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Nina mag ihren Vater, der sie an ihrem 18. Geburtstag vor die Tür gesetzt hatte, nicht besonders, findet sich auf seine Aufforderung hin aber trotzdem immer wieder brav bei ihm ein. Dass er tot am Schreibtisch sitzt, ist dann doch ein Schock für sie und ihre Schwester, aber die finsteren Familiengeheimnisse, die danach Schritt für Schritt an den Tag kommen, schockieren die beiden noch viel mehr. Nur gut, dass wenigstens einer der Verdächtigen viel Charme hat!
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Seitenzahl: 380
Veröffentlichungsjahr: 2015
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Alles frei erfunden!
Eventuelle Ähnlichkeiten oder Namensgleichheiten mit real existierenden Personen, Firmen u.ä. sind reiner Zufall.
Imprint
Sünden von einst. Kriminalroman
Elisa Scheer
„Ich brauch noch ein Bier“, beschloss Bernie und winkte dem Kellner.
Ich seufzte. „Noch eins? Bernie, ich muss langsam ins Bett, es ist schon elf Uhr durch.“
Bernie warf mir einen vorwurfsvollen Blick zu. „Elf ist doch noch gar nichts. Mensch, früher sind wir erst gegangen, wenn die Kellner das Licht abgedreht haben!“
„Früher musste ich auch nicht um Viertel vor acht frisch und kompetent in einem Meeting auftauchen. Mit lauter Kerlen, die um neun im Bett waren“, entgegnete ich ärgerlich.
„Ich muss auch langsam heim“, verkündete Julia. „Wer weiß, was die beiden schon wieder angestellt haben. Martin ignoriert das doch alles, solange er am Rechner sitzt.“
„Was guckt er denn da eigentlich die ganze Zeit?“, fragte Bernie. „Pornos?“
Bis Julia empört und wortreich erläutert hatte, dass ihr Martin selbstverständlich nur beruflich..., hatte Bernie ihr Bier erhalten und schon halb geleert. Wieder mal war ihre Taktik aufgegangen.
„Ich pack´s jetzt“, verkündete ich mit einem resignierten Blick auf die Uhr. Fast halb zwölf, verdammt! „Ich hab morgen echt einen langen Tag.“
„Jaja, reib´s mir nur hin“, murrte Bernie. „Karriereweib!“
„Könntest du auch sein, wenn du deinen Hintern mal hochkriegtest“, grinste ich. „Niemand zwingt dich, dein ganzes Leben lang an der Uni herumzuhängen.“
„Mein ganzes Leben lang!“, schnaubte Bernie. „Ich mach schon noch Examen.“
„Wann?“, fragte Julia interessiert und winkte dem Kellner, die Geldbörse schon in der Hand. „Bald“, wurde sie abgefertigt. „Immerhin mache ich Examen. Du hast ja schon vor der Zwischenprüfung aufgegeben!“
„Mit zwei kleinen Kindern?“ Julia sah leidend drein, und ich verdrehte die Augen: Ging das schon wieder los! Sie schafften es, wie immer, zu zahlen und sich gleichzeitig weiter zu zanken, wer die größere Versagerin war. Dann verbündeten sie sich, auch wie immer, und warfen mir Streberin! - Blicke zu.
Ich feixte matt. „Nur keinen Neid, meine Damen. Wer ko, der ko.“
„Das sagst du auch jedes Mal“, maulte Julia.
„Ihr liefert ja auch jedes Mal die gleiche Vorlage. Aber allmählich könntest du dir wirklich einen Job suchen, so klein sind deine Zwerge ja nun auch nicht mehr. Und Bernie fliegt sowieso an der Uni raus, wenn sie sich zum nächsten Termin nicht zum Examen meldet.“
„Und dann?“, jammerte Bernie. „Dann muss ich Lehrerin werden! Will ich aber gar nicht!“
„Dann mach halt was anderes. Es zwingt dich doch keiner ins Referendariat! Such dir was bei einem Verlag oder so. Oder mach was ganz anderes, aber als Akademikerin und nicht als Studienabbrecherin.“
„Ja, Frau Lehrerin. Wieso bist du eigentlich nicht Lehrerin geworden, Nina? Du hast schon genau den richtigen Ton drauf.“
„Das macht Nathalie. Eine in der Familie reicht. Mir ist da die Bezahlung zu mies.“ Ich zog den Reißverschluss meiner Tasche zu und fischte den Autoschlüssel aus der Hosentasche. „Soll ich euch mitnehmen?“
Sie lehnten ab; Julia war selbst mit dem Auto da und Bernie wollte noch in eine andere Kneipe schauen, die angeblich bis um zwei aufhaben sollte. Also winkte ich ihnen zu und verzog mich nach draußen.
Tolle Luft – und noch richtig warm, obwohl es fast Mitternacht war! Sommer war doch am schönsten... Schade, dass ich morgen arbeiten musste, jetzt hatte ich eigentlich Lust auf einen ganz langen Spaziergang durch die nächtlichen Straßen. Na, dann eben morgen. Freitagnacht eignete sich dafür schließlich genauso gut.
Ich rangierte mühsam herum, bis ich meinen Wagen aus der verflixt engen Parklücke befreit hatte, und brauste dann nach Hause. Bernie wäre sicher nicht mehr fahrtüchtig, nach vier Bieren, überlegte ich und erinnerte mich selbstzufrieden an die drei Apfelschorle, die in meinem Magen herumgluckerten. Aber Bernie wohnte ja auch an der Uni und konnte von all diesen Kneipen zu Fuß nach Hause stolpern. Bis nach Mönchberg allerdings, wo ich wohnte, wäre das doch reichlich weit gewesen – dann lieber kein Bier.
Vermisste ich die alten Zeiten? Als wir noch mit zunehmend schwerer Zunge auf die Jungs und dann die Männer geschimpft hatten und erst heimgewankt waren, wenn die Kellner auffordernd die Tür aufgehalten hatten? Nein, aus dem Alter war ich raus, und mit dem unvermeidlichen Verspießerungsprozess, der mit Amt und Würden einherging, hatte ich mich ohne große Probleme abgefunden.
Vielleicht lag das ja auch an der familiären Prägung – Nathalie, die acht Jahre jünger war als ich, war schon genauso ehrbar geworden, nur Scheine, Jobs und Vermögensbildung im Kopf. Das wäre ja auch kein Wunder, überlegte ich, während ich in die Tiefgarage fuhr, schließlich waren wir recht früh auf uns selbst gestellt gewesen.
Hatte uns aber auch nicht geschadet, dachte ich mir weiter, als ich zum Lift lief und gähnend überlegte, ob ich im Erdgeschoss einen Zwischenstopp einlegen und die Post mitnehmen sollte. Oder lieber erst morgen? Nein, heute war das Wochenblatt gekommen, das verstopfte den Briefkasten bloß wieder. Ich beschloss, ein braves Mädchen zu sein und drückte auf E.
Ein wahrer Haufen quoll mir entgegen, als ich das kleine Fach aufschloss. Ich sammelte alles ein, schloss die Klappe wieder zu und kehrte in den Lift zurück. Jetzt aber ins Bett - morgen hatte ich wirklich eine Sitzung, bei der allerdings von mir nur verlangt wurde, nicht allzu offensichtlich einzuschlafen, und hier stand ich mit stapelweise Altpapier!
