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Hilde freut sich über die Erbschaft: Endlich eine eigene Wohnung! Die neuen Nachbarn allerdings sind gewöhnungsbedürftig, und der schlimmste von ihnen liegt plötzlich tot im Treppenhaus. Wer von den anderen Bewohnern, die nach näherem Kennenlernen eigentlich doch ganz nett wirken, könnte es gewesen sein? Hilde versucht, der Kripo zu helfen, obwohl sie zunächst selbst ratlos ist, denn niemand scheint ein ausreichendes Motiv zu haben. Die Lösung überrascht sie dann sehr...
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Seitenzahl: 400
Veröffentlichungsjahr: 2016
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Alles frei erfunden!
Alle Ähnlichkeiten und Übereinstimmungen mit Namen, Personen, Firmen u.ä. sind purer Zufall.
Imprint Szenenwechsel. Kriminalroman
Elisa Scheer
„Du weißt aber schon, dass du jetzt Vertretung hast?“, fragte Lilly vorsichtig an, als sie Hilde versonnen vor dem Direktoratsbrett stehen sah.
Hilde fuhr zusammen. „Was – jetzt?“
„Jetzt ist doch die vierte Stunde?“
„Mist, ich hab mich verlesen, ich dachte, in der fünften… Danke!“
Hilde eilte davon, und Lilly sah ihr kopfschüttelnd nach. Sonst war Hilde doch der Inbegriff von Zuverlässigkeit – und heute? Komplett durch den Wind. Die Wandkarte für die elfte vergessen, die korrigierte Schulaufgabe für die sechste auf dem Tisch liegen gelassen, keinen Becher unter den Kaffeeautomaten gestellt… gerade, dass sie nicht den Kopierer mit einer nicht kopierfähigen Folie ruiniert hatte. Was war denn heute bloß los?
Hilde war schon auf dem nächsten Treppenabsatz, als ihr einfiel, dass sie gar nicht wusste, wohin sie musste. Also zurück und nachgesehen – aha. 9 c, in A 31: anderer Trakt, dritter Stock.
Die Tür von A 31 stand offen, und fröhlicher Lärm drang nach draußen. Jetzt sausten auch noch zwei Mädchen auf den Gang, offenbar, um einander eine obendrein offene Limonadenflasche abzujagen.
Na bitte – die vordere blieb stehen, als sie Hilde sah, und die Limonade schwappte über ihr T-Shirt.
„Scheiße“, fluchte sie halblaut und betrachtete ihre nasse Vorderseite.
„Sei froh, dass das T-Shirt wenigstens dunkel ist, und schraub nächstes Mal die Flasche lieber zu“, kommentierte Hilde mitleidlos. „Jetzt aber rein ins Zimmer!“
„Mist, die Suttner“, murmelte die andere. „Wieder nix mit Hausaufgaben.“
„Gut beobachtet“, feixte Hilde. „Nix mit Hausaufgaben.“
Sie schloss die Klassenzimmertür und lehnte sich lässig ans Pult. Die Neuntklässler warfen ihr irritierte Blicke zu, begaben sich dann aber für ihre Verhältnisse relativ zügig auf ihre Plätze, wo sie abwartend stehen blieben.
„Sehr gut“, lobte Hilde. „Für die, die mich noch nicht kennen sollten, ich heiße Suttner, und ich wünsche euch einen guten Morgen. Ihr dürft euch setzen.“
Geräuschvolles Hinsetzen und munter einsetzendes Geplauder.
„Zum Ratschen hatte ich euch nicht aufgefordert. Was fällt euch denn jetzt gerade aus?“
„Musik“, rief jemand.
„Nee, Deutsch“, wurde aus der hinteren Ecke widersprochen.
„Also, kurz vor Ostern solltet ihr euren Stundenplan eigentlich im Kopf haben.“ Hilde sah auf dem Plan nach, der auf dem Pult klebte, und fluchte innerlich: Klassenzimmertausch und Stundenplanänderungen…
„Okay, egal – Musik oder Deutsch, das ist beides nicht meins, aber ich bin sicher, ihr habt auch Lücken in Mathe.“
„Nein!“ Wilder Protest.
„Das könnt ihr mir ja sofort beweisen. Wir machen ein bisschen Grundwissen. Nehmt was zu schreiben raus. Wir fangen auch ganz simpel an, versprochen.“
„Das kennen wir“, murmelte die mit dem Limo-T-Shirt gut hörbar, „das sagen Lehrer immer, und dann ist es doch sauschwer.“
„Dann übst du vielleicht zu wenig?“, schlug Hilde vor. „Also, zum Aufwärmen: Vier durch Wurzel zwei – bitte macht den Nenner rational!“
Zweiunddreißig Augenpaare signalisierten völliges Unverständnis. Hilde seufzte innerlich. Noch nie davon gehört, was?
„Mit Dummstellen kommt ihr auf die Dauer aber auch nicht durchs Leben. Na gut, komm du“ – sie zeigte auf eine besonders unschuldig blickende und formidabel geschminkte Miniaturvenus – „doch mal raus an die Tafel. Wir beide machen es den anderen jetzt vor.“
Zehn zähe Minuten später hatten alle – sogar die völlig erschöpfte Saskia – verstanden, wie man einen Nenner rational machte. Hilde ließ die Klasse in Partnerarbeit weiterüben und lehnte sich an das vorderste Fensterbrett, um ab und zu zu leiserem Sprechen zu ermahnen.
Sie hatte Kopfschmerzen, sie war nach der letzten Nacht todmüde, und diese blöden schwarzen Samtjeans kniffen am Hintern und in der Taille. Nur diese Stunde noch, und dann noch den Leistungskurs und die Zehnte – aber die waren ehrgeizig. Und aufgeweckt. Nicht so wie die hier… ihre eigene Neunte bestand auch nicht gerade aus lauter Einsteins, kein Wunder in dem hormongebeutelten Alter, aber die hatten eine vernünftige Arbeitshaltung. Meistens wenigstens. Nachher sollte sie unbedingt nachsehen, welche Pfeife diese Herzchen hier in Mathe auf dem Gewissen hatte.
„Frau Suttner?“
Sie eilte in die letzte Reihe und beugte sich über einen verkritzelten Block.
„Ich krieg da die blöde Wurzel nicht weg!“, klagte ein beängstigend dünnes Mädchen.
„Was haben wir uns denn als Regel erarbeitet?“
„Äh – dass wir mit der Wurzel malnehmen sollen?“
„Erweitern“, korrigierte Hilde. „Stimmt. Und – geht das hier nicht?“
„Doch“, gab das Mädchen zu. „Hab ich gar nicht gesehen…“ Sie beugte sich wieder über ihren Block. Hilde betrachtete gedankenvoll das Heft neben dem Block – Ines Malsen 9c - und die dürren Ärmchen und machte sich im Geist eine Notiz, mit Susi Werner, der Verantwortlichen für Suchtprävention, zu sprechen. Eindeutige Anzeichen für eine ausgewachsene Anorexie!
Nach einigen Minuten schloss sie die Partnerarbeit ab, besprach die Ergebnisse, ließ noch einige gemischtquadratische Gleichungen lösen (daran haperte es bekanntlich bis zum Abitur) und beendete dann die Stunde einigermaßen erleichtert.
Die Klasse verabschiedete sie fröhlich und schien es nicht mehr ganz so arg zu bedauern, um eine Stunde Hausaufgaben, Stadt-Land-Fluss oder Schüler-Memory gekommen zu sein.
