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Als das Testament ihres Vaters eröffnet wird, trifft Luise allerlei Gespenster aus der Vergangenheit wieder, die ihr in der Folge ausgesprochen lästig fallen. Gleichzeitig verschwindet der Mann ihrer besten Freundin Valerie und wird schließlich tot aufgefunden. Luise bemüht sich, Valerie zu unterstützen und zu trösten und sich gegen die vielfältigen Belästigungen zu wehren und fragt sich allmählich, ob die beiden Probleme zufällig zeitgleich aufgetreten sind oder ob es da vielleicht doch einen Zusammenhang gibt. Nebenbei hat sie noch ihre Arbeit am Mariengymnasium zu erledigen und ihre immer merkwürdiger werdende Freundin Lisa im Zaum zu halten; als der Fall endlich aufgeklärt ist, ist Luise dann auch redlich erschöpft - aber auch frisch verliebt...
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Seitenzahl: 375
Veröffentlichungsjahr: 2016
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Alles frei erfunden!
Jede Übereinstimmung, Ähnlichkeit oder Namensgleichheit mit real existierenden Personen, Firmen u. ä. ist reiner Zufall.
Imprint
Verwandte und andere Nervensägen. Kriminalroman
Elisa Scheer published by: epubli GmbH, Berlin
www.epubli.de Copyright: © 2016 Elisa Scheer
„Luise, gehst du mit essen?“
„Nein“, antwortete diese und schichtete weiter Unterlagen auf den Stapel an ihrem Platz, um andere dafür wieder in ihre Tasche zu packen, „ich hab noch zwei Stunden. Siebte und Grundkurs. Und eine Besprechung. Und danach einen Termin. Scheißtag!“
„Und das aus deinem Mund? Sonst kannst du doch gar nicht genug Arbeit haben!“, neckte Irene sie.
„Gegen Arbeit hab ich ja auch nichts. Aber nachher muss ich zum Notar wegen eines Testaments, das mich überhaupt nichts angeht, und sowas ärgert mich. Zeitverschwendung pur!“
„Du Arme“, meinte Irene etwas halbherzig. „Stell dir vor, die Elisa hat jetzt einen Freund, der zehn Jahre älter ist als sie!“
„Respekt. Für eine Sechzehnjährige ist das wirklich ein Statussymbol. Was sagt denn Joy dazu?“
„Die weiß es ja noch gar nicht! Alles bleibt in dieser Familie an mir hängen!“
Kein Wunder, dachte Luise, wenn man sich in alles einmischte und dann so eine komische Mutter-Tochter-Enkelin-WG aufzog. Irene, Joy und Elisa. Ob Elisa griechisch war und zu Deutsch „Eierkuchen“ bedeutete? Passen würde es ja, Friede, Freude… Eierkuchen. Und jetzt hatte Elisa einen erwachsenen Freund, mit dem sie bestimmt auch schlief. Da war Irene über kurz oder lang Uroma - mit knapp fünfzig eine reife Leistung!
„Dann sag´s doch Joy und lass die beiden dann mal alleine“, schlug sie Irene vor. Die strich sich die prachtvolle rote Lockenmähne zurück und seufzte ausdrucksvoll. „Und dann? Die kommen doch nicht miteinander zurecht! Und Joy ist gerade mal vierunddreißig, kaum älter als du - was würdest du sagen, wenn du plötzlich in Gefahr wärst, Oma zu werden?“
Luise musste grinsen. „Ich wäre leicht erstaunt, wo ich doch gar keine Kinder habe. Du bist mit vierunddreißig auch Oma geworden und hast es überlebt. Und jetzt sag nicht wieder, dass das eine andere Generation war!“
„War´s aber doch. Joy wird bestimmt denken, das macht sie alt.“
„Aber du hast trotz deines Omastatus einen Freund, also so what? Daran soll sie sich eben ein Beispiel nehmen. Sorry, Irene, ich muss los, die Kleinen zerlegen sonst das Zimmer, weil der Richling garantiert wieder keine Aufsicht im ersten Stock macht.“
„Kaum, es sei denn telepathisch.“ Irene nickte in die Ecke, wo Richling saß und unter den Referendaren Hof hielt.
Luise knurrte:„Ich verpetze ihn nachher beim Chef, aber nützen wird es nichts, der sagt ihm garantiert wieder nichts.“
„Ach komm, so tragisch ist das doch nicht.“
„Und wenn was passiert, sind wir dran. Er ganz besonders. Wetten, dann zetert er rum, dass er nicht wissen konnte, wie wichtig die Aufsicht ist, weil ihm das keiner gesagt hat. Und selbst denken konnte er es sich ja nicht. Also, ich gehe jetzt lieber runter.“
Im ersten Stock herrschte munteres Treiben, Tobi hatte den armen kleinen Leon im Schwitzkasten, ließ ihn aber sofort los, als die gestrenge Frau Wintrich auftauchte, und versicherte mit arglos braunem Augenaufschlag, sie seien die besten Freunde. Der heftig schnaufende Leon bestätigte das nach einem Rippenstoß. Eine Horde Mädchen, üppig geschminkt, strömte gackernd aus der Toilette, und im Klassenzimmer wurden noch fleißig Hausaufgaben abgeschrieben.
Luise setzte Leon und Tobi erst einmal auseinander (großes Gemaule), verlangte, dass die überbordenden Make up-Taschen und die Brotzeitreste weggeräumt wurden und ließ sie alle aufstehen.
Schließlich kehrte Ruhe ein, sie konnte die binomischen Formeln wiederholen und erst im Plenum, dann in Partner- und Stillarbeit Aufgaben üben. Dafür waren die nachmittäglichen Intensivierungen schließlich da. Eine Viertelstunde vor Schluss stellte sie die Hausaufgabe und erlaubte, dass die Kleinen gleich anfingen, worauf fieberhafte Geschäftigkeit ausbrach – und himmlische Ruhe herrschte. Luise wanderte durch die Reihen, legte einmal hier den Zeigefinger auf einen Rechenfehler, gab dort einmal den Tipp, doch zuerst zwei auszuklammern, erklärte flüsternd noch einmal den Unterschied zwischen der ersten und der zweiten binomischen Formel und stellte beim Läuten fest, dass alle fertig waren. Morgen würde sie noch weiter üben lassen und übermorgen ein nettes kleines Ex schreiben lassen.
Der Grundkurs zeigte weniger Eifer. Sie hatte ihnen eine hübsche Kurvendiskussion mit Flächenberechnung ans Herz gelegt, und gerade drei hatten sich wirklich damit befasst.
„Ich könnte jetzt ein Ex darüber schreiben“, erklärte sie ärgerlich, „und dann würdet ihr wieder jaulen, wie gemein ich bin. Aber was kann ich dafür, dass ihr nichts tut? Anhexen kann ich euch das Wissen nicht!“
„Wir haben doch am Freitag Geschichte geschrieben“, jammerte Annika. „Und morgen ist Französisch!“
Luise verdrehte die Augen. „Und, wer hat hier Französisch?“
Vier meldeten sich.