Was hatte ich überhaupt ergattert? Den Mönchberger Lokalboten (samt zehn Werbeprospekten), Bankauszug, Bankauszug, Telefonrechnung, Handyrechnung, Werbepost, Werbepost – die Lifttüren öffneten sich. Ich verließ den Lift blätternd, schloss meine Wohnungstür auf und wieder zu und blätterte weiter. Lotteriegesellschaft, Bankauszug, Postkarte, Restpostenkatalog, Bankauszug, Ansichtskarte, Pizzaflyer, Werbeblatt vom Supermarkt.
Ich warf Werbepost, Lotteriegesellschaft und Werbeblatt vom Supermarkt ins Altpapier, las die Ansichtskarte und grinste. Mein lieber Kollege Markus schien sich auf Kuba vor allem für den Rum zu interessieren... Aber eine nette Karte, lauter knallfarbene Oldtimer auf der Hafenpromenade. Wie in Buena Vista Social Club.
Die Bankbriefe (wahrscheinlich Ankaufbescheinigungen) legte ich auf den Tisch, den Mönchberger Boten (ohne die Einlagen, die sofort wegkamen) daneben. Eine Postkarte... Mist, nicht schon wieder! Was wollte er denn jetzt wieder? Ich drehte die Karte um: Liebe Nina, ich erwarte dich am Freitag, den 2. Juli um achtzehn Uhr. Sei bitte pünktlich. H. Lamont.
Wieso konnte er eigentlich nicht schreiben Dein Vater? War ihm das zu emotional, dem kalten Fisch? Oder war er´s womöglich gar nicht und wollte es so diskret andeuten? Schrieb er Nathalie eigentlich auch immer mit dieser Unterschrift? Dass sie auch gelegentlich solche Karten bekam und sich dann knurrend in der alten Villa über dem Fluss einfand, wusste ich ja.
Morgen Abend könnte ich die schönsten Sachen machen – aber nein, ich musste zu Vater... Komisch, alle anderen sagten Papa oder Papi oder Paps zu ihren Erzeugern, oder meinetwegen auch Daddy, aber unserer hatte auf Vater beharrt. Wahrscheinlich hätte er sich am liebsten von uns siezen lassen, wenn das nicht sogar ihm zu bescheuert gewesen wäre. Glaubte ich jedenfalls. Seufzend warf ich die Karte auf den Tisch und schlüpfte aus den Schuhen. Und was sollte das überhaupt heißen, Sei bitte pünktlich? Ich war immer pünktlich, und bei ihm ganz besonders, alleine schon, um die Anzahl der überflüssigen Predigten um eine zu reduzieren.
Was er wohl wieder wollte? Beim Abschminken dachte ich darüber nach, aber mir fiel nichts ein. Den Undank der heutigen Jugend hatten wir doch erst letzten Monat gehabt? Und meine angebliche Gier nach seiner Villa im Monat davor – als ob ich mich nach einem schwarz getäfelten Mausoleum verzehrte! Und davor... wenn mich nicht alles täuschte, sein Wehklagen darüber, dass er seinen einzigen Sohn verloren hatte und nur nutzloses Weibsvolk übrig geblieben war.
Immer das Gleiche: ein halbstündiger Vortrag, ich dachte an etwas anderes und sagte an den richtigen Stellen Ja, Vater, dann fragte er, ob ich dazu nichts zu sagen hätte, ich sagte Nein, Vater und wurde des Hauses verwiesen. Draußen pflegte ich erst einmal tief einzuatmen: frische Luft! Warum machte ich das eigentlich immer noch mit? Aus Mitleid, weil er ein einsamer alter Mann war?
Ach was, er war ein alter Arsch, wenn ich ehrlich war. Und Nathalie würde mir da sofort zustimmen. Und auf jeden Fall war er es nicht wert, dass ich mir seinetwegen noch die Nacht um die Ohren schlug. Ich fegte die Karte vom Tisch, zog mich aus, ließ meine Klamotten auf dem Weg zum Bad fallen und machte mich bettfertig.
Sobald die Konferenz überstanden war, schickte ich Nathalie eine E-Mail, dass sie mich sofort anrufen sollte. Ich war noch dabei, meine Notizen von der Konferenz in einen Online-Ordner zu übertragen, schließlich betraf mich die Konzeption einer neuen Ratgeber-Reihe auch, wenn auch nur im Hinblick auf die Finanzierung, als sie anrief. „Was gibt´s denn? Ich hab in zehn Minuten eine total wichtige Übung. Stochastik II.“
Klang ja oberwichtig, aber leider wusste ich noch, was Stochastik war, ich hatte auch mal in Mathe Abitur gemacht. Entsprechend wenig war ich beeindruckt. „Schaffst du schon noch. Hat unser Erzeuger dich auch einbestellt?“
„Nö, warum – dich?“
„Ja, für heute. Mist, wir wollten doch in den Wittelsbacher Garten gehen.“
„Na und? Gehen wir eben eine halbe Stunde später. Länger als eine halbe Stunde dauern seine Vorträge doch eh nie. Was will er denn?“
„Keine Ahnung. Enterbung? Vorwürfe, weil wir Töchter sind? Allgemeiner Undank?“
„Gejammer wegen der Rezession“, schlug Nathalie vor und lachte spöttisch. „Vielleicht ist er pleite und will das Geld von damals zurück.“
„Das kann er vergessen“, antwortete ich, „erst abspeisen und dann wiederhaben wollen? Kommt gar nicht in Frage. Okay, treffen wir uns um sieben im Biergarten, ja? Am Brotzeithäusl, wie immer.“
„Super. Ich muss dir den Hardy vorführen, der gefällt dir bestimmt auch.“
„Ich weiß nicht – wenn einer schon Hardy heißt... Na gut, troll dich in deine megawichtige Übung und denk dran, keine Wahrscheinlichkeit über eins!“
„Peanuts! Also, ciao.“
Ich wandte mich wieder der Konzeption zu und überschlug den Finanzbedarf. Bei der gegenwärtigen Wirtschaftslage sollten wir das Anzeigenaufkommen wohl lieber etwas bescheidener kalkulieren...
Ein perfekt in dunkelgraues Kammgarn gekleidetes Bein baumelte plötzlich von meiner Tischkante. „Na, schon in Wochenendstimmung?“
Ich sah auf und musterte das dazugehörige Gesicht streng: Max schon wieder! „Kaum“, entgegnete ich dann so kalt ich konnte. Jetzt bloß nicht lachen, sonst kriegte er wieder Oberwasser!
„Warum so deprimiert, an einem strahlend schönen Freitag?“ Er grinste auf mich herunter, selbstsicher und von seiner Wirkung überzeugt. Er war ja auch ein netter Kerl, aber ein Hallodri. Und verheiratet. Da halfen die schönsten weißen Zähne, die nettesten Grübchen und der schickste Haarschnitt nichts. Und das graue Kammgarn auch nicht, obwohl ich durchaus Sinn für gut gekleidete Männer hatte.
„Ich bin nicht deprimiert, ich habe zu arbeiten. Das kennst du nicht, das bedeutet, dass man das tut, wofür man eigentlich bezahlt wird. Oder hat man dich nur eingestellt, um die Belegschaft bei Laune zu halten?“
„Die weibliche Belegschaft“, verbesserte er zwinkernd, „oder hast du mich schon mal bei Mayring auf dem Schreibtisch sitzen gesehen?“
„Nein. Der Glückliche, der muss auch nie seine Unterlagen wieder glattstreichen. Du sitzt auf meinem Finanzplan, geh da mal runter.“
Er hob lediglich einen Oberschenkel an und ließ mich das Blatt herausziehen. Immerhin gelang es mir, ohne ihn dabei zu berühren. Er guckte enttäuscht.
