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Cale Harington führt ein Leben im Luxus. Dafür bezahlt er jedoch einen hohen Preis. Er muss sich verstecken. Lediglich hin und wieder erlaubt er sich ein Abenteuer fern von den Erwartungen seiner Familie. Dass einer seiner One-Night-Stands ihn fortan in seinen Gedanken verfolgen würde, damit hatte er nicht gerechnet. Als er den jungen Mann auf ungewöhnliche Weise wiedersieht, eröffnet sich ihm eine neue Welt. Zum ersten Mal erfährt Cale, was es bedeutet, geliebt zu werden. Niko ist Stipendiat an einer der renommiertesten Kunstschulen der USA. Seine Kunst bedeutet ihm alles und nie hätte er geglaubt, etwas Wichtigeres zu finden. Bis er eines Tages aus einer Notsituation heraus versucht, die Brieftasche eines Mannes zu stehlen und auf frischer Tat ertappt wird. Anstatt einer Anzeige bekommt Niko allerdings etwas völlig anderes: ein Date, das sein Leben verändern wird.
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Veröffentlichungsjahr: 2022
Francisca Dwaine
Apart
Inhalt:
Cale Harington führt ein Leben im Luxus. Dafür bezahlt er jedoch einen hohen Preis. Er muss sich verstecken. Lediglich hin und wieder erlaubt er sich ein Abenteuer fern von den Erwartungen seiner Familie.
Dass einer seiner One-Night-Stands ihn fortan in seinen Gedanken verfolgen würde, damit hatte er nicht gerechnet. Als er den jungen Mann auf ungewöhnliche Weise wiedersieht, eröffnet sich ihm eine neue Welt. Zum ersten Mal erfährt Cale, was es bedeutet, geliebt zu werden.
Niko ist Stipendiat an einer der renommiertesten Kunstschulen Amerikas. Seine Kunst bedeutet ihm alles und nie hätte er geglaubt, etwas Wichtigeres zu finden. Bis er eines Tages aus einer Notsituation heraus versucht, die Brieftasche eines Mannes zu stehlen und auf frischer Tat ertappt wird. Anstatt einer Anzeige bekommt Niko allerdings etwas völlig anderes: Ein Date, das sein Leben verändern wird.
Copyright © 2016 Francisca Dwaine
Alle Rechte vorbehalten.
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Alle handelnden Personen wurden frei erfunden.
Cover © Francisca Dwaine
Unter Verwendung der Bilder von © dundanim www.fotosearch.com und
©goglik83 www.fotosearch.com
Kapitel 1: Der unvergessliche Künstler
Kapitel 2: Doppelter Diebstahl
Kapitel 3: Ein Nicht-Date im Mondschein
Kapitel 4: Touchdown!
Kapitel 5: Ein zweiter Versuch
Kapitel 6: Vertrauen
Kapitel 7: Felix
Kapitel 8: Beste Freunde und dünne Wände
Kapitel 9: Unerwartete Neuigkeiten
Kapitel 10: New York, New York
Kapitel 11: Mit Luft und Liebe
Kapitel 12: Künstlerwahn
Kapitel 13: Nackte Tatsachen
Kapitel 14: Ein Sack voll Probleme
Kapitel 15: Bromance
Kapitel 16: Unerwünschte Wahrheit
Kapitel 17: Blut ist doch nicht dicker als Wasser
Kapitel 18: Zuhause ist dort, wo das Herz ist
Kapitel 19: Wenn das einfache Leben, nicht so einfach ist
Kapitel 20: Ärger im Paradies?
Kapitel 21: Was Liebe bedeutet
Kapitel 22: Zukunftsaussicht
Kapitel 23: Narben
Kapitel 24: Wenn Liebe zerbrechlich ist
Kapitel 25: Traute Zweisamkeit
Kapitel 26: Mehr Tränen als man weinen kann
Kapitel 27: Wofür sind Freunde da?