„Und der Rest? Der war seit Freitag nur noch am Feiern, weil Geschichte überstanden war? Armselig, Leute! Ihr habt seit Semesteranfang alle Termine, jetzt liegt es an euch, vernünftig zu planen. Wir haben euch sogar ein Zeitmanagement-Seminar angeboten, habt ihr da gar nichts gelernt?“
Verlegenes Gemurmel. Luise ließ es gut sein und machte mit den drei Leuten, die die Aufgabe gerechnet hatten, alles zügig durch. Gejammer der anderen, sie kämen nicht mit, wurde mit Selber schuld abgetan. Etwas niedergeschlagen schlichen sie um Viertel vor drei aus dem Klassenzimmer, und Luise hoffte, dass sie die neue Aufgabe nun wirklich bearbeiteten.
Okay, auf zum Chef!
Wenigstens das ging schnell – er wollte nur, dass sie die Ergebnisse zweier Wettbewerbe in Plakatform aushängte und sie außerdem an die Presse weiter gab und bot ihr ein Fortbildungsangebot in den Weihnachtsferien an.
„Ich weiß, es ist eine Zumutung, es beginnt schon am zweiten Weihnachtsfeiertag, die wollen wohl nicht, dass sich jemand anmeldet.“
„Macht mir nichts. Das Thema ist interessant, ich würde da gerne hinfahren. Wo ist das? Ach ja, dieses Jugendheim. Aber wenn´s recht ist, würde ich lieber nicht im Jugendheim wohnen, das ist entsetzlich. Geht das?“
„Natürlich. Wenn Sie in Leisenberg wohnen, ist es ja nicht so weit zu fahren. Und die Workshops fangen erst um halb neun Uhr morgens an.“
„Eben. Gut, dann mach ich das. Übrigens, der Herr Richling – ich will ja nicht petzen, aber - “
„Sehr verräterisch, die Floskel“, grinste Dr. Eisler, der selbst Deutschlehrer war, „ich weiß schon – er ist mal wieder über die Aufsichtspläne erhaben.“
„Wenn Sie ihn vielleicht mal wirklich zur Sau machen könnten? Er ist ja der große Star der Referendare, und wenn die sich dieses Verhalten zum Vorbild nehmen – ich weiß nicht. Ach, noch was: Ich hab mir mal einen Plan ausgedacht, wie man die Belegung des Forums regeln könnte – da gibt´s doch immer wieder Streit.“
Sie zog zwei Formblätter aus ihrer Mappe und reichte sie ihm. Dr. Eisler warf einen flüchtigen Blick darauf und nickte anerkennend. „Sehr gut. Ich schau´s mir an, und wenn möglich, setzen wir das auch um. Das ewige Gezänk ist ja wirklich nicht mehr auszuhalten. Vielleicht haben wir auch zu viele Veranstaltungen, aber wenn wir dem Albertinum und dem Leopoldinum die Leute abjagen wollen, müssen wir uns eben ranhalten.“
„Ich weiß – aber wir haben in diesem Jahr fünf fünfte Klassen, und die anderen haben nur vier. Das ist schon mal nicht schlecht. Außerdem kriegen wir doch jetzt die ganze Mittelstufe des Albertinums dazu, wenn die umbauen, da wird es hier voll genug. Wann kommen die – im Dezember?“
„Am elften Dezember. Die Herren Reuter und Grassl verzweifeln schon an einem neuen Raumplan. Meinen Sie, aus dem Religionsfachraum könnte man vorübergehend ein Klassenzimmer machen?“
Luise überlegte. „Etwa zwölf Leute passen da bestimmt rein. Natürlich keine Tafel. Kleine Kurse könnten gehen, welche, die mit Projektor oder Arbeitsblättern auskommen. Geschichte, Wirtschaft, Deutsch… Mathematik bitte nicht, wir tun uns ohne Tafel wirklich hart.“
Dr. Eisler nickte. „Sehr gut. Frau Wintrich, ich arbeite gerne mit Ihnen zusammen, das ist immer sehr gedeihlich. Langfristig sollten wir wirklich überlegen, ob wir Sie zu den Aufgaben der Schulleitung hinzuziehen sollten. Ich glaube, Sie könnten uns da sehr helfen.“
Luise freute sich und verabschiedete sich strahlend.
Draußen sah sie auf die Uhr. Halb vier, das war geradezu noch früh. Der Termin beim Notar Brandstetter war erst um fünf, da konnte sie direkt noch heimfahren und sich in ein schwarzes Kostüm werfen. Sie sah an sich herab: anthrazitfarbene Jeans, grau-weiß gestreifte Bluse, dunkelroter Blazer – auch nicht schlecht. Aber nachdem es um die Erbsache Heinrich Wintrich ging, wäre schwarz wohl angemessener.
Was sie dabei sollte, wusste sie wirklich nicht. Sie hatte ihren Vater – und ihren Bruder, wenn man schon dabei war – seit ihrem achtzehnten Geburtstag nicht mehr gesehen, als ihr Vater ihr barsch befohlen hatte, ihre Sachen zu packen und zu verschwinden, aber sofort! Und Frank hatte auch ihre verblüffte Frage, was denn eigentlich passiert sei, nur dumm gegrinst und gesagt: „Kannst du dir doch denken! Warum soll der Alte einen Bastard durchfüttern?“
Offenbar war er gar nicht ihr Vater, aber was konnte sie dafür? Und woher hätte sie das wissen sollen? Mama war schon gestorben, als sie zehn war. Jetzt war sie fünfzehn Jahre ohne Familie ausgekommen, und eigentlich war es der reine Genuss gewesen – freie Wochenenden, keine Fragen, wozu sie eigentlich studierte, ob sie nicht mal heiraten wollte, warum sie nicht öfter vorbeischaute… was andere so erzählten, klang eigentlich nicht verlockend. Sicher, eines Tages würde sie wahrscheinlich trotzdem für ein Pflegeheim zahlen müssen, hatte sie immer gedacht. Aber dafür hatte sie reichlich etwas beiseite gelegt, und nun war das gar nicht mehr nötig.
Was wohl aus Frank geworden war? Damals war er einundzwanzig gewesen, schlaksig und ohne Manieren… Sie vermutete mal, etwas dicker um Bauch und Kinn herum und immer noch ohne Manieren. Darüber hinaus interessierte sie die Frage nicht besonders. Er würde Vaters Posten bei HSW übernehmen – oder längst übernommen haben – und in seiner Nachfolge weiterhin Büromöbelsysteme, Schulausstattungen und Bestuhlungen produzieren. Sie selbst hatte ihre Arbeitszimmerausstattung natürlich woanders gekauft, und sollte jemals das Mariengymnasium über neue Schulmöbel nachdenken (was unwahrscheinlich war, denn der G 8-Anbau war jetzt endlich fertig und eingerichtet), würde sie energisch gegen HSW-Möbel votieren, wenn sie überhaupt gefragt wurde. Aber sie konnte auf jeden Fall sagen, dass sie leider mit denen verwandt war und wenn die Presse das aufgriff… hätte das nicht zumindest „ein Geschmäckle“, wie der Schwabe sagte?
Geschah Frank recht!
Die anderen beiden, H und S, Hölzl und Stettner – ob sie noch in der Firma waren? Oder auch schon ihre Söhne, Philipp und Max? Ach, was interessierte sie das eigentlich? Das waren doch nun wirklich Jugendsünden!
Damals war sie dumm genug gewesen, sich kurzfristig mal in den schönen Max zu vergucken, der sie gar nicht wahrgenommen hatte. Kunststück, eine pummelige Siebzehnjährige und ein vergleichsweise weltgewandter zweiundzwanzigjähriger Student, der ab und zu vorbeikam und sich in Franks Bewunderung sonnte. Auch von ihm hatte sie nie wieder etwas gehört.