„Du bist lieblos“, klagte er dann und rutschte von der Tischplatte. Ich fing die Maus ein, die mitrutschen wollte und sah ihn dann großäugig an. „Wieso? Wenn ich jemanden liebe, bin ich nicht lieblos – aber bei dir?“
„Herzloses Biest“, grinste er und schlenderte davon – hoffentlich zu seinem eigenen Schreibtisch, denn heute Nachmittag hatten wir beide mit Mayring noch ein anderes Projekt zu bearbeiten, und wenn er seinen Teil nicht erledigt hatte, gerieten wir ernsthaft in Verzug. Nein, das war unfair, Max Körner baggerte zwar als Pausenvergnügen herum, aber seine Arbeit machte er, wenn mir auch ein Rätsel war, wann.
Jetzt ging er Karin auf die Nerven, ich hörte sie vom anderen Ende des Raums abwehrend lachen. Und bei ihr saß er nicht auf dem Schreibtisch: Sollte ich mich jetzt geschmeichelt fühlen, weil mir diese Ehre zuteil geworden war?
Was ging mich dieser Depp an! Blödeln und arbeiten konnte man mit ihm ganz gut, und mehr wollte ich nicht von ihm, obwohl Karin mich manchmal so wissend ansah, wofür ich mich umgehend zu revanchieren pflegte.
War ich wirklich lieblos? Blöde Frage, vor allem, wenn man eigentlich über die neuen Anzeigenpreise nachdenken sollte. Ich rechnete lustlos etwas herum, aber die Frage Wie können wir die Preise attraktiv senken und dabei mehr einnehmen als vorher? war ohnehin nicht so einfach lösbar. Leider wurde der Chef ziemlich böse, wenn wir allen Schwund auf die Wirtschaftslage schoben, also sollte ich mir wohl doch etwas einfallen lassen...
Lieblos, so was Blödes! Zu Nathalie war ich nicht lieblos. Und zu – ja, zu wem denn noch? Bernie und Julia? Naja, manchmal schon, wenn Bernie wieder nichts geregelt kriegte und Julia ihr Hausfrauengetue übertrieb. Dafür nannten sie mich ja auch Streberin, so what?
Wir konnten vielleicht an den Abo-Preisen etwas drehen... Ich schrieb eifrig, rechnete und entwarf dafür geeignete Bedingungen, schließlich wollten wir unsere kostbaren Seiten ja auch nicht verschenken.
Lieblos? Wen liebte ich denn eigentlich? Nathalie eben, schließlich war sie ja meine kleine Schwester. Und sonst?
„Haben Sie die Übersicht wegen der Steuersoftware gesehen?“
Ich schob die Mappe in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war, ohne aufzusehen. Mayring eben.
„Nein, die andere.“ Jetzt sah ich doch auf. „Welche andere?“
„Na, wegen der Restposten vom letzten Jahr!“ Mayring sah mich strafend an. Ich fischte einen Zettel aus meinem Ablagekorb. „Hier. Hätte das nicht bis nachher Zeit gehabt?“
Er schnaufte und wandte sich ab. Wie immer eben. Ich starrte ihm giftig hinterher und vertiefte mich dann wieder in meine Unterlagen. Vielleicht gestaffelt, ab zweimal pro Vierteljahr günstiger, ab viermal noch günstiger... Quatsch, einfach einen Daueraborabatt mit verlängerten Kündigungsfristen!
Wen liebte ich außer Nathalie? Ja, wen sollte ich denn lieben? Unseren Vater womöglich? Der konnte uns doch auch nicht leiden! Und Mama – warum sollte ich ihr jetzt noch nachtrauern, sie war seit zwanzig Jahren tot, und meine vagen Erinnerungen bestanden mehr aus Jetzt nicht, Nina, du siehst doch, dass ich telefoniere und Kannst du denn nicht einmal alleine spielen? Ach ja, und Hörst du nicht, dass deine kleine Schwester schreit? An Geknuddeltwerden oder Ausflüge oder einfach nur mütterliches Getue konnte ich mich wirklich nicht erinnern. Der Bruder, dem unser Vater so nachzutrauern pflegte, war meinen eher vagen Erinnerungen nach etwa vier Jahre nach meiner Geburt tot zur Welt gekommen – und mehr Familie hatten wir nicht.
Es gäbe natürlich immer noch Männer...
Zum Lieben? Da lachten ja die Hühner!
Obwohl, Markus hatte ich schon geliebt. Glaubte ich jedenfalls, das war ja auch schon wieder ewig her. Letztes Schuljahr und die ersten drei Semester...
„Warum seufzt du denn so liebeskrank?“
Ich sah zornig zu Max auf. „Was schleichst du dich so blöde an? Und ich bin absolut nicht liebeskrank!“
„Natürlich nicht, du bist ja unsere Eisprinzessin. Aber geseufzt hast du doch.“
„Na und? Ist das verboten?“
„Zick nicht rum. Passt es dir, wenn wir das Meeting nachher um eine halbe Stunde verlegen? Auf drei Uhr?“
„Solange ich trotzdem um fünf gehen kann – ich hab ja noch was vor.“
„Glaubst du, ich nicht? Ab auf die Piste!“
Was sonst? „Drei ist okay. Dann mach ich um halb zwei Mittag. Wo ist der Chef eigentlich hin?“
„Verhandlungen außer Haus. Bei irgendeinem Fernsehsender.“
„Ehrlich? Kriegen wir so ein Magazin wie alle anderen auch?“
„Keine Ahnung. Willst du es moderieren?“
Ich wedelte abwehrend. „Da sei Gott vor!“
„Wieso? Du bist doch ganz fotogen, oder?“
„Woher willst du das wissen, hast du jemals ein Foto von mir gesehen? Mach du´s doch, du kriegst sicher waschkörbeweise Fanpost.“
„Lieber nicht, Sandra tickt aus!“
„Du meinst, dann merkt sie erst so richtig, was du die ganze Zeit treibst?“ Ich grinste ihn an.
„Ich treibe doch gar nichts“, entgegnete er, leicht beleidigt.
„Würdest du aber, wenn du hier irgendwo zum Zuge kämst, oder?“
„Nicht nur Eisprinzessin, auch noch gehässig!“ Er verzog sich und ich versuchte es weiter mit den Abo-Strategien, wobei ich mir energisch verbot, meine Verflossenen Revue passieren zu lassen. So blöde waren die auch nicht gewesen, bloß eben nicht die Richtigen. Solo war schon besser, dann konnte man sich wenigstens auf die Arbeit konzentrieren.
Nathalie konnte unserem Vater ja eines Tages Enkel bescheren. Wenn dieser Hardy mehr taugte als seine Vorgänger, hieß das. Nicht, dass Vater auf Enkel scharf gewesen wäre.
Gegen eins war ich mit dem Konzept endlich fertig und hatte zwischendurch noch allerlei anderen Kram abgearbeitet und weitergeleitet. Zufrieden betrachtete ich meinen fast aufgeräumten Schreibtisch: Reif fürs Wochenende! Nur das alberne Meeting und diesen überflüssigen Besuch bei Vater musste ich noch hinter mich bringen.