Hilde eilte zurück ins Lehrerzimmer, drängte sich zu ihrem Platz durch und schlug ihren Terminkalender auf. Erledigt – erledigt – erledigt – äh. Das Ex abgeben. Und die Zettel wegen der Raumänderung ab nächster Woche aufhängen, an rund zwanzig Türen im gesamten Gebäude. 8 a (B 22) und 11 d (D 07) tauschen bis auf weiteres den Raum. Gipsfuß in der elften, wahrscheinlich. Sie schrieb eine Notiz wegen Ines Malsen und legte sie Susi Werner ins Fach. Armes Mädel…
Stundenplanänderungen musste sie auch noch einarbeiten – Sissy Eichberger war schwanger und musste liegen; glücklicherweise war sie wegen ihrer zwei schon vorhandenen Kleinkinder auf acht Stunden heruntergegangen, das ließ sich vertreten… Mathe und Physik, hm. Sollte sie sich die Matheklasse (vier Stunden eine siebte) selbst ans Bein binden? Später mal nachsehen, ob da was ging…
Ihre Gedanken schweiften ab, zu Tante Martha.
Die Arme, wo hatte sie sich bloß diese Lungenentzündung geholt? Sie war immer pumperlgesund gewesen, sportlich, zwar etwas moppelig wie die ganze Familie - und dann holte sie sich eine Lungenentzündung und starb mit 69 Jahren! Nach drei Tagen!
Gestern hatte Hilde sie noch besucht, und Tante Martha hatte sich gefreut – und heute früh dann der Anruf von der Klinik.
Na, Papa würde sich die Hände reiben, der alte Geier. Tante Martha war ziemlich wohlhabend gewesen, eine reiche Witwe eben, und wahrscheinlich erbte Mama alles – wer sonst? Und was Mama hatte, kriegte Papa schnell in die Finger. Er würde alles verkaufen und – was und? Alles aufs Sparbuch? Goldbarren in die Schweiz schaffen? Münzen im Garten vergraben? Er war ja doch ein bisschen paranoid. Schön blöd, Immobilien sollte man im Moment lieber halten, die Preise waren ziemlich im Keller. Aber Papa konnte nicht mit Geld umgehen, er hatte einfach nur Angst, im Alter zu verhungern. Und Mama glaubte, Papa habe die Weisheit mit Löffeln gefressen. Nach dreiunddreißig Jahren Ehe!
Aber Sabine glaubte ja auch, ihr Tobias sei der reinste Nobelpreisträger. Auch schön blöd.
Und der liebe Martin hielt sich sowieso für Gottes Geschenk an die nach Weisheit dürstende Menschheit. Tolle Familie. Na, wenigstens war Martins Freundin ein bisschen kritischer. Jenny hatte manchmal eine Art, ihn von der Seite anzusehen…
Das Läuten riss Hilde aus ihren Gedanken, und die nächsten zwei Stunden war sie gründlich von Tante Martha abgelenkt. Erst als sie gegen halb vier ihre beiden übervollen Taschen zum Parkplatz schleifte und sie aufatmend im Kofferraum versenkte, kam sie wieder zum Nachdenken.
Sie blieb eine Zeitlang bei offener Fahrertür sitzen und überlegte, was nun alles zu tun sei. Wahrscheinlich sollte sie erst einmal im Krankenhaus anrufen… Hatte Tante Martha zu Lebzeiten irgendetwas veranlasst? Sie hatten sich sehr gut verstanden, aber darüber hatten sie nun doch nie gesprochen. Wollte sie begraben werden – oder eingeäschert? Eine Grabstelle gab es, auf dem Leichinger Parkfriedhof, weil Tante Martha zu Lebzeiten ihres Mannes dort gewohnt hatte. Aber mehr fiel Hilde nicht ein, also kramte sie ihr Handy aus der Tasche und rief im Krankenhaus an. Die Stationsschwester kannte sie schon und versicherte ihr, das Institut Ewiger Frieden habe sich der Verstorbenen bereits angenommen. Nein, es gebe nichts zu tun - naja, bei Gelegenheit könnten die persönlichen Habseligkeiten der Verstorbenen abgeholt werden – aber noch nicht heute. Und nein, es habe sonst niemand nachgefragt. Habe Frau Willinger denn noch mehr Angehörige gehabt? Und ja, ihre Adresse habe man auch an Ewiger Frieden weitergegeben.
O ja, dachte Hilde wütend, das Handy im Schoß. Eine Schwester, einen Schwager, einen Neffen und noch eine Nichte. Und keiner kümmerte sich? Hilde hatte ihnen allen mitgeteilt, dass Tante Martha mit Lungenentzündung im Krankenhaus lag. Papa war beruflich viel zu eingespannt für solche Bagatellen, Mama hatte versprochen, ihre Schwester zu besuchen, Sabine hatte das gestresste Muttertier gegeben und gefragt, wo sie denn bitte ihre süßen Kleinen lassen sollte, außerdem habe Tante Martha gemeckert, sie und Tobias hätten zu früh geheiratet, und Martin hatte seine Mailbox offenbar nicht abgehört.
Und dann hatten sie es alle verdrängt. Aber wenn Mama und Papa was erbten, dann kämen sie und hielten die Hand auf, wetten? Sie würde den Teufel tun und bei ihren Eltern betteln - aber Martin und Sabine war ja nichts zu peinlich!
Sie schnallte sich an, drehte den Zündschlüssel und fuhr los, darum bemüht, ihren Zorn nicht an den anderen – wie üblich beschränkten – Autofahrern auszulassen.
Zu Hause sah sie sich gereizt um.
In letzter Zeit fühlte sie sich immer gereizt, wenn sie nach Hause kam. Warum eigentlich? War sie schon so ein Workaholic? Aber hier hatte sie doch wenigstens einen eigenen Schreibtisch. Und genügend Zeug darauf, das mal abgearbeitet werden wollte. Die Klausur, das Extemporale, der Raumplan, der Exkursionsentwurf, der Beitrag zur Schulhomepage, die Macken im Geometrieprogramm… Sie beäugte die wüsten Haufen auf dem zu kleinen Schreibtisch missmutig, stellte ihre beiden Taschen ab und warf den Mantel aufs Bett.
Aufräumen müsste sie mal wieder: Ein Einzimmerappartement müllte wirklich im Handumdrehen zu… Außerdem war die Wohnung sogar für ein Zimmer dürftig. Zweiundzwanzig Quadratmeter, und davon gingen ja noch der Zwergenflur mit dem völlig unzureichenden Kleiderschrank und das Zwergenbad mit der extrakurzen Wanne ab. Lila gekachelt!
Der ganze gesichtslose Block mit sechs Stockwerken à zwanzig Wohnschließfächern stammte aus den mittleren Siebzigern. Das musste die absolute Hochphase des grottenschlechten Geschmacks gewesen sein, überlegte Hilde, während sie sich umsah. Lila Kacheln! Und der kleine, aber klotzige Betonbalkon mit Schmiedeeisen verziert.
Alles andere war einfach abgewohnt, die Türen vor der mickrigen Kochnische hingen leicht schief, der Beton auf dem Balkon war ziemlich vermoost, und der Teppichboden hatte, als er neu war, sicher eine Farbe gehabt, vielleicht blau? Mittlerweile war ein undefinierbares Graubraun daraus geworden.
Manchmal fragte sie sich ja schon, ob sie das eigentlich noch notwendig hatte. Immerhin verdiente sie seit dreieinhalb Jahren recht ordentlich, warum hauste sie also immer noch in dieser Mickerbude aus ihrer Studentenzeit, in einer lauten und schmuddeligen Gegend, die nicht einmal verkehrsgünstig zum Mariengymnasium lag?
Sie wusste es ja. Sie wollte eines Tages eine richtige Wohnung haben, und zwar eine Eigentumswohnung. Zwei Zimmer und eine richtige kleine Küche. Und ein Bad in einer Farbe, bei der einem nicht die Augen tränten!
