große Umhängetasche, füllte die Hohlräume mit Socken auf, obwohl sie am ganzen Körper zitterte. Sie hatte davon gehört, sagte sie sich in einer sinnlosen Litanei auf, ohne zu begreifen, wovon sie gehört hatte.
Die Tür zum Flur flog auf, krachte mit einem harten Knall gegen die Wand. Niemand hatte angeklopft.
Asmyn sprang auf die Füße, verbarg die Tasche hinter sich, den Riemen fest umklammert, die Finger schweißnass. Doch es war nicht Cosmon, der vor ihr stand und ihren Zugriff auf seine Bibliothek bemerkt hatte. Kein Rudel von anderen, fremden Magiern, die die junge Frau ihres Kollegen durchschaut hatten, bevor der senile Greis auch nur den Schimmer einer Ahnung entwickeln konnte.
Vor Asmyn standen drei Bewaffnete in dunklen Rüstungen, als hätten sie den Stahl mit Asche und Ruß geschwärzt. Einer von ihnen hielt ein blutiges Schwert in der Hand. Von der Klinge fiel langsam – und Asmyn hatte in ihrer Panik nur dafür Augen – ein dunkelroter Tropfen auf den Teppich und zerplatzte dort wie eine reife Frucht.
Hexenjäger!
Ein Gedanke, der wie ein blutbeschmierter Rabe von einem Stück Aas aufstob, Dreck aus dem klebrigen Gefieder spritzte bei dem Versuch, Höhe zu gewinnen.
Asmyn wich keuchend einen Schritt zurück, stolperte über die Tasche, rang um ihr Gleichgewicht und verlor schmählich gegen Bücher, lange Röcke und die Schwerkraft. Die Männer sprangen vorwärts, und Asmyn schrie vor Angst auf, hoffte wider jegliche Vernunft auf Cosmon, der wie ein Geist der Rache hinter den drei Hexenjägern im Türrahmen erscheinen und diese mittels Feuerlohen erledigen würde. Doch Cosmon würde sich schaudernd von seiner jungen Frau abwenden, wenn er ahnte, zu welchem Zweck er geheiratet worden war. Was Asmyn schon alles an geheimem Wissen gestohlen und zu ihren Schwestern geschafft hatte.
»Halt die Klappe, Kleine. Dir geschieht nichts, wenn der alte Trottel brav ist.«
Der Schrei blieb Asmyn in der Kehle stecken. Zwinkernd blickte sie in das von einem Helmvisier halb verborgene Gesicht, das nur aus Stahl und Bart zu bestehen schien. Starke Hände packten ihre Oberarme und zerrten an ihr, stellten sie auf die Füße. Den Riemen der Tasche ließ Asmyn nicht los, trotz Verwirrung und Angst hämmerte der Gedanke unablässig in ihr, dass sie ihren Schatz zu schützen hatte – komme, was da wolle!
Die Tasche polterte hinter Asmyn über den Boden, das Geräusch durch den Teppich nur leicht gemindert, als zwei der fremden Bewaffneten sie in die Mitte nahmen und mit sich zerrten. Asmyns Füße berührten kaum den Boden. Noch nie hatte sie sich so hilflos gefühlt. Langsam sickerten die Worte des Soldaten in ihren Verstand, der sich wie eine Ratte in einem engen Loch in Panik im Kreis drehte und in alles biss, was er zu packen bekommen konnte.
Ihr sollte nichts geschehen. Und Cosmon war ein alter Trottel.
Zwei Sätze, die ganz und gar nicht zu Hexenjägern passten. Zumindest nicht zu jenen Gestalten des Grauens, als die Asmyns Phantasie sie sich ausgemalt hatte.
Sie wagte eine Frage, die so leise über ihre Lippen kam, dass Asmyn sich beinahe schämte, überhaupt den Mund geöffnet zu haben. »Was geschieht nun mit mir?«
Der Mann lächelte, was ihm eine ungemein raubtierhafte Ausstrahlung verlieh. Sein Blick heftete sich bei der Antwort fest auf Asmyns vor Aufregung und Angst wild wogenden Ausschnitt. »Hängt von dir ab, Kleines. Und vom Trottel natürlich. Für das Erste bist du Gast meines Herrn.« Er wandte den Kopf. »Was schleppst du da?«
»Meins«, brachte sie atemlos hervor und erwog, die Luft anzuhalten, damit ihre Oberweite zur Ruhe kam und nicht länger so hungrige Blicke auf sich zog. Mit einem Mal fühlte Asmyn sich noch viel kleiner und jünger, als sie es ohnehin schon war. Gänsehaut überzog mit winzigen, eisgefüllten Pickeln ihre Beine und kroch ihr über die Bauchdecke, wo die Kälte mit spinnwebzarten Fingern um sich und höher tastete.
Auf dem Flur lag ein Toter. Einer der Diener. Lang ausgestreckt und in einer Blutlache, die sich in den Fugen zwischen den Steinquadern munter verzweigte und nach der anderen Wand hangelte.
Asmyn stieß einen leisen Schrei aus und leistete nun zum ersten Mal Gegenwehr.
»Verdammt!«
Der Trageriemen der Tasche wurde ihr vom dritten Mann entrissen. Ein Fingernagel knickte dabei um und jagte heißen Schmerz durch Finger, Hand und bis hoch zum Ellenbogen. Tränen traten in Asmyns Augen, und sie zwinkerte heftig, um dieses beschämende Zeugnis der Schwäche außer Sicht zu schaffen. Leider bewirkte sie damit nur, dass eine Wasserperle über ihre Wange rann und deutlich Aufmerksamkeit auf sich zu lenken versuchte. Die Nase schwoll natürlich auch prompt zu und bereitete sich solcherart auf einen Weinkrampf vor.
Die Männer hoben Asmyn höher, als wollten sie sie allen Ernstes über das sich verzweigende Blut hinüber und am Erschlagenen vorbei tragen.
Röcke und vor allem viele Unterröcke raschelten, als Asmyn Schwung holte und die Spitze ihres hochhackigen Schuhs gegen ein gegnerisches Knie hämmerte. Der Mann knickte im misshandelten Gelenk ein und stöhnte. Sein Griff lockerte sich, und bevor sie halb zu Boden stürzen konnte, keilte Asmyn wie eine zickige Kuh aus und schlug einen Absatz gegen das Bein des anderen Soldaten. Leider bewies dieser, aus festerem Holz geschnitzt zu sein, denn er beutelte Asmyn grob und packte ihren Oberarm dabei so fest, dass ihre Fingerspitzen kalt wurden dank des unmenschlichen Drucks.