Lieblos und fotogen. Jetzt hatte mir Max schon zwei Eigenschaften untergejubelt, über die ich nachdenken musste. Also, lieblos war ich nicht, beschloss ich. Ich liebte bloß praktisch niemanden – wen denn auch? Und fotogen... nein. Jedenfalls nicht so, dass es für ein TV-Magazin gereicht hätte. Außerdem wurde ich schon nervös, wenn ich in ein Mikrofon sprechen musste. Und früher war ich vor jedem Referat fast gestorben und hatte alle Statements mit verlegenem Räuspern und Äh, ja, also... begonnen. Das musste man ja nicht auch noch im Fernsehen haben!
Und außerdem konnte ich mich langsam in die Mittagspause aufmachen.
Ich holte mir in der Sandwichbar ein dickes Prachtstück mit Putenbrust, Salat, Tomaten und dieser himmlischen giftgrünen Kräutermayonnaise und setzte mich in der kleinen Anlage gegenüber von Markt&Geld auf eine Bank. Sonnenbrille auf, Beine ausgestreckt und zufrieden kauend. Ja, so konnte das Wochenende kommen! Vor allem, weil ich das Wochenende garantiert nicht in einem dunkelblauen Hosenanzug verbringen und folglich auch nicht dermaßen schwitzen würde. Bikini und Balkon waren angesagt – und Sonnenschirm, Leute mit rötlichen Haaren und heller Haut mussten ja leider aufpassen.
Lecker. „Was isst du denn da?“
Ich blinzelte. Ach, Gabi! „Sandwich. Schmeckt super. Und die kosten bloß zwei fünfzig, drüben in dem Laden da.“
„Ist da Butter drauf?“, fragte Gabi misstrauisch. „Du weißt ja, tierische Fette...“
„Nein. Mayo, aber Putenbrust. Ganz mager.“
„Hm.. na, lieber nicht.“
„Die haben sicher auch was Vegetarisches“, lockte ich, aber Gabi blieb standhaft und packte eine Reiswaffel aus. Ohne was drauf.
„Schmeckt das nicht ziemlich fad?“, erkundigte ich mich. Sie zuckte die Achseln. „Dafür ist es gesund. Man kann nicht alles haben. Und Kalorien hat das Zeug auch praktisch nicht.“ Ja, so sah es auch aus.
„Warum machst du bloß immerzu Diät? Du bist doch gar nicht dick“, versuchte ich es wieder mal. „Nicht dick? Hast du eine Ahnung! Dieser Superbikini kneift an allen Ecken und Enden – obwohl, von Ecken kann man bei mir sowieso nicht sprechen, und nächsten Freitag fliegen wir für zwei Wochen nach Lanzarote! Ich muss unbedingt noch mindestens drei Kilo abnehmen!“
„Ich würde mir einfach den Bikini eine Nummer größer kaufen und schon ein bisschen bräunen“, schlug ich vor. „Braun sieht man immer schlanker aus. Ich werd ja leider nicht so braun.“
„Du brauchst das ja auch gar nicht, du bist so toll dünn.“ Sie musterte mich nicht ohne Neid. „Du wiegst bestimmt nicht mehr als fünfzig Kilo, oder?“
Ich grinste. „Gabi, ich bin einsfünfundsiebzig groß, da verteilt sich das Gewicht bloß besser. Ich wiege sechzig Kilo, und das ist auch gut so. Apropos, hast du´s mal mit höheren Absätzen probiert? Ich meine, nicht, dass du dick wärst, aber wenn die Körpergröße um - sagen wir mal - fünf Zentimeter steigt...“
„In so was kann ich nicht laufen. Und wenn ich mit Strandpantöffelchen durch die Lava stakse und dann auf die Schnauze fliege – das macht den Urlaub auch nicht schöner.“ Sie seufzte tragisch und kaute mit langen Zähnen das styroporartige Ding.
„Wann machst du Urlaub?“, fragte sie dann.
„Weiß noch nicht. Ich fahre eh nicht weg, ich denke, ich nehme ihn dann, wenn sonst keiner will.“
„Du fährst nicht weg? Wieso nicht? Kein bisschen am Strand braten?“
„Kein Geld“, log ich, „ich muss meine Wohnung noch abzahlen.“ In Wahrheit hatte ich bloß keine Lust – die Wohnung war abbezahlt, und Geld für einen Urlaub hatte ich auch. Aber ich wollte lieber das Schlafzimmer neu streichen und mir anständige Regale für die Abstellkammer kaufen.
Mein Handy klingelte, und Gabi erhob sich, wischte sich die Reisflocken von der Jacke und winkte mir zum Abschied zu. Als ich mich gemeldet hatte, erntete ich Gestotter: „Was – wieso? Äh, hier ist Simon...“
„Hi, Simon“, antwortete ich leicht erstaunt. Wir hatten doch vor gut einem Jahr Schluss gemacht, und das nicht unbedingt in gegenseitigem Einvernehmen? „Was liegt an?“
„Nichts – äh, also eigentlich wollte ich gar nicht dich anrufen, ich muss im Speicher verrutscht sein.“
Ich kicherte. „Männer und Technik! Warum löschst du meine Nummer nicht einfach? Markieren, Optionen, Löschen. Wieder ein Problem gelöst.“
„Jaja, spotte nur. Aber wenn ich dich schon mal an der Strippe habe... wie geht´s dir denn so?“
„Gut“, antwortete ich zufrieden. „Ich sitze in der Mittagspause in der Sonne und freue mich aufs Wochenende. Und wie geht´s dir? Und deiner – wie hieß sie doch gleich? Irmgard?“
„Irma“, antwortete er beleidigt. „Und wir sind nicht mehr zusammen.“
„Das tut mir aber Leid“, heuchelte ich. Wegen Irma hatte er mit mir Schluss gemacht, aber behauptet, es sei, weil ich ihn nie wirklich ernst genommen hätte. Männer? Ernst nehmen?
„Lüg nicht rum, du freust dich doch, oder?“
„Aber nein“, schwindelte ich. „Woran lag´s denn? Ich denke, sie war die ideale Frau, so anschmiegsam, um nicht zu sagen gutgläubig?“
Simon schnaubte. „Gutgläubig? Ach, Nina...weißt du, es ist ja schon nett, wenn man von seiner Freundin bewundert wird. War mal eine Abwechslung für mich. Aber gar so kritiklos? Außerdem hat sie wirklich allen alles geglaubt.“
„Was soll das denn heißen?“ Ich lehnte mich, den letzten Bissen im Mund, gemütlich zurück.
„Ach, sie hat dauernd irgendwelchen Kram gekauft, sogar an der Haustür. Da musste einer bloß mit einer abgedroschenen Geschichte daherkommen. Und erinnerst du dich noch an den Wolfi? Dem hat sie allen Ernstes abgekauft, dass er alleine auf dem Montblanc war, richtig raufgeklettert. Totale Heldenverehrung, und warum ich so was nie mache.“
Ich kicherte. „Tja, du könntest ja mit der Geißenhöhe anfangen und dich dann langsam steigern.“
„Dieses sanfte Hügelchen hinter Waldstetten? Typisch für dich!“
„Komm, bei dem, was du so wegrauchst, bist du doch schon nach einer Treppe völlig außer Atem!“
„Ich bin immer noch fitter als du!“, fauchte er mir ins Ohr. Ich kicherte noch mehr. „Jaja, wie du meinst. Ich glaube, jetzt löschst du meine Nummer endgültig, oder?“
„Auf jeden Fall. Sobald ich die von meiner neuen Eroberung eingegeben habe. Ich sag dir, eine absolute Traumfrau...“ Nach diesem Partherpfeil schaltete er ab und ich grinste vor mich hin. Traumfrau, soso! So traumhaft wie Irma wahrscheinlich. Und davor wie ich und davor wie diese rachsüchtige Corinna und davor... keine Ahnung. Das konnte mir auch ziemlich egal sein. Aber so etwas wie Simon konnte ich wirklich nicht ernst nehmen!