Kapitel 28: Einsame Weihnachten
Kapitel 29: Schmerz
Kapitel 30: Operation 'Denkmal'
Kapitel 31: Ein Schritt in die richtige Richtung
Kapitel 32: Für Niko
Kapitel 33: Vater und Sohn
Kapitel 34: Apart
Kapitel 35: Geflüsterte Worte
Impressum
Kapitel 1: Der unvergessliche Künstler
»Kunst ist lebendig. Ein ewig wachsendes, sich entwickelndes Wesen, das …«
Cale hörte nichts von diesem Vortrag. Er hatte nur Augen für eine Person und das war sicher nicht dieser alte, hagere Kunstprofessor. Sein Blick ruhte auf dem jungen Künstler daneben. Blonde lange Haare, die zu einem losen Pferdeschwanz zusammengebunden waren, zwei Grübchen, die immer wieder erschienen, wenn er lächelte und unwiderstehlich volle Lippen.
Vor allem Letztere brachten Cale um den Verstand. Er wollte diese Lippen schmecken, sie auf seinem Körper spüren. Ein Körperteil sehnte sich besonders danach. Inmitten all dieser Menschen, Studenten, Professoren und Sponsoren schrie sein Schwanz nach Aufmerksamkeit und drückte gegen seine Jeans.
Zu allem Unglück stand auch noch sein Vater keine zwei Schritte von ihm entfernt. Unauffällig versuchte Cale, seine Jeans zurechtzurücken, sich Erleichterung zu verschaffen, doch die Reibung machte es nur schlimmer. Scheiße, das war noch nie passiert! Dieser verdammte Mistkerl musste bloß dort stehen und er wurde wahnsinnig vor Lust.
Bisher hatte Cale es immer geschafft, diesen Teil seines Lebens geheimzuhalten. Es gab eine strikte Trennung zwischen den vielen Abenden, die er in weit entfernten Clubs verbrachte, und seinem Leben in Philadelphia. Dabei hatte er nicht ahnen können, dass ihn eines dieser Abenteuer, die ihn in den letzten Jahren bei Verstand hielten, bis hierher verfolgen würde.
Oh, Cale erinnerte sich gut an diesen Mann. Er kannte seinen Namen nicht, aber die wurden nur selten im Black Panther ausgetauscht. Der Club war bekannt für anonymen Sex. Keine Fragen, keine Namen. Man sagte, was man wollte, klärte die Fronten, benutzte einander und ging seiner Wege.
So zumindest der übliche Ablauf. Cale hatte bisher noch nie einen seiner One-Night-Stands wiedergesehen. Nicht umsonst fuhr er jede Woche knapp 70 Meilen bis nach Edison, um nicht erkannt zu werden.
Dieses Mal war es jedoch sinnlos gewesen. Der Mann, der ihn seit einem Jahr in seinen Träumen verfolgte, stand tatsächlich vor ihm. Und wie Cale von ihm träumte … kein Wunder eigentlich, war es doch eine unvergessliche Nacht gewesen.
Er konnte nicht einmal sagen, was so anders war. Der Unbekannte hatte ihn berührt. Nicht nur seinen Körper, sondern auch sein Herz. Cale hatte noch den salzigen Geruch des Clubs in der Nase, als er an den Abend zurückdachte. Er erinnerte sich an alles, als wäre es gestern gewesen. Die Bilder tanzten vor seinem inneren Auge wie ein nie endender Film.
Erst presste er den Mann gegen die Wand, nahm ihn von hinten, bis er stöhnend aufschrie. Das war jedoch nicht alles. Etwas trieb ihn dazu, den Fremden umzudrehen, ihn mit einem nie gekannten Hunger zu küssen. Zwei Arme schlangen sich um ihn, Finger verschwanden in Cales Haaren. Es war beinahe zärtlich. Liebevoll. Ein unbekanntes Gefühl für Cale, aber nach nichts sehnte er sich mehr.
Seine anderen Bekanntschaften hatte er schnell wieder vergessen, doch dieses Mal war das unmöglich gewesen. Und jetzt verfolgte ihn dieser Mann nicht nur in seinen Träumen, sondern er stand leibhaftig vor ihm.