Seit ihrem achtzehnten Geburtstag hatte sie gespart, investiert, umgeschichtet und mittlerweile immerhin rund siebzigtausend Euro in sicheren Anlagen zusammen – aber als Eigenkapitalanteil war ihr das immer noch zu wenig, eine vergammelte Bude aus den Sechzigern oder Siebzigern wollte sie nicht, und etwas Neueres oder gar – hach… - einen renovierten Altbau gab es nicht für solche Sümmchen. Also weitersparen, auch wenn Martin und Sabine höhnten.
Die mussten gerade reden, dachte Hilde, während sie sich in dem kleinen, voll gestopften und peinlich unordentlichen Zimmer umsah. Martin hauste mit seiner Jenny in der Einliegerwohnung bei den Eltern – vier Zimmer, aber eben immer noch Hotel Mama… dass Jenny sich das gefallen ließ?
Und Sabine und Tobias hatten ein ziemlich heruntergekommenes kleines Reihenhaus gemietet, dem ihre beiden kleinen Mädchen wahrscheinlich über kurz oder lang den Rest geben würden. Soo toll wohnten die also auch nicht. Toll wohnten nur die Eltern; das Haus war, auch abgesehen von der überdimensionierten Einliegerwohnung, kolossal. Zehn Zimmer, beste Lage in Henting – aber nicht mehr gut in Schuss. Papa wollte kein Geld für Handwerker ausgeben, konnte aber selber gar nicht viel machen. Und wenn neue Emissionswerte festgelegt wurden und er die Heizung sanieren musste, weinte er bitterlich: Wo er doch so arm war!
Hilde grinste vor sich hin. Gestörte Wahrnehmung, eindeutig. Er verdiente ausgezeichnet, hatte das schuldenfreie Haus, kein Kind mehr auf der Tasche, wahrscheinlich ein fettes Depot – und ehrlich Angst zu verhungern. Er musste in absehbarer Zeit eine gesetzliche Rente, eine Betriebsrente, eine Privatrente und die Zahlungen aus einer Lebensversicherung bekommen. Aber am Hungertuch nagen… Eindeutig gaga! Und es wurde von Jahr zu Jahr schlimmer – als sie ein Kind gewesen war, war er noch halbwegs normal gewesen, zwar geizig und kleinlich, aber nicht komplett durchgedreht.
Verkehrte Welt – der reiche Vater in der Riesenvilla fühlte sich am ärmsten, und die Kinder, die objektiv viel ärmer waren, waren es zufrieden. Na, sie selbst jedenfalls.
Aber heute nicht. Heute nervte die Winzbude. Überall lag Zeug herum, weil einfach zu wenig Platz war. Die Ordner standen schon auf dem Boden, der Schreibtisch war so mit Papierstapeln bedeckt, dass sie das letzte Erdkunde-Ex auf ein Klemmbrett gepackt und es im Bett sitzend korrigiert hatte. Unhaltbare Zustände, sie brauchte eine größere Wohnung.
Und endlich eine richtig wirkungsvolle Diät. Sie war gut einsachtzig groß, ja, aber sie wog auch gut über neunzig Kilo, und außer zwei schwarzen Hosen passte fast nichts mehr. Obwohl sie im Lauf dieses Jahres schon Punkte gezählt, eine Blutgruppendiät gemacht, eine Zeitlang täglich gejoggt und es vor kurzem erst mit LowFat versucht hatte. Deswegen hatte sie seit Januar auch schon drei Pfund zugelegt.
Und was wollte sie noch, falls die gute Fee mal vorbeikam? Mehr Geld? Genau, damit sie sich endlich mal eine größere Wohnung zulegen konnte.
Hilde schlug sich energisch auf die Knie und stand auf. Auf die gute Fee konnte sie lange warten. Action war angesagt! Erstmal Mama anrufen.
Ihre Mutter wusste schon Bescheid und war halb erleichtert, halb geknickt, dass Hilde die Angelegenheiten mit dem Krankenhaus in die Hand genommen hatte.
„Dann kümmere ich mich um die Trauerfeier. Arme Martha… Neunundsechzig ist doch wirklich kein Alter… Ewiger Frieden, hast du gesagt? Ach ja, da waren wir mit Oma damals auch, glaube ich. Und die Sterbeurkunden… Papa ist schon ganz nervös… der Arme!“
Das fand Hilde nun gar nicht. Papa war wirklich nicht arm, er bildete es sich nur ein. Sozusagen finanzielle Hypochondrie, wenn es so etwas gab. Immerhin war es nicht schlecht, wenn nun endlich Mama das Nötigste erledigte, denn sie selbst hatte weiß Gott noch etwas anderes zu tun.
Aufräumen zum Beispiel!
Sie stapelte den herumliegenden Kram etwas unentschlossen auf, aber davon wurde es leider kaum besser. Es gab eben einfach zu wenig Platz…
Nein, so hatte das Ganze wenig Sinn. Vielleicht würde Tante Martha ihr ja ein paar Mäuse hinterlassen und sie könnte sich ein neues Regal - Unsinn. Wo sollte sie das denn noch hinstellen? Die Wohnung war einfach zu klein
Wenn sie ordentlich sparte, könnte sie sich in fünf Jahren vielleicht wirklich eine Wohnung… in einer nicht allzu anspruchvollen Gegend, Selling vielleicht… noch unter fünfunddreißig eine Wohnung gekauft? Dafür lohnte es sich doch, hier noch ein bisschen auszuhalten.
Aber aufräumen musste sie doch noch. Und sich etwas einfallen lassen, um wenigstens die LowFat-Pfunde wieder loszuwerden.
Zu trinken war auch nichts mehr im Haus. Kein Diet Coke… Und zum Einkaufen hatte sie jetzt wirklich keine Zeit.
Kurz entschlossen füllte sie eine der herumstehenden leeren Flaschen mit kaltem Leitungswasser und trank gleich die halbe Flasche leer. Gar nicht schlecht. Wenn sie auf Wasser umstiege… zwei Flaschen pro Tag… mindestens einen Euro fünfzig – im Jahr bestimmt 500 Euro. Immerhin doch! Und die lästige Flaschenschlepperei hätte sich auch erledigt.
Außerdem hatte sie irgendwo gelesen, dass Süßstoffe dick machen sollten. Zucker aber auch – also sollte sie am besten nur noch Wasser trinken. Und da das Leisenberger Leitungswasser völlig in Ordnung war: billig, bequem und gesund…
Schon mal eine gute Idee.
Aber dabei konnte es nicht bleiben. Das Regal sah einfach furchtbar aus. In einem solchem Saustall konnte man doch nicht arbeiten!
Hilde setzte sich auf das ungemachte Bett und betrachtete das Regal sinnend. Brauchte sie all diesen Krempel denn wirklich noch? Vielleicht sollte sie das Ganze mal gründlich aufräumen, so wie es diese ganzen Entrümpelungsratgeber empfahlen?
Ächzend erhob sie sich und schaute auf die Uhr: Fünf - kein Grund, die Aktion auf morgen zu verschieben!
Im Regal befanden sich gefühlt ungefähr dreihundert Bücher, mehrere Stapel von Unterlagen, zehn Ordner (die anderen standen auf dem Boden überall herum), ein Stifteköcher, ein Drucker, eine Mehrfachsteckdose, an der Laptopkabel und Drucker hingen, das Modem, ein Stapel Zeitschriften, ihr Handyladegerät, der überdimensionierte Locher, ein Haufen leere Klarsichthüllen, die sich sofort auf den Boden ergossen und mühsam wieder eingesammelt werden mussten, ihr Schlampermäppchen, ein Stapel ungeöffneter Briefe und ein neckisches rosa Adressbuch.
Hilde packte alles auf den Schreibtisch, holte einen Klappeinkaufskorb für das Altpapier, drehte das Radio auf und setzte sich.
Überflüssige Kopien, alberne Krimis, ganze Mengen von noch alberneren Diätzeitschriften – alles wanderte in den Korb; die Briefe wurden geöffnet – Bankkrempel, Krankenkasse, Autoversicherung, Werbung, Bettelbriefe – und teils entsorgt, teils in den richtigen Ordner geheftet.
