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Kati hasst Hochzeiten - und jetzt plant ihre Schwester Carla eine viertägige Hochzeit auf einem Schloss! Nach dem Vorbild von "Vier Hochzeiten und ein Todesfall"! Dabei hat Kati mit einer Firmenkrise, der Tatsache, dass der Zukünftige ihrer Freundin Silke spurlos verschwunden ist, und ihrem eigenen Liebeskummer wirklich genug zu tun, ohne sich noch mit Hochzeits-Hilfsdiensten und einem unsäglichen Brautjungfern-Outfit herumzuärgern. Bei der Hochzeit selbst tauchen auch mehrere ungeladene und dafür umso arrogantere Gäste auf, die man zwar wunderbar ärgern kann - von denen aber zwei ermordet werden. Das geht zu weit, das versaut ja Carla und Paul die Hochzeit! Also geht Kati zusammen mit dem Objekt ihres Liebeskummers auf Mörderjagd, was beiden nicht immer gut bekommt... LESEPROBE: "Alles nichts", rief Cora, "ich weiß das Optimale! Wir finden mitten bei den Feierlichkeiten eine Leiche." "Eine ganz alte Leiche, ja? Eine Nonne, die vor sechshundert Jahren hier eingemauert wurde. Die errötende Braut öffnet nichts ahnend eine Geheimtür, und die Knochen purzeln ihr vor die Füße. Sie muss abtransportiert werden und wird nie wieder die Alte werden." "Ein schweres Nervenfieber", assistierte Anette. "Und die Nonne spukt hier als Weiße Frau durchs Schloss, seit sechshundert Jahren. Jede Nacht rasen die Gäste kreischend über die Gänge." Cora hopste herum. "Au ja. Klasse, was?" "Das war vorgestern im Fernsehen, du Kindskopf", sagte Anette. "Und ich weiß ja nicht, ob das deine Pläne stört, aber die Bude hier ist noch keine hundertfünfzig Jahre alt."
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Seitenzahl: 655
Veröffentlichungsjahr: 2015
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Alles frei erfunden!
Eventuelle Ähnlichkeiten und Namensgleichheiten mit real existierenden Personen, Firmen usw. sind purer Zufall.
Imprint Tote Gäste. Kriminalroman
Elisa Scheer
Ich hasse Hochzeiten.
Wirklich, das ist nicht diese Saure-Trauben-Philosophie von Frauen, die das Gleiche behaupten und sich dann zu gewaltigen Hochzeitsfans entwickeln, sobald es um sie selbst geht. Ich finde Hochzeiten wirklich blöd.
Ganz ernsthaft.
Ich meine, da treffen sich zwei Familien, als ob eine alleine nicht schon furchtbar genug wäre, alle in pastellfarbenen Fummeln und albernen Hüten, um sich anzugucken, wie zwei Leute ein bescheuertes Ritual vollziehen – bloß um sich im Durchschnitt vier Jahre später unter großen Kosten und viel Gezänk wieder zu trennen.
***
Leider war der Lieblingsfilm meiner Schwester Carla Vier Hochzeiten und ein Todesfall, aber die Ironie darin war ihr nie aufgegangen – sie wollte genauso heiraten wie die Leute im Film. Sie würde wie ein Sahnebaiser aussehen und mir kam wohl die Rolle der Fiona zu, der leicht verbitterten Beobachterin am Rande, die vergeblich in den Helden verliebt ist.
Ich sah mich schon, in düsterem Schwarz, einen Drink in der Hand, unauffällig nach jemandem schmachten, der mich nicht wollte. Nein, Carla hatte mir Schwarz schon verboten, und ich schmachtete zwar wirklich vergeblich nach jemandem, der mich nicht wollte, aber der würde nicht auf der Hochzeit sein, weil Carla ihn überhaupt nicht kannte. Sie hatte ja schon gemeint, die Leute lernten ihre künftigen Partner gerne auf Hochzeiten kennen (auch das hatte sie aus dem Film), und ob ich nicht auch endlich mal...?
Cora, unsere Jüngste, war eher der Ansicht, dass Hochzeiten auf normale Menschen abschreckend wirken, aber damit gelang es ihr nur, Carla zu beleidigen – was zurzeit nicht allzu schwer war, da Carla fürchterlich nervös war. Schließlich musste ja „alles“ klappen!
Scheißhochzeit. Noch zwanzig Tage bis zum Wochenende des Schreckens.
Das kam ja noch dazu, dass Carla und ihr Paul nicht wie normale Leute heiraten konnten, schnell aufs Standesamt und am Samstagnachmittag in die Kirche um die Ecke, dann ein nettes Essen und die Sache war ausgestanden – nein: An Himmelfahrt würden wir anreisen, und dann sollte es dreieinhalb Tage Festivitäten geben. Kein Kronprinz betrieb solchen Aufwand!
Das war übrigens Carla zweite Inspirationsquelle – etwa um die gleiche Zeit wie sie würden zwei Prinzen heiraten (welche, hatte ich schon wieder vergessen, ich kannte bloß Prinz Charles, und der war es nicht), und die Berichte in der Regenbogenpresse, wie das Brautkleid aussehen würde, wie sehr die künftigen Prinzessinnen weinen mussten, weil ihre Schwiegermütter gemein zu ihnen waren, was passierte, wenn sie keine Kinder oder Gott behüte nur Töchter kriegten, ob sie nicht überhaupt längst schwanger waren, was sie in ihrer Jugend so getrieben hatten, wo, wie und warum sie ihre Prinzen kennen gelernt hatten und was sonst noch keinen denkenden Menschen interessieren konnte, waren zur Zeit Carlas bevorzugte Lektüre, neben Hochzeitsratgebern natürlich.
Carla war nicht so doof, wie es sich anhört, sie hatte BWL studiert und arbeitete in der Firma unseres Vaters, der eine kleine, aber feine Investmentfirma betrieb, komplett mit eigenem Börsenbrief und einigen sehr ausgewählten Fonds. Bevor sie und Paul beschlossen hatten, zu heiraten, las sie Wirtschaftszeitschriften, anständige Romane, Krimis und alles Mögliche, aber bestimmt nicht Herz der Frau oder ähnlichen Quark.
Jedenfalls sollte die Hochzeit in Grafenreuth stattfinden, einem ziemlich großen – und meiner Ansicht nach auch ziemlich hässlichen – Schloss etwa zwanzig Kilometer südlich von Leisenberg.
Die Eigentümer konnten das Schloss offenbar nur halten, indem sie es für solche Events vermieteten; es bot einen Ballsaal für den Polterabend und den Hochzeitsball, eine Schlosskapelle, einen Ratssaal für die standesamtliche Trauung (der Standesbeamte reiste zu diesem Zweck und für ein Extrasalär mit Laptop und Drucker an) und genügend Zimmer für alle Gäste. Plus eine hochmoderne Küche, in der sich die Cateringfirma austoben konnte, und Parkanlagen, in denen sich die nächsten Kundenpaare näher kommen sollten.
Wieso Grafenreuth so heißt, ist mir ein Rätsel – die Eigentümer sind keine Grafen und waren es nie, und das Schloss ist erst um 1900 herum im damals modisch-geschmacklosen Stil erbaut worden. Ich glaube, man nennt das Neurenaissance. Gerodet wurde dort auch nichts, vorher stand dort ein kleines Landhaus aus dem frühen 19. Jahrhundert. Also ist auch –reuth ein ziemlicher Blödsinn.
Wie diese ganze Hochzeit eben. Konnten Carla und Paul nicht heiraten, ohne uns allen damit auf die Nerven zu gehen? Seit Wochen ärgerte ich mich darüber. Papa ärgerte sich darüber, Cora ärgerte sich darüber – nur Mama hielt zu Carla und war überglücklich, dass wenigstens eine ihrer Töchter mit allen Schikanen heiratete, wenn schon die anderen gar keine Anstalten machten und der einzige Sohn eine südfranzösische Mairie vorgezogen und überhaupt niemanden eingeladen hatte.
Carla und Mama hatten das Wohnzimmer mit Prospekten, Stoffproben, Notizzetteln, Geschenkeblöcken und sonstigem Krempel so gefüllt, dass Papa täglich später aus der Arbeit kam und sich dann sofort in sein Arbeitszimmer flüchtete. Wenn Cora oder ich dort vorbeischauten, steuerten wir auch sofort das Arbeitszimmer an – meistens vergeblich: Carla lag nach Büroschluss auf der Lauer: „Guck mal, das soll die Tischdekoration für den Polterabend werden. Wie findest du´s?“
Wir brummelten dann „Schön“, ohne groß hinzugucken.
„Wirklich? Jetzt schau´s dir doch richtig an. Nicht zu bunt/zu farblos/zu groß/zu klein? Passt das auch zu allem anderen?“
Da wir keine Ahnung hatten, wie alles andere aussah, bestätigten wir alles, was Carla hören wollte, und entflohen. Zurzeit schauten wir fast täglich vorbei, um Papa eine Stütze zu sein, der von Mama und Carla systematisch in den Wahnsinn getrieben wurde. Carla wohnte sogar wieder dort, um der Tradition willen. Wenn es eine Möglichkeit gäbe, sich operativ wieder zur Jungfrau machen zu lassen, würde sie das wahrscheinlich auch in Erwägung ziehen.
Stefan dagegen hielt sich möglichst fern und sprach von Hochzeitshysterie. Recht hatte er!
Im Moment saß ich an meinem Schreibtisch und versuchte, mich auf die Unterlagen von zwei neu einzustellenden Ingenieuren zu konzentrieren, aber diese Hochzeitshysterie hatte mich schon so weit angesteckt, dass ich mich dabei ertappte, dass ich mal wieder überlegte, was ich an diesem teuflischen langen Wochenende anziehen sollte.
Carla war ja schon eine liebe Schwester, trotz der momentanen Vollmeise, also hatte sie sich gewünscht, dass ich ihre Trauzeugin sein sollte. Das heißt, etwas Offizielles, Schickes fürs Standesamt bzw. den Ratssaal.