Verdammt … Cale musste endlich aufhören, an diesen Abend zu denken, doch der Künstler machte das schwierig. Als würde er spüren, wie sehr Cale seine Lippen anstarrte, leckte er über sie und grinste anschließend, während sein Blick über die Menge fuhr.
Cale war sich sicher, er bildete sich eine Absicht hinter dieser Tat bloß ein, denn im Gegensatz zu ihm schien sich das Objekt seiner Begierde nicht an ihn zu erinnern. Zumindest war sein Blick mehrmals auf ihn gefallen und der Künstler zeigte keine Reaktion. Wie sollte er auch? Es war größtenteils dunkel gewesen. Nichts als Umrisse waren im Dark Room des Black Panther zu erkennen.
Cale erkannte ihn bloß, weil er den Künstler später noch einmal am Ausgang gesehen hatte. Seine langen blonden Haare verrieten ihn. Cale erinnerte sich noch an ihren Geruch. Apfel und – das konnte er sich nicht erklären – eine schwache Spur von Zimt. Sie waren samtig weich zwischen seinen Fingern gewesen. Er hatte sie gegriffen, an ihnen gezogen und über den dadurch freigelegten Hals geleckt, während er Zentimeter für Zentimeter in ihn eingedrungen war.
Gott … warum musste er sich jetzt auch noch daran erinnern? Als wenn sein Problem nicht groß genug wäre. In den letzten Wochen waren seine Besuche im Black Panther selten geworden, weil die Zeit zu knapp gewesen war und ohnehin niemand an den geilsten Fick seines Lebens heranreichte. Der Fick, der nur wenige Meter von ihm entfernt stand und nicht wusste, wie hart Cale für ihn war, wie sehr er sich nach weiteren Berührungen sehnte.
Er musste hier weg. Starrte er den Künstler noch länger an und durchlebte diese Nacht erneut, würde Cale sein großes, sich gegen seine viel zu enge Jeans drückendes Problem nicht mehr lange geheimhalten können. Selbst der sich gerne redenhörende Professor wäre irgendwann fertig mit seiner Ansprache. Anschließend würden sie ihm und seinem Vater für die großzügigen Spenden danken und spätestens dann bekäme er mehr Aufmerksamkeit, als er sich je mit einem Ständer in der Öffentlichkeit wünschen würde.
Unauffällig, wie er hoffte, ging Cale langsam zurück, entschuldigte sich bei denjenigen, die er anrempelte und verzog sich zu den Toiletten. In einer der Kabinen schloss er sich ein und befreite endlich den verräterischen Körperteil von seiner Gefangenschaft. Die Erleichterung war gigantisch. Cale setzte sich auf die Klobrille und schloss die Augen.
Er ist tatsächlich hier. Nur wenige Meter von ihm entfernt. Wie oft hatte er an diese Nacht gedacht, sich nach einer Wiederholung gesehnt? Cale konnte nicht einmal sagen, warum gerade dieses Zusammentreffen einen so unnachgiebigen Halt über ihn hatte. Der Sex war fantastisch gewesen, klar. Dasselbe konnte er aber über unzählige Nächte sagen.
Es war dennoch mehr gewesen. Dieses Gefühl … die Zärtlichkeit. Normalerweise wollte Cale verschwinden, sobald die Sache erledigt war. Dieses Mal hatte er das nicht gewollt. Am liebsten hätte er ihn nicht gehen lassen. Er wollte sich in ihm verlieren, wollte viele weitere Wiederholungen, doch damit hatte er alleine dagestanden.
Der Traum seiner schlaflosen Nächte hatte sich bei ihm bedankt – bedankt! – seine Klamotten zurechtgerückt und war verschwunden, bevor Cale auch nur den Mund öffnen konnte.
Und später vor dem Club? Da hatte ihm der Mut gefehlt, tatsächlich auf ihn zuzugehen und nach seiner Nummer zu fragen.