Die Projektsitzung war so unergiebig gewesen wie erwartet, was zum einen daran gelegen hatte, dass Mayring schlecht gelaunt und Max in alberner Stimmung gewesen war (er hackte immer noch auf der Sache mit dem TV-Magazin herum, obwohl das weder spruchreif noch unser Thema war), zum anderen daran, dass wir alle drei schlecht vorbereitet waren und wichtige Unterlagen auf dem Weg von der Geschäftsleitung bis zu uns irgendwo falsch abgebogen waren.
Schließlich war es schon kurz nach fünf, als ich meinen Schreibtisch endlich absperren und meine Tasche über die Schulter schwingen konnte. Hastig brauste ich von Zolling nach Mönchberg, ärgerlich über die Vorladung in die Gruselburg: Was man da an Sprit verplemperte! Zolling – Mönchberg, Mönchberg – Henting, Henting – Altstadt, Altstadt – Mönchberg: jedes Mal quer durch die Stadt. Aber etwas frisch machen sollte ich mich eben doch und ein bisschen einkaufen... Nein, einkaufen konnte ich auch morgen Vormittag. Allerdings war es dann im Supermarkt wieder rappelvoll... Nein, egal. Hauptsache nicht jetzt!
Ich parkte schief vor dem Haus, lief nach oben, räumte meine Tasche aus, steckte die Postkarte von Vater ein (aus unerfindlichen Gründen wollte er sie immer zurück haben), schminkte mich ab, weil er keine angemalten Weiber mochte, ärgerte mich über meine Willfährigkeit, nahm den Schmuck ab, weil er auch keine mit Klunkern behängten Weiber mochte, ärgerte mich noch mehr, schlüpfte in flache, bequeme Schuhe mit dickerer Sohle (der scharfkantige Kies im Wittelsbacher Garten!), kontrollierte, wie viel Geld ich noch hatte, bürstete meine rotbraunen Locken, band sie im Nacken brav mit einer Spange zusammen, warf einen gehetzten Blick in die Runde – alles einigermaßen ordentlich, nur leicht angestaubt – und griff wieder nach dem Schlüssel.
Eigentlich konnte er jetzt nicht meckern, fand ich – aber er würde es trotzdem tun, das wusste ich. Warum bestellte er uns eigentlich immer wieder zu sich? Bloß, um uns zuzupredigen? War er einsam? Bereute er, dass er uns so entschieden zum frühestmöglichen Zeitpunkt vor die Tür gesetzt hatte? Gott behüte, hatte Nathalie womöglich Recht und er wollte das Geld zurück, mit dem er sich von jeder weiteren Verantwortung freigekauft hatte?
Das konnte er vergessen, beschloss ich, genauso wie ich es Nathalie gesagt hatte. Wir hatten nicht unterschrieben, dass das Geld nur geliehen war, und wenn er wirklich pleite war, sollte er erst einmal das Haus samt den Bergen von nutzlosem Inventar verscherbeln. Ich kurvte Richtung Henting und merkte, dass ich schon richtig aggressiv fuhr, weil ich mich so ärgerte. Wenigstens war vor dem Haus ein Parkplatz frei! Ich verzichtete darauf, mich halb auf den Bürgersteig zu stellen, er würde es ja doch wieder merken und mich anschnauzen. Als ob mein fast neuer Wagen Öl verlöre!
Außerdem stand dieser schwarze BMW auch ganz auf der Straße. Dann mussten die drei Autos, die hier pro Tag durchfuhren, eben etwas aufpassen. Die Nachbarn hatten wohl Besuch? Netter Wagen, fand ich, wenn ich noch etwas mehr Geld zusammengerafft hatte, sollte ich auch mal über so etwas nachdenken, aber noch tat es mein Golf auch. Und wenn ich mir mal so was leisten könnte, würde ich mir nicht so eine Schnapszahl wie 3333 aufs Kennzeichen setzen. Da fanden einen die Bullen doch immer sofort!
Ich schloss ab und klingelte artig einmal (Für Sturmklingeln hatte ich vor zwanzig Jahren tatsächlich mal eine Tracht Prügel bezogen und dabei so gestrampelt, dass ich es geschafft hatte, Vater ins Gesicht zu treten. Diese Erinnerung zauberte prompt ein töchterliches Lächeln auf mein Gesicht).
Nichts. Wollte er mich wieder zappeln lassen?
Ich sah auf die Uhr. Mein Gott, vier Minuten vor sechs, man konnte die Korinthenkackerei auch übertreiben! Na gut, wartete ich eben. Um zwei Minuten vor sechs verlor ich die Geduld und klingelte wieder. Wieder nichts. War er womöglich nicht da? Ausgeschlossen, er verließ das Haus doch praktisch nie. Ob sein Wagen da war, konnte ich nicht feststellen, der war natürlich immer ordentlich in der Garage geparkt, und die Einfahrt war sorgfältig geharkt.
Ich läutete noch einmal. Jetzt war es exakt achtzehn Uhr, jetzt konnte doch wirklich nichts mehr falsch sein? Und warum öffnete nicht wenigstens die übellaunige Frau Zittel? Es war ja nicht so, als würde sich Vater selbst versorgen!
Nichts.
Ich trat wütend gegen das schmiedeeiserne Törchen, und es öffnete sich – nein, nicht unheimlich quietschend. Das Haus sah zwar aus wie aus einem der schlechteren Edgar Wallace-Filme geklaut, aber alles war ordnungsgemäß geölt.
Also trat ich ein, obwohl uns verboten war, das Grundstück eigenmächtig zu betreten: An meinem achtzehnten Geburtstag war mir unmissverständlich klar gemacht worden, dass dieses Haus nicht mehr mein Zuhause war. Und Nathalie war es acht Jahre später genauso ergangen.
Wenn er nicht wollte, dass man unaufgefordert eintrat, sollte der alte Mistkerl eben entweder zuschließen oder seinen Hintern zur Tür bewegen und sie aufmachen, wie es unter zivilisierten Menschen üblich war!
An der Haustür klingelte ich auch wieder vergeblich und schließlich Sturm. Wenn er mich wieder übers Knie legen würde, würde ich zurückschlagen und mich dann auf einen Reflex herausreden.
Schließlich drückte ich probeweise gegen die Tür. In einem Film hätte sie sich jetzt geöffnet, überlegte ich, aber so einfach war die Realität mal wieder nicht; die Tür blieb zu. Frustriert trat ich einen Schritt zurück, und das war wohl auch mein Glück, denn im nächsten Moment wurde sie aufgerissen und ein fremder Mann stand vor mir – grünlich weißes Gesicht, weit aufgerissene Augen und ein hinreißend schöner, wenn auch krampfhaft zusammen gepresster Mund. Mehr sah ich nicht, bevor er mich zur Seite stieß, die drei Stufen hinunter stürzte und wegrannte.