Außerdem hatte sie Vier Hochzeiten und ein Todesfall so oft gesehen, dass sie sich nun allen Ernstes Brautjungfern einbildete - als ob das hierzulande üblich wäre! Und natürlich sollte ich eine der Brautjungfern sein, außerdem meine drei besten Freundinnen, Silke, Anette und Nina. Mein zarter Hinweis, dass keine von uns auch nur annähernd jungfräulich war (Nina kann das mit zwei Kindern sogar beweisen), wurde beiseite gewischt: „Ist doch egal! Ich will vier schöne Frauen in identischen Kleidern.“
„Und was sollen die machen? Dumm rumstehen? Deine Schleppe zurechtzupfen?“
„So etwa“, hatte sie, nun doch etwas verlegen, zugegeben.
„Carla, du hast doch nicht ernsthaft eine Schleppe? Spinnst du? Hast du zu viele Adelshochzeiten im Fernsehen geguckt?“
„Die waren doch noch gar nicht“, verteidigte sie sich. „Aber eine Schleppe gibt einfach einen ganz anderen Auftritt. Nun lass mich doch, man heiratet schließlich nur einmal im Leben, da kann man´s doch auch krachen lassen!“
„Das kannst du doch gar nicht wissen“, warf Stefan ein, der sich unvorsichtigerweise in das mit Hochzeitskrempel vollgestopfte Zimmer wagt hatte. „Du heiratest zum ersten Mal, aber ob zum letzten?“
„Idiot“, kommentierte Carla gelassen, „aber du kommst mir gerade recht. Nix, hier geblieben, Kati, halt ihn fest!“
Ich packte Stefan am Kragen. Er sollte ruhig auch irgendwas Peinliches machen! Brautjungfer, also wirklich! Stefan guckte ängstlich, als ich ihn auf einen Sessel drückte, auf dem zufällig keine Stoffproben und keine aufgeschlagenen Zeitschriften lagen.
„Du machst den Platzanweiser. Du und ein Freund von Paul, vom Studium.“
Stefan verdrehte die Augen. „Platzanweiser? Ich wusste gar nicht, dass du im Kino heiraten willst.“ Carla grinste.
„Du stehst an der Kapellentür, ein Sträußchen im Aufschlag, und murmelst immerzu „Familie der Braut links, Familie des Bräutigams rechts“, erklärte ich ihn. „Du musst dir offenbar den Film noch ein paar Mal reinziehen.“
„Verschon mich, ich finde, Hugh Grant ist ein Brechmittel. Also von mir aus. Krieg ich auch eine Taschenlampe wie im Kino?“ Ich versprach es ihm – blumengeschmückt natürlich.
Zurück zu den Akten! Ich schaffte mit knapper Not eine, dann fiel mir ein, dass ich auch noch einen Fummel für den Polterabend brauchte. Und was für zwischendurch. Am besten sollte ich eine Liste anlegen. Ordnung und Methode als Gegenmittel gegen die Hysterie in meiner Umgebung.
Also – Anreise am Donnerstag: Jeans, T-Shirt, Jacke, falls Regen. Normale Schuhe, Loafers oder so. Donnerstagabend: Polterabend: Fummel 1 (hatte ich auch noch nicht, Mist!) und all mein altes Geschirr – ich hatte da eine ganze Menge übrig. Dazu passende Pumps, aber noch kein Hut.
Freitag – Freitag: was war da denn eigentlich geplant? Also sicherheitshalber etwas Lässiges (Casuals 2) und etwas Offizielles (Fummel 2). Und was für abends (Fummel 3).
Samstag – standesamtliche Trauung: offizielles Kostüm, Hut, andere Pumps, anständige Strümpfe. Fummel 4. Danach Hochzeitsfrühstück, den Rest des Tages frei. Casuals 3 also. Das wuchs sich ja langsam zu einem Schrankkoffer aus! Gut, dass ich Platz in meinem Auto und zwei Kleidersäcke hatte. Trotzdem – was für ein Aufwand!
Die kirchliche Trauung war erst am Sonntagmittag. Also für Sonntag dann das Brautjungferngewand (apricot, wie entsetzlich!) mit passenden Pumps und Hut. Schleppte das eigentlich Carla an oder musste ich mich selbst drum kümmern?
Und wieso musste ich mir tatsächlich zwei blöde Hüte zulegen? Und jede Menge Schuhe, die ich nie wieder tragen würde? Für apricotfarbene Seidenpumps konnte ich mir jedenfalls keinen Verwendungszweck vorstellen.
Außerdem mindestens ein Nachthemd, einen Morgenmantel, Kosmetika satt inklusive Schminkkrempel, Parfüm, mindestens zwei anständige Krimis für tote Momente und mein Hochzeitsgeschenk. Carla hatte sich von mir einen richtig luxuriösen Picknickkoffer samt Decke gewünscht. Das „luxuriös“ hatte sie so betont, dass sogar ich verstand, dass ein Sonderangebot aus dem Baumarkt (die gab´s schon ab 19.95 €) nicht gefragt war. Ich hatte aber einen sehr schönen Koffer gefunden, sogar in dem teuren Schuppen, in dem Carla und Paul ihre Hochzeitslisten ausgelegt hatten: Echtes Porzellan, echtes Kristall, echtes Silber (naja, fast) – und eine richtige gummierte Wolldecke in dezentem Schottenmuster. Alles very british. Ob man die Macher von Vier Hochzeiten eigentlich auf Schmerzensgeld verklagen konnte? Das Ding hatte fast zweihundert Euro gekostet!
Dann brauchte ich also insgesamt... mindestens vier, besser fünf gute Outfits und auf jeden Fall drei normale, außerdem –
„Frau Engelmann, denken Sie an das Meeting um drei?“
Scheiße, und ich hatte erst eine Akte durch! „Ja doch, ich komme gleich“, rief ich meiner Sekretärin durch die offene Tür zu und warf einen hastigen Blick auf die Uhr. Zwanzig vor, verdammt.
Schnell sah ich die zweite Akte durch, notierte mir ein paar fragliche Punkte, kramte meine Liste von diversen Problemen heraus, die ich ansprechen wollte, und packte alles zusammen. Der Schreibtisch war immer noch proppenvoll, und das alles nur wegen dieser Hochzeit!
Im Sitzungszimmer war ich immerhin die erste, die Sekretärin des Personalchefs (ich war ja bloß die Stellvertretung) verteilte noch diese affigen kleinen blauen Mineralwasserfläschchen und dazu passende Flaschenöffner. Ich setzte mich auf meinen üblichen Platz, holte meine Unterlagen aus der Mappe und nutzte die geschenkten Minuten, um noch schnell etwas durch die Bewerbungen zu blättern, fand aber nichts, was einer Einstellung im Wege gestanden hätte. Auch gut. Natürlich, wenn sich die beiden als Alkoholiker, Querulanten oder Arbeitsscheue entpuppten, würde Schmitt mir den Kopf abreißen – aber die kamen beide frisch von der FH und hatten glänzende Zeugnisse, Praktikumsbescheinigungen, Diplomarbeiten und sonstige Gutachten. Und deutlich unter dreißig waren sie auch alle beide. Plus Auslandserfahrung (naja, ein Semester, aber was erwartete man eigentlich noch alles von frisch diplomierten Ingenieuren?) – ich konnte mir nicht vorstellen, dass ich da was übersehen hatte. Und die Unterlagen über das neue Fortbildungsprogramm hatte ich auch fertig.
Schmitt kam herein und brummte mir einen Gruß zu; ihm folgten die Leiter der Fertigungsabteilungen I und II und der Chef der Rechtsabteilung. Wir nickten uns kurz zu, während sie Platz nahmen und schon die ersten blauen Fläschchen knackten.
Die nächsten zwei Stunden vergingen mit dem üblichen Tauziehen um Maßnahmen, die um der Effektivität des Betriebs willen notwendig, juristisch aber nicht haltbar waren, juristisch notwendig, aber für die Produktion katastrophal oder beides zugleich, wenn das überhaupt möglich war. Schmitt schien mir heute etwas zu schwächeln, also zankte ich mich fast alleine herum, vor allem mit Klausdieter Mönsche, dem Chef von Fertigung I, und Nicholas Rosen von der Rechtsabteilung. Wenn er noch einmal sagte: „Ich fürchte, der Gesetzgeber sieht das etwas anders“, dann würde ich ihm seine Arbeitsrechtssammlung an den Kopf werfen!
Oder ihn küssen.
Warum ich mich schon bei unserer ersten Begegnung vor einem halben Jahr Hals über Kopf in ihn verliebt hatte, wusste ich auch nicht – mit objektiven Kriterien war das nicht zu erklären. Er war weder besonders schön noch besonders nett. Nett schon gar nicht.
Es hatte schon schlecht begonnen, ich hatte ihm lächelnd die Hand gereicht und dann erst gemerkt, dass er mir die Linke entgegenstreckte. Damals hatte ich geglaubt, er sei eben ein entschiedener Linkshänder, und eine entsprechende heitere Bemerkung gemacht. Dass sein rechter Arm praktisch gelähmt war, konnte ich ja schließlich nicht wissen! Leute, die erwarteten, dass man über ihre Behinderungen schon Bescheid wusste, bevor man sie auch nur kennen gelernt hatte, ärgerten mich. Wieso war er so verkniffen und empfindlich? Das Steingesicht, mit dem er meine Entschuldigung – zugegeben, etwas halbherzig war sie schon, weil ich meinen faux pas nicht so tragisch fand – entgegennahm, war wirklich übertrieben.