Cales Hinterkopf traf die geflieste Wand der Kabine, als er sich zurücklehnte. Warum dachte er überhaupt darüber nach? Es war ohnehin sinnlos. Sein Leben war bereits verplant und es beinhaltete mit Sicherheit keinen heißen, jungen Künstler mit dem geilsten Arsch, den Cale jemals in Händen gehalten hatte. Schon gar nicht, wenn dieser Künstler auch noch auf die Kunstschule ging, die seine Familie seit Jahrzehnten finanziell unterstützte und offenbar der Goldjunge des Professors war.
»Mein verficktes Glück«, stöhnte Cale. Sein Schwanz hatte inzwischen endlich etwas von seiner Härte verloren. Er hoffte, so schnell wie möglich von hier verschwinden zu können, um sich in den rettenden vier Wänden seines Apartments um den Rest zu kümmern.
Er durfte mit seinen Gedanken bloß nicht zu dieser Nacht zurückschweifen. Oder seinem Vater begegnen. So wie Cale ihn kannte, würde er ihn nur wieder wie eine Weihnachtsgans vorführen wollen.
Cale packte seinen Schwanz zurück in die Jeans, zog den Reißverschluss hoch und schlich aus der Männertoilette. Von seiner Position aus konnte er sehen, wie ein Kopf suchend über der Menge herausragte. Warum musste Eugene Harington auch genauso groß sein wie sein Sohn, der in diesem Moment doch nichts lieber täte, als in der Menge unterzutauchen und zu verschwinden? Glücklicherweise beendete der Professor genau in diesem Moment seinen Vortrag. Abgelenkt durch das plötzliche Ende, sah sein Vater zurück zum Podium und Cale nutzte die Chance.
Geduckt schlich er hinter der Menschenmenge durch den Raum zum Ausgang. Bei der Tür hielt er noch einmal an und warf seinem Künstler einen Blick zu. Für einen Moment, der sein Herz schneller schlagen ließ und seinen Schwanz erneut zum Applaudieren brachte, meinte Cale tatsächlich, ihre Blicke hätten sich getroffen.
***
Nikos Lächeln war inzwischen so steif geworden, er würde sich wahrscheinlich den Kiefer ausrenken, sobald er es löste. Warum musste er auch zu jeder dummen Veranstaltung kommen, um neben Professor Liam zu stehen und die Sponsoren anzulächeln?
Weil sie dir ein Stipendium bezahlen, ohne das du niemals an dieser Schule wärst, sagte eine Stimme in seinem Kopf, die leider nur allzu Recht hatte. Dennoch ging ihm diese Arschkriecherei auf die Nerven. Sein Blick fiel auf Malcolm, der ihn angrinste. Das war ja klar. Sein Mitbewohner fand es immer amüsant, wenn Niko entgegen seiner Natur auf dankbaren, schmachtenden Studenten machen musste. Er wollte ihm schon den Mittelfinger zeigen, als ihm bewusst wurde, wo er war. Stattdessen löste sich sein Blick von Malcolm und fiel stattdessen auf eine Gestalt, die sich bückend hinter der Menge zum Ausgang bewegte.
Niko runzelte die Stirn. Was hatte der denn für ein Problem? Er sah aus, als wäre er in Deckung vor feindlichen Schüssen gegangen. An der Tür blieb er stehen und sah zurück zum Podium. Ihre Blicke trafen sich, doch kurz darauf gingen die anderen Studenten und Lehrer die Treppe zu den Zuschauern hinunter. Niko schaute weg und als sein Blick erneut die Tür traf, war der Mann verschwunden.
Merkwürdig … Warum bekam er plötzlich das Gefühl, ihn zu kennen?
Kapitel 2: Doppelter Diebstahl
Unmittelbar nach dieser überraschenden Begegnung stürzte sich Cale kopfüber in Arbeit, um nicht mehr an seinen Künstler denken zu müssen. Leider funktionierte das nicht besonders gut. Dabei hatte er eigentlich andere Dinge zu tun. Zum Beispiel sollte er sich endlich darüber klar werden, auf welche Universität er gehen wollte.
