7,99 €
Pandoras Mutter sucht schon lange einen geeigneten Umgang für ihre künstlerisch begabte Tochter. Da kauft die Musikerfamilie Morningquest das Gut Anderland ganz in der Nähe, und von nun an verbringt Pandora viel Zeit mit den Nachbarn. Als ihre Mutter an einem Herzanfall stirbt, findet sie auf Anderland ein neues Zuhause und erfährt so manches über ihre eigene Herkunft, die ihr die Mutter stets verborgen hatte.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 474
Veröffentlichungsjahr: 2021
Joan Aiken
Roman
Aus dem Englischen von Ilse Bezzenberger
Diogenes
Für Julius
und zum Andenken
an seine Großmutter
Bessie Mashores
»Ich möchte gern, daß du heute nachmittag mit mir kommst nach Boxall Hill, wenn ich Unterschriften sammeln gehe«, sagte meine Mutter in jenem prononciert forschen Ton, den sie immer anschlug, wenn sie sich des Erfolges nicht ganz sicher war – so wie ein Reiter sein Pferd beim Anrennen auf ein Hindernis zu rascherem Tempo antreibt.
Natürlich maulte ich und zog aufseufzend die Schultern hoch über die Handvoll Löffel und Gabeln, die ich gerade abtrocknete. »Warum?«
»Weil ich denke, die jungen Morningquests könnten interessante Freunde für dich sein. Und du auch für sie.«
Allein diese Vorstellung reichte mir schon, ihren Plan zu verdammen!
Meine Mutter war in keiner Hinsicht ein Snob, das möchte ich in aller Deutlichkeit klarstellen. Rückblickend jedoch wird mir – voll Trauer und Mitgefühl – klar, daß fast ihr ganzes Leben lang ihr Durst nach intelligenten Gesprächen seitens meines Vaters und der Menschen um sie herum nur höchst unzureichend gestillt wurde. Unzureichend … um es in gemäßigter Tonart zu artikulieren. Sie hatte einen erstklassigen Abschluß in europäischen Sprachen und Literatur, erkämpft unter weiß Gott was für Bedingungen. Sie hätte unterrichten sollen. Aber hier in Floxby Crucis hatte keine einzige Seele den Ehrgeiz, etwas über europäische Literatur zu lernen. Und wenn mein Vater von seiner täglichen Runde heimkam, dann hatte er keinen anderen Wunsch mehr, als sich schweigend in das ›Wochenbulletin des Milcherzeugers und Ratgeber für die Rinderzucht‹ zu vertiefen. (Mein Vater war kein Landwirt, aber die Interessen von Landwirten und Tierärzten überschneiden sich häufig.) Er hatte nicht mal Lust, sich auf englisch zu unterhalten, und schon gar nicht auf französisch, spanisch, deutsch, ungarisch oder russisch.
Die Gesamtschule von Floxby, die ich besuchte, war gar keine schlechte Lehranstalt, wenigstens in ihren oberen Klassen nicht. Aber meine Altersgenossen waren ein reichlich tumber Haufen, und meine Mutter litt, das verstehe ich jetzt, an der nagenden Furcht, ich könne in ein Leben hineinrutschen, das dem ihren ähnelte: Sammeln für den Flohmarkt der Kirchengemeinde oder für den Schwimmbadfonds, die jährliche Kutschfahrt nach Stratford als herausragendstes Ereignis. Und gar der orangefarbene Lippenstift und die laute Lache meiner Freundin Veronica, ganz zu schweigen von der Art, wie sie ihre Beine übereinanderschlug und dabei hohe Absätze und lange, schimmernde Nylonstrümpfe zur Schau stellte, setzten meiner Mutter gräßlich zu und ließen sie bis ins Mark hinein erschauern.
»Komm doch mit«, sagte sie, »der Spaziergang wird dir guttun.« Und sie murmelte noch etwas vom ewigen Stubenhocken. »Zieh dir Schuhe an.«
Aber da meuterte ich. Es war die Zeit, als jeder meines Alters (außer Veronica) barfuß lief, solange der Boden nicht buchstäblich schneebedeckt war.
Mutter seufzte und akzeptierte die Tatsache, daß meine physische Anwesenheit bei diesem Gang alles an Erfolg war, was sie herausschlagen konnte. Bloße Füße, Dufflecoat, ausgefranster Seemannspullover und strähniges Haar mußten dafür in Kauf genommen werden.
Genaugenommen ging ich ja auch, nachdem ich mich mit der Sache abgefunden hatte, ganz fügsam mit. Mutters Gesellschaft konnte höchst anregend sein. Sie hatte alle Bücher gelesen, von denen ich je gehört hatte, einschließlich Homer auf griechisch, und auf alle Fragen, die mir in den Sinn kamen, hatte sie Antworten parat – von Napoleons Beschwerden mit Hämorrhoiden bis zu Verhaltensstörungen bei den Blaumeisen.
An diesem Sonntagnachmittag jedoch war sie in sich gekehrt, schweigsam und gedankenverloren, und sie seufzte häufig, während wir den Boxall Hill Lane entlanggingen, eine der fünf schmalen Straßen, die ringsum von unserer kleinen Stadt ausgehen.
Für mich wurde dieser Gang zu einer beschaulichen Rückerinnerung an meine frühere Kindheit, während deren ich sie auf unzähligen solcher Ausgänge begleitet hatte – wenn sie Stimmen für die Labour Party warb, zum Waffenstillstandsgedenktag künstliche Mohnblumen oder Alexandra-Rosen verkaufte, wenn sie mit Petitionen umherzog, bei denen es um Überlandleitungen, Untertagebauprojekte oder um die Stillegung von Buslinien ging.
»Wie viele Morningquests gibt es eigentlich genau?« fragte ich in absichtsvoll mürrischem Ton, um eine Unterhaltung in Gang zu bringen, denn so ungefähr wußte ich es ja schon.
»Sieben Kinder.« Sie hatte ihre Informationen parat. »Die Jungen sind an der Universität, ich glaube, die sind älter als du. Ihre Namen weiß ich nicht genau, einer heißt, meine ich, Barnabas. Die Mädchen heißen Dorothea, Selene, Alethea und Elvrida.«
»Du meine Fresse!« murmelte ich vor mich hin.
»Ich glaube, Dorothea müßte dir altersmäßig am nächsten sein«, fügte meine Mutter hinzu. »Und sag nicht ›meine Fresse‹, das ist vulgär.«
Sir Gideon Morningquest war ein Dirigent von Weltruf. In unserer Stadt ließ er sich kaum je blicken, denn die Morningquests bewohnten auch noch ein Haus in London (Cadogan Square), und er verbrachte den größten Teil des Jahres anderswo, auf der anderen Seite der Welt, in Buenos Aires, Sydney, Rom oder Tokio, wo er ausländische Orchester leitete. Sein Adlerprofil auf den Plattenhüllen oder der Titelseite der ›Radio Times‹ war uns bei weitem geläufiger als seine persönliche Anwesenheit. Während meiner gesamten sechzehn Jahre hatte ich ihn schätzungsweise drei- oder viermal zu Gesicht gekriegt. (Es erschien in Anbetracht seines Zugvogelverhaltens in der Tat bemerkenswert, daß er es geschafft hatte, eine so große Nachkommenschaft zu zeugen.)
Lady Morningquest war ihrerseits eine Berühmtheit, in aller Eigenständigkeit – eine Sängerin, ein Sopran. Mariana Tass war ihr Künstlername. Vor einigen Jahren hatte sie aufgehört, Opernpartien zu übernehmen, aber sie gab noch Liederabende, unterrichtete am Royal College und saß in diversen Ausbildungskomitees. Sie und meine Mutter waren irgendwie miteinander bekannt geworden, erinnerte ich mich vage. Sie hatten sich bei der Organisation eines Floxby-Musikfestivals kennengelernt, und daraus war eine Freundschaft geworden.
»Ich nehme an, die ganze Familie ist höllisch musikalisch?« folgerte ich scharfsinnig.
»Oh, gewiß. Ich glaube, sie sagte mal, daß jedes von ihnen ein anderes Instrument spielt.«
Meine Mutter sagte es wehmütig und seufzte wieder. Mir fiel plötzlich auf, daß sie langsamer ging als gewöhnlich. Sie war in Schottland aufgewachsen (obgleich sie keine Schottin war) und hatte strikte Ansichten über die Wichtigkeit von frischer Luft und Bewegung entwickelt. Sie verachtete Autos und Autobesitzer, und ihre gewöhnliche Gangart war stets ein weitausgreifendes Schreiten gewesen. Als kleines Kind hatte ich traben müssen, um mit ihr Schritt zu halten. Ich muß Hunderte von Meilen gejoggt sein, noch ehe ich zehn Jahre alt war, immer hinter ihr her, über Straßen, Feld und Flur in der ganzen Gegend herum. Jetzt aber schien sie Mühe zu haben, mit mir Schritt zu halten. Irgendwie dämmerte es mir, daß die Leute, die Eltern ja älter wurden, und weniger athletisch. Das mußte denn wohl, überlegte ich, ein unerläßliches Stadium des Lebens sein.
»Gehen wir denn nicht durch die Einfahrt, am Pförtnerhaus vorbei?« fragte ich ein bißchen überrascht, als sie sich nach rechts wandte und über einen Zauntritt in der Hecke kletterte.