Jeder meiner späteren Versuche, mit heiteren Bemerkungen ein Lächeln auf sein Gesicht zu zaubern, misslang, bis ich mir schließlich wie ein albernes Plappermaul vorkam und in seiner Gegenwart hinfort mürrisch und streng sachlich auftrat. Daraufhin zog er auch wieder ein Gesicht, aber ich wollte ihn auch nicht fragen, ob er meine Pausenclown-Vorstellungen etwa vermisste. Nein, nett war er nicht. Er verfügte in reichem Maße über das absolute Gegenteil von Charme, und so schön, dass er sich das leisten konnte, war er weiß Gott nicht. Okay, das harte Gesicht war gut. Und groß war er – aber das war ich selbst. Dünn war er, aber ob das an einem Mann gut aussah, stand schließlich auch noch nicht fest. Grauhaarig, obwohl er noch keine vierzig war, grauäugig – und grauherzig. Das auf jeden Fall. Er konnte nur den linken Arm benutzen und hinkte etwas, aber woher das kam, wusste ich nicht. Alles stand eben auch nicht in den Personalakten, die außerdem eigentlich unter Verschluss waren, soweit es die Führungsebene betraf.
Er hatte vorher in einer Kanzlei und bei einer anderen Firma gearbeitet, bevor er zu TechCo gekommen war. Der Aufsichtsrat hatte ihn wohl wegen seiner juristischen Kenntnisse genommen, nicht wegen irgendwelcher sozialen Kompetenzen, denn die hatte er ja gar nicht. Trotzdem träumte ich von ihm. Davon, dass dieses Gesicht einmal weich würde, vor Amüsement, Rührung oder Begierde, davon, seinen linken Arm um mich zu spüren, davon, dass er mir erzählte, warum er so verbiestert war.
Das einzige, was ich noch nicht gemacht hatte, war, Katharina Rosen überall hinzukritzeln. Cora hatte vor ein paar Jahren – zehn war das sicher auch schon wieder her – mal ihre künftige Unterschrift geübt: Cora Williams, Cora Williams... Carla und ich hatten den Zettel gefunden und gnadenlos gehöhnt, bis sie geheult hatte. Heute musste ich zugeben, dass Robbie Williams auf jeden Fall besser aussah und wahrscheinlich auch netter war als Nicholas Rosen, an dem der Name wohl noch das Beste war. Und diese seltsam kalten grauen Augen.
Heute guckte er mich wieder mal an wie ein merkwürdiges Insekt. Vielleicht konnte er immer noch nicht glauben, dass eine Frau an diesen Sitzungen teilnehmen durfte? Er hatte selbst einen Vize, aber den brachte er zu den nahezu täglichen Meetings nie mit, er machte lieber alles selbst. Schmitt dagegen delegierte mit Lust und Leidenschaft, er plante wohl schon den Ruhestand. Und was er delegierte, landete natürlich bei mir. Hoffentlich bekam ich dafür eines Tages auch die Leitung der Personalabteilung! Und hoffentlich liefen unsere Geschäfte weiterhin so gut – ich kannte genug Horrorgeschichten von Leuten, die wie ich eine Führungsposition gehabt hatten, arbeitslos geworden und nicht mehr vermittelbar waren – überqualifiziert, zu alt (das hieß: dreißig oder drüber)... Bevor mich das Arbeitsamt zwang, für einen Euro pro Stunde den Prinzenpark aufzuräumen, suchte ich mir lieber selbst etwas oder machte eine Ich-AG auf. Geschäftsidee hatte ich allerdings noch keine. Höchstens daytrading, das hatten wir alle bei Papa gelernt. Aber bei der Börsenlage...
„Frau Engelmann?“ Ich schreckte auf.
„Haben Sie geschlafen?“ Rosen, mit leicht süffisanter Miene.
„Nachgedacht!“, antwortete ich bissig und verkniff mir Das kennen Sie nicht, das bedeutet... Es wäre wirklich fehl am Platze gewesen, schade.
„Ist dann der Fall Uhlmann klar?“ Ich nickte. Zwei Abmahnungen, dann war jetzt die Kündigung fällig. Wenn wir die Uhlmann nur endlich loswürden, die tat überhaupt nichts. Aber die Abmahnungen hatte sie für Ferngespräche auf Firmenkosten und das Klauen von Firmenkulis bekommen – die Verschwendung von Arbeitszeit war eben nicht strafbar.
Jetzt tat sich endlich eine Chance auf. „Aber wir müssen das so wasserdicht formulieren, dass sie vor dem Arbeitsgericht keine Chance hat“, verlangte ich, und Rosen zog eine müde Grimasse. „Ich mach das nicht zum ersten Mal, Frau Engelmann. Mitleid haben Sie keins mit der Frau?“
„Nein“, antwortete ich, obwohl ich wusste, dass sie so leicht nichts Neues finden würde. Nicht mit fünfzig. „Sie ist ja nicht eine gute Kraft, die einmal schwach geworden ist, sie sitzt hier nur ratschend ihre Zeit ab und arbeitet so wenig wie möglich. Und ihre Vorstellungen davon, was ihr die Firma schuldet, sind abenteuerlich. Je eher wir sie loswerden, desto besser.“
„Wann haben Sie denn mit ihr geredet?“, fragte Schmitt. „Ich kann mich gerade gar nicht auf den Fall besinnen.“ Ich schob ihm die Unterlagen zu. „Hier, schon vor der ersten Abmahnung. Zusammen mit ihrer unmittelbaren Vorgesetzten, die ihr schon einige Male diese privaten Ferngespräche verwiesen hatte. Frau Uhlmann hat überhaupt nicht verstanden, was wir wollen, schließlich könne man ja nicht erwarten, dass sie ihre Schwester in Australien auf eigene Kosten anruft, oder?“ Ich sah mich erwartungsvoll um. Rosen schüttelte den Kopf, als habe er Wasser im Ohr. Entzückende Ohren – verdammt! Schmitt starrte mich an. „Hat die sie nicht mehr alle?“
„Doch, doch. Sie mag ihre Arbeit nicht, und deshalb schulden wir, die wir sie dazu zwingen, stumpfsinnig die Ablage zu machen, zu tippen und zu kopieren – hält ja schließlich kein Mensch aus, nicht? – ihr sämtliche Vergünstigungen. Warum wir freitags nicht schon mittags aufhören, wollte sie wissen, dann könnte sie nämlich noch einkaufen gehen, bevor der große Ansturm einsetzt. Ja, wir waren auch sprachlos.“
Rosen zog die Akte zu sich. „Was hat die Gute denn für eine Ausbildung?“
Ich zuckte die Achseln. „Realschule, Bürokauffrau, nach einem Jahr abgebrochen, dann Bürogehilfin. Ich hab sie gefragt, warum sie die Ausbildung nicht fertig gemacht hat, oder warum sie nicht wenigstens an den internen Fortbildungen teilnimmt, damit sie sich bei der Eingabe von Daten nicht ganz so beschränkt anstellt – nein, nein, so hab ich das natürlich nicht formuliert!“
„Und ihre Antwort?“
„Während der Ausbildung wollte sie heiraten und dachte, dann braucht sie die Ausbildung nicht mehr; als Bürohilfe hat sie mehr verdient als als Azubi, und sie brauchte das Geld doch für den künftigen Haushalt. Dann aber ist das irgendwie auseinander gegangen. Und Fortbildungen – dieser neumodische Krempel. Sie hat genug zu tun, auch ohne noch was dazu zu lernen, dann müsste sie ja bloß noch mehr schuften. Frau Teck, ihre Vorgesetzte, sagt, sie arbeitet nur nach Vorschrift, seitdem sie sie kennt. Wir müssen die in einer Phase eingestellt haben, als es einen gewaltigen Arbeitskräftemangel gab. Ja, und das zweite Mal hat Frau Teck sie erwischt, wie sie eine ganze Handvoll Firmenkulis eingesteckt hat. Einer, den man aus Versehen einsteckt, da sagt ja keiner was. Hat wohl jeder schon gemacht. Aber fast zwanzig Stück, ganz neue, aus dem Magazinschrank?“
Schmitt und Mönsche wühlten in ihren Taschen herum, förderten tatsächlich je einen der dunkelblau-giftgrünen Kulis zu Tage und musterten sie betreten.
Rosen suchte ebenfalls und fand einen matt gebürsteten Edelkuli aus schwarzem Stahl. Ich grinste und klickte mit meinem silbernen Stift. Die Firmenkulis waren mir wirklich zu hässlich. „Vielleicht sollten wir mal über ein attraktiveres Design nachdenken“, schlug ich vor. „Von wegen Corporate Identity und so.“
Schmitt seufzte. „Dann müssen wir Frau Ehrlicher ja auch noch dazubitten!“
„Ja, und?“ Warum sollte unsere Marketingfrau nicht an einer Sitzung teilnehmen? War das kein ernst zu nehmender Bereich? Oder ging eine Frau schon über seine Kräfte?
Bei TechCo spürte man die gläserne Decke doch ganz schön. Frauen wurden zwar befördert, wenn sie mindestens doppelt so gut waren wie die männliche Konkurrenz, aber wehe, man brachte irgendetwas Weibliches in seinen Job ein, Kommunikationsfähigkeit etwa oder soziale Kompetenzen. Man musste quasi als Neutrum auftreten, und ich hatte mich bis jetzt diesem Diktat durchaus gefügt (von einigen verführerischen Blicken in Richtung Rosen mal abgesehen, auf die er überhaupt nicht reagiert hatte). Eigentlich waren Frauen hier wie auch in anderen Firmen immer noch dazu da, Diktate aufzunehmen, Vorarbeiten zu leisten und Kaffee zu kochen. Ich hätte ja gerne einen knackigen jungen Sekretär gehabt, um das System mal umzukehren, aber dann hätten wahrscheinlich alle darüber spekuliert, was ich mit dem bei geschlossener Bürotür trieb. Außerdem hatten sich nur Frauen beworben.