Ich rieb mir den Arm und sah ihm konsterniert nach. Was sollte das denn? Für einen von Vaters komischen Gartenfreunden war er zu jung, wenn er sich nicht um den Posten eines Gärtners beworben hatte und von Vater mit dessen üblichem Mangel an Charme abgewiesen worden war. Trotzdem, so grün hätte er dann auch nicht sein müssen.
Wenigstens war die Haustür offen geblieben! Ich trat ein und blinzelte wie immer erst einmal orientierungslos in der dämmerigen Halle, dann rief ich laut: „Hallo? Ich bin´s, Nina. Ich sollte doch um sechs Uhr kommen?“
Keine Antwort.
Allmählich wurde mir die Sache unheimlich. Wenn er nicht da war, wieso war dann dieser Mann eben aus dem Haus gestürzt? Den musste er doch reingelassen haben? Unsinn, beruhigte ich mich selbst, vielleicht war das der Sohn von der blöden Zittel, und Vater war wirklich nicht da. Oder werkelte im Garten herum. War jetzt nicht gerade die Zeit, in der man den Rasen wässern musste? Aber dafür war er eigentlich zu korrekt. Überkorrekt sogar. Ein Korinthenkacker reinsten Wassers eben. Hier stimmte eindeutig was nicht.
Energisch steuerte ich das Arbeitszimmer an, sobald sich meine Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, und stieß die Tür auf. „Guten Abend, ich sollte doch um sechs Uhr hier s-“
Er saß am Schreibtisch, der Kopf war auf die lederne Schreibunterlage gesunken und irgendwie wusste ich, so sehr ich vorher auf der Leitung gestanden hatte, dass er tot war.
Oder? Ein Gefühl konnte einen schließlich auch trügen! Ich umrundete, trocken schluckend, den Schreibtisch, achtete darauf, nichts anzufassen und auf nichts zu treten – es lagen einige Papiere auf dem Boden – und betrachtete sein Gesicht, das von der Tür abgewandt war. Die Wunde an der Schläfe war deutlich zu sehen, und auch das Blut, das auf diese Seite der Schreibtischunterlage geflossen war.
O verdammt!
Ich hatte ihn ja wirklich nicht gemocht, aber so was...?
Vorsichtig zog ich mich wieder aus dem Arbeitszimmer zurück und zückte im Flur mein Handy. Nach den notwendigen Anrufen, bei denen ich mir vorkam wie in einem schlechten Film, auf jeden Fall nicht real, setzte ich mich in der Halle auf einen der Stühle und wartete.
Nach einigen Minuten wusste ich, warum dort nie jemand gesessen hatte; ich stand wieder auf, rieb mir den Rücken da, wo die Verzierungen sich hineingebohrt hatten, und trat lieber nach draußen.
Schließlich fuhren ein Polizeifahrzeug und ein Krankenwagen vor, zwei Beamte traten ein und folgten meinem ausgestreckten Zeigefinger. Ich wurde ansonsten nicht weiter beachtet, also lief ich in der Einfahrt im Kreis herum und versuchte zu überlegen, aber meine Gedanken drehten sich zunächst genauso sinnlos wie meine Schritte. Vater tot? Das konnte doch gar nicht sein, wahrscheinlich war das nur ein Alptraum und ich schreckte gleich an meinem Büroschreibtisch hoch. Tot? Vielleicht war er gar nicht wirklich tot. Oder doch?
Allmählich dachte ich ruhiger. So einer brachte sich doch nicht um! Und der Typ, mit dem ich in der Tür fast zusammen geprallt war – hatte er ihn gefunden und wollte damit nicht in Zusammenhang gebracht werden oder hatte er ihn erschossen? Eine Schusswunde war das, da war ich mir sicher. Ich guckte ja nicht umsonst die einschlägigen Serien wie CSI!
Er hatte nichts in der Hand gehabt, da war ich sicher. Wie hatte er eigentlich ausgesehen? Ziemlich groß, größer als ich jedenfalls, ich hatte nach oben geguckt, als ich sein bleiches Gesicht registriert hatte. Oder hatte ich da noch auf einer der Treppenstufen gestanden? Nein, ich war ja schon oben gewesen, um zu klingeln. Ein gutes Gesicht. Nicht wie ein Killer.
Himmel, wie sah denn ein Killer aus? Mit Killerfratze oder wie? Ich war wirklich dämlich! Und dass er nichts in der Hand gehabt hatte, besagte gar nichts. Eine Pistole oder ein Revolver (mit dem Unterschied kannte ich mich nicht so aus) war ja klein und passte in die Hosentasche. Was hatte er getragen? Einen dunklen Anzug? Da bemerkte man so etwas ja auch weniger als etwa bei knallengen Jeans. Ich schaute auf die Straße. Der schwarze BMW war weg. Ob das seiner gewesen war? Die Buchstaben hatte ich vergessen, aber die Zahl, 3333, hatte sich mir eingebrannt.
Sollte ich Nathalie anrufen? Um sieben im Biergarten, das konnten wir ja wohl vergessen. Sofort kam ich mir kaltschnäuzig vor – jetzt an den Biergarten zu denken! Und, wenn wir schon mal dabei waren, auch an das garantiert versaute Wochenende. Herzlos war ich, jawohl.
Blödsinn, er hätte im umgekehrten Fall ja auch nichts anderes gedacht. Ich rief Nathalie an, die es zuerst nicht glauben wollte und dann relativ gefasst reagierte. „Kaum vorstellbar, was? Er war irgendwie immer da, auch wenn diese Vorladungen bloß lästig waren. Ich komme hin, das mit dem Biergarten wird ja doch nichts mehr.“
Wir waren uns wirklich ziemlich ähnlich. Nur äußerlich nicht, Nathalie war dunkelhaarig und blauäugig und sah viel besser aus als ich. Sie wurde im Sommer auch immer knackbraun und ich kriegte Sonnenbrand und wurde dafür gehänselt. Warum dachte ich jetzt an so was?
Eine Frau in Zivil trat aus dem Haus. Mir war gar nicht aufgefallen, dass die Kripo schon angekommen war! „Sie haben ihn gefunden?“ Ich nickte.