Zwei Jahre hatte er bereits vergeudet, obwohl es sich nicht so anfühlte. Diese Zeit war voll mit Geschäftsessen, Partys und Verhandlungen gewesen. Seinem Vater wäre es am liebsten, wenn er nach Yale ginge, aber Cale konnte sich nicht mit dem Gedanken anfreunden. Es fühlte sich nicht richtig an, eine Universität zu wählen, nur weil sein alter Herr das so wollte. Wie oft war er nun schon den Launen seines Vaters gefolgt? Wollte er tatsächlich auch noch seine Zukunft auf ihnen aufbauen?
Ihm fehlte etwas. Nicht nur der heiße Künstler, den er nicht vergessen konnte, sondern auch noch etwas anderes. Er brauchte ein Ziel, etwas, wofür es sich zu arbeiten lohnte. Stattdessen fühlte er nur eine große Leere. Cale wollte nicht eines Tages aufwachen und erkennen, dass er sein Leben vergeudet hatte.
Gewichtige Gedanken für einen Montagmorgen, dachte Cale, stand auf und ging zum Kühlschrank, wo er sich einen Smoothie holte, den er bereits am Vortag zubereitet hatte. Laut seines Fitnesstrainers Jadyn sollte er davon mindestens einen am Tag trinken.
Cale verzog das Gesicht, als die Mischung aus Beeren und Bananen seinen Gaumen berührte. Er mochte sein Obst lieber im Ganzen, am besten noch mit Eis oder Schlagsahne, aber Jadyn hätte trotz des veganen Lebensstils, den er pflegte, bei dem Vorschlag einen Herzinfarkt bekommen. Belügen konnte Cale ihn auch nicht. Dafür kannte Jadyn ihn zu gut.
Also zwang er sich noch den Rest des Zeugs zu schlucken und stellte das Glas in die Spüle. Anschließend schloss er seinen Morgenmantel, band den Gürtel um seine Hüften und ging zur Couch, wo er einen Blick auf sein Tablet warf. Beim Anblick der Termine, die den Großteil des Tages füllten, rollte Cale mit den Augen. Und da sollte noch mal jemand sagen, von Beruf Sohn zu sein, wäre leicht. Die gleiche Assistentin, die auch den Terminplan seines Vaters regelte, machte es ihm keineswegs einfach. Bei der Menge an Meetings könnte man denken, Cale hätte die Firma längst übernommen.
Zweifellos war es das, was die anderen von ihm wollten. Jeder ging davon aus, er hätte sein Ziel bereits gefunden, seine Zukunft wäre eindeutig, doch Cale wollte nicht daran glauben. Sobald er dies bekannt machte, würde ein Sturm folgen. Kein laues Lüftchen, das höchstens den Sonnenschirm im Garten umwarf, sondern ein Tornado, der Autos in die Luft katapultierte und Häusern dem Erdboden gleichmachte.
Diesen Moment sehnte Cale ebenso herbei wie den nächsten Smoothie. Insbesondere deswegen hatte er das Thema bisher nie angeschnitten. Er wusste genau, wie sein Vater reagieren würde. Ebenso wie der Rest der Familie. Familienunternehmen, Verantwortung, Geld. Die Themen waren stets die gleichen.
Sein Magen verkrampfte sich, sobald er daran dachte. Er wollte das nicht. Er wollte seine Freiheit, wollte die Leere in seinem Körper endlich füllen. Er wollte … diese Arme um sich fühlen, die Finger in seinem Haar spüren.
Cale legte das Tablet zur Seite und sah sich in seinem Apartment um. Warum wirkte es mit einem Mal noch leerer als sonst?
***
Nikos Augenbraue zuckte, ein Finger wischte über sein uraltes Smartphone und ein Stöhnen folgte. Ohne einen weiteren Blick auf das Display zu werfen, schaltete er das Gerät komplett aus und ließ es zurück in die Hosentasche gleiten.
Damit wollte er sich jetzt nicht beschäftigen. Nicht, wenn die Sonne an diesem Morgen so herrlich in sein Gesicht schien und er seine Pause genießen wollte, bis er zur Arbeit musste. Bis zu diesem Zeitpunkt war es ein recht friedlicher Tag gewesen. Er hatte nur eine Vorlesung gehabt und anschließend zwei Stunden in der Bibliothek verbracht.