Okay, wie auch, sie war damals mit zwei Reisetaschen gegangen (Klamotten, Bücher, ihr vorsintflutlicher Laptop, der damals noch ganz neu gewesen war, ihr Sparbuch – selbst zusammengekratzte fünftausend Mark, die ihr in dieser Situation buchstäblich das Leben gerettet hatten – und ihre Schulsachen) und hatte sich im Legohaus eingemietet, wo die Wohnungen mikroskopisch klein, merkwürdig eingefärbt und erfreulich billig waren. Und dort war auch immer was frei.
Sie hatte niemandem von dieser Mischpoke die Adresse mitgeteilt und die hatten sich garantiert nicht die Mühe gemacht, im Telefonbuch nachzuschauen.
Warum dachte sie über diesen Idiotenverein überhaupt nach? Sie würde jetzt heimfahren, sich in korrektes Schwarz werfen, dort hingehen, klarstellen, dass sie mit der Familie Wintrich nichts am Hut hatte, wieder heimfahren und sich mit der Wirtschaftsklausur der K 13 herumärgern. Netter Ärger, vergleichsweise, obwohl diese Nasenbären wahrscheinlich wieder mal alle Tücken des Kaufvertrags übersehen hatten. Recht mochten sie alle nicht, aber da mussten sie jetzt leider durch, niemand war ja gezwungen, Wirtschaft über vier Semester zu belegen.
Sie parkte auf dem Hof, trug ihre Tasche nach oben, schlüpfte aus den Klamotten (nein, eine schöne heiße Dusche gab es erst hinterher) und in ein schwarzes Kostüm (mit grauem T-Shirt) und schwarze Pumps, packte ihre Tasche um, schminkte sich frisch, fuhr sich mit der Bürste kurz durch die schwarzen Locken und fand, das reiche ja wohl. Na gut, ein bisschen Parfum, ein klassisches französisches. Keinen Schmuck, außer ihrer schmalen, aber recht technisch aussehenden Armbanduhr, die normalerweise nur eine Aufgabe zu erfüllen hatte – sie musste gewährleisten, dass man die Zeit unauffällig ablesen konnte, denn sonst begannen alle Schüler sofort einzupacken, sobald sie einen Blick auf ihr Handgelenk warf. Gut ablesbar – naja, und zuverlässig. Die Optik war zweitrangig gewesen, Hauptsache, nicht klobig und nicht verspielt-weibchenhaft.
Viertel nach vier. Zum Notariat Brandstetter brauchte sie mit Parkplatzsuche höchstens zehn Minuten, also konnte sie noch ihre Tasche auspacken. Siebte, achte, neunte, zwölfte raus, achte, elfte, andere zwölfte, dreizehnte rein, Schreibtisch aufräumen, halbfertige Klausur schön in die Mitte, Rotstift, Bleistift, Lineal bereit gelegt, dazu BGB und Erwartungshorizont. Und ausgerechnet von denen wollten sieben Leute schriftliches Grundkursabitur machen! Na, bis zur Entscheidung waren es noch fast vier Wochen, vielleicht konnte sie es den größten Pappnasen bis dahin noch ausreden. Wenigstens lieber mündlich, da konnte man ihnen doch etwas besser auf die Sprünge helfen!
Kurz nach halb fünf, jetzt sollte sie wohl doch besser fahren. Sie sah sich noch einmal befriedigt in ihrer Wohnung um, die sie jetzt seit vier Jahren besaß – immer noch schön, immer noch genau ihr Geschmack, streng, leer, elegant. Einfach perfekt.
Ihr ganzes Leben war einfach perfekt, da brauchte sie auf keinen Fall eine lästige Familie, die sie genauso wenig leiden konnte wie umgekehrt. Naja, Familie, das war ja sowieso bloß der blöde Frank.
Also gut, sie würde da hinfahren, klar stellen, dass sie mit den Wintrichs nichts mehr tun hatte, wieder heimfahren und gut. Und dann konnte sie ihr perfektes Leben weiter führen. Ob Dr. Eisler sie wirklich in die Schulleitung befördern würde? Grassl, der normalerweise die Schulfinanzen machte, ging in zwei Jahren in Pension, aber das war ein Posten für einen Oberstudienrat, und soweit war sie noch nicht. Erst seit sechs Jahren auf Lebenszeit verbeamtet… Sie hatte wunderbare Beurteilungen, was Unterrichtsgestaltung, pädagogische Wirksamkeit und Mitgestaltung des Schullebens betraf, aber deshalb wurde man leider wohl keinen Tag früher befördert als der Durchschnitt.
Reuter, der den Stundenplan machte – und die Vertretungen, was ihn beim Kollegium zur Hassfigur machte – hatte noch vier Jahre vor sich. Mit dem Programm konnte sie umgehen, und eine Hassfigur war sie jetzt schon, denn sie scheute sich nicht, Kollegen anzusprechen, die ihre Aufsicht vergaßen (Richling!) oder Klassenzimmer mit offenen Fenstern, ungeputzten Tafeln und zugemüllt hinterließen, von nicht hochgestellten Stühlen ganz zu schweigen. Manche glaubten eben immer noch, wenn sie ihren Unterricht herunterrissen, hätten sie ihren Job getan. Von erzieherischer Wirksamkeit keine Spur! Das war eben doch kein Halbtagsjob, aber manche wurden immer noch Lehrer, weil sie glaubten, da hätten sie den Nachmittag frei. Die waren von der Einführung des G 8 mit vermehrtem Nachmittagsunterricht kalt erwischt worden.
Luise grinste vor sich hin, während sie am Fuggerplatz nach einem Parkplatz suchte und schließlich einen vor dem kleinen Einkaufszentrum fand. Zwei Stunden – das reichte ja wohl locker! Sie stellte die Parkscheibe ein und legte sie gut sichtbar aufs Armaturenbrett, wobei sie sich selbst leicht verspießert vorkam, die typische Beamtin eben.
Viertel vor. Immer noch zu früh. Auch nicht schlecht, im Einkaufszentrum gab es eine gut sortierte Parfümerie und ihre Essence d´Orange Vert war am Ausgehen. Sechzig Euro, das war zwar bitter, aber an einem so harten Tag hatte sie das verdient.
Mit einem freundlichen dunkelgrünen Fläschchen kam sie fünf Minuten später wieder nach draußen, zufrieden und fast gar nicht von dem Gedanken geplagt, ob das die ersten Anfänge einer Kaufsucht waren, wenn man sich was gönnen musste, weil das Leben fies war.
Quatsch. Das Parfum brauchte sie doch wirklich, sie liebte es über alles. Und das Leben war nicht fies, nur heute ein bisschen lästig.
Entschlossen stiefelte sie über die Straße und klingelte neben der Messingplatte des Notars. Sofort ertönte der Summer, sie drückte die schwere Holztür auf und machte sich an den Aufstieg. Das Notariat lag im zweiten Stock, und die Tür war durch einen altmodischen Lederbalg vor dem Zufallen geschützt. Überhaupt – ein wunderbar im Original erhaltenes Haus! Sie sah sich interessiert um, als sie eintrat, und wurde von einer eher griesgrämigen Sekretärin an das richtige Zimmer verwiesen.