Dass ich gegenüber Leuten, die ohne Not ihre Arbeit nicht ordentlich machten, ziemlich hart auftrat, hatte meine Stellung sehr gefestigt. Wehe, ich hätte Ausreden für diese Leute gefunden! Das wollte ich auch gar nicht, Leute, die ihre Arbeit nicht taten, konnte ich schon gar nicht leiden. Wenn jemand echte Probleme hatte, Familienkrisen, Mobbing, Krankheiten, dann ließ sich eine einvernehmliche Lösung finden, aber so eine Abzockerin wie Rosemarie Uhlmann hatte ich schon gleich quer gefressen. Der Frau war ihr Verhalten ja nicht einmal peinlich! „Soll ich mir etwa Kulis im Supermarkt kaufen, wenn ich schon hier arbeite?“, hatte sie ehrlich erstaunt gefragt und ich hatte mich schwer beherrschen müssen, ihr nicht einfach eine zu knallen. Egal, die Frau flog bei nächster Gelegenheit, wir mussten nur noch die Kündigungsfrist klären.
Nach längeren Debatten und vielem Blättern in Gesetzestexten und Sammlungen höchstrichterlicher Entscheidungen stellten wir fest, dass eine fristlose Kündigung gerechtfertigt war, und einigten uns auch darauf. Wenn wir der Frau Zeit gaben, klaute sie bloß noch die Kaffeemaschine in ihrer Abteilung, weil sie zu Hause schließlich auch Kaffee trinken musste. Mir kam die schöne Aufgabe zu, ihr das mitzuteilen, und ich hatte den dumpfen Verdacht, dass sie die Bedeutung von zwei Abmahnungen trotz mehrfacher Erklärungen überhaupt nicht verstanden hatte. Sie würde aus allen Wolken fallen! Ich musste sie zu mir bestellen, dann konnte mir Frau Reichle gegebenenfalls beistehen. Man wusste schließlich nie, nachher wurde die Uhlmann noch gewalttätig! Schließlich war die Sitzung beendet – super, erst zwanzig nach vier, dann konnte ich die Uhlmann gleich fertig machen.
Ich eilte in mein Büro, ließ die Reichle die formelle Kündigung schreiben, samt juristisch wasserdichten Begründungen und Hinweisen auf die Abmahnungen in der Akte, und bestellte mir Frau Uhlmann dann zu mir.
Sie kam mit harmlos-überraschter Miene, ging aber eine halbe Stunde später mit einem völlig anderen Gesichtsausdruck. Der wollte ich ja nicht mehr nachts auf der Straße begegnen! „Was für eine Furie“, meinte Frau Reichle und brachte mir meinen geliebten gespritzten Orangensaft. „Die hat doch wirklich nicht mehr alle Tassen im Schrank. Ich hab´s der Teck schon gesagt, nicht dass die Uhlmann einfach weiter da herumsitzt und erst zugibt, dass wir sie gefeuert haben, wenn sie was arbeiten soll, worauf sie keine Lust hat.“
„Was hat Frau Teck gesagt?“, fragte ich und wischte mir müde die Stirn. Puh, was für ein Weibsbild! „Na endlich, hat sie gesagt. Jetzt kommen wir hier endlich mal zum Arbeiten.“ Die Reichle grinste mir aufmunternd zu.
„Ich hasse so was. Wie eine Hinrichtung“, murmelte ich. „Aber Frau Uhlmann hat´s wirklich nicht besser verdient.“
„Eben“, stellte die Reichle fest. „Sie haben das ganz richtig gemacht. So, und jetzt trinken Sie mal schön Ihren Saft, bevor er warm wird. Möchten Sie einen Keks dazu?“ Was hatte ich an mir, dass mich alle Sekretärinnen bemuttern wollten? Nein, ich wollte keinen Keks, ich hatte noch einiges zu tun.
Wenigstens hatte die Affäre Uhlmann mich von der blöden Klamottenfrage abgelenkt.
„Wissen Sie jetzt schon, was Sie auf der Hochzeit anziehen wollen?“, fragte Frau Reichle freundlich, bevor sie nach draußen verschwand, und ich stöhnte auf. Da sah ich mir ja lieber dieses komische neue Fortbildungskonzept an!
Gegen halb sieben kam ich nach Hause und schleuderte schon im Flur erschöpft meine Schuhe von mir. Am besten erst einmal duschen und etwas Bequemeres anziehen! Ich verstreute meinen Business-Hosenanzug, die anständige strenge Bluse und alle Dessous auf dem Weg ins Bad und ließ erst einmal heißes Wasser auf mich prasseln. Leider auch auf die Samtschleife, mit der ich meine Haare zurückgebunden hatte. Wütend warf ich sie ins Waschbecken. Samt – der würde nie mehr so werden wie er mal war. Wenigstens war ich jetzt nass, erfrischt und sauber, und wenn Carla mich heute verschonte, stand mir vielleicht sogar ein friedlicher Abend bevor.
Ach nein, ich hörte das Telefon schon. Egal, auf nasse Fußtapper auf meinem kostbaren Parkett legte ich keinen Wert. Carla würde es unverdrossen noch zehnmal probieren, außerdem sprang gerade der Anrufbeantworter an. Ich trocknete mich in aller Ruhe ab und wickelte mich in meinen wunderbaren Morgenmantel – außen Seide, innen Fleece, dunkelgrau und silbern gemustert. Damit würde ich sogar auf Schloss Grafenreuth einen guten Eindruck hinterlassen. Aber nicht mit dem Kaffeefleck vorne! Waschen musste ich das Ding also auch noch. Waschen musste ich überhaupt mal wieder. Und einkaufen. Am Samstag war Feiertag, also spätestens morgen...
Und die ganze Wohnung, so schön sie war, wirkte ein kleines bisschen stumpf. Das lag möglicherweise an der Staubschicht, die sich überall ausgebreitet hatte. Wann hatte ich eigentlich zum letzten Mal anständig geputzt?
Heute stand das jedenfalls nicht auf dem Programm.
Ich fiel aufs Sofa und angelte nach meiner Flyersammlung. Heute mal mexikanisch? Oder indisch? Auf jeden Fall nicht schon wieder Pizza!
Oder sollte ich mich in einen Jogginganzug werfen und hoffen, dass der Supermarkt in der Franziskanerstraße noch aufhatte? In Anbetracht meiner düsteren Gedanken heute bei der Sitzung sollte ich nicht so viel Geld ausgeben, das ich doch besser anlegen konnte als in Takeaway-Essen. Ich hatte aber Hunger. Und den ganzen Tag geschuftet. Und verdammt, so arm war ich auch nicht! Die Wohnung war fast abbezahlt, mein Depot sah ganz erfreulich aus, und zur Not konnten mir auch Papa und Mama aushelfen – obwohl mir das schon sehr peinlich sein würde. Nein, heute gab es Enchiladas und einen großen Salat mit roten Bohnen. Um Himmels Willen, keine Bohnen – was, wenn die mir Blähungen einbrachten und mir vor Rosen ein Missgeschick passierte? Dann hatte ich endgültig keine Chancen mehr bei ihm.
Ich kuschelte mich in die Sofalehne und rief mir ins Gedächtnis zurück, wie hinreißend er heute wieder gewesen war, als er mit vergrämter Miene in den höchstrichterlichen Entscheidungen geblättert hatte. Warum er so entzückend war, wusste ich auch nicht, ich konnte kein einziges objektiv entzückendes Detail an ihm entdecken, aber der Gesamteindruck... Liebe machte eben blind. Und blöd.
Ich raffte mich wenigstens auf und rief den Lieferservice an. Vierzig Minuten – da konnte ich doch wenigstens die herumliegenden Klamotten aufsammeln und eine Ladung T-Shirts in die Maschine stecken.
Meine Wohnung war relativ pflegeleicht, weil ich schon bei der Einrichtung darauf geachtet hatte, mir keine Staubfänger zuzulegen – aber Staub musste man gar nicht fangen, der kam auch so, ganz ungebeten. Woher kam der eigentlich? Ich wischte flüchtig mit einem Microfasertuch herum, das auch nicht so ein Zaubermittel war wie auf der Packung versprochen, lüftete, stellte mir einen Teller und Besteck bereit und blätterte durchs Fernsehprogramm. Serien, lauter Serien, die ich entweder gar nicht kannte oder so lange nicht geguckt hatte, dass ich den Faden verloren hatte. Kein einziger anständiger Film! Doch, da! Fritz Lang, Der Verlorene. Superfilm – Mist, auf MDR, das war bei uns nicht im Kabel.
Dann eben etwas Eigenes! Wozu sammelte ich DVDs? Ich wühlte etwas herum und entschied mich für Vom Winde verweht. Nicht, dass ich Vier Hochzeiten und ein Todesfall nicht auch gehabt hätte – genau! Ich würde ihn mir zum hundertsten Male anschauen und mir einige Peinlichkeiten notieren, mit denen ich Carlas großen Tag dann etwas aufpeppen konnte. Zum Beispiel dem Trauzeugen die Ringe klauen und sie durch solchen Hippiekrempel wie im Film ersetzen...
Sehr gut – aus Scarletts Hochzeiten konnte man sowieso nichts lernen, außer, dass man nicht immerzu die falschen Männer aus den falschen Gründen heiraten sollte. Ich schob die Schublade ein, überlegte kurz, ob ich mich bilden und den Film auf Englisch anschauen sollte, entschied mich dagegen (viel zu anstrengend) und startete. Halt, Notizblock! Ich war noch nicht einmal über die Credits hinaus, als das Telefon läutete. Carla, da war ich mir sicher. Ich griff zum Hörer. „Was ist jetzt wieder schief gegangen?“
„Was, wieso schief gegangen?“, wunderte sich Anette.