»Nein, dieser Weg hier ist eine Abkürzung.«
Mutter hatte eine Leidenschaft für Abkürzungen, wich häufig entscheidend von ihrem Kurs ab, verlockt durch irgendeinen vielversprechenden diagonalen Pfad. (›Komm schon, wir versuchen’s einfach mal, so könnte es schneller gehen. Und wir sind hier auch noch nie gegangen.‹)
Der Weg hinter dem Zauntritt führte uns aufwärts durch ein kleines Gehölz, so eins, wo im Mai Glockenblumen wuchsen. An diesem Herbsttag jedoch raschelte man auf dem schmalen Pfad knöcheltief durch große, dürre Kastanienblätter.
Insgeheim war ich sehr erpicht darauf, Haus Boxall Hill kennenzulernen, das auf einem ausgedehnten, keilförmigen Areal nordwestlich unserer Stadt lag – eigentlich mehr ein kleiner Park, der von allen Seiten durch einen Waldgürtel geschützt war. Das Haus selbst war von keinem Punkt in der Nähe der Stadt aus zu sehen; man mußte schon auf die nächste Anhöhe der Landschaft steigen, etwa fünf Meilen weiter, um einen entfernten Blick darauf werfen zu können. Sir Gideon legte Wert auf Privatsphäre, und diese abgeschiedene Lage, keine fünfzig Meilen von London entfernt, war denn auch vor gut zwanzig Jahren einer seiner Hauptgründe gewesen, den damals herrenlosen Besitz als Wochenendrefugium zu erwerben. Aber nie hatte er in der Umgebung gesellschaftliche Beziehungen angeknüpft. Und der ansässige Landadel seinerseits hatte, als er neu zugezogen war, auch keine sonderliche Eile an den Tag gelegt, seine Bekanntschaft zu machen: ›Nicht so ganz unsere Kreise.‹ Natürlich war er in jenen Tagen noch längst nicht so berühmt gewesen. Die Kulturhungrigen der Stadt – es waren ihrer wenige – hatten sich anfangs viel von seiner Gegenwart erhofft, aber sie wurden bald enttäuscht. Er erschien immer nur zu kurzen Wochenendbesuchen, kam am Freitag nach Mitternacht in seinem Bentley angefahren und war am Sonntagabend schon wieder fort. Seine Kinder besuchten sämtlich exklusive Londoner Schulen. Sie nahmen selten an lokalen Veranstaltungen teil, außer an gelegentlichen Sommerfesten, bei denen die Jungen auftauchten, nervös und schüchtern wirkend, um aber sodann im Handumdrehen sämtliche Wettrennen zu gewinnen. Sie waren groß, gutaussehend, reserviert, göttergleich, kurzum – unerreichbar. Ich konnte mich kaum erinnern, jemals ihre Schwestern in der Stadt gesehen zu haben. Vom Sehen würde ich sie gar nicht wiedererkennen. Vermutlich kamen auch sie an den Wochenenden und während der Schulferien herunter. Aber gerade zu solchen Zeiten hatte ich mich in meinem empfindlichen Stolz immer tunlichst ferngehalten aus der Umgebung von Boxall Hill, damit es um alles in der Welt nicht so aussehen konnte, als versuche ich mich anzubiedern.
Als Folge davon barg dieses Stück Land, so nahegelegen und doch so vollständig unbekannt, für mich so etwas wie das Geheimnis von Xanadu. »Zwiefach fünf Meilen fruchtbarer Grund, von Mauern und Türmen umgürtet im Rund …«
Nicht daß ich mir dort leuchtende Gärten erhoffte, von schlängelnden Bächlein durchzogen – obwohl die Leute in der Stadt manchmal murrten, es sei eine Schande, Boxall Hill habe immer so schöne Gartenanlagen gehabt zu Major LeMerciers Lebzeiten (aber der Ärmste hatte sich nach dem Börsenkrach erschossen), und es sei eine böse Unterlassungssünde, daß Sir Gideon nicht ab und zu seine Gärten öffentlich zugänglich machte, etwa zur Unterstützung der Pavillonanlage des Krankenhauses oder des Schwimmbadfonds. Aber er blieb allen Andeutungen und Anfragen gegenüber taub. Worauf ich aber wirklich hoffte, war wenigstens irgendeine tiefe, romantische Schlucht – kein durchaus unmöglicher Traum übrigens, denn das Anwesen zog sich einen Hang hinauf, um jenseits des Hügelkammes steil abzufallen durch einen Buchenwald. Dort gab es einen Turm, ein Verlies oder einen Bergfried, soviel wußte ich. Mein Vater hatte ihn gesehen. Denn er als Veterinär hatte natürlich Zutritt, wo er sonst niemandem erlaubt war, auf privaten Wegen, auf entlegenem Farmbesitz. Aber – typisch für ihn – er konnte sich nicht erinnern, wie es aussah. Mein Vater war nicht interessiert an Verliesen. »Aus Ziegeln gebaut, glaub ich …« Mehr war aus ihm nicht herauszukriegen.
Unser Weg wand sich durch das kleine Kastanienwäldchen aufwärts, und meine Mutter ging immer langsamer und seufzte immer öfter. Am oberen Rand des Wäldchens ergab sich durch eine zweite Zaunstiege ein Spalt zwischen den Baumschößlingen, der ein Stück grauen Himmels hereinschimmern ließ und den Blick auf eine ganz in der Nähe ansteigende Wiese freigab.
Mutter stützte sich, als sie den Zauntritt erreichte, mit den Ellenbogen darauf und verfiel in tiefe Geistesabwesenheit. Als ich ebenfalls heran war, blickte ich ihr über die Schulter (denn ich war bereits einen Kopf größer als sie) und sperrte den Mund auf vor freudigem Staunen.
Die Wiese zog sich aufwärts gegen einen Sattel zwischen zwei bewaldeten Schultern des Hügels. Auf der linken lag, unübertrefflich plaziert wie ein Schmetterling auf dem Rande eines Beckens, das Haus, ein rechteckiger, georgianischer Bau aus feinem, weißrosa Stein: drei Stockwerke, die Erdgeschoßfenster gewölbt, oben drei Giebelfenster, und das Ganze gekrönt von einer kleinen Rundkuppel, die von einer Säulentrommel getragen wurde. Die weiße Auffahrt wand sich gemächlich auf das Haus zu und folgte dabei der Linie des Hügels. Ein wenig tiefer gelegen, umrundete eine Steinmauer das Bauwerk, so daß es zwar geschützt, aber nicht verdeckt war, und unterhalb der Mauer, auf halber Höhe des Sattels, bot ein verdeckter Grenzgraben zusätzlichen Schutz.
An diesem windigen, wolkenreichen Herbsttag schien das Haus in der launenhaften Sonne förmlich zu glitzern, es warf ihre Strahlen zurück wie ein Stein, der das Licht zugleich absorbiert und reflektiert.
»Mein Gott!« sagte ich.
Nach einer Pause meinte meine Mutter: »Ich wußte, es würde dir gefallen.«
Ihr Ton verblüffte mich. Es lag zwar Genugtuung darin, aber er war doch ganz trocken. Es war, so erinnerte ich mich später an jenem Abend, wie die Reaktion eines Kochs, der weiß, daß ein Gericht zu lange im Ofen gewesen ist, und die überschwenglichen und scheinheiligen Komplimente mit einem ironischen Kopfnikken entgegennimmt.
Zu diesem Zeitpunkt jedoch entging mir das.
»Oh, und ob es mir gefällt!« pflichtete ich ihr stürmisch bei. »Es gefällt mir wirklich!«
Eins der wesentlichen Dinge bei einem Gebäude ist die richtige Beziehung zu dem Grund und Boden, auf dem es steht. Von frühester Jugend an habe ich das stark empfunden. Rohe neue Vorstädte und Wohnsiedlungen erfüllen mich mit geradezu körperlicher Pein wegen der Art, wie dort die Blöcke in der Gegend herumgestreut sind, nicht gepflanzt; es gibt keine Ausgewogenheit zwischen Horizontaler und Vertikaler. Unser eigenes Haus, obgleich klein, dunkel und unbequem, stand wenigstens zwischen Bäumen, die ihm Schutz und Würde verliehen. Die Lage von Haus Boxall Hill jedoch schien mir die Perfektion schlechthin, ein Lächeln über der Landschaft.
Rückschauend – eingedenk alles Geschehenen – glaube ich heute, daß möglicherweise dieser erste Blick damals auf das Anwesen – wie bei Elisabeth und Pemberley – bereits die Entwicklung meiner Beziehung zu der ganzen Familie Morningquest vorgeprägt hat.
»Geht’s dir gut, Ma?« fragte ich nun immerhin. »Du sieht ein bißchen blaß aus.«
»Ach, bin bloß ein bißchen nachdenklich«, erwiderte sie.
Ich hüpfte über den Zaunübertritt und reichte ihr die Hand. Sie kam langsam hinterher.
»Jetzt gehen wir direkt um die Rundung des Hügels herum auf die Auffahrt zu«, erklärte sie.
Wir taten es, und dabei öffnete sich uns der Ausblick hinunter in die Sattelmulde, wo Weidenbäume, die ihre gelben Blätter abwarfen, einen Weiher umstanden. Auf dem Wasser, in dem sich ein münzgroßes Stück Himmelblau spiegelte, zogen zwei Schwäne gemächlich dahin.
Wir kletterten zur Auffahrt hinauf, stiegen über einen Viehzaun und durchquerten einen Buchenhain. Dahinter lag die Umgebungsmauer. Eine Tür war darin, und wir gingen hindurch.