Schon besser. Hilde streckte sich und betrachtet zufrieden die Altpapierkiste. Ihr Blick verfinsterte sich, als sie das Chaos auf dem Schreibtisch registrierte. Verdammter Kleinkram!
Aber im Schrank musste doch noch - genau! Hinter einem Stapel unbefriedigend gebügelter und gefalteter T-Shirts fand sich eine runde, schwarz-weiß karierte Pappschachtel, die bis auf eine leere und längst ausgeduftete Parfumflasche und ein affiges Stofftaschentuch mit gelblichen Liegekanten leer war. Hilde kippte diesen Inhalt in den Müll, klopfte den Staub aus der Schachtel und fegte allen brauchbaren Kleinkram hinein, bis zum Handyladegerät. Damit war der Schreibtisch bis auf den noch abzuheftenden Kram eigentlich leer.
Eigentlich.
Also, ran an die Ordner! Schon der erste, Geographie 7, enthielt eine Menge doppeltes und unnützes Zeug. Hilde sortierte aus, heftete wichtigere Unterlagen ein, platzierte Extemporalien und Notenlisten hinten (hatte sie tatsächlich schon sechsmal eine Siebte gehabt?) und warf eine Menge Papier in den Korb.
Schon fast halb acht. Heute wurde sie mit dem Kram nicht mehr fertig, das war mal klar. Aber vielleicht wenigstens noch zwei von den aktuellen Ordnern? Mathe 10 und Mathe 12. Wenigstens die beiden. Und vorher mal das Regal durchputzen!
Das Durchputzen ging schnell – den Lappen konnte sie hinterher allerdings wegwerfen. So viel Staub? Wann hatte sie das Regal zum letzten Mal ausgewischt? Musste Jahre her sein.
Die beiden aktuellen Ordner machten aber direkt Spaß – da konnte man so richtig Altpapier entsorgen. Wieso hatte sie denn von jeder Schulaufgabe zehn Kopien aufgehoben? Die Kopiervorlage in der Hülle reichte doch wohl?
Sobald alles ordentlich verräumt war und die drei fertigen Ordner schön im Regal standen, nahm Hilde sich die überall herumliegenden Bücher vor. Okay, ein Regalbrett für Schulbücher, zwei für alle anderen. Sie sortierte sie in drei Stapel – brauchbar, naja und „Weg damit“ und stopfte dann die mindestens hundert Bücher, die als „Weg damit“ aufgelaufen waren, in zwei große Tragetaschen. Morgen Nachmittag in die Lesefabrik, vielleicht waren das noch mal fünfzig Euro? Die Bücher sahen ja ganz anständig aus, dass sie Mist waren, merkte man ihnen von außen schließlich nicht an.
Die mittelmiesen Bücher sortierte sie ordentlich in die beiden obersten Regalfächer und schob sie ganz nach hinten, dann kamen die anständigen Bücher davor.
Sah gar nicht schlecht aus.
Darunter (richtig in Griffhöhe) die Schulbücher, wieder darunter die Mäppchen für die einzelnen Klassen, daneben der Drucker, der Laptop und ein paar DVDs mit Mathe- und Geographie-Software. Ein Fach war noch frei. Hilde schob die Kiste mit dem Kleinkram dort hinein und stellte den Ordner mit dem Privatkrempel daneben.
Die unaufgeräumten Ordner kamen vorläufig auch in dieses und das allerunterste Fach – und damit sah das Zimmer eigentlich ganz gut aus.
Bis auf das ungemachte Bett und das Bewusstsein, dass der Schrank im Flur überquoll und der Kram in der Kochnische auch mal eine Durchforstung vertragen konnte.
Aber zunächst mussten die unnützen Bücher weg! Hilde fuhr mit den Tüten (und einer weiteren mit allen leeren Colaflaschen) nach unten in die Tiefgarage und packte alles in ihren Kofferraum. Morgen nach der Schule war das Zeug dann weg.
Oben sah es tatsächlich schon viel besser aus – obwohl der Schreibtisch noch nicht leer war und sie genau wusste, dass nur drei Ordner anständig aufgeräumt waren. Viertel nach neun… einer ging noch. Vielleicht Mathe 9? Oder Geographie 11?
Sie zog sich aus, vermied den Blick in den Spiegel (den Schwabbel musste sie nicht täglich sehen), streifte das lässige Riesennachthemd über, schminkte sich ab, putzte sich die Zähne und setzte sich wieder an den Schreibtisch. Mathe 9 und Geographie 11 gingen beide gut voran, so gut, dass sie sich um kurz nach zehn noch tatendurstig nach einem weiteren umsah und schließlich auch noch Mathe 6 entrümpelte. Danach musste sie ohnehin aufhören, denn der Altpapierkorb quoll schon über und im Nachthemd konnte sie ihn ja schlecht ausleeren gehen.
Tief befriedigt schüttelte sie ihre Bettdecke auf und schlüpfte darunter. Wenn sie noch ein paar Tage so weiter machte, hätte sie in der Wohnung wieder den Überblick. Bei einer so kleinen Wohnung war das schließlich notwendig!
Besonders weit war sie immer noch nicht gekommen, stellte Hilde fest, als sie am Donnerstag aus der Schule kam. Gut, sie hatte gestern noch zwei Ordner geschafft, aber das Ex war wichtiger gewesen und die endlose Sitzung gestern… Wie üblich war kaum etwas dabei herausgekommen, und als sie darauf gedrungen hatte, das Wenige auch umzusetzen, hatten mal wieder die Bedenkenträger gesiegt.
Das haben wir immer schon so gemacht.
Das haben wir noch nie so gemacht.
Da könnte ja jeder kommen.
Diese Schule ging langsam vor die Hunde, obwohl sich Dr. Eisler wirklich ins Zeug legte. Und manche Mitarbeiter, wie die Wintrich oder der Blankmann, waren ebenfalls sehr aktiv. Nur ein Teil des Kollegiums war wirklich zum Verzweifeln: Nein, wir wollen keine Schulentwicklung, das wäre ja Mehrarbeit! Et hätt noch immer jut jejange… Wieso nicht so wie bisher? Wieso können wir nach dem alten Lehrplan nicht weitermachen? Merkt doch keiner?
Blödes Pack, ehrlich. Sie beschloss, die Wintrich in nächster Zeit mal anzusprechen. Jetzt, wo die Einquartierung vom Albertinum bald wieder weg war, sollte man generell über ein paar Neuerungen nachdenken. Förderkurse für die Guten wie für die Schwachen, zum Beispiel. Um das Niveau zu steigern und zugleich die Durchfallerquoten zu senken.
Und dann sagten die Ewiggestrigen bloß wieder: Wozu? Dann kommen bloß Massen von Schülern und wir haben mehr Arbeit!
Wieso durfte man eigentlich nicht sagen: Aber das volle Gehalt nehmen Sie gerne mit, was? Nein, wenn man ehrlich war, die Wintrich und der Eisler sagten so was schon mal. Und diesen unsäglichen Querfurth hatten sie auch schon klein gekriegt, der erschreckte keine Referendare mehr.
Hilde reagierte ihren Ärger ab, indem sie einen halben Liter Wasser trank, zwei Ordner entrümpelte, zwei Riesentüten Schotter in der Mülltonne versenkte, wieder zwei Ordner auf Vordermann brachte, ein Arbeitsblatt entwarf und tippte, alles abspülte und endlich diese grausigen Kaffeebecher aus Florenz wegwarf (die Henkel fehlten ja sowieso schon). Wieder Platz gewonnen!
Aber es grummelte immer noch in ihr. Sie entsorgte drei leere Duschbadflaschen, suchte aus den restlichen zwei heraus, die jetzt erst einmal aufgebraucht werden sollten, und stellte die übrigen in den Kleiderschrank.