„Sorry, ich dachte, es ist Carla. Zum hundertfünfzigsten Mal, ob sie nicht doch lieber Lachskanapées... oder ob ich Freesien gut fände für den Ratssaal...“
„Und nichts geht dir mehr am Arsch vorbei, was? Weißt du, was mich mal interessieren würde? Ich meine, ich finde Carla ja wirklich nett, und bis vor einigen Wochen hab ich sie auch durchaus für intelligent und vernünftig gehalten – aber warum müssen eigentlich deine Freundinnen Brautjungfern spielen? Was ist mit ihren eigenen?“
Ich seufzte theatralisch. „Corinna ist genau da in Bali. Sie hat die Reise gewonnen, und der Termin lässt sich nicht mehr ändern. Und Sandras Mutter liegt im Sterben, ziemlich gruselig, Knochenkrebs, die hat jetzt wirklich keinen Sinn für Hochzeiten. Na, und ich muss sowieso ran, als Trauzeugin, und Nina, weil sie die Kinder haben will, zum Blümchen streuen.“
„Sind die nicht ein bisschen zu alt?“
„Andere Kinder kennt Carla aber nicht. Jetzt hat sie schon zwei von uns, da dachte sie wohl, dich und Silke kann sie auch gleich noch verknacken. Na, und eigentlich machen wir doch sonst auch jeden Blödsinn mit.“
„Aber nicht in apricotfarbenem Chiffon“, maulte Anette. „Ich hab rote Haare, verflixt! Hat ihr das denn keiner gesagt?“
„Doch. Aber alle müssen gleich angezogen sein, wie im Film eben.“
„Dann komme ich aber stilecht in einem verbeulten linksgesteuerten Mini mit nachgeschleifter Parkkralle!“
Ich gackerte. „Ich wollte mir gerade den Film noch mal reinziehen und Peinlichkeiten sammeln. Weißt du, wo man solche Trauringe kriegt?“
„Die geschmackvollen? Am Bahnhof, denke ich, da ist doch dieser krasse Modeschmuckladen, gleich neben dem oberschmuddeligen Tattoostudio – Mensch! Und wenn wir uns alle ein abwaschbares Tattoo zulegen? Die Kleider haben doch diesen gewaltigen Ausschnitt. Irgendwas Kleines, aber Unfeines, direkt über den Titten?“
Ich freute mich. „Sollten wir als Option im Auge behalten. Carla überlegt übrigens, ob wir statt der dämlichen apricotfarbenen Hüte lieber weiße Blütenkränze tragen sollen. Und die Braut dann einen in Apricot zum weißen Kleid.“
„Sie wird wie ein Bellini-Dessert aussehen“, unkte Anette. „Ist Carla eigentlich klar, dass ich ganz, ganz kurze Haare habe und total unromantisch aussehe? Und Nina hat sich eine Dauerwelle machen lassen, in diesem sündteuren Studio, und da ist was schief gelaufen. Hat sie mir gerade vorgeweint. Sie sagt, sie sieht aus wie ein geplatztes Rosshaarkissen. Die Farbe würde ja passen.“
Das war gemein, aber leider wahr – Ninas Haare waren, vielleicht durch ihre Leidenschaft für angeblich auswaschbare Tönungen, mittlerweile von einem eher schmutzigen Gelbbraun. Sie sollte sich vielleicht mal beim Friseur die Haare professionell färben lassen, aber darauf hatte sie so schnell bestimmt keine Lust. Wie konnte man bei so kaputtem Haar auch eine Dauerwelle machen lassen! Und welcher Friseur spielte da mit?
„Dann müssen Silke und ich für euch alle schön sein“, spottete ich.
Anette prustete ins Telefon. „Schön, ja? In apricot? Albern werden wir aussehen, alle vier.“
„Wenn schon“, besänftigte ich sie, „da kennen uns doch eh schon alle. Und wenn´s dich tröstet, Stefan muss Platzanweiser spielen. Meinst du, ich kann Carla weismachen, dass Platzanweiser im Kilt auftreten müssen?“
„Wenn du unbedingt von ihm erschlagen werden willst... natürlich könnten wir dann zählen, wie viele Mädels ihn fragen, ob er was drunter trägt. Das hat was...“
„Martine wird das schon verhindern. Was Stefan macht, bestimmt schließlich sie. Aber von der Hochzeit ist sie ziemlich begeistert.“
„Sie – und wer noch? Warum macht sie eigentlich nicht Trauzeugin?“
„Weil sie im achten Monat ist, wie schaut denn das aus!“
„Und Nina hat zwei Kinder. Du, sag mal, aber das Allergrässlichste spart Carla sich hoffentlich?“
„Was ist das Allergrässlichste? Die Brautentführung?“
„Nein, das Brautstraußschleudern. Ich lass ihn fallen, ich sag´s dir!“
„Ich auch.“ Ich musste lachen. „Erinnerst du dich noch an unsere Versuche, Volleyball zu spielen? Im ersten Semester?“
„Ich dachte, du nimmst ihn an? Nein, du?“
„Genau. Meinst du, man kann ihn zur Braut zurückbaggern?“
Anette freute sich. „Carla trifft der Schlag, wenn sie das Gemüse wieder ins Gesicht kriegt. Obwohl, sehr treffsicher sind wir leider alle nicht, wahrscheinlich erwischen wir die Hochzeitstorte oder so was.“
Sie hörte auf zu lachen. „Ganz was anderes, weshalb ich dich eigentlich angerufen habe... Rate, wer plötzlich bei mir vor der Tür gestanden ist!“
Ich hatte keine Ahnung. „Deine spießige Cousine, dass du endlich heiraten sollst?“
„Ach wo, die hat die Hoffnung wohl endlich aufgegeben. Obwohl sie es ja schon bedenklich findet, dass alle diese Häuser von einer Frau verwaltet werden. Das ist ja so unweiblich!“ Ich kicherte; sie konnte die blöde Christel wunderbar nachmachen. „Wenn die es nicht war, wer dann?“
„Sagt dir der Name Andi noch was?“
„Andi – Andi – sag bloß, doch nicht der Andi?“
„Genau der. Und rate, was er vorzubringen hatte?“
Hm... Andi war vor fast zwei Jahren plötzlich verschwunden. Der klassische Fall von Ich gehe bloß mal kurz Zigaretten holen. Anette hatte nie mehr etwas von ihm gehört und das Ganze recht mühsam überwunden. Und jetzt traute er sich wieder her?
„Er spürte, dass er für dich nicht gut genug war, und wollte edel verzichten“, schlug ich vor. Anette prustete. „Knapp daneben. Er wusste, dass er mir nicht das Leben bieten konnte, das einer Prinzessin wie mir angemessen wäre, also zog er aus, sein Glück zu machen.“
„Und? Hatte er Erfolg? Bringt er Goldesel, Tischlein deck dich und Knüppel aus dem Sack mit? Oder einen gestiefelten Kater?“
„Nein. Aber ganz, ganz tolle Anlagemöglichkeiten. Leider hat er die entsprechenden Unterlagen gerade nicht zur Hand, aber es ist eine fantastische Gelegenheit und ich muss mich ganz schnell entscheiden.“
„Dieser Gauner!“, empörte ich mich. „Und, wie wirst du dich entscheiden?“
„Hab ich schon. Er soll seinen Krempel wieder mitnehmen und mir nicht mehr unter die Augen kommen. Da ist dann die charmante Maske für einen Moment ins Rutschen gekommen. Hui, wie giftig er mich angesehen hat! Kati, ich bin ja nicht blöd, ich weiß, warum er wieder da ist.“
„Warum?“
„Weil ich jetzt Geld habe, darum. Vor zwei Jahren war ich noch eine mickrige BWL-Studentin, zugegebenermaßen mit reichen Eltern, aber selbst hatte ich fast nichts. Und jetzt verwalte ich den gesamten Immobilienbesitz meiner Eltern und sie haben mir schon ein Haus übertragen. Ich glaube, Andi hat ernsthaft geglaubt, ich würde das Haus belasten, um in seine Schwindelunternehmungen investieren. Weißt du noch, wie schwer es war, ihn damals von diesem Schneeballschwindel abzubringen? Er säße ja jetzt noch im Knast, wenn ich das nicht vereitelt hätte!“
„Aber dankbar ist er dir nicht dafür, was?“
„Im Gegenteil. Er tut, als müsste ich in seine Windeier investieren, weil ich ihm damals die Tour vermasselt habe.“
„Dieses Arschloch. Können wir ihm nicht was antun? Am besten so, dass die Polizei ihn gleich aus dem Verkehr zieht?“
„Was denn? Ach komm, ich bin ja schon froh, wenn ich ihn nie mehr sehe. Hat der Hund doch ernsthaft geglaubt, ich hätte auf ihn gewartet. Und ich wäre so blöd, ihm seine Geschichten zu glauben.“
„Meinst du, der bleibt jetzt weg?“
„Hoffentlich. Wir könnten ihm natürlich jemand Reicheren und Naiveren vorstellen – aber das müsste dann schon eine richtig grässliche Schnepfe sein, sonst wäre es ja gemein.“
„Kennst du so jemanden? Ich nicht“, antwortete ich und hörte es klingeln. „Du, Anette – können wir ein anderes Mal weiter fantasieren? Jetzt kommt mein Essen.“
„Faule Nuss, lässt du dir schon wieder was liefern?“
Anette hatte leicht reden, sie konnte sich ihre Arbeit selbst einteilen, solange sie ihre eigenen Bürozeiten einhielt, und die waren nur vormittags. Kein Wunder, dass sie Zeit hatte, einzukaufen, sie verglich ja sogar Sonderangebote! Als ob sie so was nötig gehabt hätte.
Silke war genauso, aber die war ja auch Lehrerin. Mittags fertig und dann hatte sie frei – egal, wie oft sie erzählte, das sei gar nicht wahr. Und Nina arbeitete überhaupt bloß stundenweise in einem Reisebüro, nicht, um groß was zu verdienen – Florian verdiente genug für alle – sondern nur, um nicht „einzurosten“. Ich war die einzige mit einer Fünfzigstundenwoche, dann stand es mir wohl verdammt noch mal zu, mir das Essen liefern zu lassen, egal, ob das ungesund war (Silke) oder langweilig (Nina) oder von Faulheit zeugte (Anette).