»Hinten herum geht es schneller«, sagte meine Mutter. »Die Auffahrt windet sich nämlich ganz ums Haus herum.«
»Wieder eine von deinen Abkürzungen.«
Ich war jetzt nervös, fühlte mich unbehaglich – ich ahnte ja noch nicht, wie oft ich in Zukunft diesen Weg nehmen würde. Es war, als würden wir observiert aus jedem der vierzehn großen Vorderfenster, die auf einen naturbelassenen Garten hinausgingen, aus dessen kurzer Grasnarbe allerlei Büsche und auch ein paar Stauden spätblühender Lilien sprossen. Kletterrosen verdeckten die Innenseite der Mauer. Zwei weißgestrichene Eisenstühle waren so aufgestellt, daß sie sowohl das Auskosten der letzten Sonnenstrahlen als auch einen weiten Rundblick nach Süden gewährten.
»Von der Terrasse dort oben hat man den Ausblick nach Norden«, erklärte meine Mutter und deutete mit der Hand nach oben. »Wir gehen zur Küchentür herum.«
»Die müssen mächtig viel Wind abkriegen hier oben«, sagte ich hochnäsig, gekränkt – und zugleich erleichtert. Wir hatten also den Küchentürenstatus? (Aber echte Landbewohner, nicht die Pseudogesellschaft von Floxby Crucis – benutzten niemals die vorderen Haustüren; man kam bei ihnen immer hinten herum. Und das waren die nettesten Leute, die ich kannte).
Die Hintertür, die man über den kopfsteingepflasterten Hof sah, stand offen. Von drinnen waren Stimmen zu hören. In der Mitte des Hofes stand ein Brunnen. Ein niedriger, moosbewachsener Mauerkranz aus Ziegelsteinen umgab ihn. Die Fontäne, ein dünner Wasserstrahl von knapp siebzig Zentimetern Höhe, schoß aus einem hellgrünen Mooshügel in der Mitte hervor. Er war reizend, absurd, fast rührend in seiner alltagsentrückten Nutzlosigkeit.
Meine Mutter trat ohne zu zögern durch die offene Tür und ging rechts durch einen kurzen Korridor, nur wenige Schritt lang. Ich ging hinter ihr her und fand mich plötzlich in einer riesigen Küche mit Steinfußboden wieder. Das erste, was mir auffiel, war ihre geradezu antiseptische Helligkeit. Es war ein langer Raum mit großen Rundbogenfenstern an jedem Ende. Die Wände waren weiß gestrichen. Und mein nächster Eindruck war, sie müsse von Riesen bewohnt sein, die sämtlich unter Aufbietung ihrer vollen Lungenstärke durcheinanderredeten.
Aber sie verstummten, als wir eintraten, außer einer männlichen Stimme, die soeben verkündete: »Wissenschaftliche Erkenntnisse müssen unbedingt von sozialen und politischen Faktoren mitgestaltet werden …«
Worauf eine andere männliche Stimme mit gleicher Emphase entgegnete: »Quatsch, das ist totaler Quatsch! Tatsachen sind Tatsachen.«
Jemand anderes hatte gerade gesagt: »Strawinsky war ganz und gar nicht entzückt, als sein Verleger ihn bat, ein Violinkonzert zu schreiben …«
Als alle verstummt waren, richteten sich sämtliche Augenpaare auf uns.
Ich glaube, es waren fünfzehn oder sechzehn Leute um den langen, gescheuerten Küchentisch versammelt, der sich von einem Ende des Raumes bis zum anderen erstreckte. Sie saßen auf hölzernen Küchenstühlen, und auf den leeren Tellern vor ihnen lagen nur noch Brotreste. In der Mitte des Tisches standen Holzbretter, auf denen die restlichen Kanten brauner Brotlaibe und übriggebliebener Käse lagen. Außerdem gab es hölzerne Schüsseln voller Äpfel und mächtige Vorratsbehälter mit geschrotetem Weizen.
Wie bitte? Geschroteter Weizen? Jawohl, geschroteter Weizen!
Es schien, als seien wir in das Ende des sonntäglichen Mittagsmahls hineingeplatzt, was mir einigermaßen merkwürdig vorkam, denn es war bald vier Uhr. Bei uns zu Haus fand das Mittagessen – unabänderlich Fleisch, zweierlei Gemüse, Pudding – um Punkt ein Uhr statt, da der lange Arbeitstag meines Vaters oft schon in den frühen Morgenstunden begann.
»Hélène, meine Liebe!« rief eine warme, herzliche Stimme – eine weibliche diesmal. »Welche Freude, dich zu sehen. Und das muß Pandora sein …«
Lady Morningquest begrüßte uns. Aber wie um alles in der Welt kam es, daß sie und meine Mutter auf so vertrautem Fuße miteinander standen, wie sich hier zeigte? Sie küßten sich – in kontinentaler Manier – erst auf die eine Wange, dann auf die andere, setzten sich dann eng nebeneinander an die Schmalseite des Tisches und vertieften sich augenblicklich in eine leise Unterhaltung. Ich dagegen blieb, erstarrt vor Befangenheit, wie angewurzelt stehen, bis Lady Morningquest aufblickte und sagte: »Aber Pandora … Ach, das ist recht, Dolly, hol noch einen Stuhl heran, du kannst ja bequem neben dir noch Platz für Pandora machen.«
»So bequem nun auch wieder nicht«, mischte sich eine Jungenstimme ein, triefend von brüderlichem Sarkasmus, und es folgte ein allgemeines schallendes Gelächter, das Dolly mit betont nachsichtigem Achselzucken quittierte. Sie war auch wirklich nicht so dick, daß der Spott gerechtfertigt gewesen wäre. Groß und solide gebaut war sie, hatte ein rundes, reizendes Gesicht voller Sommersprossen und ein leichtes Doppelkinn, dazu leuchtend rotes Haar, das sie sehr unkleidsam in zwei mächtigen Schnecken über den Ohren trug, und große, blaugraue Augen.
Sie schaute mich mit einem ermunternden, ein wenig mütterlichem Lächeln an. »Möchtest du ein bißchen Apfelmost, Pandora?« Und sie goß mir aus einem massiven Keramikkrug in einen blauweiß gestreiften Becher ein. Alles Geschirr war von sehr einfacher, bäuerlicher Art.
Wie konnten sie bloß geschroteten Weizen zu Mittag essen?
Meine Mutter lehnte den Apfelmost ab. »Nein, dank dir, Mariana, nein, wirklich nicht …«
Vom ersten Augenblick an war ich wie hypnotisiert von der Schönheit Lady Morningquests, die mir, nur durch die Tischecke getrennt, schräg gegenüber saß. Ihr Haar, wunderbar fein und schlohweiß, war zurückgekämmt und zu einem losen Nackenknoten geschlungen, aber ein paar widerspenstige Strähnen fielen ihr in die hohe, schön geformte Stirn, ohne daß es im mindesten ihre Würde beeinträchtigte. Ebensowenig wie die tiefen, dunkel verfärbten Augenhöhlen von der Leuchtkraft ihrer blauen Augen ablenkten. Sie trug einen einfachen, grauen, lose fallenden Kittel, ähnlich wie ihn die Pförtner im Krankenhaus trugen, und rauchte eine Zigarette in einer langen Elfenbeinspitze. Ich fand, sie sah aus wie die Sibylle von Cumae.
»Aber, arme Pandora, du kennst hier wohl niemanden, was? Also, das ist mein Mann da drüben am anderen Ende …«
Sir Gideon hatte von vorn betrachtet nicht das Raubvogelhafte wie sein Profil auf den Plattenhüllen. Er hatte sogar eher den sehr weichen Ausdruck eines Heiligen. Enorm groß war er (gerade jetzt stand er auf, um von einem Faß auf einem Bord einen neuen Krug Apfelmost zu zapfen), und er wirkte hager und muskulös wie eine Zeichnung von Leonardo da Vinci. Ein Kranz flaumigen, leicht ergrauten Haars lief um seinen Hinterkopf. Die Stirnpartie war kahl. Sein Gesicht setzte sich gleichsam aus einer Reihe ineinander verzahnter Dreiecke zusammen durch eine massive Nase und die tiefen Furchen zu beiden Seiten seines Mundes. Es juckte mir in den Fingern, eine Zeichnung davon zu machen.
»Du weißt doch, Mar, es hat gar keinen Sinn, von Pandora zu erwarten, daß sie uns alle auseinanderhält«, erklärte einer der Jungen seiner Mutter in herablassendem Ton.
Warum denn nicht? dachte ich sofort aufgebracht.
»Warum denn nicht?« fragte auch Lady Morningquest, und zu mir gewandt, fuhr sie fort: »Das da am linken Ende des Tisches sind die drei Jungen – Barney, Toby und Dan. Der Freund, der an dieser Seite von ihnen sitzt, ist Alan aus Schottland, und hinter ihm, das ist Garnet, der im Garten hilft, und dann kommt Dave Caley aus Louisiana. Neben meinem Mann dort am Ende sitzt sein Freund Luke Rose. Dann, auf dieser Seite – aber die kannst du von dort, wo du sitzt, nicht so gut sehen – das sind die Mädchen. (Mädchen und Jungen schienen in dieser Familie immer entgegengesetzte Seiten einzunehmen.) Erstens Dolly, da neben dir, dann Ally und Elly, die Zwillinge. Neben ihnen dann eigentlich Tante Lulie, aber die ist gerade in den Garten gegangen, ein paar Geschirrhandtücher holen – und neben ihr mein Liebling Leni, und dann Onkel Grischa an der linken Seite meines Mannes …«
Am äußersten Ende des Tisches erhob sich jemand und verbeugte sich förmlich vor mir. Es war ein kleiner, schmächtiger älterer Mann mit kohlschwarzen Augen, der sich seit Tagen nicht rasiert hatte. Er trug blaue Arbeitshosen, und sein Hemd war am Kragen aufgeknöpft.