Ach ja, der Kleiderschrank. Gut die Hälfte des Krams passte ihr gar nicht, viel zu eng. Aber wenn sie endlich mal ein paar Kilo – so zwanzig bis dreißig… Am Wochenende war auf jeden Fall der Kleiderschrank dran.
Morgen am frühen Nachmittag war erst einmal Tante Marthas Trauerfeier. Hilde tauchte in den Schrank und förderte den schwarzen Hosenanzug zutage. Leicht verknittert, der sollte sich bis morgen erst einmal aushängen.
Passte er überhaupt noch? Sie schlüpfte rasch in die Hose. Naja, es ging. Der Blazer passte. Dazu das graue Samt-T-Shirt – wo war das bloß wieder hingeraten? Aha, dort hinten. War das überhaupt gewaschen? Schnüffelprobe – nein. Zumindest war es etwas muffig.
Hilde ließ kaltes Wasser ins Waschbecken laufen, gab etwas Shampoo dazu und weichte das T-Shirt ein. Hoffentlich war es bis morgen wieder trocken. Schwarze Pumps… gefunden.
Sie putzte die Pumps, zog sie auf Spanner und stellte sie bereit. Für morgen war damit alles vorbereitet.
Was war das denn – ein T-Shirt in Pink? Und was für ein Pink, da taten einem ja die Augen weh! Sie entfaltete das Prachtstück. Größe 54? Wann hatte sie denn das gekauft? Soo fett war sie doch noch nie gewesen – hatte sie das geerbt? Aber von wem?
Apropos erben – ob sie von Tante Martha vielleicht doch etwas erbte? Wenn sie – schätzungsweise – zweitausend Euro oder so gut anlegte, konnte ihr das in einigen Jahren durchaus zupass kommen. Nett wäre das schon, aber wahrscheinlich hatte Tante Martha gar kein Testament gemacht und alles fiel an Mama und damit an Papa. Was Martha besessen hatte, wusste ohnehin keiner so genau. Irgendwelche Immobilien. Und diese gruselige Wohnung am Waldburgplatz, vollgestopft und entsetzlich möbliert, in der sie nach dem Tod ihres Mannes gelebt hatte. Und wahrscheinlich jede Menge Schotter. Und Schmuck, mit dem hatte sie sich ja leidenschaftlich gerne behängt… Hilde lächelte bei dem Gedanken. Tante Martha – klein und rund, geschmückt wie ein Pfingstochse (alleine diese Ringe an allen Fingern), streitbar, lebenslustig und scheinbar unverwüstlich. Tja – scheinbar.
Hilde raffte sich auf. Jetzt war nicht Tante Martha angesagt, sondern dieses T-Shirt. Das musste weg – und am besten noch ein paar Sachen, so dass es für eine Tüte in den Rotkreuzcontainer reichte.
Zum Beispiel das schwarze, das schon ganz grünlich verwaschen war. Schlechte Qualität. Das rote war nicht viel besser, und das mit den albernen blauen Blümchen war viel zu kurz. Hilde stopfte sie alle in eine Plastiktüte, fügte noch einen verknitterten Polyesterschal hinzu (Leoprint – sie musste betrunken gewesen sein!) und klebte die Tüte oben mit Paketband zu.
Ein kleiner Spaziergang konnte nichts schaden; zwei Ecken weiter stand ja schon ein Container. Sie trug die Tüte und diversen Müll weg und sah sich hinterher relativ befriedigt um: Schon besser!
Das Samtshirt wurde ausgespült, aufgehängt und mit einem Hauch Parfum besprüht. Handtäschchen für morgen? Am besten die kleine schwarze Lacktasche…
Neuer Tauchgang.
Sie kriegte den schwarzen Lackriemen zu fassen und zog. Mit der schwarzen Lacktasche kamen zum Vorschein: die hellbraune Strandtasche aus Strohgeflecht mit dem Loch im Boden, zwei Plastiktüten (leer), das rote Lacktäschchen, das aussah wie ein Pausentäschchen für den Kindergarten (fehlte bloß noch der applizierte Apfel), ein hellblaues Einkaufsnetz (Ökoanfall vom Wohnshop in der Philippinengasse – kein Wunder, dass der Pleite gemacht hatte), eine verknitterte Reisetasche aus Jute mit Ledereinfassungen (saublöde Größe – ach ja, und der Reißverschluss war kaputt) und dieses entsetzliche Ding aus falschem Kroko in beige, dass Tante Helga ihr mal geschenkt hatte. Wenn es noch Tante Martha gewesen wäre, dann wäre es wenigstens echt gewesen und man könnte es bei eBay… aber aus Lederimitat? Und ein Stil wie für eine Achtzigjährige, dabei war Tante Helga, Papas ältere Schwester, selbst noch keine siebzig.
Hilde legte die schwarze Lacktasche beiseite und stopfte alles Kaputte in die eine Plastiktüte und alles andere in die Tüte für den Wertstoffhof, dann platzte ihr der Kragen und sie fegte mit wenigen brutalen Handbewegungen alles aus dem Kleiderschrank.
So – und jetzt würde sie so vorgehen wie es die Entrümpel-Ratgeber vorschrieben!
Mit Lappen, Schüsselchen und der richtigen Wasser/Putzmittel-Mischung rückte sie dem Schrank innen und außen zu Leibe und stellte fest, dass er innen und außen strahlend weiß war, nicht zartgrau. Abgesehen von den lila Eingriffen an den Türen natürlich.
Herrlich, wie das Zeug nach Orangen duftete! Sie sprühte noch etwas Raumspray in die feuchten Fächer und lehnte dann die Türen an. Mit einer Rolle Müllsäcke ließ sie sich auf dem Boden neben den Haufen nieder.
Was da alles aus den Tiefen des Schranks zum Vorschein gekommen war! Sie beschloss, alles auszusortieren, was sie nie trug und nicht mochte, egal, ob es passte oder nicht.
Nach ungefähr einer Stunde war der Haufen verschwunden. Spärliche Reste lagen, sauber gefaltet oder aufgehängt, im noch etwas feucht duftenden Schrank, der Rest befand sich in fünf prall gefüllten Säcken, dreimal Container, zweimal Müll.
Hilde rappelte sich mühsam auf – die Extrapfunde gingen ganz schön auf die Gelenke – und seufzte. Jetzt gleich noch zum Container?
Nicht schwächeln, ermahnte sie sich selbst. Weg mit dem Zeug, sonst war sie morgen ja doch nur von diesem Anblick genervt. Also sammelte sie alle Säcke ein und schleifte sie zum Container. Auf dem Rückweg fühlte sie sich sehr gut, richtig gehend edel – und die Wohnung musste doch jetzt wirklich wesentlich aussehen, reduziert auf das elementar Wichtige.
Der Blick in die Wohnung bei der Rückkehr enttäuschte da dann doch etwas. Die letzten beiden Müllsäcke störten, aber auch, als Hilde die beiden zur Tonne geschleppt hatte, wirkte die Wohnung immer noch irgendwie unbefriedigend.
Das lag wahrscheinlich an der Küchenzeile, die schon wieder so widerlich aussah. Schön war sie sowieso nicht, die weißen Kunststofftüren hatten lila Eingriffe (wie alles in dieser Wohnung) und – noch von der Vormieterin – lauter niedliche kleine Aufkleberchen, Kätzchen, Hündchen, Häschen, Ferkelchen… das Zeug musste jetzt runter, die speckigen Handtücher mussten in die Wäsche, abspülen sollte sie auch dringend – und dann entweder die Türen schließen (was nicht mehr so richtig ging) oder die Fächer über der Spüle entrümpeln.
Die Türen sollte sie am besten aushängen und in den Keller schaffen… Aber zuerst mal waschen!