Dort trat sie ein und sah sich fünf Augenpaaren mit unterschiedlichen Graden der Feindseligkeit gegenüber. Sie nickte kalt, sagte „Frank“ und setzte sich soweit weg von den anderen wie möglich. Jetzt sollte man eine Zeitung auspacken und sich hinein vertiefen! Dumm, dass sie nichts dabei hatte. Sie konnte natürlich ihren Zeitplaner studieren, aber das sähe jetzt auch affig aus.
Aus dem Augenwinkel versuchte sie, die anderen zuzuordnen. Frank war klar – er hatte um das Kinn herum tatsächlich einen feisten Zug entwickelt, und die Blondine neben ihm mit dem giftigen Blick – war das wohl seine Frau?
Der Dunkelhaarige daneben konnte nur Max sein. Hatte sich ganz gut gehalten, musste sie zugeben. Nicht mehr so niedlich, etwas härter und männlicher. Aber noch straff um das Kinn herum. Der gemütliche Blonde daneben mit den etwas zu langen Haaren war der einzige, der freundlich wirkte. Philipp Hölzl, vermutete sie. Die Rothaarige ganz am Rand wirkte gelangweilt. Wohl eine Freundin von Max oder Philipp, sie kannte sie jedenfalls genauso wenig wie die Blondine, die sie unverhohlen verächtlich musterte. Blöde Kuh, dachte Luise, ich will dich ja gar nicht kennen lernen. Sie sah auf die Uhr und trommelte dann gereizt auf ihre Armlehne. Schon drei nach fünf und weit und breit kein Notar!
In diesem Moment ging die Tür auf und ein freundlicher junger Mann trat ein. Groß, schlaksig, rötliche Haare, Sommersprossen – und der Anzug sah aus, als hätte er die Nacht darin verbracht. Auf dem Boden. Dass der Notar das durchgehen ließ?
„Oh, gut, Sie sind alle schon da! Dann können wir ja beginnen.“
Er setzte sich hinter den Schreibtisch in der Ecke und Luise erkannte verblüfft, dass dieses Jüngelchen mit dem Aussehen eines unbegabten Banklehrlings ganz offensichtlich der Notar persönlich war. Dann musste er gut sein, Notar wurde ja weiß Gott nicht jeder. Vielleicht war das zerzauste Auftreten ja nur Tarnung?
„Es geht heute um das Testament und den letzten Willen des Heinrich Josias Wintrich, geboren am 12.03.1932, verstorben am 11.10. 2006. Anwesend sind sein Sohn, Frank Wintrich, geboren am 31.08.1970, dessen Ehefrau Angela, geborene Schneiderhan, geboren am 12.09.1972, seine Tochter Luise Wintrich, geboren am 24.11.1973, außerdem Max Stettner, geboren am 19.04.1968, Caroline Stettner, geboren am 07.07.1977 und Philipp Hölzl, geboren am 25.01.1968. Die Daten sind soweit richtig?“
Allgemeines Nicken, allerdings sah Frank drein, als habe er etwas einzuwenden, traue sich aber nicht. Diese Caroline war anscheinend Max´ Frau – die hatte ja ein tolles Geburtsdatum, siebter siebter siebenundsiebzig, nicht schlecht.
„Gut, dann wollen wir zur Tat schreiten…“ Brandstetter schlitzte den großen Velinumschlag auf und entnahm ihm ein eher kurzes Dokument, das aber immerhin schön gesiegelt war.
„Das Dokument ist recht einfach gehalten. Die Firmenanteile werden im Verhältnis 8 zu 1 zu 1 aufgeteilt, die 80 Prozent gehen an Frank Wintrich und je 10 Prozent an die Herren Hölzl und Stettner.“
„Was soll das denn?“, murmelte Max. „Hat er denn nie aufgegeben?“
„Das ist doch eine Frechheit“, empörte sich Angela, „wieso bekommt Frank denn nicht alles? Er ist schließlich der einzige Sohn!“ Was für eine arrogante Stimme, dachte Luise sich.
Brandstetter warf ihr einen unfreundlichen Blick zu. „Ich habe das Testament aufgesetzt, aber ich bin für die Bedingungen nicht verantwortlich. Darf ich jetzt fortfahren?“
Angela guckte verkniffen, Frank drückte energisch ihre Hand, Philipp lächelte ihr zu. Max und Caroline starrten vor sich hin.
„Das Haus in der Gützingkstraße 24 in Leisenberg-Leiching fällt zu gleichen Teilen an Frank und Angela Wintrich.“
Frank schaute perplex, Angela nickte billigend.
„Das übrige Vermögen, bestehend aus zwei vermieteten Appartements in der Fuggergasse und dem Inhalt dreier Depots, insgesamt rund zweihunderttausend Euro, mit den Wohnungen rund vierhundertfünfzigtausend, wird folgendermaßen aufgeteilt: zwanzigtausend Euro gehen an Caroline Stettner, je dreißigtausend an Philipp Hölzl und Max Stettner, der Rest an Frank Wintrich. Testamentsvollstrecker sind Frank Wintrich und Sebastian Brandstetter – also ich.“
Caroline sah drein wie vom Donner gerührt. „Wieso hat der mir was vermacht? Ich hab ihn so gut wie gar nicht gekannt! Gibt es eine Begründung?“
Brandstetter schüttelte den Kopf. „Gott sei Dank nicht. Nichts ist peinlicher als diese Begründungen, bei denen entweder Sünden aus der Vergangenheit wieder ans Tageslicht gezerrt oder juristisch unhaltbare Bedingungen angeknüpft werden. Davon habe ich Herrn Wintrich auch seinerzeit energisch abgeraten.“
Luise packte ihren Zeitplaner wieder ein, den sie herausgenommen hatte, falls es etwas zu notieren gab. Wozu sie eigentlich hergebeten worden war, war ihr vollkommen unerfindlich.
„Was will diese Person eigentlich hier?“, fragte jetzt Angela. „Ist das eine Verwandte von dir, Frank?“ Frank grummelte etwas Unverständliches.
„Das würde mich auch interessieren“, sagte Luise kühl, „was habe ich denn mit dieser Familie und diesem Testament zu schaffen?“
Brandstetter sah von seinen Papieren auf und rückte seine Brille zurecht. Ohne hätte er wahrscheinlich ausgesehen, als hätte er noch nicht mal Abitur, dachte Luise. „Wir müssen die Frage des Pflichtteils noch regeln“, verkündete er dann und sah Frank und Angela streng an.
„Welchen Pflichtteil?“, fragte Angela und sah Frank ratlos an.
„Ja, welchen Pflichtteil?“, echote Luise. „Fehlt denn noch irgendein Erbe? Erwähnt wurde doch niemand mehr?“
„Ihren Pflichtteil, Frau Wintrich“, erklärte Brandstetter und sah Luise an, als sei sie etwas zurückgeblieben. „Als Tochter des Heinrich Wintrich haben Sie Anspruch auf die Hälfte des gesetzlichen Erbteils. Das wäre immerhin ein Viertel des Gesamtnachlasses, beziehungsweise der entsprechende Gegenwert, insgesamt also, wenn man die Firmenanteile und Wert der Villa in Leiching überschlagsmäßig dazurechnet, rund eine Million Euro.“
Frank gab einen entsetzten Laut von sich, und Angela keuchte auf. „Was? Wie das denn? Ist das eine uneheliche Tochter von deinem Vater, Frank? Hast du das gewusst? Und ich finde das sehr unangebracht. Hat nie was von sich hören lassen und kommt jetzt und hält die Hand auf? Aber das ist wohl typisch für solche Leute!“
„Was für Leute?“, fragte Max. Hatte er früher auch schon eine so tiefe Stimme gehabt? „Luise ist Franks Schwester, und das weiß er ganz genau, sie sind doch miteinander aufgewachsen, auch wenn sie dann weggelaufen ist.“
Weggelaufen? Luise staunte, was hier für Geschichten im Umlauf waren.