»Halt still und sei nicht dumm, Weib!«
Asmyn befand, dass Weib gegenüber Kleines und einem lüsternen Blick in ihren Ausschnitt eine Verbesserung darstellte. Außerdem hatte man ihr die Taschenriemen entrissen, der Griff des Leidenden mit dem Knie hatte sich ausreichend gelockert, und so unternahm sie den trotzigen Versuch, den zweiten Häscher zu ohrfeigen.
Leider verfügte der Kerl über gute Reflexe und gewaltige Muskelkraft. Seine freie Hand fing mühelos den nahenden Schlag ab, und die andere grub sich so fest in Asmyns Oberarm, dass der Knochen ebenso leise stöhnte wie seine Besitzerin. Schwarze Flecken tanzten vor Asmyns Augen wegen der Pein, und hätte der Soldat sie nicht so furchtbar festgehalten, wäre sie wohl tatsächlich zu Boden gesunken. Von wo aus sie ihm gegen das Schienbein hätte treten können, falls ihre Röcke ihr das gestattet und die drohende Ohnmacht sich noch ein wenig Zeit gelassen hätte, Asmyn in einen dunklen Abgrund zu ziehen.
Leider tat die Besinnungslosigkeit Asmyn keinerlei Gefallen, und so spürte sie, wie alle Muskeln schlaff wurden und sie tatsächlich schwer im Griff des Bewaffneten zusammensank. Bevor sie ganz in Schwärze fallen konnte, fühlte sie noch, wie Blut sich in die weißen Spitzensäume ihrer Röcke sog. Übelkeit versuchte, sich breitzumachen, wurde von der Ohnmacht aber ebenso besiegt wie Asmyns heroisch aufgeflackerter Kampfgeist.
Vorweg eilte eine Gruppe kleinerer Kinder, die emsig mit Reisigbesen dafür sorgten, dass kein feiner Lederschuh der folgenden Prozession durch Unrat beschmutzt wurde.
Es regnete nicht mehr, aber der bleigraue Herbsthimmel ließ feinen Niesel auf die Stadt herabgehen. Trotzdem säumten etliche Bürger die Straße, die die Prozession nahm. Shadac hatte fröstelnd die Kapuze tief ins Gesicht gezogen und konnte aus diesem Schatten heraus seine Umgebung genau im Auge behalten. Kinder in Rot und Creme gekleidet, die die Räuchergefäße schwenkten, die kleineren vorne mit ihren Besen, die hochgewachsenen Gestalten der Garde, die vier Baldachinträger. Und hinter den Reihen von Rot und Creme die Kaufleute, Handwerker und übrigen Stadtbewohner, die sich in den Regenschutz der vorragenden Häuserfronten gestellt hatten – auch um Platz für den kardinalen Zug zu machen. Gesichter, in denen etwas leuchtete, was vielleicht über Verehrung des obersten Götterdieners hinausging. Was möglicherweise Zuneigung war.
Er wusste es nicht. So wie diese einfachen Leute und auch die übrigen Prozessionsmitglieder nicht ahnten, was ihr Kardinal mitunter zu tun gezwungen war, wenn er sich auf diplomatische Mission oder gar auf einen geheimen Auftrag im Auftrag des Palastes begab. Sie sollten es nie erfahren, denn Shadac ahnte, dass das hoffnungsvolle Glänzen in ihren Blicken stumpf werden würde. Er schloss die Augen, folgte der Wegstrecke für einen Herzschlag, zwei, drei, mit allen anderen Sinnen, wollte die Bürger der Stadt ausschließen und wusste doch, er konnte es nicht.
So hatten sie ihn und seinesgleichen angestarrt, wenn sie unter königlichem Banner in eine Schlacht gezogen waren, um die Heimat vor Eindringlingen zu verteidigen. Hoffnung und Glaube, die Fundamente, auf denen alles aufbaute. Der Segen der Zwillingsgötter, deren Insel und vor allem Tempel im Herzen der Stadt lagen, durch die beiden Arme des Stroms von der normalen Welt getrennt. Der Tempel war das Heim der Zwillinge, wie es hieß, von ihnen selbst erbaut und in schwindelerregende Höhen getrieben, mit der Kuppel gekrönt. Eine Heimstatt auf der Welt der Menschen, ein Versprechen, dass Kaladien und Tenenoch über ihre Gläubigen wachten. Der Kardinal ihr Mittler und Stellvertreter.
Der Gedanke schmeckte nach Asche. Noch als Soldat hatte Shadac verzweifelt geglaubt, gehofft, obwohl jeder Verlust, jeder Kampf ihn mehr belehrt hatte, dass es keine gnädigen Götter gab. Schon gar nicht welche, die über die Menschen wachten. Doch jener Tag am Tempel der beiden Felszinnen hatte allen Rest Glauben zerstört. Hoffnung hatte Shadac schon lange nicht mehr verspürt. Umso mehr kam es ihm wie Hohn vor, dass ausgerechnet er nun in scharlachroter Seide, sauber, satt und mit allem weltlichen Zierrat geputzt unter dem Baldachin dahin schritt und Glaube und Hoffnung in jedem Gesicht lesen musste.
Der Stellvertreter der Zwillinge. Der Mittler zu Kaladiens Ohr, der Bote für Tenenoch, die seinen Worten lauschten und helfend eingriffen. Einer jungen Mutter in Wehen zur Hilfe eilend. Einem alten Kaufmann zur Seite stehend, wenn Räuber in seinen Laden eindrangen. Weisheit in die Köpfe von König, Kronrat und Kanzler pflanzend. Den Kardinal schützend und behütend, weil nur seine Stimme stets klar zu ihnen drang, weil er ihren Tempel erhielt und die Gottesdienste verrichtete.
Es sei denn, er befand sich gerade in einem zugigen Zelt, um diplomatischen Verhandlungen das kleine Bisschen mehr Nachdruck zu verleihen, wie anscheinend nur er das vermochte, weswegen der König ihn zum Herrn der Götterinsel berufen hatte.