Sie suchte alles zusammen, was zu den Geschirrtüchern passte – nein, die Tücher warf sie am besten gleich weg, die wurden wahrscheinlich nie wieder sauber - und schleifte eine Tasche voll in den Keller. Dort trug sie sich schnell ein, stopfte alles in die Maschine, gab Pulver dazu, knallte die Tür zu, stellte sicherheitshalber 30° ein, warf zwei Euro in den Automaten und lauschte befriedigt auf das Zischen, mit dem das Wasser einlief.
Wieder etwas geschafft! Wenn sie jetzt noch zu Fuß in den dritten Stock – nein, man sollte es auch nicht übertreiben, vier Stockwerke, das war sicher auch ganz schlecht für ihre Gelenke.
Sie fuhr hinauf, fand, dass die Wohnung nun doch schon etwas besser aussah, trank ein großes Glas Wasser und sah auf die Uhr. Halb sechs. Um Viertel nach war die Wäsche fertig, und dann konnte sie gleich noch eine zweite Ladung hinterherschicken! Sie suchte genügend Kram für eine zweite Tasche zusammen, stellte schon mal das Wäschegestell auf (auch schon recht klapprig) und räumte dann die beiden Fächer über Herd und Spüle aus. Fettverklebte Gewürze, die sie ohnehin nie benutzte (von dem Jahre alten Salatgewürz war mittlerweile wohl ohnehin abzuraten), zwei hässliche und ein schöner Kaffeebecher; der schöne kam ins Spülbecken, zum Einweichen, die anderen beiden in eine neue Mülltüte. Allmählich gingen ihr die alten Einkaufstüten aus. Auch nicht schlecht, dann hatte der Saustall unter der Spüle ein Ende. Müllbeutel von der Rolle waren viel ordentlicher, und von denen hatte sie noch jede Menge. Leider waren die ein bisschen durchsichtig, so dass sie den Müll gründlicher trennen musste.
Na, für den restlichen Schotter reichten ja wohl die übrigen Supermarkttüten!
Sie entsorgte noch ein verkratztes Glas und eins mit Sprung, den letzten Teller von diesem unsäglichen röschenverzierten Service (den Rest hatte sie in den letzten Jahren ohnehin zerschlagen), außerdem die Gabel mit dem rosa Plastikgriff, der sich beim Rühren häufig zu lösen pflegte, und die große Rührschüssel, die immer muffig roch, egal, wie heiß und gründlich man sie gespült hatte. Die beiden anderen genügten ja wohl.
Da sie schon so schön im Schwung war, putzte sie auch noch ihr Besteck und sortierte es ordentlich und Platz sparend in ihre einzige Schublade, so dass Küchenmesser, Dosenöffner, Knoblauchpresse und Sparschäler auch noch dazu passten. Dann spülte sie ab, was bisher geweicht hatte, trocknete ab, verräumte alles, polierte den Edelstahl und putzte die Arbeitsplatte und die fettverklebte Backofentür, nahm die Magneten vom Kühlschrank (die schönen konnten zur Pinnwand neben der Wohnungstür, die doofen kamen ganz weg). Na gut, Tauschbörse, es gab sicher noch Leute, die das Zeug schön fanden. Immer noch erst kurz vor sechs!
Das Regal sah ziemlich ordentlich aus, auf dem Ablagetischchen neben dem Bett lagen nur ein Buch und das Handy (zum Wecken), und in der kleinen Schublade darunter befand sich ihr Necessaire, sonst nichts. Eigentlich sehr anständig, fand sie.
Vielleicht sollte sie mal die Fensterfront putzen? Vielleicht lag es ja daran, dass die Wohnung immer noch so unordentlich wirkte?
Sie räumte ihre Schultasche beiseite, steckte ein herumliegendes Paar Schuhe in den Schrank und überprüfte die Wirkung: Wieder geringfügig besser. Vorläufig reichte das, das Wäschegestell machte einen guten Eindruck ja ohnehin zunichte.
Sie beschloss, im Bad nach dem Rechten zu sehen, bis die Wäsche endlich fertig war. Dort war aber nicht mehr viel zu tun – noch eine leere Duschgelflasche konnte weg, die Kosmetika räumte sie in den frisch ausgewischten Spiegelschrank (hässlich, aber praktisch), und die Handtücher wurden ordentlicher aufgestapelt.
Durchwischen konnte sie auch morgen nach der Trauerfeier.
Sie holte die Wäsche nach oben und startete die zweite Maschine, dann setzte sie sich an den Schreibtisch. Abzulegen war eigentlich nicht mehr viel, und Ordner wollte sie heute nicht mehr entrümpeln, das war eine schöne Aufgabe fürs Wochenende – abgesehen davon, dass sie morgen ja noch zwei Exen schreiben wollte, in der Zehnten in Mathe und in der K13 in Geographie. Da musste sie sich ohnehin beeilen – in zehn Tagen war Notenschluss und dann kam das Abitur…
Sie entwarf flüchtig die Angaben und klappte dann den Laptop auf. Als die Angaben getippt, Korrektur gelesen und in Klarsichthüllen gesteckt waren, war die Wäsche immer noch nicht fertig.
Sie trank noch ein Glas Wasser, packte die Schultasche für morgen (und die Handtasche für morgen Nachmittag) und überlegte, wie sie mit der Tatsache umgehen sollte, dass ihre Klamotten überall zwickten – obwohl, heute war ihr das noch nicht so aufgefallen. Wahrscheinlich waren die schwarzen Jeans schon etwas ausgeleiert.
Auf jeden Fall musste sie etwas unternehmen, sie konnte ja nicht jeden Tag darauf vertrauen, dass die Jeans ausgeleiert waren. Was konnte sie denn unternehmen? Tausend Diäten hatten ihr schließlich nur rund zwanzig Extrakilos eingebracht. Zehn Pfund runter, zwölf rauf, zehn runter, zwölf rauf…
So dick, dass sie sich den Magen verkleinern lassen musste, war sie zwar bei weitem noch nicht, aber sie schätzte sich selbst auf bestimmt fünfundneunzig Kilo. Und das war eben auch bei einsachtzig zu viel. Deutlich zu viel. Solange man sich damit wohl fühlte, gut – aber sie fühlte sich damit eben nicht wohl. Wenigstens fünfzehn Kilo runter, auf Dauer – damit würde sie sich auf jeden Fall viel besser fühlen.
Bloß wie das erreichen? Sie kannte auch nur Leute, die entweder von Natur aus normalgewichtig waren oder die so vergeblich wie sie selbst gegen den Speck ankämpften oder denen allmählich alles egal war.
Die, denen alles egal war, nahmen allerdings nicht weiter zu. Jedenfalls schien ihr das so. Frau Trautenwolf jedenfalls – die hatte gut über zwei Zentner und war kaum einssiebzig – aber so sah sie seit Jahren aus und sie aß den ganzen Tag, und nicht nur Reiswaffeln!
Niemand hatte erfolgreich abgenommen, kam Hilde frustriert zum Ergebnis. Dann musste sie sich wohl mit ihrer Fülle abfinden. Nicht, dass es dafür nicht auch Interessenten gegeben hätte – aber sich vor einem ausziehen und das Geschwabbel offenbaren? Gotteswillen. Lieber die Nonne spielen. Zeit für einen Kerl hatte sie sowieso nicht.
Und Sport hasste sie. Höchstens Spazierengehen und ein bisschen Gymnastik zu Radiomusik, aber mehr konnte sie sich wirklich nicht vorstellen.
So, und jetzt würde sie doch endlich mal die Wäsche raufholen und sich dann mal wiegen. Aber vorher aufs Klo, das gab bestimmt ein Pfund weniger. Oder ein halbes. Naja, zweihundert Gramm oder so.
Sobald die Wäsche auf dem Gestell hing, das sich nun ziemlich durchbog, entsorgte Hilde unnötiges Wasser und stieg auf die Waage. Dreiundneunzigfünf. Besser als befürchtet. Aber ganz schön viel. Mindestens vier Speckrollen um die Taille!