„Den Unterlagen zufolge ist Luise Wintrich die eheliche Tochter von Heinrich und Barbara Wintrich und demnach voll erbberechtigt. Ihr Verhalten spielt dabei keine Rolle“, verkündete Brandstetter.
Luise hob die Hand. „Darf ich mal was klarstellen? Ich habe nicht die geringste Lust, hier als pflichtvergessene Tochter dazustehen, die jetzt die arme, aber ehrliche Verwandtschaft abzocken will. Erstens bin ich nicht weggelaufen, sondern vor die Tür gesetzt worden, warum weiß ich auch nicht. Franks letzten Worten zufolge – „Bastard“, hattest du gesagt, oder? – scheinen an der Vaterschaft aber Zweifel bestanden zu haben. Nicht, dass es mich interessieren würde, wer mein Vater ist, wohlgemerkt. Ich habe mich immer selbst durchgeschlagen und nicht das geringste Interesse an einer Erbschaft, Pflichtteil oder was auch immer. Ihr könnt mit eurer Beute gerne alleine glücklich werden. Wenn es das war, möchte ich gerne gehen, ich habe weiß Gott noch Wichtigeres zu tun. Schönen Tag zusammen.“
Sie erhob sich in das allgemeine Schweigen hinein und strebte zur Tür, aber als sie schon die Hand auf der Klinke hatte, hielt Brandstetter sie auf. „Frau Wintrich, Sie sollten keine übereilten Entscheidungen treffen. Der Pflichtteil steht Ihnen doch zu!“
Sie wandte sich um. „Das sehe ich nicht so. Ja, gut, ich kenne das bundesdeutsche Erbrecht auch, schon von Berufs wegen. Aber meiner Ansicht nach kann jeder mit seinem Geld machen, was er will, und niemand hat einen Anspruch darauf. Und ehrlich gesagt – hätte er mir was vererbt, hätte ich es nicht angenommen. Er war vermutlich ein Wildfremder für mich, und von Wildfremden nimmt man nichts an.“
„Und was ist mit Tante Anna?“, rief Frank.
„Tante Anna?“ Luise sah ihn verständnislos an. „Was soll mit der sein?“
„Ach komm, tu bloß nicht so unschuldig. So warst du ja immer schon.“
„Herr Wintrich“, mahnte Brandstetter, „könnten Sie bitte zum Thema kommen?“
„Das ist das Thema. Bei Tante Annas Tod hat sie doch sicher ihren Teil eingestrichen und jetzt macht sie hier einen auf Stiefkind, unglaublich!“
„Tante Anna ist tot?“, fragte Luise nach dem einzigen, was sie verstanden hatte. „Ja, tu nicht so. Schon vor fünf Jahren! Der Anwalt hat dir doch auch geschrieben, oder?“
„Nein. Na, da kann man auch nichts machen. Wo ist sie begraben?“
„Keine Ahnung. Irgendwo da, wo sie gewohnt hat, denke ich. Bei Hannover. Hingefahren sind wir natürlich nicht, wir haben ja schließlich noch mehr zu tun.“ Luise zuckte die Schultern. „Brich dir nichts ab, ich krieg´s schon raus. Kann ich jetzt bitte gehen?“
„Ich werde mich mit Ihnen noch einmal in Verbindung setzen“, drohte Brandstetter. „Vor der ganzen Familie können Sie ja offenbar nicht frei sprechen.“
„Nein? Was ich sagen wollte, habe ich gesagt. Vielen Dank für alles. Auf weitere Gespräche lege ich keinen Wert. Und da Sie meine Adresse schließlich haben – im Gegensatz zu Tante Annas Anwalt – wissen Sie ja, wohin Sie Ihre Honorarnote schicken können.“
„Honorarnote?“
„Na, Sie haben mich doch immerhin herbestellt – Kosten für den Brief, die Sekretärin, das Porto, Ihre kostbare Arbeitszeit – ohne mich wäre diese Veranstaltung schon vor zehn Minuten beendet gewesen und Sie könnten sich einer lukrativen Grundstücksübertragung oder so widmen. Schönen Tag noch allerseits!“
Sie lächelte in die Runde, ehrlich froh, dass dieser saublöde Termin endlich vorbei war, sprang die Treppen hinunter und schoss unten geradezu ins Auto. Nur weg hier, bevor jemand von dieser Bande hier auftauchte!
Einer blöder als der andere! Sie fuhr ziemlich aggressiv, weil sie sich so ärgern musste, und war froh, dass sie ohne Prügel bis ins Malerviertel kam. Dort rauschte sie zackig in die Tiefgarage, kurvte elegant in ihren Einzelstellplatz, knallte die Autotür zu, ließ die Fernbedienung piepen und sprang die drei Treppen hinauf.
Endlich wieder zu Hause!
Was da für Geschichten über sie kolportiert wurden, typisch Frank. Der hatte wahrscheinlich erzählt, sie sei mit achtzehn abgehauen (natürlich unter Mitnahme des Familiensilbers), um in Berlin auf den Strich zu gehen. Oder so ähnlich. Und alle hatten es geglaubt. Sie konnte sich ein Kichern nicht verkneifen – als sie rausgeflogen war, hatte sie fast neunzig Kilo gewogen! Sicher, auf 1.78 ganz gut verteilt, aber für den Strich doch vielleicht nicht ganz das Richtige. Und dieses Spurlosverschwundensein… die nächsten eineinhalb Jahre wäre sie zumindest über die Schule noch erreichbar gewesen, bis zum Abitur.
Außerdem hatte sie Leisenberg während des Studiums nicht verlassen und war immer korrekt im Telefonbuch gestanden, schließlich war es in den früheren Neunzigern noch nicht so üblich gewesen, nur ein Handy zu besitzen. Und so viele Leute, die L. Wintrich heißen, gab es in Leisenberg schließlich auch nicht. Genau genommen war sie die einzige. Sowohl dieser Anwalt als auch Frank und Konsorten hätten, wenn sie gewollt hätten, sie locker finden können. Bloß gut, dass sie nicht gewollt hatten – mit diesen grässlichen Gestalten seine Freizeit verbringen? Noch mal Glück gehabt!
Jetzt war es gerade mal Viertel nach sechs, herrlich! Sie zog sich aus, hängte das Kostüm sorgfältig auf einen Bügel, schlüpfte in ihren herrlich kuscheligen Morgenmantel und drehte im Bad das Wasser auf. Heute mal… genau, Grapefruit. Das machte munter und sie konnte noch die ganze dritte Aufgabe schaffen. Danach vielleicht noch einen Teil des zweiten Durchgangs, bei dem sie überall noch ein, zwei Punkte mehr zu vergeben pflegte, nach dem Motto Stimmt ja eigentlich auch und außerdem will ich keinen Schnitt unter viernull. Obwohl, wenn der Kurs sehr schwach war, hatte sie mit einem solchen Schnitt auch kein Problem.