Saubere Kleidung, genug heißes Wasser, um gegen den Gestank der Vergangenheit ankämpfen zu können, warme Mahlzeiten, ein geregelter Tagesablauf und … Sicherheit, Geborgenheit. Im Austausch gegen Shadacs Fähigkeiten als finaler Diplomat und Friedensschützer. Wenigstens das Letzte stimmte, auch wenn Shadac schon seit Langem fand, dass sein Kampf um Frieden ihn zur Hure des Palastes machte. Eigentlich sollten Kaladien und Tenenoch sich redlich Mühe geben, den beschmutzten Kardinal aus ihrem Heiligtum zu vertreiben. Oft war Shadac nachts schweißgebadet aus Albträumen erwacht, in denen die Zwillinge genau das getan hatten. Tenenoch schmetterte einen Blitzschlag zur Erde, kaum dass Shadac vor den Hochaltar im inneren Allerheiligsten trat. Unter seinen Füßen in rotem Leder öffnete sich der Boden, von Kaladien in höchster Wut über den Frevel in einen Abgrund aufgerissen.
Doch vier Jahre war Shadac nun schon Kardinal, und die verzweifelte Leere im Tempel flüsterte ihm Abscheuliches zu: Kaladien und Tenenoch gab es nicht. Vielleicht hatte es sie nie gegeben. Möglicherweise hatten sie sich von der Stadt und der Götterinsel auch nur abgewandt. Doch im Hochaltar herrschten Stille und Leere – keine Göttlichkeit.
Der Palast kam in Sicht, und Shadac atmete auf. Wohin auch immer der Kanzler ihn dieses Mal entsenden würde, es sorgte für Frieden, dafür, dass Kinder aufwachsen konnten, ohne dass der Vater ihnen entrissen wurde.
Shadacs Blick flatterte zur Seite, verborgen im Schatten der Kapuze. Doch mochte auch niemand erkennen, wohin er blickte, so sah er doch, was am Straßenrand kauerte. Klein, durchnässt und zitternd. Die Augen riesig vor Hunger.
Der Zug kam zu einem plötzlichen Halt, als sein Mittelpunkt zur Seite trat, auf die beiden kleinen Kinder zu, deren dunkle Augen sich noch weiteten, als in leise raschelnder Seide ausgerechnet der Kardinal auf sie zuhielt. Doch die Kinder rannten nicht erschreckt davon, sondern drängten sich dichter aneinander.
Aus einer Tasche des Umhangs zog Shadac zwei blutrote, dicke Wollzöpfe. Klein genug, um in einer Kinderhand geborgen werden zu können. Wertlos, um keinen Erwachsenen dazu zu verleiten, die Kinder um den roten Faden zu erleichtern. Langsam beugte Shadac sich vor, reichte jedem Kind einen der Zöpfe und sagte leise und betont ruhig – zu Freundlichkeit fehlte ihm schlichtweg die Kraft, zumal die Eiseskälte in seine Eingeweide zurückgekehrt war: »Ihr geht zum Tempel. Man wird euch dort einlassen. Es gibt eine warme Mahlzeit, ein sauberes Bett. Morgen sehen wir weiter. Geht.« Er richtete sich wieder auf, fühlte die volle Gewalt des ehrfürchtigen Starrens, sah das Lächeln im schmalen Gesicht des Mädchens und kam sich töricht wie immer vor. Er besaß keine Weisheit, und das Wenige, das er Gutes tun konnte, wog für ihn immer noch nicht den Schlachtenlärm auf. Aber er nickte den Kindern zu, die ihre bunte Wolle mit kleinen Fäusten umklammerten, kehrte zurück unter den schützenden Baldachin, und der Zug setzte sich erneut in Richtung des Palastes in Bewegung.
Dort wartete der Kanzler, Bruder des Königs, mit einer Aufgabe, die er vielleicht schon am Vorabend angedeutet hatte. Noch immer besaß Shadac nur sehr flüchtige Erinnerungen an die Feierlichkeit. Er konnte sich beim besten Willen nicht erinnern, wie er mit den drei Frauen im Bett gelandet war. Was sie gemeinsam getan oder auch nicht getan hatten. Nur der klebrig süße Duft nach Frauenschweiß und Parfumöl, der Shadacs Haut angehaftet hatte, stand klar in seinem Gedächtnis. Doch das war am Morgen nach dem Fest gewesen – vor gut anderthalb Stunden.
Grau und gewaltig ragte die Schutzmauer des Palastes vor den Kindern mit den Besen auf. Das Torkastell beinahe so hoch wie dasjenige, das Zugang zur Götterinsel gewährte – oder auch nicht. Zumindest die beiden Kinder würden sofort eingelassen werden, auch ohne rote Wollfäden würde kein Wächter der Insel es wagen, ein hungriges, schmutziges Kind abzuweisen.
Das Kastelltor vor Shadacs Tross schwang langsam auf. Wachen säumten die Wände des dunklen, tunnelartigen Zugangs und verneigten sich leicht, als der kardinale Zug an ihnen vorbeizog.
Glaubten diese Soldaten noch an die Zwillingsgötter? So wie Shadac das getan hatte, als er dem Heer beigetreten war? Gleichgültig. Wichtigeres als die Frömmigkeit der Wachposten lag vor Shadac, und das kalte Ziehen in seiner Magengrube verstärkte sich erneut vor lauter Widerwillen.
Auf dem Palasthof ließ er seine Begleitung zurück und stieg leichtfüßig die breite Treppe hinauf, deren Stufen flach waren, um Prozessionen ein würdevolles Überwinden dieses Höhenunterschieds zu ermöglichen. Die königliche Familie auf dem Weg zur Götterinsel zum Beispiel.
Shadac sammelte sich, während er das große Portal durchschritt, das sich verneigende Wächter und Lakaien für ihn öffneten. Der Duft Abertausender Blüten empfing ihn. Der Palast verfügte über Gewächshäuser, die selbst im Spätherbst noch für Blumenschmuck in extravaganten Mengen sorgten. Der hervorgerufene Eindruck zeugte von Reichtum und nicht sonderlich viel Geschmack, fand Shadac, der die schlichte Schönheit des Tempels erheblich ansprechender fand.
Er wandte sich nach links, wo Dutzende von Lakaien und Pagen Spalier standen, wie um ihm den Weg zu weisen, den er schon so oft gegangen war. Doch der kurze Augenblick, den die angewiderte Inaugenscheinnahme der überladenen Blumenpracht gedauert hatte, hatte Shadac geholfen, die Eiseskälte in seinem Magen zu verdrängen und sich zu sammeln. Nun konnte er langsam und würdevoll – ganz seinem hohen Amt und vor allem dem Ansehen eines Kardinals gerecht – den breiten Weg entlang schreiten. Hinter ihm flüsterte die Seide der langen Schleppe auf den glasierten Fliesen. Sie fegte den Weg wahrscheinlich ebenso gründlich, wie die Kinder mit den Besen das getan hätten. Wie gut, dass die Waschfrauen auf der Götterinsel ihr Handwerk verstanden und schon mit mehr Dreck als von einem königlichen Flur fertig geworden waren.