Es musste sich eben doch was ändern.
Was könnte denn funktionieren, sinnierte Hilde, am Stift kauend.
Wasser trinken. Das war auf jeden Fall gut. Alles andere war entweder künstlich oder natürlich gesüßt.
Keinen Süßstoff. Keine Light-Produkte.
Nicht dauernd futtern. Drei Mahlzeiten am Tag.
Ordentliche Mahlzeiten. Mittags mehr Kohlenhydrate, abends mehr Proteine. Oder so ähnlich. Schaden konnte es nichts.
Nicht zuviel Fett – aber auch nichts Fettreduziertes.
Keine Geschmacksverstärker. Scheiß-Glutamat. Da fraß man dann bloß immer weiter.
Soweit erst einmal. Sie beschloss, das nun etwa zwei Wochen einzuhalten und dann mal zu schauen, ob es genützt hatte. Ein Kilo würde ihr schon gefallen. Alle zwei Wochen ein Kilo… pro Monat zwei… in einem Jahr vierundzwanzig – dann wäre sie im April 2009 nur noch neunundsechzigkommafünf Kilo schwer – bzw. leicht. Nicht übel.
Aber noch war davon ja gar nichts passiert. Und jetzt sollte sie doch noch etwas essen. Ein prinzipientreues Abendessen – soweit sie überhaupt etwas Passendes im Kühlschrank hatte.
Kein guter Anblick – ein Glas Gurken, einen Rest uralten Käse, ein bisschen eingeschweißtes Vollkornbrot, einen Joghurt. Der war noch vom März.
Frustriert aß sie das Brot und einige Gurken und warf den Rest weg, dann trug sie auch diese Mülltüte nach draußen. Danach legte sie sich ins Bett und griff zur Fernbedienung. Was sollte sie schon machen außer Fernsehen?
Die Extemporalien waren kein besonderer Erfolg gewesen, erinnerte sich Hilde auf dem Weg zum Friedhof. Sowohl die Zehnte als auch der Grundkurs hatten vorgegeben, aus allen Wolken zu fallen, völlig geknechtet und überarbeitet zu sein und überhaupt fix und fertig. Hilde war sich richtig grausam vorgekommen, hatte aber doch darauf beharrt, dass die paar popligen Aufgaben zu bearbeiten seien.
Mit Grummeln und Stöhnen hatten sie sich schließlich an die Arbeit gemacht und nach einigen Minuten hatte in beiden Klassenzimmern konzentrierte Ruhe geherrscht, von leisem Getippe auf Taschenrechnertastaturen einmal abgesehen.
Beim Einsammeln war der Jammer noch einmal aufgebrandet, aber so schlimm schien es doch nicht gewesen zu sein.
Sie hatte den Kram zu Hause abgelegt, ihr Friedhofskostüm angezogen, sich beim In-die-Schuhe-schlüpfen wieder daran erinnert, warum sie diese vermaledeiten Pumps sonst nie anzog, ihr Täschchen gepackt und sich auf den Weg gemacht.
Um Viertel vor drei parkte sie vor dem Friedhof und stöckelte den kurzen Weg zum Krematorium entlang.
Da waren sie ja schon alle!
Papa hatte sein Ich bin von Existenzsorgen ganz niedergedrückt - Gesicht aufgesetzt, Mama schaute betrübt und tuschelte mit Sabine, Martin und Jenny hielten sich abseits und versuchten, cool dreinzuschauen, und Sabines Tobias stand in einer Ecke und sprach leise, aber energisch in sein Handy.
Zwischen zwei Terminen schnell Tante Martha begraben, dachte Hilde ärgerlich und umarmte ihre Mutter.
„Schön, dass du da bist“, murmelte Mama und hielt Hilde ein bisschen von sich ab. „Du siehst müde aus. Schläfst du auch genug? Isst du richtig?“
„Mama“, stöhnte Hilde, „ich schlafe soviel wie geht, und dass ich in deinem Sinn richtig esse, sieht man doch daran, dass ich total fett bin.“
„Unsinn, Kind. Männer mögen es, wenn an einer Frau ein bisschen was dran ist.“
„Ja, genau“, murmelte Hilde und beobachtete, wie Tobias sein Handy wegsteckte und einer gertenschlanken, schwarz gekleideten Frau nachstarrte, während seine eigene - eher dralle - Frau unbeachtet neben ihm stand und ungeduldig auf die Uhr sah.
„Können wir nicht bald mal anfangen?“, fragte sie dann Hilde in weinerlichem Ton, „ich hab die Kinder zur Nachbarin getan, aber das geht ja auch nicht stundenlang! Was denken die sich hier eigentlich, wie Leute mit kleinen Kindern das hinkriegen sollen?“
„Frag mich nicht, ich arbeite nicht hier“, antwortete Hilde etwas patzig, „aber es ist erst fünf vor drei. Die liegen also noch voll in der Zeit. Schau, da kommt ja schon der Pfarrer!“
Ein Bediensteter öffnete die Türen zu dem kirchenartigen Raum, und sie suchten sich Plätze ganz vorne, während die Eltern schnell den Pfarrer begrüßten.
Zwei ältere Damen traten noch ein und sahen sich etwas unsicher um. Hilde erhob sich und begrüßte die beiden, die sie als Tante Marthas beste Freundinnen kannte. Sabine schaute verständnislos zu.
„Was wollten die denn?“, tuschelte sie dann.
„Frau Knetzler und Frau Schwinghammer sind Tante Marthas Freundinnen. Kennst du die beiden denn nicht? Natürlich nehmen sie an der Trauerfeier teil.“
„Nie gehört. Ich dachte, das ist eine Familienfeier.“
„Mein Gott, wenn du mal abnippelst, darf dann diese Irina nicht kommen? Oder diese beiden, mit denen du immer shoppen gehst?“
„Das ist doch was ganz anderes“, zischte Sabine und sah dann fromm nach vorne, denn der Pfarrer hatte sich hinter das Rednerpult begeben. Auch Hilde verkniff sich die Frage Wieso was anderes?, die ihr schon auf der Zunge gelegen hatte.
Wer hatte denn dem Pfarrer so dürftiges Material übergeben? Was für ein öder Nachruf, ärgerte sich Hilde. Wie lustig und lebensfroh Tante Martha gewesen war, wie sehr sie ihren Mann geliebt hatte und wie erfolgreich sie ihr Vermögen verwaltet und damit durchaus auch Gutes getan hatte, wieviele Interessen sie gehabt hatte, das kam alles nicht vor. Nur dass sie eine liebevolle Schwester gewesen war und keine Kinder gehabt hatte – ansonsten Staub zu Staub und die anderen üblichen Bibelstellen. Halb fromm, halb Dann muss sie ja alles uns vererben. Ziemlich durchsichtig. Ob es hinterher eigentlich einen Leichenschmaus gab? Ob die Eltern da irgendetwas organisiert hatten?
Der Pfarrer kam zum Ende, und unter getragener Musik fuhr der etwas spärlich mit Blumen geschmückte Sarg hinter einen Vorhang. Hilde spürte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen, und suchte nach einem Taschentuch. Der Vorhang schloss sich wieder und ein Friedhofsbediensteter sammelte die Gestecke ein. Damit würden sie wohl die Grabstelle markieren – Tante Martha würde ja neben Onkel Franz begraben werden.
Die Eltern erhoben sich geräuschvoll, Tobias, Sabine und Hilde taten es ihnen nach. Beim Umdrehen bemerkte Hilde noch einen älteren Herrn, der so richtig nach Anwalt aussah. Die Eltern stellten sich an den Ausgang, um die Beileidsbekundungen entgegenzunehmen.