Natürlich war es mir bei den meisten dieser Namen wirklich nicht gelungen, sie mir zu merken oder ihre Beziehung zu den übrigen Leuten am Tisch zu begreifen. Die drei Söhne von Sir Gideon jedoch, die an seiner rechten Seite saßen, erkannte ich (weil ich sie auf den Sommerfesten gesehen hatte) wieder und wußte, daß sie Barnabas, Toby und Dan hießen. Sie waren allesamt so gutaussehend, so raubvogelhaft und blond, wie wohl Sir Gideon selbst in seiner Jugend ausgesehen haben mußte. Sie hatten gerade Nasen und leuchtend blaue Augen wie ihre Eltern (obgleich die von Sir Gideon jetzt ein wenig verblichen wirkten), leicht schräg gestellt, die äußeren Winkel ein wenig abwärts geneigt. Das verlieh ihnen, wenigstens für mich, einen sehr verführerischen Blick. Sie redeten laut, selbstsicher und unaufhörlich, unterbrachen und widersprachen einander dauernd.
»Chromosomen haben damit nichts zu tun!«
»Du kannst doch nicht einfach solche Analogien herstellen …«
»Bereits Nicholson hat nachgewiesen, daß es nicht so ist, in seiner Abhandlung über Schafsdrüsen. Nur Schafe …«
»Bitte, Barney! Nicht bei Tisch!« bat Lady Morningquest.
Ihre Stimme war, wie all ihre sonstigen Attribute, die Perfektion schlechthin: klar und rein wie die einer Singdrossel. Sie entströmte ihr mit müheloser Stärke und verschaffte sich überall im Raum Gehör.
»Dies ist übrigens ein guter Moment, die Jungen daran zu erinnern, daß sie dran sind mit Geschirrspülen«, meinte ihr Mann.
Sofort standen die Jungen auf, und ohne ihr Streitgespräch auch nur für einen Moment zu unterbrechen, fingen sie an, Teller und Becher in dem großen, steinernen Spülbecken hinter Sir Gideon aufeinanderzustapeln. Der kleine, unrasierte Mann mit den schwarzen Augen stand ebenfalls auf, aber Sir Gideon zog ihn wieder herunter.
»Nicht du, Grischa, mein Lieber. Hier sind reichlich genug Arbeitskräfte. Du tust doch schon die ganze Woche über so viel.«
»Und außerdem bist du kein Junge, Onkel Grischa«, meinte liebevoll das rothaarige Mädchen, das neben ihm saß. Welche war das doch? Selene vielleicht. Sie hatte ein bleiches, spitzes, präraphaelitisches Gesicht. Ihr Haar war von blasserem Rot als Dollys. Es stand ihr wie ein wirrer Kranz ums Gesicht.
»Ach ja, ein Körnchen Wahrheit spricht aus deinen Worten, Leni, meine Liebe.« Onkel Grischa setzte sich wieder. Ich sah, daß vor seinem Teller zwei kleine Gefäße standen: ein kupfernes Kaffeekännchen, geformt wie eine Milchkanne, und eine von Flechtwerk umhüllte Flasche. Er trank abwechselnd aus beiden. Sie waren die einzigen Anzeichen von persönlichem Luxus in diesem Raum, der im übrigen strikt funktionell war: geschlossene Schränke und Regale ringsum an den Wänden, weiße Farbe allenthalben, schlaffe, blauweiße Ginganvorhänge an den Fenstern, denen man ansah, daß nie jemand sie zuzog.
Zwei der Mädchen erhoben sich jetzt von ihren Plätzen neben Dolly, ließen sich mir gegenüber auf die Stühle plumpsen, die die Jungen freigemacht hatten und begannen, mich auszufragen.
»Wo gehst du zur Schule? Welches ist dein liebstes Fach? Auf welche Universität wirst du gehen? Dolly will ja nach St.Vigeans …«
»Ach, wieso?« unterbrach meine Mutter ihre Unterhaltung mit Lady Morningquest, und diese beantwortete die Frage.
»Gideon gefällt es, neue Hochschulen zu unterstützen. Barney ist an der Cumberland, Toby an der Hay-on-Wye. Und dann ist auch ein Freund von uns, Tom Goodyear, musikalischer Direktor in St. Vigeans. Er sagt, das Niveau dort sei erstklassig …«
Unterdessen betrachtete ich die Mädchen mir gegenüber. Das mußten die Zwillinge sein, Alethea und Elvrida. Sie waren ein höchst ungewöhnlich aussehendes Paar, unterdurchschnittlich klein und unattraktiv. Das gute Aussehen hatten in der Morningquest-Familie allemal die Jungen abbekommen, dachte ich. Das war wirklich ungerecht. Immerhin hatten die beiden älteren Mädchen gut geschnittene Gesichtszüge und Haare von einer Farbe, die umwerfend genannt werden konnte, selbst wenn man sie nicht mochte. Auch ihre Augen waren von angenehmem Blaugrau, wohingegen die Zwillinge schwarzes, ungefällig aalglattes Haar hatten, das ihnen, unvorteilhaft auf Kinnlänge geschnitten, schlaff um die Ohren hing. Sie trugen zur Regulierung ihrer entsetzlich vorstehenden Zähne Zahnspangen, durch die die armen Dinger beim Reden unweigerlich spuckten, und ihre Augen hatten eine schmutzig grüne Farbe. Sie hatten laute, schrille, selbstsichere Stimmen – ein totaler Kontrast zu der ihrer Mutter. Keiner dieser Nachteile jedoch schien ihr Selbstwertgefühl im mindesten beeinträchtigt zu haben, und das, fand ich, sprach sehr für die Freundlichkeit und Toleranz der Morningquest-Familie.
Die Zwillinge erinnerten mich an irgendwas. Ich grübelte angestrengt nach, an was.
Als ich sagte, mein liebstes Fach sei Kunst, riefen sie einstimmig: »Kunst? Das ist doch kein Fach! Ich werde Biologie machen, und Elly Physik.«
»Na, das ist doch sicher noch ein Weilchen hin?« wandte ich ein.
Aber Lady Morningquest wandte sich zu mir. »Sie haben beide in Mathematik die Universitätsreife erreicht, sie arbeiten in ihrer Schule schon mit der sechsten Klasse zusammen. Aber Gideon ist dagegen, daß sie ihr Universitätsleben beginnen, ehe sie nicht wenigstens siebzehn sind, weil das so viele Sonderarrangements erfordern würde. Und in anderer Hinsicht sind sie natürlich längst nicht so voraus …«
In anderer Hinsicht, dachte ich, schienen sie eher deutlich zurück. Wie alt konnten sie sein? Zwölf? Dreizehn? Sie knufften einander wie Achtjährige, spreizten die Ellbogen, schrien, beschimpften sich gegenseitig und widersprachen noch öfter als die Jungen. Ihre Stimmen waren die eines ganzen Gänseschwarms.
»Bitte seid still, ihr zwei!« rief ihr Vater und blickte zu ihnen hinüber – voller Abneigung, wie mir schien.
»Meine Lieben, warum nehmt ihr nicht Pandora und zeigt ihr die Grotte? Und das Verlies und das Baumhaus«, schlug Lady Morningquest vor. »Dolly, du gehst mit und paßt auf, daß sie ihr nicht zuviel zumuten.«
»Na schön, los, komm!«
Mit knochigen Händen zogen mich die Zwillinge von meinem Stuhl. Dolly, mit einem anscheinend gewohnheitsmäßigen Ausdruck ergebener Bereitwilligkeit, sich auf jedermanns Wünsche einzustellen, stand ebenfalls auf. Ich wäre viel lieber in der Küche geblieben und hätte der Unterhaltung der Erwachsenen zugehört.
Sir Gideon war um den Tisch herumgekommen und hatte sich auf Dollys freigewordenen Stuhl gesetzt, und meine Mutter sagte zu ihm: »Aber wie können Sie bloß Elgars Pomphaftigkeit ertragen? Er ist schlimmer als pompös, er ist scheinheilig!« Und er lachte sie aus. »Unser Geschäft, meine liebe Hélène, ist nicht, Musik zu mögen oder nicht zu mögen, unser Geschäft ist, sie zu kennen.«
Heh – Mama! dachte ich baß erstaunt. Woher hatte sie das? Erstens diese Selbstsicherheit, und zweitens das Wissen? In meinem ganzen Leben hatte ich sie nie so gehört, niemals.
Aber die Zwillinge zerrten mich fort. Ihr metallglitzerndes Grinsen war wie das der Cheshire Katze.
»Die Grotte ist von Lutyens entworfen worden«, erklärten sie, »und das Verlies wurde von einem Flaxmann-Schüler gebaut.«
»Liest du gern?« fragte ich Dolly schnell, die neben mir herschlenderte, während die Zwillinge gerade geschäftig vorausrannten.