Ich bezahlte den Boten und ließ mich mit meiner Ausbeute auf dem Sofa nieder. Mhm, lecker! Ein riesiger Salat (ohne Bohnen), scharfe Sauce, Enchiladas... Eine halbe Stunde später ging es mir schon eindeutig besser, so gut, dass ich die Wäsche aus der Maschine holte und aufhängte, alle Schuhe putzte, die ich in nächster Zeit tragen würde, und zwei Kostüme für die Reinigung heraushängte. Sehr brav, fand ich.
So, und was sollte ich nun für die Hochzeit vorbereiten? Ich war kaum zu der Feststellung gediehen, dass wenigstens der Fummel für die Kirche ja schon feststand – samt Blumenkranz (oder Hut?) und Seidenpumps – als das Telefon schon wieder läutete. Dieses Mal war es tatsächlich Carla – ob ich nicht schnell vorbeikommen könnte? Sie hätte da ein echtes Problem.
„Lass mich raten“, antwortete ich, lehnte mich gemütlich zurück und schnappte mir eine vergessene Tomatenscheibe, „du weißt nicht, ob apricotfarbene oder weiße Servietten beim Essen besser aussehen. Oder deine Brautschuhe haben doch etwas niedrigere Absätze, als du dachtest, und jetzt weißt du nicht, ob du über dein Kleid stolperst und in der Kapelle auf die Fresse fliegst. Oder deine Schwiegermutter will doch lieber, dass du ihren Schleier trägst, aber der hat ein anderes Weiß als dein Kleid und außerdem verträgt er sich nicht mit deinem Blumenkranz. Oder in Bali ist die Revolution ausgebrochen und Corinna hat nun doch Zeit, aber sie will nicht Apricot tragen. Das wollen wir übrigens alle nicht, aber uns hat ja keiner gefragt. Hab ich´s getroffen?“
„Nein“, antwortete Carla ärgerlich, „und tu nicht so, als würde ich mir den Kopf nur über solchen Pipifax zerbrechen! Ich hab ein echtes Problem! Kommst du?“
„Nein, heute nicht. Ich bin fix und alle und schon im Morgenmantel. Jetzt sag schon!“
„Wir wollten doch diesen weißen Rolls mieten, weiß du noch?“
„Ja, weiß ich. Bloß nicht, wozu. Wollt ihr darin auf dem Schlosshof herumkurven? Noch kürzere Wege kann man doch gar nicht haben als in Grafenreuth!“
„Du bist dermaßen prosaisch! Jedenfalls haben die den Rolls an einen vermietet, der ihn zu Schrott gefahren hat.“
„Das geht? Ich dachte, ein Rolls ist unsterblich?“
„Naja, nicht zu Schrott, aber bis man da Ersatzteile kriegt... jedenfalls müssen wir ihn streichen. Was machen wir denn jetzt? Ich meine, jeder andere Wagen ist doch vergleichsweise schäbig!“
„Und dafür hätte ich nach Leiching rausfahren sollen? Soll ich dir einen anderen weißen Rolls klauen oder was? Verzichtet doch ganz auf den Wagen, lauft vom Schloss in die Kapelle. Schön feierlich. Wir können auch am Rand stehen und Fähnchen schwenken. Mit dem Familienwappen drauf. Oder mit C & P drauf.“
„Haha. Klingt ja fast wie eine Billigmarke vom Supermarkt. Aber zu Fuß... das könnte was haben. Und Ninas Kleine vorneweg, Blumen streuend...“
„Logisch. Draußen kann man die später auch besser wieder wegfegen als von dem kratzigen Läufer in der Kapelle.“
„Typisch! Immer praktisch, was?“
„Eine muss ja praktisch denken. Und bitte, jetzt mach nicht alle damit verrückt, dass du nicht weißt, welche Blumen Simone streuen soll. Die wird sich schon genug genieren, sie ist doch schon viel zu alt für so was.“
„Sie ist elf!“
„Eben. Vierjährige mögen so was, Elfjährige finden das alles voll uncool. Kannst du nicht irgendwo einen charmanten vierzehnjährigen Beau auftreiben, damit sie auch ein bisschen Spaß hat?“
„Woher nehmen? Auf Pauls Seite hat überhaupt niemand Kinder, und auf unserer ist Nina auch die einzige. Wenn du eine anständige große Schwester wärst...“ Ich kicherte. „Das heißt, ihr macht euch auf der Hochzeitsreise an die Arbeit, damit es bei Coras Hochzeit genug schmückende Engelchen gibt?“
„Bist du wahnsinnig! Papa will mich zur stellvertretenden Geschäftsführerin machen, das versau ich mir doch nicht auch noch mit Absicht!“
„Weiß Paul das?“
„Klar.“
„Und Pauls Eltern? Die sehen mir ziemlich enkelgeil aus.“
„Nö, die merken das noch früh genug. Vielleicht erzählen wir ihnen, wir könnten nicht.“
„Na, viel Spaß. Wetten, die Alte schleppt dich dann von Arzt zu Arzt und schlägt dir alle möglichen Tricks vor, IVF und so weiter?“
„Okay, wir hüllen uns in geheimnisvolles Schweigen. Jedenfalls bist du aber echt zu nichts zu gebrauchen.“
„Komisch, das denke ich zur Zeit auch öfter – über dich!“, gab ich zurück. „Wo steht der DAX gerade?“
„Dreineunirgendwas. Glaubst du, ich lasse meine Arbeit hängen?“
„Ach, du nervst nur in der Freizeit, ja?“
„Klar, da lohnt es sich doch wenigstens. Stefan ist schon ganz kleinlaut.“ Sie lachte. „Schadet ihm gar nichts, das lenkt ihn etwas von Martines ewigen Zipperlein ab. Man könnte ja glauben, vor ihr ist noch nie eine schwanger gewesen!“ Wir gönnten uns einige Minuten gepflegtes Herziehen über unsere zurzeit etwas primadonnenhafte Schwägerin, mussten dann aber zugeben, dass sie von ihren Zickenanfällen abgesehen eigentlich okay war.
„Also, du kommst nicht?“
„Nein, nicht wegen eines Autoproblems, das wir gerade eben sehr schön telefonisch gelöst haben. Was soll ich sonst? Papa zeigen, dass er auch noch eine normale Tochter hat? Mich von Mama mit der Geschenkeliste verfolgen lassen? Überlegen, ob man Rowan Atkinson für die Trauung gewinnen könnte? Du weißt schon, Heiliger Geiz und so.“
„Um Gottes Willen, bei meiner Hochzeit muss alles perfekt sein! Wenn sich der Priester verspricht, trete ich am nächsten Tag aus der Kirche aus!“
Da hatte ich ihr ja was ins Ohr gesetzt! Ich wimmelte sie ab und erinnerte mich an den Film, bei dem ich vor längerer Zeit so rüde unterbrochen worden war. Immerhin kam ich bis zu Hugh Grants Trauzeugenrede samt allen Peinlichkeiten, bis das Telefon wieder klingelte. Ich tippte auf Nina, die sich über ihre Frisur beklagen wollte, und nahm ab. Nein, Silke.
Silke war immer schon unsere Brave gewesen, sie hatte schon so ausgesehen – mittelgroß, schlank, dunkelbrauner Bob (nie würde sie auf eine auswaschbare Tönung in Pflaume oder so hereinfallen), Brille, gepflegte Kleidung, ordentliche Mitschriften, intelligente Praktika, lukrative Nebenjobs. Und dann hatte sie nach drei Semestern auf Lehramt gewechselt, Mathe und Wirtschaft. Auch nicht übel, aber so brav war sie immer noch.
Sie wohnte in dem Haus, das Anette mittlerweile gehörte, einem top sanierten klassizistischen Hinterhaus in Univiertel; Anette wohnte selbst dort.
Nach den neuesten Gerüchten aber war sie drauf und dran, zu ihrem Freund zu ziehen, der eine schicke Zwei-Etagen-Wohnung in der Altstadt hatte, eine Mischung aus Loft und Maisonette, so wie sie es beschrieben hatte. Silke hatte mit der Hochzeit die geringsten Probleme und merkwürdigerweise auch keine Angst, ihren Freund mitzubringen. Anscheinend fasste dieser Fabian das entweder nicht als zarten Hinweis auf oder es schreckte ihn nicht. Silke, die bis jetzt fast alles auf ihre stille Art erreicht hatte, schaffte es wahrscheinlich auch, den richtigen Mann zum Heiraten zu bringen und dann eine perfekte Ehe mit perfekten Kindern zu führen. Und nebenbei noch weiter zu arbeiten. Na, für Lehrerinnen war das ganz gut zu organisieren.
„Stimmt das, dass wir Blumenkränze tragen müssen?“, fragte sie sofort.
„Aha, Anette hat schon SOS gefunkt“, stellte ich fest. „Ja, wahrscheinlich schon. Aber es kommen ja wohl bloß Leute, die uns trotzdem lieb haben, oder welche, die uns egal sein können.“
„Carla hatte doch sonst mehr Verstand“, variierte sie das altbekannte Thema.