Als Tante Marthas Freundinnen die Aussegnungshalle verließen, stellte Hilde empört fest, dass niemand Anstalten machte, sie irgendwohin einzuladen. Die Eltern nickten nur höflich, als die beiden sie passierten. Martin und Jenny drückten sich nach draußen und kramten nach Zigaretten, Tobias hatte schon wieder sein Handy in der Hand.
Sabine rempelte Hilde an, als sie ins Freie drängte.
„Trampel“, schimpfte Hilde, aber Sabine fauchte nur: „Dann geh mir halt aus dem Weg. Ich hab schließlich Kinder, das ist ja wohl wichtiger!“
„Wichtiger als an Minimum an gutem Benehmen? Typisch Muttertierterror. Hast du eigentlich außer deinen zwei Mädels jemals irgendwas auf die Beine gestellt?“
„Na, und du?“, keifte Sabine mit mühsam unterdrückter Stimme. „Du hast doch noch nicht mal einen Mann, von Kindern ganz zu schweigen!“
„Dafür kann ich mich selbst ernähren! Und außerdem muss ja wohl jemand die Kinder erziehen, die Leute wie du ohne Sinn und Verstand in die Welt setzen. Oder erziehst du Lara und Alina etwa? Die dürfen doch alles!“
„Was verstehst du denn schon davon, du herzlose Kuh, du!“
„Kinder!“, mahnte Mama leicht verstimmt, denn sie waren in Hörweite geraten. „Doch nicht heute! Das hier ist übrigens Dr. Jörgens. Er ist Rechtsanwalt und hat uns für Montag um vier zu sich gebeten, wegen Tante Marthas Testament.“
„Euch beide?“, fragte Hilde und reichte dem Anwalt höflich die Hand. Sabine schmollte stumm.
„Nein“, fiel Papa etwas missvergnügt ein. „Euch auch. ich verstehe zwar nicht, warum, aber euch eben auch. Dann seid aber wenigstens pünktlich!“
Hilde inspizierte ihren Terminplaner. „Jetzt mach dich bloß nicht wichtig“, stöhnte Sabine. „Ich bin schließlich die, die schon wieder bei der Nachbarin zu Kreuze kriechen muss! Du hast doch sowieso schon ab mittags frei!“
„Gott erhalte dir deinen Kinderglauben“, murmelte Hilde. „Vier Uhr geht gut, ja. Und wo ist das, bitte?“
Sie notierte die Adresse und sah dann auf. „Ist jetzt noch irgendwas geplant? So was wie ein Leichenschmaus?“
„Unsinn“, wehrte ihr Vater ab, „wozu denn? Das kostet doch bloß Geld. Das Begräbnis ist doch schon teuer genug gewesen. Wieso zahlst du das eigentlich nicht? Du warst doch immer so dicke mit ihr!“
Hilde grinste böse. „Du erbst und ich zahle? Typisch!“
„Du bist doch Beamtin“, warf Martin ein, der offenbar endlich mit seinem Telefonat fertig war, „du brauchst ja keine Altersvorsorge. Du lebst im Alter ja herrlich auf Steuerzahlers Kosten.“
„Was für ein Quatsch“, entgegnete Hilde gereizt. „Aber euch kann man ja nichts erklären, und eigentlich kann es mir auch egal sein, was ihr von mir denkt. Eure Ansichten sind schließlich völlig irrelevant. Also, wenn nichts mehr passiert, dann gehe ich jetzt mal. Oder was macht ihr jetzt?“
„Ich muss mich um meine Kinder kümmern“, rief Sabine. „Tobias, komm!“
Tobias schloss sich ihr gehorsam an.
„Ich hab noch zu arbeiten“, verkündete Martin. „Bin ja kein Beamter!“
Hilde versuchte, ihn ans Schienbein zu treten, aber er wich ihr geschickt aus, nahm Jenny an der Hand, die entschuldigend zurückgrimassierte, und entfernte sich.
„Tja…“, machte Hildes Mutter und sah Hilde Verständnis heischend an, „dann war´s das wohl… Bis Montag, Kind. Um vier!“
Hilde verzichtete darauf, zu erwähnen, dass sie doch eben deshalb gerade den Termin notiert hatte, sagte brav Ciao und entfernte sich langsam.
„Das Geld können wir gut gebrauchen“, hörte sie ihren Vater noch. „Wenn wir dafür Sparbriefe kaufen, haben wir im Alter doch wenigstens einen Notgroschen!“
Notgroschen!, dachte Hilde ärgerlich. Er hatte doch schon stapelweise Notgroschen, von dem riesigen Haus mal ganz abgesehen.
„Und die Kinder?“, wandte ihre Mutter zaghaft ein.
„Die sollen gefälligst arbeiten, mussten wir ja schließlich auch!“
Hilde beschleunigte ihren Gang, um diesem Blödsinn nicht länger zuhören zu müssen.
Sie fuhr nach Selling zurück, streifte kurz durch den Supermarkt und füllte den Wagen nur mit gesunden Waren. Mäßig und gesund, viel spazieren gehen… vielleicht nützte es ja doch etwas? Und keinesfalls eine Mahlzeit überspringen!
Zu Hause räumte sie alles sorgfältig ein, putzte die Wohnung eher flüchtig durch, warf allerlei in Müll und Altpapier, freute sich an dem puristischen Ambiente, aß eine bessere Kleinigkeit und setzte sich schließlich an den Schreibtisch. Zwei Exen korrigieren, ein Ex entwerfen, eine Schulaufgabe entwerfen, Noten eintragen…
Gegen neun lehnte sie sich zufrieden zurück – alles geschafft, bis Montag musste sie nichts mehr für die Schule tun. Sie packte alles in die entsprechenden Mäppchen und verstaute diese in ihrer Aktentasche, polierte die Schreibtischplatte und nahm sich dann ihr Konto vor – ein bisschen kaufen, ein bisschen verkaufen…
Beim Durchforsten des Regals entdeckte sie noch drei Bücher, die sie morgen der Lesefabrik anbieten konnte. Danach fand sie in diversen Taschen noch insgesamt sieben Euro zwölf Cent und ein altes Fünfzigpfennigstück. Ein Kontrollblick in die Kochnische zeigte perfekte Sauberkeit – abgesehen von drei vergessenen leeren Colaflaschen. Hilde packte die Flaschen in eine Stofftasche (wobei sie sich schon arg tugendsam vorkam), trank ein großes Glas Wasser und sammelte noch einigen Müll ein. Dann zog sie ihre alten Turnschuhe an und machte sich auf den Weg zur Containerinsel. Morgen würde sie Flaschen und Bücher loswerden, überlegte sie, als sie zügig durch allerlei Nebenstraßen zurückmarschierte. Ein Seitenblick in ein Schaufenster freute sie aber trotz aller Tugendhaftigkeit nicht: immer noch so feist von der Seite, richtig mit Doppelkinn und Schwabbelwampe! Und dieser Hintern!
Da musste wirklich was passieren – aber keine Diät, das hatte sie ja schon fest beschlossen. Vielleicht sollte sie noch ein-, zweimal um den Block traben. Täglich natürlich. Und ein bisschen auf den Fettverzehr achten. Und zu Hause ordentlich herumwerken. Bewegungsintensiv.
Vielleicht auch ein bisschen tanzen – zu Radiomusik. Eine halbe Stunde täglich, abends. Das musste doch drin sein? Man musste doch ohne Diät und ohne so eine dämliche Muckibude zu einer normalen Figur kommen?
Im Moment kniffen die Jeans nicht, aber die waren ja auch ausgeleiert. Wenn sie direkt nach der Wäsche mal nicht mehr kniffen – das wäre was!
Gut, drei Pfund bis zum 17. Mai. Das wären dann 92. Und am 17. Juli 89. Und am 17. September 86. Dann würden die Schüler im neuen Schuljahr fragen: „Haben Sie irgendwie abgenommen?“ Nicht aus Interesse, aber sie glaubten sicher, das käme gut an.