„Und Sie sind -?“
„Nina Lamont. Der – äh – der Tote ist mein Vater. Hartmut Lamont. Ich habe meine Schwester informiert und herbestellt, ist das in Ordnung?“
„Natürlich. Mein Name ist Kerner, Charlotte Kerner.“
„Mordkommission?“
„Ja. Sie vermuten also, dass Ihr Vater ermordet wurde?“
„Naja – ich hab dieses Loch in seiner Schläfe gesehen“, ich schluckte, als ich mich an den Anblick erinnerte, „und der Typ für Selbstmord war er nun wirklich nicht. Außerdem hätte die Waffe dann ja irgendwo herumliegen müssen.“
Frau Kerner lächelte flüchtig. „Fernsehen bildet, was?“
Ich lächelte ebenfalls, etwas schief wahrscheinlich. „Genau. Wenn Sie Fragen haben – nur zu.“
„Sind Sie dazu schon in der Lage? Wir können das sonst auch morgen auf dem Präsidium erledigen.“ Ich zuckte die Achseln. „Wenn ich ehrlich bin, hab ich nicht direkt an meinem – unserem Vater gehangen. Es war kein schöner Anblick, aber völlig niedergebrochen bin ich nicht. Und meine Schwester wird es wohl auch nicht sein.“
„Und woran liegt das?“
„Wahrscheinlich daran, dass er auch nicht an uns gehangen hat. Er hat uns jeweils an unserem achtzehnten Geburtstag vor die Tür gesetzt, zwar mit genügend Geld, aber es wurde schon deutlich, dass er seine Pflichten als erfüllt und seine Aufgaben als beendet angesehen hat. Seitdem wurden wir nur noch etwa einmal im Moment herzitiert, um uns seine Tiraden zum Weltgeschehen, zur Jugend von heute oder zu unserer jeweiligen Nutzlosigkeit anzuhören. Heute war ich dran.“
„Warum sind Sie dann überhaupt gekommen? Hängen Sie finanziell von ihm ab?“ Das klang mir etwas lauernd, so als ob ich ihn des Erbes wegen erschossen hätte. Oder zumindest eine Erbschleicherin wäre. „Nein“, entgegnete ich also etwas schärfer als beabsichtigt, „wir haben seine Vorladungen einfach als Schicksal hingenommen. Es dauerte ja auch nie lange und es war die einzige Form von Familienleben, die wir hatten. Nicht direkt ein Dialog, freilich, eher ein Monolog, am Ende hatten wir zu sagen Ja, Vater und uns dann wieder zu trollen. Und die Vorladung mussten wir wieder abliefern.“
„Er hat Sie schriftlich – äh – einbestellt?“
Ich grinste. „Einbestellt ist ein schönes Wort. Ja. wollen Sie die Karte sehen? Warum er nicht telefoniert hat, weiß ich auch nicht – es sei denn, er war schwerhörig und wollte nicht, dass wir das wissen.“ Ich reichte ihr die Postkarte, die sie stirnrunzelnd studierte. „Kann ich das behalten?“
„Natürlich. Ich fange jetzt auch keine Souvenirsammlung mehr an.“ Sie steckte die Karte ein und sah sich um, blickte sinnend die graue, weinbewachsene Fassade hinauf und musterte dann das Gartentor. „Sie haben einen Schlüssel zu diesem Haus?“
„Nein, natürlich nicht“, antwortete ich entrüstet. „Ich glaube nicht, dass außer Vater und Frau Zittel – das ist die Haushälterin – jemand einen Schlüssel hat. Darin war er genauso eigen wie in allem anderen.“
„Haushälterin, ja?“ Sie schien einen Moment lang abgelenkt. „Ich weiß, das hört sich an wie in diesen treudeutschen Krimiserien – aber er war ein alter Mann und durchaus der Ansicht, dass niedere Dienste Weiberkram sind. Und Geld hatte er dafür bestimmt genug.“ Sie nickte. „Und wie sind Sie nun ohne Schlüssel reingekommen?“
„Das Törchen war offen, wie ich nach mehrfachem Klingeln gemerkt habe, und an der Haustür kam mir ein Mann entgegen“, ließ ich die Bombe platzen.
Sie starrte mich an. „Und das sagen Sie erst jetzt??“
Ich seufzte. „Viel nützen wird es Ihnen nicht, ich kannte ihn nicht und hab ihn nur eine Sekunde lang gesehen. Er war ziemlich bleich.“
„Kommen Sie, etwas mehr dürften Sie doch noch wissen, oder?“
Dass er einen absolut sexy Mund hatte? Das würde sie wohl kaum interessieren. „Er trug etwas Dunkles, wohl einen Anzug. Er hat mich zur Seite geschubst und ist weggerannt. Mehr weiß ich ehrlich nicht. So groß wie ich, denke ich, aber ich bin noch auf den Stufen da gestanden“, nickte ich verlogen in Richtung Haustür, „also kann ich mich da auch täuschen.“
„Alt? Jung?“ Ich zuckte die Achseln. „Kein Greis, keine weißen Haare. In den Dreißigern, denke ich.“
„Würden Sie ihn wieder erkennen?“ Sofort!
„Kaum“, antwortete ich und setzte eine bedauernde Miene auf. „Steht denn nichts im Terminkalender? Vater hat sich solche Dinge doch bestimmt aufgeschrieben.“
„Wissen Sie das oder vermuten Sie es nur?“, fragte sie zurück.
„Ich vermute es. Ich weiß nicht viel über ihn.“
„Was ist denn mit Ihrer Mutter? Sie haben sie noch gar nicht erwähnt.“
„Sie ist vor zwanzig Jahren gestorben, ich kann mich nur noch vage an sie erinnern.“
„Und ich gar nicht mehr“, ergänzte Nathalie, die plötzlich neben uns auftauchte und Frau Kerner die Hand reichte. „Nathalie Lamont, guten Tag.“
Die Kerner erwiderte den Gruß und fragte weiter: „Hat Ihr Vater denn nie von ihr erzählt?“ Nathalie schüttelte den Kopf. „Kein Wort. Wir wissen nicht mal, woran sie eigentlich gestorben ist – oder, Nina?“ Ich konnte nur zustimmen.
„Seltsam“, murmelte die Kerner und winkte einem jungen Mann zu, der aus dem Haus trat. „Na?“
Der junge Mann warf uns einen forschenden Blick zu und zuckte dann die Achseln. „Nichts Vernünftiges.“
„Vielleicht sollten Sie Vaters Anwalt informieren“, schlug Nathalie vor, „der kann Ihnen sicher Genaueres sagen. Über unsere Mutter und Vaters Lebensstil und all so was. Wir wissen wirklich nichts, wir durften ja nur auf Aufforderung eintreten. Der Anwalt heißt – äh.“
„Kastner“, half ich aus. „Das heißt, wenn es immer noch der gleiche ist wie früher?“ Nathalie nickte. „Als er mich rausgesetzt hat, war´s noch der gleiche, und das ist erst vier Jahre her.“
„Und wenn nicht, weiß er bestimmt, wer sich jetzt um das Mandat kümmert. Kastner“, wiederholte ich, „Leopold Kastner, oder?“
„War´s nicht Luitpold?“, fragte Nathalie.
„Kann auch sein. Na, beides wird´s ja wohl nicht geben.“ Der junge Mann notierte sich das, dann sah er auf: „Brauchst du mich noch, Charlie?“
„Nein. Wenn ihr drinnen fertig seid, lasst die Leiche abtransportieren. Und kriegt mal raus, wo die Haushälterin steckt. Versiegelt das Zimmer, das dürfte reichen.“
Er nickte brav und wandte sich ab. Nathalie betrachtete versonnen seine niedliche Hinterfront und zwinkerte mir dann zu. Ich bewahrte mühsam die Fassung, als Frau Kerner die Augen zum Himmel verdrehte und Immer das Gleiche murmelte. „Bitte?“, fragte ich aber doch, und sie winkte ab und musterte unsere fast identischen dunkelblauen Anzüge. „Nicht gerade die typische Freitagabendkleidung, oder?“
„Er hasste Blue Jeans“, erläuterte Nathalie und starrte dem knackigen Polizistenhintern immer noch nach.