Eine Tür mit Perlmutteinlagen schwang lautlos vor Shadac auf und gewährte ihm Zutritt in das Arbeitszimmer des Kanzlers. Alles darin war vertraut, überladen und viel zu dunkel. Im Tempel hatte Shadac gelernt, das Licht zu lieben, das durch bunte Glasfenster auf den weißen Marmor fiel und die Legenden der Zwillingsgötter auf den Stein malte wie auf eine kostbar illuminierte Buchseite. Ein Bilderreigen, durch den der Betrachter wandeln konnte, wodurch er Teil der Legenden werden durfte. Grün, Rot, Blau, Gelb auf der Haut wie die Liebkosung einer behutsamen Hand.
Doch hier im Arbeitszimmer des Kanzlers fiel das Licht gefiltert durch Seidenvorhänge auf den dicken Teppich, die überfüllten Bücherregale und den großen Schreibtisch aus schwarzem Holz. Matt und tot erhellte es den Raum nicht ausreichend, sodass Kerzenlicht zur Hilfe kommen musste.
Hinter dem Tisch ragte hoch eine mit Schnitzereien verzierte und stellenweise sogar durchbrochene Stuhllehne auf, die dem Kanzler als Stütze diente. Angesichts Shadacs Ankunft in seinem Arbeitszimmer riss der Mann den Kopf hoch. Einen Herzschlag lang weiteten seine Augen sich, doch dann sank er zurück gegen die Lehne, während er den Einzug des Kardinals mit glitzernden Augen verfolgte und wartete, bis Shadac vor dem Schreibtisch stand und die Tür hinter ihm ins Schloss gezogen wurde. Lautlos.
»Danke, dass du meiner Einladung so rasch Folge leisten konntest, Kardinal«, eröffnete der Kanzler das Gespräch.
Shadac nickte höflich, aber knapp und suchte in Boldars rosigem, rundem Gesicht nach Spuren der ausschweifenden Feierlichkeit vom Vorabend. Doch der Kanzler wirkte frisch wie immer, gesund und fröhlich wie ein Ferkel in der Suhle. Eine Ähnlichkeit, die über das Joviale hinausging und vor allem von den kleinen Augen betont wurde.
»Du und ich, Kardinal, geben stets unser Möglichstes, den Frieden und die Sicherheit dieses Reichs zu garantieren. Bedauerlich, dass meine Einladung so dicht auf die Feier zum Thronjubiläum folgen muss – aber nicht zu ändern. Um es kurz zu machen, denn Zeit ist kostbar und drängt in diesem Fall ganz besonders: Am Rande der Stadt Aniz befindet sich ein großes Anwesen. Eine kleine Burg mit Wassergraben und durchaus festungsartigem Charakter. Ich habe dir Material zusammengestellt mit allen Hinweisen, die ich über den Gebäudekomplex sammeln konnte. Das wird deine Aufgabe erleichtern, Kardinal. Der Inhaber des Anwesens bedroht den Frieden und benötigt dringend deine besonderen Fähigkeiten.«
Shadac hob nur eine Augenbraue. Die Kälte war zurückgekehrt und tastete federleicht mit frostigen Klauen um sich, um mehr Halt in seinen Eingeweiden zu finden und sich langsam nach oben zu ziehen, um ihn ganz auszufüllen und sein Herz zu erreichen.
»Ich soll mit diesem Mann über Frieden verhandeln? Wodurch gefährdet er unser Reich?«, fragte er bemüht höflich nach.
Boldar blickte von den Papieren vor sich auf und lächelte.
Kein Schweinchen, ein Kriegshund, der etliche Pfund zu viel mit sich herumschleppte.
»Du sollst ihn umbringen, Kardinal. So dezent und unauffällig, wie nur du das vermagst.«
»Ich bin der oberste Diener von Kaladien und Tenenoch, Kanzler. Meine zusätzliche Aufgabe, die ich gewiss in den letzten Jahren zur besonderen Zufriedenheit des Königs ausgeführt habe, besteht in diplomatischen Verhandlungen. Ich bin kein Mörder.«
»Du hast oft genug mit dem Dolch nachgeholfen, wenn deine Silberzunge auf ein taubes Ohr fiel, Kardinal. Dieses Mal, mein Lieber, wirst du gar nicht erst Worte verschwenden müssen, weil der Kerl dir nämlich nicht zuhören würde. Du musst schnell sein, bevor er versteht, wer du bist und warum du zu ihm gekommen bist. Dir wird etwas einfallen. Hier sind die Papiere.«
»Kanzler, du missverstehst. Ich wiederhole es gerne noch einmal: Ich bin kein Mörder, den du beliebig im Reich herumschicken kannst, um Leute aus dem Weg zu schaffen, die dich stören. Ich bin sicher, dass du genügend Männer in deinen Diensten stehen hast, auf die die Bezeichnung zutrifft. Ich bin Kardinal und Diplomat. Nicht mehr.«
Die Schweinsaugen verengten sich, wurden zu kleinen, glitzernden Punkten im üppigen Gesicht. »Du bist Kardinal, weil der König dich dazu gemacht hat. Shadac, ich weiß, dass du große Renovierungen am Tempel vornehmen lässt, dass du Waisenkinder und Straßengören aufnimmst, sie auffütterst und ihnen ein Dach über den Kopf gibst. Sehr niedliche Anwandlung bei einem Mann deiner Vorgeschichte. Das Rot steht dir, und ich wette, du fühlst dich wohl in deiner sauberen Kleidung, weit weg von Schlachtfeldern, verrottenden Kadavern und viel Eingeweiden und Morast. Aber das kann sich ändern. Du bist Kardinal von königlichen Gnaden. So überraschend, wie du in das Amt gehoben wurdest, kannst du auch wieder daraus entfernt werden. Die Götter interessiert es nicht, wer Räucherharz für sie verbrennt und Stunden auf Knien vor dem Altar verbringt. Du bist nützlich für das Reich, für den König, für mich. Weil du ein Mörder bist, den wir dort einsetzen, wo es uns gefällt. Dafür darfst du Seide, Perlmutt und Pelz tragen und deine Gören um dich sammeln. Eine kleine Belohnung für einen treuen Diener, der Befehle befolgt und seine Arbeit gut macht.«
Übelkeit folgte der Kälte, kroch über taube Eingeweide, die vor Überanstrengung zitterten. Doch Shadac stand nach wie vor aufrecht, gab sich Mühe, sich sein Entsetzen nicht ansehen zu lassen. Hatte er sich vorher schon wie eine Hure gefühlt, jetzt bekam er ganz offenbar einen Zuhälter zu seinem Geschäft dazu. Aber er rang um Haltung und Fassung und war sich sicher, dass Boldar ihm das zumindest nicht ansehen konnte, nicht erkannte, wie hart er Shadac getroffen hatte.