„Wem sagst du das“, seufzte ich dem entsprechend. „Heiraten scheint sich sehr negativ auf die kleinen grauen Zellen auszuwirken.“
„Alles andere anscheinend auch. Ich sitze gerade über einer Klausur, ich sag dir – lange nicht mehr so viel Blödsinn gelesen! Hast du gewusst, dass aus Papiergeld automatisch eine Inflation folgt?“
„Ah ja?“
„Eben. Und wie würdest du null x gleich sieben auflösen?“
„X gleich Null?“, schlug ich etwas unsicher vor, denn Mathe war nun nicht so sehr meine Leidenschaft gewesen. „Brav. In meiner Neunten wird das sauber aufgelöst, x gleich Null durch sieben, also ist x gleich sieben.“
„Oops. Aber ist es nicht schön, immer mit Leuten zu arbeiten, denen man überlegen ist?“
„Nö. Es sind zwar immer wieder andere, aber du bekommst allmählich das Gefühl, dass sie gar nichts dazulernen. Außerdem rächen sie sich. Ich bin zwar besser im Auflösen von Gleichungen, und ich weiß, wie eine Inflation mit der Währungsdeckung zusammenhängt, aber ich wusste heute nicht, wer Left Outside Alone singt. Das ist nach Ansicht einer Neunten endpeinlich.“
„Anastacia, oder?“
„Streberin. Nein, mir macht es schon immer noch Spaß. Solange Leute wie du nicht immer so tun, als hätte ich nur freie Zeit.“
„Hast du doch auch!“
Silke holte am anderen Ende tief Luft, um zu ihrer Standard-Verteidigungsrede anzusetzen, aber ich unterbrach sie schnell: „Schon gut, das war doch bloß ein fauler Witz. Wie geht´s dir mit deinem Fabian?“
„Gut. Wir kommen richtig gut miteinander aus. Ich hab zwar meinen Krempel zum größten Teil noch in meiner Wohnung, aber die meiste Zeit bin ich schon bei ihm. Und er ist wirklich entzückend.“ Sie seufzte ekstatisch.
Ich kicherte. „Die Liebe noch frisch, ja? Aber er ist ein netter Kerl, finde ich. Ich hab ihn ja erst zweimal gesehen, aber ich kann ihn billigen. Gute Wahl.“
„Ja, und für so ein reiches Söhnchen ist er wirklich persönlich bescheiden. Kein Porsche, kein Heli-Skiing, keine wüsten Züge durch die Gemeinde – nur fleißige Arbeit. Das war mir gleich von Anfang an sympathisch. Und dieses Jungenhafte...“
„Wieso reiches Söhnchen?“, fragte ich verblüfft. „Ist er jemand, den man irgendwie kennen müsste? Ich weiß ja nicht einmal seinen Nachnamen!“
„Koch heißt er“, sagte Silke und machte eine Kunstpause. Sollte mir jetzt ein Licht aufgehen oder was? „Koch heißen ja nun viele Leute“, wich ich aus.
„Von der Koch GmbH“, ergänzte sie, etwas ungeduldig.
Das sagte mir allerdings etwas. Die Koch GmbH war unsere Hauptkonkurrenz, was die Produktion von Kleinelektronik, Navigationssystemen und – ganz altmodisch – Autoradios betraf. Seit Neuestem mischte auch noch ein Laden namens DigEL auf diesem Sektor mit, aber eine nennenswerte Konkurrenz waren die noch nicht – erst seit einem Jahr an der Börse, und nach Anfangserfolgen um den Ausgabekurs herumdümpelnd. Koch war da schon interessanter. „Der Koch“, stellte ich also fest. „Arbeitet er in der Firma?“
„Ja, im Marketing. Der Vater ist anscheinend ziemlich altmodisch – der Bub muss von der Pike auf lernen, und für die Tochter haben sie etwas Weiblicheres gesucht. Ich glaube, sie hat eine Boutique oder so. Ich hab sie erst einmal gesehen, und da kam sie mir ein bisschen schnepfig vor. Aber, naja, vielleicht muss man sie besser kennen lernen.“ Schnepfig, das hieß Jetset, arrogantes Getue, perfektes Styling und nichts im Hirn außer Verachtung für Leute, die etwas Sinnvolles arbeiteten. Ich brummte.
„Du bringst Fabian doch auf die Hochzeit mit, oder?“
„Nein. Er ist sowieso eingeladen, ich muss ihn gar nicht mitbringen. Die Kochs sind Freunde von den Zorns.“
„Ihh, dann kommt die schnepfige Schwester auch?“
„Klar. Plus die Eltern, die sind auch gewöhnungsbedürftig. Die Schwester heißt übrigens Vanessa, und sie legt Wert darauf, dass man es englisch ausspricht. Wenn nicht, guckt sie, als sei sie von Analphabeten umgeben. Ve-nessa also.“
„Gar nicht affig, was? Wo ist da der Unterschied zu Mändy mit ä?“
„Dass Mändy mit ä so geschrieben wird, wie man es in der DDR ausgesprochen hat, wo man es ja nur aus dem Westfernsehen kannte und nie gedruckt gesehen hat. Du, da muss ich dir was erzählen. Ich hab doch in meiner Neunten eine Kathleen, nicht?“
„Kann sein“, antwortete ich. Ich konnte mir doch nicht die Namen all ihrer Schüler merken! Wie die Lehrer das schafften, war mir sowieso rätselhaft.
„Ja, und sie besteht darauf, dass das deutsch ausgesprochen wird, also wirklich Kat-lehn. Ich hab zuerst Kath-lien gesagt, da hat sie mich angeschaut, als hätte ich sie nicht mehr alle.“
„Mein Gott, das muss ihr doch schon öfter passiert sein! Ist sie vor dir noch nie jemandem begegnet, der weiß, dass das ein englischer oder schottischer Name oder wasweißich ist?“
„Anscheinend nicht. Und jetzt haben wir ihre kleine Schwester in der Fünften. Schreiben tut sie sich T-r-a-c-y. Wie würdest du das aussprechen?“
„Drahzie“, schlug ich vor und gackerte. „Das arme Kind!“
Silke gackerte auch. „Das sind so die kleinen Freuden im Lehrerzimmer, das tröstet über diese fürchterlichen Abiklausuren hinweg, die uns allen bevorstehen. Kannst du mir mal verraten, warum immer die ein Fach fürs schriftliche Abitur nehmen, die da gar nichts können? Ich hatte so gute Mathematiker im Kurs, und die machen sonst wo Abitur, aber die Pfeifen bei mir. Leute, die schon an der Definitionsmenge scheitern! Und in Wirtschaft genau die, die Angebot und Nachfrage nicht auseinander halten können. Da kann man ja nur schwarzsehen.“
„Ach komm, das gibt´s doch gar nicht!“
„Hast du eine Ahnung“, grummelte Silke. „Alles gibt´s. Wenn ich dich am Siebten anrufe und in den Hörer weine, weißt du, warum.“
„Ich werde dich trösten“, versprach ich lachend. Arme Silke – Korrigieren hätte mich auch nicht gereizt. Ich war eigentlich ziemlich froh, dass ich dem Lockruf der Schule widerstanden hatte. Vielleicht hatte das auch daran gelegen, dass mir nie ein zweites Fach zu Wirtschaft eingefallen wäre. Außerdem verdiente ich bei TechCo bestimmt doppelt so viel wie Silke beim Staat – auch netto. Dafür hatte sie ihren Job sicher, bei mir hing er davon ab, wie gut der Laden lief. Aber noch ein paar Jahre, und das Arbeitsamt konnte mich gern haben. Oder ich zog wirklich eine Ich-AG auf, im Gegensatz zu den meisten anderen wusste ich schließlich, was man bei einer Firmengründung zu beachten hatte.
Jetzt fehlte wirklich nur noch Nina, dann hatten alle angerufen. Na, Cora vielleicht noch, um mir zu erzählen, dass Carla jetzt völlig übergeschnappt war. Cora hätte bestimmt viel Sinn dafür, bei der Hochzeit ein paar Gags zu zünden, überlegte ich. Morgen in der Mittagspause würde ich mal in diesen Modeschmuckladen am Bahnhof gucken. Und abends in Leiching vorbeischauen und Cora meine Ausbeute zeigen. Obwohl – konnte sie auch dichthalten? Eher nicht.
Cora wohnte noch bei unseren Eltern, mit der nicht unvernünftigen Begründung, dass sie sich nach dem Diplom und mit einem ordentlichen Job eine anständige Wohnung leisten könne und keine Lust habe, jetzt in einer schimmeligen WG oder einem Einzimmerloch zu hausen, bloß um Selbständigkeit zu demonstrieren, die sie in Leiching genauso gut haben konnte. Wir hänselten sie ab und zu als Mamakind, aber sie kochte selbst, wusch selbst und machte selbst ihre Steuererklärung. Besser als viele Männer, die sich die saubere Wäsche von ihrer Mutti bringen ließen.
Hatte man alles schon erlebt, ich musste ja bloß an den biederen Bernhard denken oder an den tumben Thomas. Bernhard fand, Waschen sei Frauensache (er war eher konservativ veranlagt, da, wo es ihm zugute kam), Thomas dagegen war schon vom Anblick einer Waschmaschine völlig überfordert („Wo muss ich jetzt draufdrücken? Wieso Waschpulver? Ach, ich kann mir das nie merken, willst du nicht lieber...?“ Nein, ich wollte nicht. Tschüss, Thomas!)
Bernhard hatte von selbst Tschüss gesagt, nach einem längeren Vortrag darüber, welche üblen Folgen es haben würde, wenn ich weiterhin meine Weiblichkeit so verdrängte. Aber das Risiko wollte ich lieber eingehen.
Wie war das eigentlich mit Carlas Paul und Silkes Fabian? Ob die alltagstauglich waren? Nein, ich rief die beiden jetzt nicht an, um danach zu fragen, die rührten sich schnell genug von selbst wieder – wegen Blumenkränzen, zerbeultem Rolls Royce, lästigen Korrekturen, Tante Mathildes entsetzlichem Hochzeitsgeschenk oder was auch immer.
Wie schaute es damit wohl bei Nicholas Rosen aus? Der sah mir irgendwie nicht aus, als hätte er noch eine Mutti im Hintergrund, die mit Töpfen voller Sauerbraten und Paketen mit gebügelten Hemden zu ihm radelte. Er wirkte eher, als hätte er eine gute Putzfrau und ein Abo bei der Reinigung.