Sie begann gleich mit der dritten Aufgabe und legte sich nach fünf Klausuren mit einem glücklichen Seufzer in das heiße, duftende Wasser. In einem solchen Bad konnte man wirklich den Alltag vergessen! Morgen würde sie joggen gehen und übermorgen ins Fitness. Wenn das nicht genügte, um sich so richtig wohl zu fühlen, dann wusste sie es auch nicht.
Sie drückte selbstvergessen den teuren Naturschwamm über sich aus und genoss es, wie das duftende weiche Wasser (Meersalz!) über ihre Haut floss. Herrlich.
Und nachher würde sie noch ordentlich was wegkorrigieren und dann ganz gemütlich ein bisschen ihre Depots kontrollieren, vielleicht ein auch etwas zocken, wenn möglich. Einige Pharmawerte hatten momentan eine ganz gute Prognose…
Die Kröten der Wintrichs hatte sie weiß Gott nicht nötig, die Wohnung hier war bis auf den letzten Pfennig bezahlt, und ihre Depots waren so gut bestückt, dass sie von den Erträgen hätte leben können. Ja, gut – bescheiden leben, aber immerhin. Da sie aber von den Erträgen nichts verbrauchte, sondern alles thesaurierte und außerdem noch jeden Monat rund fünfhundert Euro ins Depot schob – und sich jedes Jahr ein nettes Sümmchen (auch netto!) erspekulierte, wurde sie von Minute zu Minute reicher. Während sie hier lag, verdiente sie im Schnitt bestimmt schon wieder – hm… sie rechnete träge vor sich hin, rutschte noch etwas tiefer in das duftende Wasser und kam schließlich auf ein Ergebnis von etwa drei Euro pro Stunde. Einfach so, ohne Arbeit. Nicht übel. Wer brauchte da milde Gaben von der buckligen Verwandtschaft?
Das Telefon läutete im Arbeitszimmer. Egal. Sie konnte ja nachher das Band abhören und ganz vielleicht auch zurückrufen. Vielleicht war es Valli, der wieder mal ihre Familie über den Kopf wuchs. Oder Irene wurde tatsächlich Uroma. Oder Lisa, die unbedingt weggehen wollte, um den Mann ihres Lebens zu finden. Warum musste immer sie da mitgehen, sie wollte doch gar keinen Kerl!
Sie aalte sich noch ein wenig und wusch sich träge, aber langsam wurde das Wasser doch etwas kühl, und mit flüchtigem Bedauern – nichts Gutes dauert ewig – stand sie auf und hüllte sich ins Badetuch. Noch schön eincremen…
Neunzig Kilo – das waren noch Zeiten gewesen, aber das Herumrödeln, Schule, Nachhilfestunden, Nebenjobs, Trading, nicht zu vergessen die winzigen Beträge, die sich selbst zum Leben zugestanden hatte, all das hatte rasch an ihr gezehrt, und heute wog sie vierundfünfzig Kilo. Eindeutig zu wenig, aber sie achtete strikt darauf, dass es nicht noch weniger wurde, um keinesfalls in die Nähe einer Anorexie zu geraten. Und so dürr gefiel sie sich. Zierliche Taille, schmale Hüften, praktisch kein Busen, lange dünne Beine (aber mit Waden!), das sah so herrlich unweiblich aus. Weiblichkeit – das stand für Hilflosigkeit, für Männeranlocken (und ausgebeutet werden), für Ich nehme meinen Job nicht ernst, das ist bloß bis ich heirate, für Ich möchte so gerne ein Kind. Alles ganz schrecklich!
Nein, sie wollte keine Kinder. Konnte sie auch gar nicht, sie hatte ja keine Ahnung, was für schreckliche Gene sie möglicherweise vererbte! Außerdem hatte sie keine Lust, immerzu zu Hause herumzusitzen und alles aus Mutterliebe zu opfern, was ihr wichtig war. Das erwartete doch jedermann von einer Mutter – Selbstaufopferung, da man das vom Papi ja nicht erwarten konnte. Warum ließ man Frauen überhaupt lesen und schreiben lernen, wenn sie dann doch bloß zu Hause rumlungern sollten? Krippenplätze gab es in Leisenberg vielleicht für fünfzig Kinder, da musste man das Kind mindestens zwei Jahre vor der Empfängnis anmelden und außerdem ein Sozialfall sein. Nicht einmal Kindergartenplätze gab es hinreichend. Und mit Papi – dann müsste sie neben der ganzen Arbeit im Haushalt noch einen durchfüttern, und nach ein paar Jahren fand der eine Bessere respektive Jüngere und zog mit der Hälfte ihrer Ersparnisse davon. Nein, danke.
Valli war ja nach eigenem Bekunden glücklich verheiratet, überlegte Luise beim Eincremen der Waden, aber sogar sie hatte sich dauernd zu beklagen. Johannes war geistesabwesend, Johannes hatte seit Tagen nicht mehr mit den Kindern gesprochen, Alex war am Durchfallen, obwohl das Schuljahr noch ganz frisch war, Vicky pubertierte heftigst und lief herum wie eine minderjährige Stricherin, Maggie hatte außer Pferden nichts im Kopf und nervte in jeder wachen Minute, warum sie kein Pony haben konnte. Sie selbst musste sich um alle Familiensachen alleine kümmern und außerdem versuchen, den Haushalt von ihrem spärlichen Einkommen als Illustratorin zu finanzieren. Johannes zahlte dafür das Haus ab. Mehr war nach seinem Bekunden nicht da. Übrigens typisch, fand Luise – auf ihr Geld hatten beide Zugriff, auf seins nur er.
Ein solches Leben wollte sie nicht. Und was Familie für Vorzüge haben sollte, verstand sie sowieso nicht. Liebe? Keine Ahnung, wie das war, wenn man jemanden liebte – woher auch?
War man dann nervös, wenn der andere da war – oder eher wenn er nicht da war? Machte man sich Sorgen? Um den anderen? Um sich selbst, ob man klug, schön, jung genug war? War man plötzlich willig, sich aufzuopfern? Stellte man Forderungen? War man stolz auf den anderen oder würde man ihn am liebsten verstecken, damit ihn keiner klaute? War man eifersüchtig?
So ganz grundsätzlich konnte sie das niemanden fragen. Lisa, Irene, Valli, alle würden sie rundäugig anstarren: Ja, du musst doch schon mal verliebt gewesen sein!
War sie aber nicht, sorry.
Ein, zwei One-night-stands, um Bescheid zu wissen (und genau genommen war Sex eigentlich ziemlich albern) – und ein rasch gescheiterter Versuch, eine Beziehung zu führen, damals, mit vierundzwanzig, als sie dachte, sie müsste es doch auch mal probieren. Der arme Nils, er hatte sich solche Mühe gegeben, aber egal, was er machte, sie wurde bockig, fühlte sich bevormundet, nicht ernst genommen und überhaupt eingeengt. Sie hatte zunehmend Hobbys entwickelt, die man nur alleine betreiben konnte, lesen, Filme gucken, fotografieren – und Nils war ihr lästig gewesen. Als sie ihn schließlich seiner verständnisvollen Kommilitonin Susanna in die Arme getrieben hatte, war sie regelrecht erleichtert gewesen. Heute kam sie mit den beiden und ihren vielen, vielen Kindern ganz gut zurecht. Vielleicht genau deshalb, weil es nur noch eine lockere Bekanntschaft war. Zu mehr war sie eben offensichtlich nicht in der Lage, und am besten fand sie sich damit ab.