»Ich kann auch vom Amt des Kardinals zurücktreten, wenn mein König das wünscht. Doch das werde ich nur mit ihm besprechen.«
Boldar stand auf, eine hastige Bewegung, die wie das Auftauchen eines Stücks Speck aus der Salzlake wirkte. »Du willst zurücktreten, Shadac? Oh, du weißt, was ich dann mit dir mache, nicht wahr? Du kommst wieder ins Heer. Oder ich mache dich zum Hauptmann der Hexenjäger. Fähig dazu bist du. Mal sehen, wer das länger durchsteht: Die erste Hexe, die du auf eine Folterbank strecken musst – oder du. Mach dir nichts vor. Du bist Kardinal mit allen Konsequenzen, weil du der beste Mann dafür bist. Weil du vor deiner Ernennung schon zwei Jahre lang diese Arbeit im Schatten deines Vorgängers erledigt hast. Du bist Kardinal, weil wir es so wollen.«
»Wir?«, fragte Shadac und spürte ohnmächtige Wut wie Wasserdämpfe über sich rieseln.
»Der König und ich. Oder denkst du, dieses Gespräch würde ohne die Billigung und Kenntnis meines Bruders verlaufen? Ich bin froh, dass ich es mit dir führe, denn der Geduldsfaden des Königs ist kürzer als meiner. Ihm wäre erheblich schneller der Kragen geplatzt, und wahrscheinlich würdest du jetzt schon im Kerker liegen und auf deine Hinrichtung warten, wenn er dir gegenübersäße. Mach dir nichts vor, du gehörst uns, weil du – wie wir – nur das Beste für dieses Reich willst. Frieden, Shadac, Sicherheit. Keine Berge von toten Soldaten, keine ausgeweideten Frauen, keine erschlagenen Kinder.«
Das Bild kehrte mit dumpfer Wucht zurück, wie eine Sturmwoge brandete es gegen Shadac, der fast alle Kraft aufwenden musste, um nicht unterzugehen.
»Wir arbeiten zusammen, Shadac. Du bleibst Kardinal und kümmerst dich um die Schwachen dieser Stadt. Wir arbeiten Hand in Hand. Wenn deine Hand blutig wird, wird es meine auch, weil wir zusammen die Last des Wissens tragen, was im Hintergrund getan werden muss, um den Frieden zu garantieren. Sei nicht dumm oder störrisch, Shadac. Dafür gibt es zu viel Arbeit.« Er packte die Papiere so fest, dass sie zerknitterten, und hielt sie Shadac hin.
Ein tiefer Atemzug, das Eingeständnis der totalen Niederlage, doch die Hand zitterte nicht, mit der Shadac nach den Papieren des Kanzlers griff.
Asmyn erwachte auf einem gesteppten Sofa unter zwei Wolldecken und bemerkte sofort beim ersten bewussten Atemzug, dass jemand ihr Mieder aufgeschnürt oder gar aufgeschnitten hatte.
Behutsam zwinkerte sie und spähte dann unter langen Wimpern umher. Ein gemütlich eingerichtetes Zimmer, das keinen Vergleich mit einem Raum des Herrenhauses zu scheuen brauchte. Auf einer Fenstertruhe erblickte Asmyn die Tasche, die sie mit den drei Büchern gefüllt hatte.
Bücher. Die Bewaffneten. Der erschlagene Diener im Flur.
Mit einem Ruck saß Asmyn senkrecht und rang keuchend nach Atem. Dies war nicht ihr Zimmer! Ihr Herzschlag raste, und ihr Mund fühlte sich mit einem Mal an, als hätte jemand sich viel Mühe gegeben, jeden Tropfen Speichel mit einem Lappen aufzuwischen. Und dabei viele Fusseln hinterlassen, die Asmyn nun beim erschrockenen Einatmen in ihre Lungen sog.
Alleine der deutliche Schmerz in ihrem Oberarm beruhigte sie auf gewisse Weise, auch wenn die Lage als Opfer einer Verschleppung ganz gewiss nicht beruhigend sein konnte. Doch die wirren, auf sie einstürmenden Bilder entsprachen der Wahrheit, denn Asmyns weiches Fleisch schmerzte von der starken Hand ihres Entführers, dessen Finger sich – dem wunden Gefühl in den Muskeln nach zu urteilen – wirklich bis zum Knochen in den Arm gebohrt haben mussten.
Hastig befreite Asmyn sich aus den Decken, sprang zu Boden und wäre beinahe erneut in sich zusammengesunken. Doch da das Mieder tatsächlich nicht länger straff verschnürt war, reichten zwei, drei tiefe Atemzüge, um das beängstigende Kreiseln im Kopf zu klären.
Bestandsaufnahme. Und Ruhe, ermahnte Asmyn sich selbst und vor allem ihren rasenden Herzschlag.
Auf sehr weichen Beinen kam sie zur Fenstertruhe und öffnete die Tasche. Die Bücher lagen noch darin. Asmyn atmete tief auf und schlang sich die Trageriemen über den Kopf, sodass das Gewicht der Folianten schwer gegen ihre Hüfte und auf eine Schulter drückte. Gut, das war der allererste Schritt gewesen. Da ihre Entführer sich nicht in Sicht befanden, würde niemand ihr erklären, was überhaupt los war. Immerhin: Hexenjäger waren dies eindeutig nicht. Denn dann wäre Asmyn auf nassem Stroh in einer stinkenden Zelle oder sogar gleich auf der Folterbank erwacht.
Immer das Gute an der Lage sehen. Sie straffte sich und marschierte geradewegs zur Zimmertür, lauschte an dem dunklen Holz und drückte wagemutig die Klinke nieder. Das ging noch mühelos, doch das Portal rührte sich nicht. Abgeschlossen!
Angestrengt kämpfte Asmyn das Zittern nieder, das sie nun erneut befallen wollte. Natürlich war sie eingesperrt. Wer machte sich schon die Mühe, eine Frau zu verschleppen, wenn sie ihm danach umgehend und mühelos wieder abhandenkommen konnte?