Egal, der wollte ja sowieso nichts von mir. Wahrscheinlich war er einfach schon in festen Händen, und ich sollte mir die Sache endlich mal aus dem Kopf schlagen. Leichter gesagt als getan! Ich nahm mir dauernd vor, damit aufzuhören, aber dann sah ich ihn wieder, im Meeting, in seinem Zimmer mit dem Rücken zur Tür telefonieren, über den Parkplatz zu seinem Wagen hinken – und jedes Mal entdeckte ich etwas anderes Entzückendes: die Form seiner Ohren, seine Rückenlinie, die Art, wie er sich kleidete (irgendwie englisch), seine langen, schmalen Hände, den trockenen Ton, in dem er auf juristische Probleme hinwies, die kalte Art, mit der er ungerechtfertigte Beschwerden abwies, die Bewegung, wenn er sich durchs Haar fuhr, die akkurat gebundenen Krawatten, die Tatsache, dass er absolut keine Ringe trug (das fand ich bei Männern bescheuert, vor allem Siegelringe).
Verheiratet war er nicht, das wusste ich aus der Personalakte, weil da die Steuerklasse drin stand. Aber deshalb konnte er schließlich eine Freundin plus Kinder haben! Entweder das oder ich war einfach nicht sein Geschmack. Vielleicht redete ich zu viel, vielleicht trat ich bei den Meetings nicht so auf, wie er es wollte, vielleicht stand er auf kleine dicke dunkle Frauen und nicht auf große dünne mit undefinierbar hellbraunen Haaren. Vielleicht liebte er blaue Augen. Oder ein anschmiegsames Wesen... aber da konnte ich ihm dann auch nicht helfen, anschmiegsam war ich nun mal nicht.
Alles sinnlos.
Vielleicht stand er auch eher auf Männer? Oder hatte sich dem Zölibat verpflichtet? Oder er glaubte, mit seinen Behinderungen fände er sowieso keine? Nein, das war zu sehr Kitschroman, so blöde waren die Leute im wahren Leben nicht. Egal.
Nein, nicht egal. Ich wollte wissen, warum er so schlecht drauf war, woher er den lahmen Arm und das Hinkebein hatte, was er dachte, was er liebte und was er hasste (außer mir natürlich) – und das seit einem halben Jahr. Ich hatte schon mit dem Gedanken gespielt, mir irgendein juristisches Problem zuzulegen, privat natürlich, und ihn um Rat zu bitten. Aber wie ich ihn einschätzte, würde er mir den vollen Stundensatz berechnen und nach fünf Minuten merken, dass das Problem gefakt war. Und dann hätte ich endgültig bei ihm verschissen.
Carla und Paul hatten ihren Ehevertrag woanders aufsetzen lassen, bei irgendeinem Bekannten von Paul, aber das hatte mich nicht so interessiert, dass ich nachgefragt hätte. Ansonsten hätte man ihn dadurch vielleicht an die Familie Engelmann binden können... ach, wozu - der wollte ja gar nicht.
Irgendwann käme ich schon darüber hinweg. Das war mir schon früher passiert, als ich mich im zweiten Semester rettungslos in diesen süßen Assistenten in der VWL-Übung verknallt hatte. Total umsonst, der wurde immer von seiner hochschwangeren Freundin abgeholt und freute sich auch noch darüber. Gegen Ende des Semesters dann von Freundin mit umgeschnalltem rotgesichtigem Zwerg. Konnte ich vergessen. Und eines Tages, im Semester darauf, hatte ich ihn in der Bibliothek getroffen, ihn geistesabwesend gegrüßt (ich suchte gerade einen Artikel, denn offenbar jemand für eine Hausarbeit geklaut hatte) und dann erst gemerkt, dass mein Herz kein bisschen schneller geschlagen hatte: Vorbei, ich war geheilt.
Mit Rosen würde es mir genauso gehen, eines Tages würde er ins Besprechungszimmer kommen, ich würde ihm gleichgültig zunicken und dann erst merken, dass er mich so kalt ließ wie ich ihn.
So toll waren Beziehungen schließlich auch nicht. Klar, Carla und Paul glaubten im Moment an die ewige Liebe. Mussten sie ja auch, sonst könnten sie sich den ganzen Almauftrieb gleich sparen. Anette hatte ziemlich daran geknabbert, dass Andi so plötzlich verschwunden war, und wenn ich an den Kerl dachte, den Silke vor Fabian gehabt hatte, diesen – äh – Max, genau. Der hatte immerzu Heiratspläne geschmiedet. Anfangs hatte Silke dabei auch mitgemacht, sie war der Typ, der langfristig geordnete Verhältnisse vorzog.
Der erste Termin musste verschoben werden, weil Max dringend geschäftlich nach Köln musste. Der zweite, weil er einen hässlichen Ausschlag hatte. Der dritte, weil sich seine Mutter plötzlich quer stellte und lieber wollte, dass Max eine Tochter ihrer lieben Jugendfreundin heiratete. Max schwor, er würde sich nur einmal mit dieser Tochter treffen und seiner Mutter dann klar machen, dass er die blöd fand. Gut, Silke wartete und sagte den Termin im Rathaus ab. Max legte einen vierten Termin fest, Silke buchte wieder alles, ich bügelte mein dunkelgraues Seidenkostüm zum vierten Mal auf, und Max´ Mutter musste genau an diesem Tag zur Kur gefahren werden. das ging natürlich vor.
Das fünfte Mal platzte, weil Max am Tag zuvor einen Unfall baute. Nur Blechschaden, aber er stand ja so fürchterlich unter Schock, dass ihm eine Hochzeit nicht zuzumuten war.
Beim sechsten Mal sagte er nicht ab. Das war auch gar nicht nötig, weil Silke überhaupt keinen Termin mehr vereinbart hatte. Zu dem Zeitpunkt, den sie Max genannt hatte, warteten wir gegenüber dem Rathaus – und er kam gar nicht. Er nicht, seine Mutter nicht, sein stieseliger Trauzeuge nicht.
Daraufhin forderte sie ihn abends auf, doch endlich zuzugeben, dass er gar nicht heiraten wollte, und machte Schluss. Max soll ziemlich erleichtert gewirkt haben. Warum schmiedete jemand gegen seinen Willen Hochzeitspläne? Silke hatte doch nicht damit angefangen, sondern er, aber warum bloß?
Auf jeden Fall war Silke hinterher ziemlich entnervt, und ich konnte mir gut vorstellen, dass dieses Mal Fabian die Termine machen musste, weil Silke sich langsam vor den Leuten im Rathaus genierte.
Nina war verheiratet, gut. Aber ob das noch so toll war? So, wie sie manchmal über ihren Florian redete, wenn er wieder mal ungefragt Gäste anschleppte, immerzu Urlaube in Südtirol buchte, obwohl Nina und die Kinder seit Jahren von einem anständigen Sandstrand träumten, nie bemerkte, wenn sie an sich oder im Haus etwas verschönert hatte und mittlerweile nur noch ein Viertel so viel redete wie vor der Hochzeit, ihr außerdem die Kindererziehung ganz alleine überließ... war das noch der große Liebestraum? Oder konnte man das sowieso nicht erwarten, sondern wurschtelte einfach friedlich neben jemandem her, in den man immerhin vor Jahren mal verliebt gewesen war? Vielleicht ging gar nicht mehr.
Cora hatte dauernd einen neuen Freund, und wenn man fragte, was denn aus Sowieso geworden war, prustete sie bloß: „Der? Wer war das noch mal gleich wieder? Der war ja so doof, nee, den hab ich schnell wieder abgehakt. Jetzt hab ich einen kennen gelernt, der ist wirklich süß...“
Ja, für zwei Wochen vielleicht. Immerhin kam Cora so ordentlich herum und musste allmählich ein ganz sicheres Urteil über Männer haben.
Oder auch nicht, wenn sie immer wieder an diese Zweiwochenkerle geriet. Gab es eigentlich immer noch keinen ultimativen Ratgeber für den Umgang mit Männern? So einen wie bei populärer Traumdeutung? Statt Wenn Sie von Läusen träumen, machen Sie bald eine Erbschaft könnte es zum Beispiel heißen Wenn er nie anruft, wenn es später wird, ist er ein rücksichtsloses Schwein. Wenn er wegen jeder fünf Minuten anruft, ist er ein blöder Korinthenkacker. Fazit: Man konnte prophylaktisch jeden Kerl sofort wieder verabschieden.
Unbrauchbare Bande – aber sie würden ja über kurz oder lang sowieso aussterben, hatte ich gelesen. Das Y-Chromosom war nicht mehr als ein defektes X, Männer waren kränker, lebten kürzer und auf Steinzeitniveau und waren im Alltag völlig hilflos. Nicht einmal für Multitasking reichte es bei diesen Simpelhirnen!
Also, warum zerbrachen wir uns dauernd den Kopf über diese Geschöpfe? Schließlich brauchten wir sie ja nicht mehr, wir konnten uns selbst ernähren, selbst das Auto in die Werkstatt bringen, selbst einen Rechner aufbauen und wenn es gar nicht mehr anders ging, auch selbst einen Vibrator kaufen.
Wer hatte bloß die Liebe erfunden? Ohne könnte ich mich in den Meetings richtig konzentrieren und müsste mich in drei Wochen nicht in diese apricotfarbene Scheußlichkeit werfen, Silke hätte mehr Zeit zum Korrigieren, Anette keinen Ärger mit Geistern aus der Vergangenheit und Nina Zeit für ihren Job und ihre lieben Freundinnen. Mama und Papa hätten ihre Ruhe und Carla könnte sich mit voller Energie auf Fondsmanagement konzentrieren. Und Cora wäre vielleicht schon mit dem Studium fertig.
Genau, und Stefan müsste seine kärgliche Freizeit nicht damit vertun, seiner kostbaren Martine Kissen in den Rücken zu stopfen oder Heringe mit Ananas zu besorgen oder mit ihr atmen zu üben.
Keine Liebe und Nachwuchs aus dem Reagenzglas. Brave New World hatte doch auch gewisse Vorzüge! In dieser mürrischen Stimmung verzog ich mich ins Bett. Den Film konnte ich auch morgen noch weiter gucken, außerdem kannte ich ihn sowieso fast auswendig.