Abfinden war ein bisschen pathetisch, sie hatte mit der Tatsache ja gar keine Probleme. Der Job lief prima, die Finanzen waren in Ordnung, sie war gesund und sah ganz akzeptabel aus, groß, schlank, gepflegt, geschmackvoll gekleidet. Was wollte sie eigentlich mehr? Nette Freundinnen hatte sie auch.
Und allen dreien ging es wirklich schlechter als ihr, deshalb musste sie sich ein bisschen um sie kümmern. Am ärmsten dran war ihrer Ansicht wirklich Valli, an der alle zehrten und die auch niemanden hängen ließ. Pflichtbewusstsein konnte einen bis zur Selbstaufgabe treiben!
Irene hatte sich ihr komisches Leben selbst ausgesucht, und irgendwie war das jetzt wohl schon Tradition, dass die Töchter sehr früh wieder eine Tochter kriegten und die Großmutter die Aufzucht übernahm. Joy allerdings war voll im Beruf engagiert, und sollte Elisa wirklich ein Kind kriegen, würde eben Irene auf Teilzeit gehen (das kam ihr sicher sowieso entgegen), damit Elisa ein glänzendes Abitur hinlegen und dann studieren konnte. Und in siebzehn, achtzehn Jahren würde Irene mit noch nicht mal siebzig Ururoma werden… Männer waren in dieser Familie nur Randerscheinungen, und das war vielleicht gar nicht so übel. Irene hatte immer einen Freund, Joy meistens auch und Elisa hatte ja jetzt diesen zehn Jahre älteren Herrn, der Irene so verstörte…
Und Lisa? Die würde selber sicher sagen, dass sie die Allerärmste war – aber Luise fand, ihr ging es jetzt wenigstens eigentlich gut. Früher – ja, früher hatte sie ein furchtbares Leben, weil praktisch unmittelbar nach ihrem Abitur erst ihre Mutter und kurz danach auch ihr Vater schwer krank geworden waren. Lisa hatte über zehn Jahre damit verbracht, die beiden zu pflegen, die immerzu wimmerten Steck uns nicht ins Pflegeheim, tu uns das nicht an. Alle anderen hatten natürlich gesagt Mensch, nimm dir doch wenigstens eine Pflegerin dazu, ihr habt das Geld doch. Prompt das Gewimmer Lass nicht zu, dass uns fremde Personen betreuen, das ist so seelenlos. Die Freundinnen: Besorg dir doch wenigstens jemanden für den Haushalt, du reibst dich doch total auf. Die kranken Eltern dagegen Lass keine fremden Leute ins Haus, wir wollen nicht, dass uns andere so sehen.
Das einzige, was blieb, war, dass Valli und Luise ab und zu vorbeischauten und Lisa halfen, das große Haus sauber zu halten. Aber sie durften nicht bei der Wäsche helfen, sie durften nichts an der Einrichtung verändern, damit die Arbeit leichter wurde (unsere schöne Küche, die wir uns damals jung verheiratet vom Munde abgespart haben – und du willst sie zerstören, nur weil du nicht abspülen magst? Ach Kind, welche Enttäuschung…!), und sie durften sich vor den Kranken nicht sehen lassen: Wir wollen nicht, dass die beiden sehen, wie sehr wir uns verändert haben. Lisas Mutter laborierte mit ihrem Krebs rund zehn Jahre dahin, und kurz nach ihrem Tod starb auch der Vater an seinem dritten Schlaganfall. Eine Erlösung, fanden die Freundinnen, aber es dauerte fast ein halbes Jahr, bis Lisa wenigstens die Krankenhausbetten und das übrige Equipment aus dem Haus geschafft hatte. Und dann hätte sie eigentlich ihr Leben genießen können, die Eltern hatten ihr das Haus und ein hübsches Vermögen hinterlassen, und mit dreißig hätte sie durchaus noch einen interessanten Beruf lernen können – aber nein, Lisa wollte heiraten. Möglichst sofort. Und möglichst sofort einen Haufen Kinder haben. Dabei hatte man gar nicht das Gefühl, dass sie mit Kindern so besonders gut konnte, mit Vallis Kindern jedenfalls nicht.
Wenn man sie fragte, warum sie unbedingt heiraten und brüten wollte, brach sie zu Anfang einfach in Tränen aus – und wer hätte da schon weiter bohren wollen? Und später hieß es Das versteht ihr nicht und noch später Ich brauche jemanden, für den ich sorgen kann. Das war ja nachzuvollziehen, aber musste es denn so dringend sein? So verbissen? Konnte sie ihren Helferdrang nicht erst einmal im Tierheim abreagieren und dann in Ruhe gucken, ob sie einen geeigneten Mann finden konnte? Und konnte sie allmählich nicht etwas weniger auf dieses Thema fixiert sein? Sie hatte außer der Frage, wo es Männer gab, wie man Männer kennen lernen konnte, worauf bei Männern zu achten war, keinerlei Gesprächsstoff mehr. Und wenn sich dann mal einer für sie interessierte – hübsch war sie schließlich – dann kniff sie. Hinterher hieß es immer Ach… der war nichts.
Warum nicht, war dann wieder nicht rauszukriegen. Sehr seltsam – und allmählich fühlte sich Luise davon auch ein bisschen angeödet, denn Lisa wollte offenbar gar keine Hilfe, nur immerzu verständnisvolle Zuhörer. Ratschläge nahm sie übel auf.
Frisch eingecremt, schlüpfte sie in einen Pyjama – heute ging sie bestimmt nicht mehr aus. Und in Schlafanzug und Morgenmantel zu Hause herumzupusseln, hatte es etwas ungemein Gemütliches, vor allem, wenn draußen so perfekt trübes Novemberwetter herrschte.
Sie setzte sich an ihre Klausur und schaffte in einer Stunde tatsächlich die ganze dritte (und letzte!) Frage. Durchschnitt nach dem ersten Durchgang… dreineunundachtzig. Nein, so schlecht waren die Leutchen eigentlich nicht. Vielleicht war sie bei den ersten beiden Aufgaben doch zu geizig mit den Punkten gewesen?
Aber zuvor sollte sie mal schnell das Band abhören.
Sie haben vier neue Nachrichten. Ächz.
Nummer eins: Ob sie schon von der Klassenlotterie gehört habe? Und von diesen phantastischen Gewinnchancen? Sie löschte den Anruf. Bis zu drei Gewinnen garantiert – das benutzte sie immer als Beispiel in Stochastik, um zu demonstrieren, dass das eben gar nichts garantierte. Höchstens, dass man garantiert nicht viermal gewinnen konnte.
Nummer zwei: Irene – ob sie morgen mal mit dem Chef sprechen konnte, immer mehr Kollegen machten sich in ihrem Psychologiesprechzimmer breit und wollten auch nicht rausgehen, wenn Irene eine Besprechung hatte? Luise notierte sich, dass man das Schloss austauschen musste.
Nummer drei: Philipp Hölzl – ob sie morgen mit ihm essen gehen wollte? Das konnte man ignorieren.
Nummer vier: Sebastian Brandstetter – ob sie noch einmal über den Pflichtteil nachgedacht hatte? Nicht nötig, sie wusste, was sie wollte.
Sie löschte das ganze Band und schaltete den AB wieder ein.
Dann lieber die ersten paar Klausuren im zweiten Durchgang!