Zumindest erschien Asmyn der vermutete Gedankengang des Entführers vernünftig. Sie blickte sich im Zimmer um und erkannte eine verglaste Tür, die auf eine Terrasse zu führen schien. Energisch wandte Asmyn sich um und eilte zu diesem zweiten Ausgang. Der Ausblick zeigte ihr wogende, dunkle Wälder und eine kleine, mit Stein gepflasterte Fläche, die von einer halbhohen Balustrade eingefasst war.
Die Türklinke erwies sich als leichtgängig, und dann schwang die Tür auch schon auf. Ermutigt von diesem ersten Erfolg lächelte Asmyn. Vielleicht war ihr Entführer ja doch nicht so vernünftig. Sie eilte hinaus und wurde von herbstlicher Kühle und dem Duft nach Bäumen empfangen. Doch unter diesem frischen Aroma lauerte ein dunklerer Geruch nach Aas und Schlamm. Asmyn rümpfte ihr Näschen und hielt sich eine Hand schützend vor das Gesicht, während sie zur Umfassung eilte und dann fassungslos in die Tiefe blickte.
Denn dies war keine Terrasse, sondern ein Balkon in wirklich luftiger Höhe. Graue Mauern wuchsen aus einem schlammigen Pfuhl empor bis zu Asmyns kleinem Ausguck.
Dumpf braunes Wasser, auf dem Entengrütze in schmierigen Flecken schwamm, reichte von der Basis der Mauer bis zu einem Ufersaum, der auf etliche Ellen baumfrei dalag und nur von kniehohem, dornigem Gestrüpp bewachsen stand. Eine gut durchdachte Verteidigungslinie, erkannte Asmyn mit geringer Begeisterung. Solches kannte sie von ihrem eigenen Heim, in dem sie kurz vor der Heirat mit Cosmon nur noch mit ihrer Mutter und einer Handvoll Bediensteter gelebt hatte. Doch die Wehr in Katalas konnte Asmyn nur als niedlich bezeichnen im Vergleich zu diesem Gebäude und seiner Umgebung. Wo, bei den Göttern, war sie nur gelandet? Selbst Cosmons Herrenhaus erschien ihr winzig im Vergleich mit dieser Festung. Denn eine solche war es. Kein großes Haus mit verspielten Gärten, sondern eine Burg mitten in einem dunklen Wald, dessen hoch aufragende Baumkronen das kärgliche Licht des nahenden Abends genussvoll zu verspeisen schienen.
Asmyn wirbelte herum und betrachtete die aufragende Fassade bis hoch zur mit Wasserspeiern verzierten Dachtraufe. Ihr Kerker lag also nicht ganz unter dem Dach. Mindestens drei Stockwerke höher erhob sich das Gebäude noch, bis die Schornsteine in den bleigrauen Himmel stachen.
»Ach du Schreck«, murmelte Asmyn und lehnte sich gegen die Balustrade. Wie von hier fortkommen? Denn bleiben wollte sie auf gar keinen Fall. Wer einfach unbewaffnete Diener umbrachte und eine junge Frau verschleppte, konnte nichts Gutes im Schilde führen. Und wenn er sein Opfer dreimal heimelig unterbrachte und die Bücher nicht stahl, die immer noch beruhigend an Asmyns Hüfte drückten. Immerhin hatte der mysteriöse Entführer die Miederschnüre gelockert. Ihm hatte also daran gelegen, dass sein ohnmächtiges Opfer nicht unnötig litt. Aber trotzdem!
Ganz kurz zog sie in Erwägung, ob die Entführung vielleicht von einem abgewiesenen Freier inszeniert worden sein könnte. Doch den Gedanken verwarf Asmyn rasch. Dann hätte ihr keiner der Männer auf die Brust geglotzt, ihr Freier wäre zur Stelle gewesen. Sie wäre nicht als Weib bezeichnet und keinesfalls grob angepackt worden. Ein Freier wäre gewiss sehr heldenhaft erschienen. Mit einer Sänfte und Blumen. Sehr wahrscheinlich auch mit Pralinen oder Schmuck. Genau. Und niemand hätte auf die Notwendigkeit von Kooperation von Cosmons Seite hingewiesen.
Nein, Asmyn musste sich als Geisel sehen. Als Druckmittel gegen Cosmon. Gegen einen senilen Alten, der seine Hose vergaß und nicht mehr viele Zähne im Schädel hatte. Der schon nach einem einzigen Feuerball zu Tode erschöpft war und drei Tage im Bett liegen musste, wo seine Diener ihn windelten, wuschen und mit Haferbrei fütterten. Bei Kaladien und Tenenoch, was sollte das alles bedeuten?
Noch einmal sah sie sich auf dem Balkon um und entdeckte eine weitere kleine Tür. Sehr unscheinbar, als wollte die Pforte sich verstecken. Mit neuem Mut und frischer Entschlusskraft stürmte Asmyn darauf zu und riss die Tür auf. Nun, das erklärte einen Teil des dumpfen Geruchs. Wenn nicht vollkommen. Ein Abort, der seine Ladung durch einen gemauerten Schacht in den Burggraben entließ. Hastig schloss Asmyn die Tür wieder.
Es gab keinen Ausgang aus diesem Gemach. Also musste sie einen alternativen Weg finden. Sie reckte tapfer das Kinn vor und ballte die Hände zu Fäusten.
Der Entführer würde sich noch umsehen. Ha! Der dachte, er hätte ein dummes, verwöhntes Mädchen verschleppt. Aus gutem Hause und von Cosmon liebevoll umsorgt. Das gute Haus stimmte gerade noch, denn als einziges Kind der Familie von Katalas hatte Asmyn eine erstaunlich umfangreiche Erziehung genossen und war in allen Fragen des Benimms ausreichend gedrillt worden. Gewohnt, dass man sie bediente und ihre Wünsche umgehend erfüllte. Das zumindest hatte auch Cosmons Haushalt geleistet. Doch an Asmyn war mehr als nur eine Tochter aus angesehener Familie, Erziehung und Niedlichkeit, jawohl! Auch wenn Niedlichkeit und Schönheit ihr schon immer alle Türen geöffnet hatten. Die hier in der schaurigen Entführerburg nicht. Egal, Asmyn würde andere Wege finden.