»Lesen? Auf welchem Gebiet? Ich werde in St. Vigeans Vorlesungen über Sozialpsychologie belegen. Natürlich würden die Zwillinge sagen, das sei kein Fach.«
»Nein, ich meine einfach bloß Bücher … Romane.«
Ich hatte kürzlich die Penguin Books entdeckt und verschlang gierig alles, was ich in die Hände kriegte, von Südwind bis Der Fänger im Roggen. Mein Lieblingsbuch war im Augenblick Das Pferdemaul. Ich hatte es schon mindestens siebenmal gelesen. Einer Buchhandlung konnte sich Floxby Crucis nicht rühmen – und der Zeitungshändler hatte immer bloß ein paar gängige Thriller vorrätig, so blieb mir nichts anderes übrig, als mit dem Fahrrad fast zwanzig Kilometer bis nach Crowbridge zu fahren, wo es ein Buchantiquariat gab, aber die Fahrt lohnte sich.
»Romane?« meinte Dolly zweifelnd. »Na ja, ich habe Vom Winde verweht gelesen – aber das war so schrecklich lang …«
»Aber als du jünger warst?«
Sie blickte ratlos drein, aber dann fielen ihr die Bücher von Arthur Ransome ein, die sie, wie sie sagte, lieber gemocht hatte als Märchen und solche Sachen. »Tante Lulie hat uns immer Märchen vorgelesen, wenn wir krank waren, aber ich hab mir nie viel daraus gemacht.«
Gerade an diesem Punkt begegneten wir Tante Lulie, die ein Bündel bügeltrockner Wäsche trug. Als sie meine nackten Füße sah, rief sie in äußerster Mißbilligung: »Wos kriechst da arum asoj borweß!« So etwa hörte es sich jedenfalls an: »Borweß! Borweß!«
»Wie bitte?« fragte ich verblüfft, denn offensichtlich redete sie mit mir.
Sie deutete auf meine nackten Füße. »Borweß! Wo sind deine Schuhe, Kind?«
»Zu Hause. Ich trage nie Schuhe.«
»Ach!« Sie hob die Hände gen Himmel. »Pneumonie! Polio! Tetanus!«
»Wirklich, ich gehe immer barfuß«, versuchte ich sie zu beschwichtigen.
Und Dolly meinte in ihrem sämig nachsichtigen Tonfall: »Nun komm schon, Tante Lulie! Sie ist überzeugt, daß sie inzwischen genügend Antikörper in sich hat. Und du mußt zugeben, sie sieht ganz gesund aus. Sie ist übrigens Pandora Crumbe.«
Unvermittelt strahlte mich Tante Lulie mit freundlich erkennendem Lächeln an, warf sich das Wäschebündel über die Schulter und streckte mir eine runzlige kleine Hand entgegen, welche die meine mit überraschend eisernem Griff umschloß. »Ich freue mich ja so, dich endlich kennenzulernen, Pandora. Deine Mutter ist uns ja schon längst eine liebe Freundin.«
Sie hatte wie Onkel Grischa einen fremden Akzent – österreichisch vielleicht? War sie seine Frau? Später fand ich heraus, daß sie in keiner Weise zusammengehörten. Tante Lulie war die Tante von Sir Gideons erster Frau, die seit langem tot war. Grischa wurde bloß aus Freundschaft ›Onkel‹ genannt. Er war vor neunzehn Jahren einmal als Besuch nach Boxall Hill gekommen und war seitdem geblieben.
Tante Lulie trug eine zerknitterte weiße Baskenmütze stramm über den Kopf gezogen und an den Füßen wundervoll elegante Wildlederstiefel. Der Rest ihrer Kleidung war ein so wirres Konglomerat, daß es, selbst während man sie betrachtete, schwer war, es zu beschreiben. Und doch war mir ihre Erscheinung, ebenso wie die der Zwillinge, auf rätselhafte Weise vertraut. Hatte ich ihr Gesicht schon in den Straßen von Floxby gesehen? Oder in der Kirche? Dieses Gesicht – breit, runzlig, duldsam, ergeben – war wie der Mond, unübersichtlich und voller Geheimnisse. Nur wenige Wochen später, als ich in einem Buch zufällig die Reproduktion eines der Selbstbildnisse Rembrandts entdeckte, begriff ich, warum sie mit der ihr eigenen Selbstironie das weiße Barett so in die Stirn gezogen trug.
»Ist deine liebe Mutter auch hier? Dann gehe ich mal und bitte sie um das Rezept für ihre wundervolle Quittenmarmelade. Schleppt Pandora nicht zu weit in die Wildnis, Kinder«, ermahnte sie die Zwillinge. »Es gibt bald Tee.«
»Tee? Wir sind doch gerade erst mit dem Mittagessen fertig«, rief Dolly ihr nach, und sie antwortete mit einer unbeschreiblichen Gebärde der Hand, durch die sie ihre Ansicht zu derartigen Gewohnheiten kundtat.
Ich war gebannt, angezogen, fast beunruhigt durch die Einblicke, die mir in diesen großen, komplexen Haushalt gewährt wurden. Meine eigene kleine, dürftige Familie – Vater so wortkarg, Mutter so ergeben und in sich gekehrt, ich selbst das Produkt ihrer beider Schweigen – welch einen totalen Kontrast stellten wir dar zu dieser verzweigten, allzeit gesprächigen Sippschaft! Meines Vaters ständige Rede: »Sei still, Pandora, davon verstehst du nichts« hatte eine nachhaltig lähmende Wirkung auf mich, und es sollte Jahre dauern, sie zu überwinden.
Die Mädchen führten mich einen Weg entlang, der durch einen ummauerten, noch immer von spätem warmem Duft erfüllten Rosengarten lief, vorbei an einem Labyrinth aus Eibenhecken, wo ich gern stehengeblieben wäre, aber …»Das Labyrinth ist schrecklich langweilig«, erklärte Ally, oder Elly. Weiter ging es durch ein Rhododendrongebüsch in ein kleines grasbewachsenes Tal, auf dessen Grund sich ein Bach dahinschlängelte, der zweifellos den weidenumstandenen Teich speiste, an dem wir auf dem Herweg vorübergekommen waren.
»Hier schwimmen wir immer«, sagte Dolly und deutete mit einer schweifenden Handbewegung auf eine Ausbuchtung des Baches mit einem kleinen Staudamm davor. »Vor drei Jahren haben wir den Bach eingedämmt und das Becken gegraben. Das war unser Sommerprojekt. Das Wasser ist ziemlich kalt, aber besser als der Weidenteich, da sind nämlich Blutegel drin. Colonel Venom war natürlich die ganze Zeit wütend, als wir das hier machten. Er führte sich Mar gegenüber auf wie ein Verrückter, sagte, wir verdürben ihm die Aussicht und trieben ihn überhaupt zur Raserei.«
»Colonel Venom …?«
»Kennst du den nicht? Er wohnt da oben in dem Haus namens Aviemore.« Ich blickte zum Kamm des Hügels hinauf, wo sie hindeutete, und sah ein gepflegtes, kleines, rotes Haus ganz in der Nähe, eingerahmt von Schuppentannen, verziert mit nachgeahmtem Tudorgiebel und falschen Bleifenstern. »Es steht direkt an der Grenze von Gideons Besitz. Er verflucht so ziemlich alles, was wir tun, der gute Colonel, Lieutenant-Colonel Sir Worseley Venner. Wir nennen ihn ›Venom‹, so giftig, wie der ist. Vor zehn Jahren starb die alte Miss Findlater, und das Haus stand zum Verkauf, gerade als Gid seine Tournee durch Lateinamerika machte – die fast ein Jahr dauerte –, und er war so außer sich vor Wut auf Mar, daß sie es sich nicht geschnappt hatte. Aber damals hatte Dan gerade Kinderlähmung, und sie hatte andere Dinge im Kopf. So kriegte der Colonel es und ist uns seither ein Dorn im Auge. Er haßt alle unsere Projekte.«
»Projekte?«
»Wir haben immer jeden Sommer eins. Mar möchte, daß wir Sachen gemeinsam machen. Sie hat sehr strikte Ansichten über die Wichtigkeit des Familienzusammenhalts. Und Gid plant sie immer, Gid ist nämlich ein großer Planer.« Hörte ich da einen Unterton nachsichtiger Ironie in Dollys Stimme? Sie zählte an den Fingern ab: »Da war das römische Fort – das haben wir ausgegraben. Dann der Unterstand aus dem Ersten Weltkrieg – wir haben ihn freigebuddelt. Dann das Jahr, wo wir die Falknerei betrieben und Toby fast das Ohr abgebissen kriegte. Dann Kanufahren den Aff hinunter bis zur Küste und eine Landkarte erstellen. Dann das Ausheben des Schwimmteiches. Dann die Nachbildung der ›Argo‹ – aber das war eine ziemliche Katastrophe. Keiner war so recht glücklich damit, und sie kenterte und sank auch schon gleich beim Stapellauf. Dann wollten wir Matildas Turm reparieren, aber Gid meinte, das sei zu gefährlich. Onkel Grischa hatte einen Sachverständigen kommen lassen, ihn zu begutachten.«
»Matildas Turm?«
»Da oben hinter den Buchen. Ein Ziegelturm. Den zeigen wir dir ein andermal.«
Ich war leicht gereizt – aber auch geschmeichelt – durch die Selbstverständlichkeit, mit der es für sie feststand, daß es ein andermal geben würde.