Immer, wenn sie die Lust verlieren wollte, dachte sie an die fürchterlichen Gestalten heute Nachmittag beim Notar – nur nicht so werden! So etwas hatte sie nicht nötig, sie war nämlich gut in ihrem Beruf.
So schaffte sie bis zehn immerhin den ganzen zweiten Durchgang und kam auf einen Durchschnitt von dreivierunddreißig. Das war akzeptabel. Sie musste nur noch die Bleistiftnotizen wegradieren und die Punktezahlen an den Rand schreiben, dann konnte sie das Machwerk herausgeben. Sehr passend, morgen hatte sie den Kurs in der zweiten Stunde. Das Radieren würde sie morgen früh noch machen, für heute reichte es wirklich.
Sie hatte etwa zwei Stunden geschlafen, als das Telefon wieder läutete. Entnervt blinzelte sie auf ihren Radiowecker. Viertel vor eins? Unverschämtheit! Das war bestimmt nur wieder ein Besoffener, der ihre Nummer mit der irgendeiner Kneipe verwechselte. Oder mit der seiner Freundin – Schatzi, sei nicht sauer, ich bin gar nicht so blau wie es klingt… Einfach läuten lassen.
Sie vergrub den Kopf wieder zwischen den Kissen und versuchte, den schönen Traum wieder zu finden, konnte aber nicht umhin, das Läuten mitzuzählen. Dreißig Mal!
Endlich Ruhe… nein, es läutete schon wieder. Wutentbrannt sprang sie aus dem Bett und lief ins Arbeitszimmer. „Himmel noch mal, was soll denn das um diese Zeit?“, plärrte sie in den Hörer.
Heftiges Schluchzen antwortete ihr. Sie lauschte konsterniert. „Wer ist denn da? Brauchen Sie Hilfe? Soll ich die Polizei rufen? Hallo?“
Weiteres Schluchzen. Luise verlor die Geduld: „Also, wer immer Sie sind, so kann ich auch nichts für Sie tun. Was ist denn nun los?“
Ein gurgelnder Schluchzer, dann: „Hier ist Valli…“
„Valli? Was ist denn los? Ist was passiert?“
„Johannes…“
„Ist ihm was passiert? Valli, sag schon!“ Wieder nur Schluchzen und unverständliche Worte. Luise verdrehte die Augen. Das war doch wieder typisch! Hoffentlich war Johannes nichts Ernsthaftes passiert!
„Valli, spuck´s aus, was ist mit Johannes?“
„Ich weiß es doch nicht!“, heulte Valli auf. „Er ist immer noch nicht da!“
„Ist das alles?“, fragte Luise ungläubig. „Johannes ist noch nicht zu Hause und du machst einen solchen Aufstand?“
„Aber wenn ihm was passiert ist?“
„Hast du das Krankenhaus angerufen?“
„Nein, ich weiß doch gar nicht, ob er da ist!“
„Deshalb sollst du ja auch da anrufen, damit die nachgucken! Was sagt die Polizei?“
„Die Polizei?? Ich kann doch nicht die Polizei rufen!“
Luise seufzte. „Valerie, bitte! Was befürchtest du eigentlich? Dass ihm was passiert ist oder dass er sich bloß rumtreibt?“
„Er treibt sich nicht rum! Nicht mein Johannes! Da muss was passiert sein!“
„Dann kannst du doch auch die Polizei rufen“, schlug Luise vor.
„Nein. Das bringt ja sowieso nichts.“
„Wieso nicht? Wenn er einen Unfall oder so was hatte, wissen die das doch als erstes.“
„Ich will nicht die Polizei rufen“, jaulte Valerie.
„Was willst du denn dann? Bessere Vorschläge habe ich leider auch nicht.“
„Ich will ihn suchen gehen. Komm mit, alleine traue ich mich nicht.“
„Ach, du weißt, wo er ist? Das ist natürlich was anderes. Warum hast du das nicht gleich gesagt? Wo müsste er denn sein?“
„Das weiß ich doch nicht!“ Der Stimme nach stand sie kurz vor einem hysterischen Anfall.
„Ja, wo willst du ihn denn dann suchen? Soo klein ist Leisenberg auch wieder nicht.“
„Ich weiß nicht. Was meinst du, wo könnte er sein?“
„Noch in der Arbeit? Wenn die was Dringendes fertig zu stellen haben? Irgendeinen Quartalsbericht?“
„Ende November?“ Soo hysterisch war Valli also auch wieder nicht.
„Okay. Aber könnte er noch im Bauamt sein?“
„Glaub ich nicht.“
„Hast du da mal angerufen? Haben die nicht wenigstens so was wie einen Nachtpförtner?“
„Keine Ahnung. Meinst du, ich soll das mal probieren?“
„Aber unbedingt! Moment, wo könnte er noch sein – bei einem Kollegen?“
„Glaub ich nicht. Und da kann ich jetzt auch wirklich nicht mehr anrufen. Weißt du nicht, wie spät es ist?“
Langsam kam die Situation Luise etwas surreal vor.
„Hat er irgendwelche Lieblingskneipen? Wo er nach der Arbeit vielleicht mal ein Bierchen zwitschern geht? Vielleicht ist er bloß versackt, Geburtstagsfete eines Kollegen oder so?“
„Keine Ahnung. Und Johannes geht nach der Arbeit nichts trinken. Du weißt doch, wie wenig Geld wir haben!“
Der vorwurfsvolle Ton ärgerte Luise. Konnte sie etwas dafür, dass sich die beiden ein so großes Haus hingestellt hatten? Auch mit drei Kindern hätten sie locker in ein gebrauchtes Reihenhaus gepasst. Aber nein, Johannes musste seinen Traum vom Bauen verwirklichen, und jetzt hatten sie die Schulden am Bein und lebten praktisch nur von Vallis kläglichem Einkommen.
„Also pass auf, ruf mal im Bauamt an und im Städtischen Krankenhaus. Und dann ruf mich wieder an, dann überlegen wir weiter.“
„Du willst mir also nicht helfen, ihn zu suchen? Schöne Freundin!“
„Valli, eine muss doch wenigstens einen klaren Kopf bewahren. Was hat denn eine Suche für einen Sinn, wenn du keinen Schimmer hast, wo er sein könnte? Wir stolpern durch die Nacht, und wenn Johannes zu Hause anruft, bist du nicht da, die Kinder wachen auf und regen sich bloß auf.“
„Stimmt“, antwortete Valli enttäuscht. „Aber ich will doch was tun!“
„Dann ruf da an“, wiederholte Luise ungeduldig. „ich lege jetzt auf, du rufst da an, Bauamt und Krankenhaus, nicht vergessen. Und dann rufst du mich wieder an.“
„Hältst du mich für blöd?“
Darauf gab Luise lieber keine Antwort. Sie legte auf und holte sich ihren Morgenmantel, Schreibzeug und den Stadtplan. Während sie auf Vallis Rückruf wartete, studierte sie gähnend den Stadtplan, um die beste Route zwischen Bauamt und dem Traumhaus in Zolling herauszufinden. Tiepolostraße, Bahnhofsstraße, Stadtring, Zollinger Hauptstraße, Mannhardtweg…
Konnte Johannes auf dieser Strecke irgendwo verschwunden sein? Aber wie? Das war alles so belebt, da konnte man doch niemanden aus dem Auto zerren… aber intelligenter entführen vielleicht doch…