Sie stampfte zornbebend zur Brüstung, stützte die Hände auf nebelfeuchten Stein und beugte sich vor, um den Burggraben genauer in Augenschein zu nehmen. Das, was sie in Ermangelung eines besseren Wortes Wasser nennen musste, lag braun und eklig still. Ihr fiel ein besseres Wort ein: Jauche! Aber gleichgültig, sie würde hindurch schwimmen können. Vielleicht war die Brühe da unten sogar so ekelhaft, dass sie eine Kruste ausgebildet hatte, über die Asmyn einfach spazieren könnte.
Gut, sie machte gerade den zweiten vor dem ersten Schritt. Denn wie sollte sie dort hinabkommen? Asmyn spähte zurück in ihr Gemach – ihren Kerker! Die Vorhänge konnte sie notfalls in Streifen reißen und zu einem Seil zusammenknoten. Wenngleich ihr das keineswegs sicher vorkam. Knoten konnten sich lösen, und wie stabil der Stoff war, konnte sie nicht ermessen. Ein Absturz nach wenigen Ellen wäre unrühmlich und vielleicht auch schmerzhaft, denn am Mauerfuß würde der Graben flacher sein. Und falls sich eine Kruste auf dem ekeligen Wasser gebildet hatte, wäre es ein Jammer, sie solcherart zu durchbrechen.
Asmyn legte den Kopf schief, betrachtete das Mauerwerk gründlich und lächelte dann. Säulenartige Verzierungen bedeckten den Stein dicht an dicht und erweckten entfernt den Eindruck eines Waldes, Baumstamm neben Baumstamm. Dünne Efeuranken krochen zwischen diesen Säulen empor, klammerten sich tief ins Mauerwerk und bildeten das Laub des Steinforsts nach.
Das sah schon vielversprechender aus. Allerdings nicht in voller Bekleidung, denn die rauschenden Röcke waren mehr als hinderlich, die hochhackigen Schuhe ganz und gar unpraktisch. In der Tasche fand sich bestimmt noch genügend Platz, um Teile des Kleides darin zu transportieren. Asmyn musste ja nur ein paar der als Polster verwandten Socken loswerden. Und selbst zwei Paare tragen, die ihre Zehen beim Klettern schützen würden.
Erneut beugte sie sich über die Brüstung, um entlang der efeubewachsenen Mauer nach unten zu spähen. Dabei stieß Asmyn ein loses Steinchen an, das hinab ins schlammige Wasser fiel.
Tatsächlich hatte sich eine halbwegs feste Kruste aus Abwasserbestandteilen und Entengrütze auf der Brühe gebildet, stellte Asmyn fest, bevor sie mit einem nur mühsam unterdrückten Schrei rückwärts, fort von der Balustrade sprang, die Hände an den nun nahezu hüpfenden Busen drückte, heimtückisch stolperte und auf ihre Kehrseite fiel, wobei die Röcke protestierend knisterten.
Nur dank gewaltiger Selbstbeherrschung unterdrückte Asmyn ein Wimmern reinsten Entsetzens, starrte mit geweiteten Augen zur Balustrade, ob das, was sich im Wasser geregt hatte, bis hierhin reichen konnte …
Kaum hatte das Kieselchen nämlich die Schlammkruste durchschlagen, war das Wasser zum Leben erwacht. Asmyn wusste, dass sie die kommenden Monate davon träumen würde. Tentakel hatten sich erhoben und die stinkende oberste Schicht in eindeutig suchenden, wild um sich schlagenden Bewegungen zu schaumigem Brei gehauen.
Noch immer erklangen von unterhalb des Balkons nasse Geräusche. Wasser spritzte gegen das Mauerwerk der Festung, sogar gegen die Unterseite des Balkons, und einige Tropfen glitzerten kotbraun in der Luft oberhalb der Brüstung, bevor sie zurück in das tentakelkochende Wasser stürzten.
Es dauerte, bis unter Asmyn wieder Ruhe einkehrte. Und erst dann konnte sie wieder aufstehen, immer noch am ganzen Körper zitternd. Die Vorstellung, dass sie sich frohgemut an den Abstieg gemacht hätte, um nicht ganz so fröhlich durch den Jauchegraben zu schwimmen … Brechreiz kitzelte in ihrer Kehle, und Asmyn schaffte es gerade noch bis zur Balustrade, an die sie sich festklammerte, bevor sie die Kreaturen im Graben füttern musste. Sofort brodelte die Jauche erneut mit scheußlichen Fangarmen, Saugnäpfen und eindeutig mehr als einer Abscheulichkeit, die ihr Dasein im Abwasser der Festung fristeten und wohl nur den einen oder anderen versuchten Eindringling als Leckerbissen bekamen.
Oder mich. Wenn Cosmon nicht tut, was man von ihm verlangt. Dann lande ich in der Jauche mit den Tentakeln …
Sie erbrach noch einmal und sank dann hinter der nun als Spritzschutz fungierenden Balustrade in sich und vielen Röcken zusammen, zitterte, schluchzte leise vor Angst und umklammerte die Tragegurte der Tasche, als könnten die Bücher Schutz vor Fangarmen bieten.
Der einzige klare Gedanke, der nach einiger Zeit schüchtern aus tobendem Chaos von Angst auftauchte und sanft Asmyns Aufmerksamkeit einforderte, lautete: Flucht.
Sie konnte und durfte sich nicht darauf verlassen, dass dunkle, große Augen, ein schüchternes oder strahlendes Lächeln und flatternde Wimpern ihr weiterhalfen. Cosmon konnte sie um den kleinen Finger wickeln, wenn sie ihn nur niedlich genug ansah und sich Mühe gab, das freche Grübchen auf die Wange zu zaubern. Doch jemand, der Soldaten ausschickte, Diener erschlagen und eine Frau entführen ließ, würde auf solche Kniffe nicht hereinfallen. Jeder Versuch wäre Verschwendung von Zeit und Kraft. Über beides verfügte Asmyn nicht unbegrenzt, und gerade Zeit zerrann ihr zwischen den Fingern.
Sie wischte sich die Wange am Ärmel trocken, zog die Nase hoch und rappelte sich entschlossen auf.
Der Weg nach unten mochte durch viele Saugnäpfe versperrt sein, aber die Kreaturen konnten den Balkon nicht erreichen. Also gab es nur noch einen Ausweg. Und der führte aufwärts.