»Dann haben wir mal einen Brennofen für Silly gebaut. Sie will Töpferin werden, sie macht wundervolle Sachen. Letzten Sommer konnten wir uns nicht einigen; da wollten die Jungen eine Orgel bauen. Aber wir fanden, das sei nicht genug, um uns allesamt zu beschäftigen. Wir hielten mehr von der Felsenkletterei. Aber Gid möchte lieber, daß wir im Sommer etwas machen, das uns hier hält. Er sagt immer, was hätte es schließlich für einen Sinn gehabt, Anderland zu erwerben, wenn wir nicht herkämen. Und es war ja auch ein entsetzlich feuchter Sommer letztes Jahr. Da haben wir eben ein Buch geschrieben.«
»Ein Buch geschrieben?«
»Wir haben alle zusammengearbeitet«, mischte sich eine der Zwillingsschwestern ein, die während Dollys Vortrag sichtlich vor Ungeduld gezappelt hatte, »wir fabulierten ein fiktives Tagebuch aus dem achtzehnten Jahrhundert zusammen. Barney hatte haufenweise gute Ideen. Er hatte Defoe und James Hogg gelesen Die Bekenntnisse eines bekehrten Sünders. Und auch Dan war eine große Hilfe, weil der in einem Möbellager auf eine echt alte Zeitung stieß, wodurch die Sache so was wie Authentizität kriegte. Und wir alle dachten uns Sachen aus, die auch noch mit hineinkamen. Wir behaupteten, das Ganze sei in einem alten Eishaus ans Licht gekommen, und kriegten einen Verleger soweit, es sich anzusehen. Auch das hat Dan bewerkstelligt.«
»Es wurde tatsächlich veröffentlicht? Wie hieß es denn?«
»Das Tagebuch der Mad Murgatroyd.«
»Daran erinnere ich mich! Das wurde rezensiert!«
»Mar sagt, wir dürfen den ganzen Haufen Geld nicht anrühren, bis wir einundzwanzig sind«, sagte Dolly anklagend. »Aber es war wirklich ganz erfolgreich.«
Und ich fühlte mich wie am Boden zerstört vor all diesem Talent und all diesem Elan. Dabei wirkten sie auf den ersten Blick eher anspruchslos: die sommersprossige Dolly in ihrem einfachen, baumwollenen blauen Schürzenkleid (das mir mächtig nach einer Schuluniform aussah); die Zwillinge, die braunweiß karierte Shorts trugen, graue Pullover und schmuddelige schwarze Stirnbänder aus Samt, die ihre strähnigen Haare zurückhielten. Als sie mich angrinsten, sahen sie aus wie mittelalterliche Wasserspeier.
»Hier, das wollten wir dir zeigen«, erklärte mir Ally (oder Elly). »Das ist unser diesjähriges Projekt. Und wahrscheinlich wird es unser letztes sein. Die Jungen sind nicht mehr so versessen darauf. Die haben jetzt ›erwachsene Interessen‹. Und diese ganze Sache fängt ja auch tatsächlich an, ein bißchen kindisch zu wirken.«
Immerhin schwang doch ein wenig Bedauern in ihrer Stimme.
Wir gingen auf ein dichtes Wäldchen aus hohen Stechpalmen und Steineichen zu, das sich am nördlichen Abhang des kleinen Tals zusammendrängte, durch das wir gingen. Es waren etwa zwanzig Bäume, groß und alt, und ihr Geäst baumelte in bizarrer, schwermütiger Fülle um sie herum. Dieser Hain wäre schon für sich allein genommen bemerkenswert gewesen mit seinen dunklen, barocken Umrissen, eine Art naturgewachsener Skulptur an dem grasbewachsenen Abhang. Aber mitten hinein in die Baumkronen führte auch noch eine Treppe.
»Toby hat sich entsetzlich angestellt, daß er auch bloß die richtige Sorte Holz dafür kriegte«, erklärte ein Zwilling. »Es mußte unbedingt rote kanadische Zeder sein, und es hat uns ein Vermögen gekostet. Aber wir haben’s geschafft, Gideon zu überreden, daß wir etwas von dem Mad Murgatroyd-Geld dafür verwenden durften. Toby hat den ganzen Sommer über an die zwanzig Stunden täglich daran gearbeitet.«
»Und die ganze Zeit sorgt er sich, daß der alte Venom womöglich irgendwas Schlimmes daran anrichtet, während wir in London sind«, ergänzte der andere Zwilling.
»Den alten Venom hat nämlich darüber fast der Schlag getroffen«, erklärte Dolly mir. »Gleich den ersten Morgen, als wir mit der Arbeit anfingen, war er prompt zur Stelle und erklärte, er werde seinen Anwalt einschalten und gerichtlich Einspruch erheben und eine Unterlassungsverfügung erwirken, weil wir seine Aussicht verdürben und seine Gesundheit unterminierten. Seine diesbezüglichen Briefe an Gideon würden einen ganzen Koffer füllen.«
»Und was tat Sir Gideon?«
»Na ja, wir hatten damals gerade Sir Gervas Mostyn (den Generalstaatsanwalt, weißt du?) übers Wochenende zu Besuch. Er und Gid spielen gern zusammen Oboe. Da ging denn der alte Gervas rüber und besuchte Venom und erklärte ihm, daß er bloß seine Zeit verschwende. Es sei schließlich unser Wäldchen und unser Land. Wir hatten die Berechtigung zur Landschaftsgestaltung, wir verletzten die Bäume nicht, und wir verstellten auch seine Aussicht nicht. Außerdem sagte sogar Sir Lucian Hawke – der Präsident der RIBA, weißt du? das ist auch ein musikalischer Spezi von Gid –, also der sagte, die Treppe sei ein einzigartiges Stück Arbeit, eine Freilandskulptur, und sie könnte gut und gern eine Auszeichnung für Landschaftsgestaltung gewinnen.«
»Und hat sie das?«
»Wir haben uns nie darum beworben.«
»Was hält sie eigentlich aufrecht?«
Die Treppe, aus goldfarbenem Holz gebaut, wand sich in einer eleganten Kurve aufwärts und verschwand inmitten der dunkelgrünen Kronen mit all ihrer Laubfülle.
»Hat irgendwie was zu tun mit freitragender Konstruktion oder so«, sagte Dolly vage. »Von hier sieht man’s nicht richtig.« Die Zwillinge grinsten sie an mit der typischen Bosheit kleiner Schwestern. Ich vermutete, die beiden wußten eine Menge mehr über freitragende Konstruktionen als Dolly. »Das Holz wird natürlich mit der Zeit verwittern und grau werden. Ich denke, das wird den alten Venom besänftigen, wenn er nicht vorher vor Wut stirbt. In der Zwischenzeit rächt er sich, indem er am Ende unserer nördlichen Zufahrt, dort, wo sie an seinem Haus vorbeiführt, ein Tor gebaut hat und es abschließt.«
»Darf er denn das?«
»Sein Haus steht auf dem Grundstück eines ehemaligen Pförtnerhauses, verstehst du. Jedenfalls war es das zu LeMerciers Zeiten. Aber er verkaufte das Stück Land, als er in der Klemme saß. Das Pförtnerhaus wurde abgerissen und statt dessen dieses grauenhafte Kleinod von einer Residenz gebaut.«
»Aber darf er ein verschlossenes Tor über eure Zufahrt bauen?«
»Gids Anwalt meint, das darf er, weil das Stück Land jetzt ihm gehört, obwohl wir dort ein Wegerecht haben. Aber das erstreckt sich möglicherweise nicht auf Autos. Es ist nur ein Fußgänger-Wegerecht. Wie auch immer, Gideon sagt, er will keinen Stunk. Er haßt Unannehmlichkeiten. So nehmen wir eben, wenn wir fahren, den anderen Weg, der ist auch nicht viel länger. Aber wir klettern über Venoms Tor, sooft wir können!«
»Ist ein ganz übles Gatter«, warf eine von den Zwillingsschwestern ein, »so eins mit diagonalen Latten. Er hat extra eins ausgesucht, das möglichst schwer zu überklettern ist. Immer rutscht man darauf ab. Die Jungen, die springen einfach drüber weg.«
Ich überlegte, daß wohl jede Sippe, die so eng untereinander verknüpft und so bemerkenswert war wie die Familie Morningquest, auch Feinde haben mußte, einfach wegen dieses intensiven Zusammenhalts. Allein ihre Einheit als solche mußte Ärger und Mißgunst auf den Plan rufen. Aber es war doch ziemlich traurig.
Zwei junge Burschen kletterten auf der Treppe herum und inspizierten sie. Als wir näherkamen, sah ich, daß der eine ein blonder Morningquestbruder war, aber ich wußte nicht, welcher. Der andere war der kleine, dunkle Mann, der an Lady Morningquests linker Seite gesessen hatte und als jemand aus Louisiana vorgestellt worden war.
»Toby kann einfach nicht länger als ein paar Stunden von seiner Treppe wegbleiben«, erklärte Dolly nachsichtig. »Sie ist sein Baby. Er will jetzt mit dem nächsten Teil anfangen.«
»Kann Pandora mal raufkommen und sich’s ansehen?« rief sie ihrem Bruder zu, der oben auf der Treppenkurve stand, dort, wo sie in den Bäumen verschwand.
»Bist du schwindelfrei?« rief er zu mir herunter.
»O ja.« Bäumeklettern war nämlich geradezu meine Leidenschaft, und bis zum Alter von neun oder zehn hatte ich förmlich in ihnen gelebt. Sogar noch jetzt, mit sechzehn, war es eine meiner geheimen Freuden.