„Nathalie, hör auf zu sabbern“, mahnte ich leise, „ich denke, du hast den tollen Hardy?“ Sie wandte sich widerstrebend ab. „Hast ja Recht. Aber niedlich ist der schon...“
„Sollten Sie heute auch hier antreten?“
„Nein“, erläuterte Nathalie, „nie beide zusammen. Zwei gegen einen, davor hatte er wohl Angst. Heute war bloß Nina dran, mich hätte es wahrscheinlich in zwei Wochen erwischt. Was das Ganze sollte, ist uns sowieso nie klar geworden – er konnte uns doch gar nichts mehr, es war nur ein schwächlicher Versuch zu Psychoterror.“
„Vielleicht wollte er sich selbst einreden, dass er noch Einfluss auf uns hatte“, gab ich zu bedenken, aber eigentlich glaubte ich selbst nicht daran, und Nathalie warf mir auch einen entsprechenden Blick zu.
„Besitzen Sie eine Waffe?“, wollte Frau Kerner wissen. Nathalie lachte schallend, und ich schüttelte den Kopf. „Höchstens ein Küchenmesser. Aber Sie dürfen sich gerne bei mir umsehen. Hier, meine Karte – wegen der Adresse.“
Nathalie kramte ebenfalls eine Karte hervor, und wir erhielten im Austausch je eine Karte von Frau Kerner. „Kriminalhauptkommissarin“, las Nathalie vor. „Ist das viel?“
„So mittel“, antwortete die Kerner. „Ja, ich weiß schon, mit DS, DI und DCI könnten Sie mehr anfangen, was?“
„Kunststück, wenn die besten Krimis immer noch aus England kommen.“
„Weißt du was?“, fragte Nathalie plötzlich. „Jetzt sind wir Vollwaisen. Komischer Gedanke.“
„Deshalb fühle ich mich auch nicht anders“, antwortete ich, „aber vielleicht kommt das noch. Ich hab ja noch gar nicht erfasst, dass er tot ist... Wer macht so was?“
„Genau das ist die Frage“, warf die Kerner ein und fixierte mich. „Fällt Ihnen zu diesem Mann nicht doch noch was ein?“
„Mann?“ Nathalies Blicke schossen von ihr zu mir und wieder zurück. „Welcher Mann? Der berühmte Landstreicher?“
„Sehr betroffen wirken Sie beide wirklich nicht“, wurden wir kritisiert. „Der Mann, den Ihre Schwester beim Verlassen der Villa gesehen hat.“
„Da war ein Mann? Ist er´s vielleicht gewesen?“
Ich zuckte die Achseln. „Keine Ahnung. Einen rauchenden Colt hatte er jedenfalls nicht in der Hand. Ich hab ihn doch nur ganz kurz gesehen und erschrocken war ich auch. Außerdem möchte ich bloß mal wissen, wo die Frau Zittel ist. Und wer hatte einen Grund, ihm das anzutun?“ Warum Nathalie da grinste, verstand ich nicht. „Was hat Ihr Vater eigentlich beruflich gemacht?“, wechselte die Kerner das Thema.
„Nichts mehr, denke ich. Er hatte mal eine Firma, aber die hat er 2001 verkauft. Ob eine von uns sie weiterführen wollte, hat er gar nicht gefragt. Typisch.“
„Was für eine Firma?“
„Lamont und Partner AG. Autozubehör. Er war Zulieferbetrieb für mehrere Automobilhersteller, Gurtsysteme und all so was. Aber wegen der Einzelheiten erkundigen Sie sich am besten bei seinem Anwalt, kleinen Weiberhirnen hat er die Details nicht anvertraut.“
„Das klingt etwas bitter. Was machen Sie denn beruflich?“
„Ich arbeite in der Finanzabteilung von Markt&Geld, und Nathalie studiert noch.“
„Die Wirtschaftszeitschrift? Also sind Sie Betriebswirtin?“
„Und Volkswirtin. Ich hätte die Firma schon leiten können, und 2001 war ich auch schon lange fertig, aber ob er das wusste... Bei diesen Terminen redet - redete ja immer nur er. Na, egal, bei Markt&Geld ist es bestimmt interessanter.“
„Ich will auch lieber Wirtschaft unterrichten als richtig authentisch auf die Schnauze zu fliegen“, fügte Nathalie hinzu und kicherte, als mein Magen laut knurrte. „Sorry, wir wollten ja eigentlich nach diesem Zwangsbesuch in den Biergarten, also hab ich noch nichts gegessen.“
„Das sollten Sie dann aber mal tun“, fand die Kerner mit einem Blick auf meine dürre Figur. „Ich denke, für heute war´s das. Sie sollten morgen Mittag, so gegen zwölf, mal im Präsidium vorbeischauen, bis dahin haben wir sicher noch mehr Fragen. Und wir werden in den nächsten Tagen sicher auch mal bei Ihnen vorbeischauen.“
„Aha – Hausdurchsuchung? Vielleicht haben wir ja doch die Waffe irgendwo versteckt?“
„Also, zu diesem Zeitpunkt müssen wir natürlich jeden verdächtigen. Sie waren ja hier, Frau Lamont – und Sie? So gegen sechs Uhr? Die genaue Todeszeit wissen wir leider noch nicht.“
„Ich hab mich mit meiner Nachbarin gestritten, bis Nina angerufen hat. Die Zimtzicke hat sich mal wieder wegen meiner Musik aufgeregt. Dabei muss man Queen laut hören, oder?“
„We Will Rock You auf jeden Fall“, stimmte die Kerner amüsiert zu und entließ uns.
„Warum hast du vorhin so blöd gegrinst?“, fragte ich, als wir im Wittelsbacher Hof saßen – drinnen, wo es an diesem herrlichen Abend total leer war. Ein Rest von Pietät?
„Wann denn? Ich grinse öfter mal.“ Nathalie las die Karte und sah kaum auf. „Was Warmes ist mir jetzt doch zu schwer... was nimmst du?“
„Wurstsalat. Lenk nicht ab. Als ich gefragt habe, wo die Frau Zittel ist. Und wer Vater erschossen haben könnte. Ich meine, da gibt´s doch keinen Grund, oder?“
„Meinst du?“ Sie grinste schon wieder. Mit ihrem Lausbubenmund und den funkelnden blauen Augen sah sie einfach entzückend aus.
„Weißt du was, was ich nicht weiß?“ Nathalie hörte öfter mal das Gras wachsen, und ich kriegte öfter mal was nicht mit, das war schon immer so gewesen. „Nein. Nur dass er ein unangenehmer Kerl war. Wenn er sich schon als Rabenvater aufgespielt hat, glaubst du, er war als Chef und Geschäftspartner angenehmer? Oder als Nachbar? Vielleicht war der Kerl, den du gesehen hast, einer aus der Nachbarschaft und Vater hatte sich beschwert, weil dessen Kinder es gewagt haben, beim Spielen zu lachen oder so. Erinnerst du dich noch an diese geheiligte Mittagsruhe?“
„Ungern“, wehrte ich ab und bestellte Wurstsalat und ein großes Wasser. Von eins bis vier hatten wir uns absolut ruhig zu verhalten, egal, ob er im Haus war oder nicht. Stilles Lernen war angesagt; telefonieren, Musik hören, fernsehen, spielen – das war alles streng verboten, und Frau Zittels Vorgängerin (ebenso ein Besen) wachte streng über die Einhaltung und darüber, dass wir unsere Zimmer nicht verließen. Ja, wenn das seine Vorstellungen von Pädagogik waren, konnte ich mir vorstellen, dass ein junger Familienvater austickte.