Immer noch riskant, obwohl Asmyn sich sicher war, den Aufstieg bewältigen zu können. Ihre Freier hatten alle nur ein schönes Mädchen in ihr gesehen, ohne zu ahnen, was Asmyn alles vermochte, schon erlebt und versucht hatte. Ohne Geschwister und auch ohne Vater aufgewachsen hatte sie stets Grenzen ausgelotet. Die der mütterlichen Geduld und Strenge und natürlich auch ihre eigenen. Während sie die Fassade und die Fensterreihe ein Stockwerk höher kritisch musterte und dabei eine Faust in die Hüfte stemmte, kämpfte Asmyn mit einem Lachen, das sich unbedingt über der tristen Festung in die Luft schwingen wollte. Sie hatte aus der Wäscherei Knabenkleidung entwendet, sich darin verkleidet und Hosen und Hemd für sehr viel praktischer als ungezählte Unterröcke erachtet. In den Wäldern war sie herumgestromert, hatte Äpfel und Kirschen in einem Obsthain gestohlen, nachdem sie die Bäume hinaufgeklettert war. Die Fassade wirkte erheblich schwieriger zu bewältigen, und doch schreckte Asmyn das nicht ab. Jedoch nicht in dieser Kleidung!
Sie sah sich um, ob irgendjemand ihr zusehen könnte, erkannte die Albernheit dieses Gedankens und schälte sich aus dem schweren Brokatkleid, entledigte sich etlicher Unterröcke, des Mieders und der unpraktischen Schuhe, bevor sie sich auf den Boden neben die Tasche setzte und zwei Paar dicke Socken über die bloßen Füße streifte. Versuchsweise wackelte sie mit den Zehen und fand, dass diese noch ausreichend Bewegungsfreiheit und Gefühl für den Aufstieg haben sollten.
Mühsam stopfte Asmyn so viel ihrer Bekleidung wie möglich in die Büchertasche und betrachtete das in alle Richtung beulende Gepäckstück kritisch. Das Kleid passte natürlich nicht mit hinein, also wickelte und knotete Asmyn den teuren Stoff um die Tasche. Ebenso gut hätte sie die Röcke anbehalten können, wenn sie ernstlich gedachte, mit dieser unhandlichen und auch ziemlich schweren Tasche nach oben zu klettern. Asmyn runzelte die Stirn, sprang auf – das ging so viel leichter ohne Mieder und etliche Bahnen Tüll und Spitze – und rannte wieder in ihr Kerkerzimmer.
Behände kletterte sie auf die Truhe und entledigte das Fenster seiner schmückenden Vorhänge. Staubig und mit leicht speckigem Griff, aber ein stabiler Stoff, dem zwar Asmyn sich nicht anvertrauen würde, der aber ein gutes Seil abgeben würde, um die Tasche daran hinter sich in das nächste Stockwerk schweben zu lassen. Und selbst die schlimmste Möglichkeit, falls das geknotete Tau riss, bedeutete nur den Verlust der Bücher und Kleider. Das wäre zwar ein Ärgernis, aber keine Katastrophe. Asmyn nickte, um sich diesen Punkt deutlich einzuprägen. Besser, die Tentakel wunderten sich über Bücher und Spitzenröcke, als dass sie sich um Asmyn schlingen konnten.
Noch einmal ließ sie den Blick durch das Zimmer fliegen und eilte dann zum Kamin. Ein Schüreisen fehlte leider vollkommen, doch eine unermesslich hässliche Zinnfigur eines tanzenden Knaben stand auf dem Sims. Mit ein wenig Quetschen und gutem Zureden passte die Statue zwischen Asmyns Brüste, sodass nur der Kopf mit einem leicht verzückten Gesichtsausdruck hervorragte. Da der Bengel aber vorher schon so dumm geblickt hatte, störte Asmyn sich nicht daran.
Mit dieser Figur konnte sie ein Stockwerk weiter oben eine Fensterscheibe einschlagen, um sich solcherart Zutritt zu dem dahinterliegenden Raum zu verschaffen. Dessen Tür hoffentlich nicht verriegelt war, sonst stand ihr noch mehr Klettern bevor.
Sie raffte ihr Seil an sich, knotete es sorgfältig an den Trageriemen der Tasche fest, zog die Tür zum Balkon zu und atmete tief durch, bevor sie sich das aus Vorhangresten erstellte Tau um einen Fußknöchel band und mutig an die Balustrade trat.
Der Tentakelgraben lag still und stinkend da. Ein Blick zum Himmel über wogenden Baumwipfeln. Viel Zeit blieb Asmyn nicht mehr, um den letzten Rest Tageslicht auszunutzen. Nur rasch ein Stockwerk hinaufklettern, ein Fenster einschlagen und sich in dem Zimmer dahinter verbergen. Es konnte gelingen. Nein, es musste!
Vorsichtig kletterte Asmyn auf die Balustrade, knetete ihre Finger, während sie sich leicht ausbalancierte und im feuchten Wind fröstelte. Ihr Weg zur Freiheit rankte sich seitlich des Balkons nach oben. Sehr unschön, weil ein Sturz dann keinen harten Aufprall auf dem Balkon, sondern ein schlammiges Platschen im Tentakelgraben zur Folge hätte. Asmyn biss sich auf die Unterlippe. Sie würde nicht fallen, so einfach war das!
Gar nicht weit, und die Fassade der Festung schien eine Einladung an alle, die schon einmal auf einen Baum geklettert waren. Ein letztes, tiefes Durchatmen, dann suchte Asmyn sorgfältig festen Halt für ihren rechten Fuß und zog sich nach oben. Sie fand leicht hervorstehende Teile der Mauer, die sie gut packen konnte, und arbeitete sich ganz langsam aufwärts. Nicht nach unten sehen, auf keinen Fall nach oben blicken, wie weit es noch war. Es war so weit, wie es eben war!
Der Arm, den der Soldat so fest gepackt hatte, dass eine eindrucksvolle Sammlung von Blutergüssen noch die nächsten Tage Andenken an den Überfall boten, fing schon nach kurzer Zeit an zu schmerzen. Deutliches Signal, dass das gewünschte Fenster nicht zu weit fort sein durfte. Asmyn biss die Zähne zusammen und kletterte weiter.
Sie begann zu schwitzen, obwohl eine frische Brise sie immer wieder kühlend streichelte, die dünne Unterkleidung mühelos durchdrang und den letzten verbliebenen Spitzenrock einmal bis zu Asmyns Ohren hinauf bauschte. Möglicherweise in knielangen Unterhosen gesehen zu werden – waren sie noch so hübsch mit Spitze besetzt – oder jemandem freien Blick auf ihre nackten Waden zu gewähren, trieb Asmyn Feuerröte in Ohren und Wangen. Selbst der kleine Zinntänzer erwärmte sich.