»Na schön. Halt dich aber doch lieber am Geländer fest. Jemand mit gebrochenem Bein, das wäre genau die Munition, auf die der alte Venom wartet.«
»Soll ich dir helfen?« fragte der dunkle Mann. Sein Akzent war träge und schleppend, mit flachen Vokalen. Er klang so gönnerhaft. Ich mochte die Art nicht, wie er mich mit seinen grünlichen Augen musterte, leicht amüsiert, durch und durch cool. Ich faßte von Anfang an eine Abneigung gegen ihn. Was machte er hier überhaupt? Wessen Freund war er? Zu alt für die Jungen, zu jung für die Erwachsenen. Ich vermutete, er war ungefähr dreißig.
»Nein, danke.«
Die Treppe hatte einen kräftigen, eleganten Handlauf aus gebogenem Holz. »Wir haben ihn in einem Dampfbad zurechtgekrümmt«, erklärte Toby. »Es dauerte eine Ewigkeit, bis wir ihn in der richtigen Form hatten. Ich hatte Angst, er würde sich wieder verziehen, aber er scheint soweit ganz okay. Komm und sieh dir an, was wir als nächstes machen wollen.«
Er ging voran auf den Stufen, die nun in dichtes, niederbaumelndes Blattwerk hinaufführten, und wir kamen an das Skelett einer Plattform, die in die Gabel des Baumes hineingebaut war, der in der Mitte des Haines stand. Diese Plattform bestand derzeit erst aus kreuzweise verlegten Holzträgern mit einer Reling um die Außenkanten. Sie hatte eine unregelmäßige Form, bedingt durch die fünf Äste, die von der Gabelung ausgingen. Toby und die Zwillinge, die mir gefolgt waren, verfielen sofort in ein leidenschaftliches Streitgespräch über die Form des Bauwerkes – eine Art Baumpalast, schien mir –, das sie auf diesem Fundament errichten wollten. Dolly, die unten geblieben war, hörte ihnen mit mütterlich stillem Lächeln zu, wohingegen dieser grünäugige Mann, der sich Dave nannte, alle naselang eine zynische Bemerkung dazwischenwarf. Ich mochte ihn immer weniger.
Der Tag war grau und unfreundlich geworden. Von unserm luftigen Quartier aus, gute sechs Meter hoch zwischen dickem Blattwerk, konnten wir den Himmel nicht sehen, aber jetzt begannen kalte Regentropfen zwischen die kleinen, immergrünen Blätter zu klatschen.
»Verdammt«, sagte Toby, »ich hatte gehofft, es wär noch Zeit, heute ein bißchen weiterzukommen mit der Arbeit. Jetzt muß es bis Weihnachten warten.«
»Armer, hart arbeitender, kleiner Student!« sagte Dave. Jetzt lag offener Hohn in seiner Stimme.
»Aber Toby, Liebling, es sind doch bloß noch etwa drei Wochen bis zum Semesterende«, gab Dolly zu bedenken.
Eine Glocke ertönte aus der Richtung des Hauses.
»O Gott«, sagte Toby, »nichts als Mahlzeiten an den Wochenenden!«
Dave, der Amerikaner, rannte flott die Treppe hinunter, verschmähte dabei die Benutzung des Handlaufes und war auf und davon in Richtung Haus. Toby und die Zwillinge trödelten hinterher und blickten immer wieder sehnsüchtig zu dem Wäldchen hinauf.
»Wochenendmahlzeiten sind doch praktisch Gids einzige Gelegenheit, mit uns zu reden«, meinte Dolly pietätvoll.
»Wessen Schuld ist das denn? Er muß ja nicht überall auf der Weltkarte herumflitzen. Er braucht doch nicht jede Einladung anzunehmen.«
»Er könnte sich ebensogut zur Ruhe setzen und von seinen Ersparnissen leben«, sagte ein Zwilling.
»Aber dann hätten wir ihn die ganze Zeit am Hals.«
»Und er würde wahrscheinlich senil werden und sterben.«
»Es ist seine Arbeit, die ihn lebendig hält.«
Ally und Elly lachten einhellig wie die Hyänen. Sie sahen auch ein bißchen aus wie Hyänen, fand ich.
Ein kleiner Mann kam über das Gras auf uns zu und sagte: »Ich bin ausgeschickt worden, euch Beine zu machen.«
»Onkel Grischa, warum denn du? Warum nicht einer von den faulen Jungen?«
»Ich habe mich selbst dazu ausersehen. Ich brauchte frische Luft.« Er sprach Englisch mit der exquisiten Korrektheit, wie nur wenige Einheimische sie je erreichen. Er trug Hausschuhe und über seinen Arbeitshosen eine schwarze, aufgeknöpfte Samtweste.
»Onkel Grischa, findest du nicht, unser Baumhaus sollte so ein Pavillon werden wie das von Prinny in Brighton?« Die Zwillinge hakten sich zu beiden Seiten bei ihm unter.
Er befreite sich energisch von ihnen und gesellte sich zu mir. »Da haben dir also diese beiden Revoluzzerinnen das Anwesen gezeigt? Ich hoffe doch, du wirst sehr oft wiederkommen?« Er sagte es mit warmherziger Höflichkeit, und ich antwortete, das hoffe ich auch.
»Wir sind alle über die Weihnachtsferien hier«, verkündete Dolly wohlmeinend. »Und die Zwillinge machen sogar schon eine Woche vor uns anderen Schluß.«
Die Zwillinge maßen mich mit scharfem, abschätzendem Blick.
»Es ist traurig für mich und Lulie, daß die Familie immer nur an den Wochenenden hier ist«, sagte Onkel Grischa.
»Har, har«, mockierten sich die Zwillinge, und eine von ihnen fügte hinzu: »Du weißt ja selbst, ihr könnt es immer kaum erwarten, daß wir am Sonntagabend wegfahren, damit ihr Haus und Hof wieder für euch allein habt und euch mit dem alten Venom verbrüdern könnt.«
Grischa ignorierte die beiden und stellte mir Fragen nach meiner Schule und meinen Plänen für die Universität. Ich erzählte ihm, daß die noch ungewiß seien, weil ich Kunst studieren wollte, mein Vater jedoch leider eine weiterführende Ausbildung für Mädchen mißbillige.
»Ach? Du bist eine Künstlerin?« fragte Grischa, und es klang nach echtem Interesse.
»Onkel Grischa ist nämlich Maler«, erklärte Dolly in ihrer königlichen Art.
Und die Zwillinge bekräftigten lautstark und einstimmig: »Er ist ein großer Maler! Du solltest mal Pandora deine Sachen zeigen, Onkel Grischa.«
»Nun ja. Vielleicht möchte sie sie aber gar nicht sehen.«
Ich beteuerte, ich wolle das nur zu gern, wenn er die Zeit erübrigen könnte.
»Wir werden sehen.«
»Und außerdem überarbeitet er die englische Literatur«, warf ein Zwilling ein, diesmal mit einem satirischen Unterton.
Ich hätte darüber gern noch genaueres erfragt, aber wir waren wieder in der großen Küche angelangt.
Die meisten der Leute, die um den Tisch gesessen hatten, waren immer noch da. Jetzt, nachdem ich mit einigen aus der Familie geredet hatte und an ihnen weder Übermenschliches noch eine persönliche Geringschätzung gegen mich hatte feststellen können, blickte ich mit etwas größerer Sicherheit in die Runde.
Der Raum schien mir immer noch wenig anheimelnd und eher wie eine Scheune. Aber schließlich war es ja auch nur die Küche. Vielleicht war der Rest des Hauses mit mehr Sinn für Komfort und Ambiente ausgestattet. Später sollte ich feststellen, daß dem nicht so war. In keinem Raum in Boxall Hill gab es mehr als das pure Minimum an Tischen, Stühlen und Betten, und alles von strikt zweckdienlicher Machart. Sir Gideons Idee dabei war, daß seine Familie an den Wochenenden und während der Ferien zu den strengen, komfortlosen Lebensumständen ihrer bäuerlichen Vorfahren zurückfinden sollte. Ich glaube nicht, daß das bei ihm auf einen Hang zur Knauserei zurückzuführen war oder auf einen gewissen Puritanismus, auch nicht darauf, daß er für die Zukunft Notzeiten befürchtete und fand, sie sollten darauf vorbereitet sein – er wollte ganz einfach nur, daß sie anpassungsfähig wären. Ich war einigermaßen verblüfft, als ich später das Haus am Cadogan Square besuchte und es anheimelnd, ja sogar verschwenderisch ausgestattet fand mit leuchtenden Farben, weichen Stoffen, Ornamenten und Gegenständen, die mehr nach ihrem Aussehen als nach ihrem eigentlichen Gebrauchswert ausgewählt worden waren. Seine Familie schien sich auf diese Dichotomie ohne Murren einzustellen, obgleich die Jungen sich manchmal darüber mokierten. »Aber wenigstens«, meinte etwa Dan, »müssen wir hier in Anderland keine Angst haben, die Möbel zu zerkratzen.«
Sie nannten Boxall Hill Anderland. Ich bekam nie heraus, wer diesen Namen erfunden hatte.
Tante Lulie schenkte Tee ein aus einem seltsamen, mächtigen Apparat (einem Samowar, wie ich später erfuhr). Man konnte ihn mit Zitronenscheiben haben oder mit Milch aus einem großen, blauweiß gestreiften Krug. »Deine Mutter und Mariana nehmen ihren Tee im Westzimmer. Bist du wohl so lieb und bringst ihn ihnen?« fragte sie und reichte mir ein zerbeultes Metalltablett mit zwei großen Bechern und zwei Lebkuchen. (Lebkuchen waren das einzige Gebäck, das in der Morningquest-Familie gegessen wurde.)
»Wo finde ich denn das Westzimmer?« Ich nahm das Tablett, erfreut über diese Erhebung in den Familienstatus.
»Zu der Tür raus, und dann die erste rechts.«
Ein steingepflasterter Korridor führte von der Küche weg. Der Raum rechterhand mochte wohl einmal eine Art Anrichte des Küchenmeisters oder Butlers gewesen sein. Er hatte einen Boden aus Ziegelsteinen, nackte hölzerne Regale, große Haken an der Decke und enthielt sonst nur ein paar sepiafarbene Photographien von dahingegangenen Wäschemädchen, Lakaien und Wildhütern in steifen, todernsten Gruppen. Jetzt hatte man einen kleinen, klappbaren Kartentisch und zwei Korbsessel aus Weidengeflecht hineingestellt. Dort saßen meine Mutter und Mariana Morningquest, vertieft in eine innige Unterhaltung. Beide blickten bei meinem Eintreten liebevoll auf, aber ich spürte sehr wohl, daß ich mich tunlichst nicht länger als nötig bei ihnen aufhalten durfte.
»Tante Lulie sagt, ihr sollt bald zum Singen rüberkommen.«
»Machen wir, machen wir! Aber ich hab doch so selten Gelegenheit zu einem richtig schönen Tratsch mit deiner Mutter.« Mariana bedachte mich mit einem Lächeln, das eigens für mich und für niemanden sonst gemacht schien. Ihr Lächeln war einfach hinreißend. Es löste das etwas einschüchternd Nußknackerhafte ihres Gesichtes vollständig auf. Urplötzlich wurde es strahlend, von innen her leuchtend.
Ich strahlte zurück und dachte, wie schade, daß ihre Töchter nicht diese Schönheit geerbt haben. Vielleicht steckte eine Spur davon in Selene? Die hatte mich bisher beharrlich ignoriert. Sie schien nur mit Toby zu sprechen.
In der Küche war die übrige Gesellschaft dabei, Lebkuchen zu verspeisen – ich sah Barnabas in schneller Folge fünf Stück zermalmen – und sich zugleich über Abrüstung, Kuba, Aufklärungsflüge des U 2 und Inspektionszonen zu unterhalten. Da mein Vater strikt gegen jegliche Diskussionen dieser Art war, besonders während der Mahlzeiten (seine Meinungen über politische Angelegenheiten waren felsenfest und unverrückbar), saß ich wie zu Hause stumm dabei, aber ich zog unauffällig den kleinen Zeichenblock, den ich jederzeit bei mir trug, aus meiner Jeanstasche und fing an, Gesichter skizzenhaft darauf festzuhalten.
»Aber wir langweilen unseren neuesten Gast«, sagte Sir Gideon plötzlich und warf mir vom anderen Ende des Tisches her einen lächelnden Blick zu. Ich errötete und kam mir vor, als habe man mich bei einem Verstoß gegen die guten Sitten ertappt. Sir Gideons Lächeln war ganz anders als das seiner Frau. Es war liebenswürdig huldvoller Natur (ähnlich wie das von Sir Malcolm Muggeridge), aber ich fand doch, es war ein ›öffentliches‹ Lächeln, passend für alle Gelegenheiten. Nichts darin war nur für mich persönlich bestimmt.
»Nein, nein, ich bin nicht gelangweilt, ganz und gar nicht!« protestierte ich heftig. »Es ist nur … ich weiß einfach nicht viel über Inspektionszonen. Und ich zeichne eben sehr gern Gesichter … Und ich kriege nicht oft so viele neue auf einmal zu sehen.«
»Inspektionszonen können ja auch warten, bis sie dran sind«, meinte Sir Gideon. »Was wir jetzt möchten, ist, dich die siamesische Nationalhymne singen hören.«
»Wie bitte? Ich verstehe nicht.«
Ich sah, wie sich ein angeödet mitleidvoller Ausdruck über die Gesichter von Dolly und den Zwillingen senkte. Selene blickte leicht nervös drein, Tante Lulie ungeduldig, während die Jungen einfach ergeben warteten, daß die Angelegenheit überstanden wäre. Onkel Grischa nickte mir zu und zuckte die Schultern.
»Das ist so ein kleiner Stimmbandtest, dem sich all unsere Gäste unterziehen müssen«, fuhr Sir Gideon jovial fort und kritzelte etwas auf eine Seite seines Notizbuches, das ähnlich groß war wie mein Block, riß sie sodann heraus und spedierte sie in meine Richtung.
Eine der Zwillinge reichte mir das Stückchen Papier unter heftigem Augenzwinkern. (Komisch, manche Menschen sind nicht imstande, mit den Augen zu zwinkern, ohne das ganze Gesicht konvulsiv zu verzerren.) Wieder fiel mir, wie schon vorhin im Ilexwäldchen, auf, welch starke Ähnlichkeit die beiden mit jenen grinsenden Steinköpfen hatten, die von den Gesimsen mancher Kathedralen herabspähen. Wie konnte die schöne Mariana bloß so ein unansehnliches Pärchen zur Welt gebracht haben? Ob es sie bekümmerte?
Die Schrift auf dem Papier in meiner Hand war nicht zu entziffern. ›O wa ta na Siam …‹ Ich blickte verwirrt auf.
»Du mußt es singen«, belehrte mich Sir Gideon, »und zwar nach der Melodie von God save the Queen. Sing es uns vor, schön laut.«
»Jetzt?«
»Sing!« rief die ganze Familie im Chor, und da denn wohl alles nichts half, sang ich die Worte so kühn wie möglich. Und natürlich fingen sie alle an zu lachen.
»Oh, du bist vielleicht ein Einfaltspinsel!«
Ich fühlte mich wieder scharlachrot anlaufen und wünschte bloß, der Steinfußboden täte sich auf und verschlänge mich.
»Schojn genug«, sagte Tante Lulie ärgerlich. »Jetzt reicht’s aber! Wer möchte mehr Tee? Gideon, du mußt in einer Stunde weg. Warum fangen wir nicht jetzt gleich mit dem Singen an? Wir wären untröstlich, wenn es ausfiele. Selene – geh und hol deine Mutter und Mrs. Crumbe.«
»Du hast sehr gut gesungen – wirklich sehr gut!« rief Sir Gideon mir freundlich und aufmunternd über den Tisch zu. »Versteh das nicht falsch, wir haben nun mal diese kleinen Aufnahmeriten. Wir necken unsere Gäste halt immer gern ein wenig. Du bist durchaus nicht die erste. Aber deine Stimme ist besser als die der meisten.«
»Gid ist eine richtige Nervensäge«, zischte eine der Zwillingsschwestern mir zu. »Seine sämtlichen Scherze sind hundert Jahre alt!«
Aber mir war so, als hätten die Zwillinge genauso laut gelacht wie alle anderen.
Mariana und meine Mutter kamen in die Küche zurück und nahmen ihre Plätze am Tisch wieder ein. Sir Gideon überblickte die Tafelrunde und sagte ruhig: »Georg Christoph: Siehe wie fein … Mariana, Liebste, gib uns den Grundton.«
Mariana gab den Ton an, sehr rein und klar.
Ich blickte meine Mutter an. Sie wirkte zwar erwartungsvoll, aber doch irgendwie abwesend, als ob sie sich auf einen bestimmten Artikel für ihre Einkaufsliste zu besinnen versuche. Und sie war immer noch außergewöhnlich blaß.
Die Morningquests fingen an zu singen.
Was immer man von ihnen als Clan dachte oder jemals denken würde, über ihr Singen konnte es nur eine einhellige Meinung geben. Ihrer sonntäglichen Gesangsrunde zuzuhören – und im Laufe der Zeit hörte ich bei vielen zu – hat immer zu dem schönsten Erlebnissen meines Lebens gehört; nicht allein wegen der puren Tonqualität, die sie hervorbrachten, sondern auch wegen der immer wieder begeisternden Feststellung, daß eine so buntgescheckte Gruppe von Menschen imstande war, eine solche Einheit, eine solche Harmonie zuwege zu bringen. Ich war hingerissen von Freude und Staunen, und doch entging mir nicht, daß etwa Tante Lulie mit dünner Piepsstimme mitsang, daß Onkel Grischa überhaupt nicht sang, sondern intensiv lauschte, die schwarzen Augen voll tiefer Aufmerksamkeit, daß auch Dave aus Louisiana nicht sang, sondern gelangweilt dreinblickte. Dolly sang die Altstimme, die anderen Mädchen Sopran. Zwei der Jungen waren Tenöre und einer, Dan vielleicht, ein Countertenor. Sir Gideon dirigierte mit einem Brotmesser und sang dabei selbst laut mit. Luke Rose, sein Freund, hatte einen machtvollen Baß.
Als sie zu Ende gekommen waren, blickte Sir Gideon auf seine Uhr und sagte knapp: »Das muß für heute reichen. Ich muß in zwölf Minuten aufbrechen, kein bißchen später. Wer fährt mit in meinem Wagen?«
Und das war der Moment, in welchem meine Mutter ein kleines, merkwürdig aufseufzendes Stöhnen von sich gab und sich vornüberneigte, bis ihr Kopf auf dem Tisch lag. Ein dünner Faden Blut sickerte aus ihrem Mund.