Leider war er nicht allein unterwegs und so fand die Ruhe in Form seines Mitbewohners ein jähes Ende. »Niko, es wird nicht besser, wenn du sie ignorierst.«
Niko fand es immer wieder erstaunlich, wie sehr Malcolms Stimme seinem Gewissen glich. Genervt sah er ihn an, machte jedoch keine Anstalten, sein Smartphone wieder hervorzuholen. »Schlimmer wird es davon auch nicht.«
Malcolm runzelte die Stirn und Niko wusste, was er dachte. Selbst er war nicht so naiv zu glauben, dass sein Verhalten seinen Eltern gegenüber kein übles Nachspiel mit sich bringen würde. Ein mulmiges Gefühl entstand bereits in seinem Magen, als er an das nächste Familientreffen im Dezember dachte. Spätestens dann würde er sich anhören müssen, was für ein schlechter Sohn er doch war. Aber wenigstens bis dahin hatte er seine Ruhe. Das war der Vorteil daran, über tausend Kilometer von seinen Eltern entfernt zu leben. Er hatte genug davon, ständig zu hören zu bekommen, wie er scheitern würde. Ihrer Meinung nach waren seine Träume nichts wert und sie schienen nicht müde zu werden, ihm dies immer und immer wieder zu verkünden.
»Ich verstehe sie einfach nicht.« Niko biss sich auf die Lippe und vergrub seine Hände in den Taschen seiner durchlöcherten Jeans. Wie der Großteil seines Kleiderschranks hatte sie die besten Tage bereits hinter sich, besaß sogar direkt unter seinem Hintern einen Riss, aber er konnte sich nicht von ihr trennen. Genauso wenig wie von seinem Traum. »Jeder andere wäre stolz darauf, wenn sein Kind ein Stipendium bekommt! Wie viele Menschen können das von sich behaupten? Aber meine Eltern interessiert das nicht. Sie meinen, ich würde verhungern, bevor ich mein erstes Bild verkaufe.«
»Vielleicht liegen sie da gar nicht so falsch.« Malcolm warf Nikos dürren Körper einen intensiven Blick zu und stieß ihm einen Finger in die Seite, der fast ungehindert eine Rippe traf.
Trotz des bösen Blicks, den er seinem Freund zuwarf, sagte Niko nichts. Er hatte ja Recht. In den letzten Monaten hatte Niko tatsächlich einiges an Gewicht verloren. Vom Verhungern war er aber noch weit entfernt. »Du hast gut reden … Dir geht es doch auch nicht besser als mir.«
»Aber ich achte wenigstens darauf, genügend zu essen und vergesse nicht meine Mahlzeiten, wenn ich arbeite. Meine Mutter bekommt jedes Mal einen Herzinfarkt, wenn sie dich sieht.«
Auch diesen Kommentar würdigte Niko nicht mit einer Antwort. Was Argumente anging, besaß Malcolm ohnehin stets die Oberhand. Selbst, wenn Niko etwas Passendes einfallen würde, hätte sein Freund Sekunden später eine Retourkutsche parat. So streckte Niko nur die Nase zum Himmel und stolzierte weiter, ohne auf das Grinsen, das ihn von der Seite anstrahlte, zu achten.
Malcolms Eltern waren anders als Nikos. Sie unterstützten ihn, wo sie nur konnten. Seine Mutter erinnerte Niko an diese perfekten Hausfrauen, die es sonst nur im Fernsehen gab. Stets um das Wohl ihres Sohnes bemüht, immer gebackene Leckereien in der Tasche und ein kritisches Wort über den Ernährungszustand anderer zur Hand.
Dass sie sich so um Malcolm sorgte, hatte ihnen schon manches Mal den Hals gerettet. Ohne das Geld, das sie ihm jeden Monat heimlich schickte, könnten sie sich niemals das Apartment leisten, in dem sie lebten. Die Mieten waren unverschämt teuer. Malcolm übernahm dank dieser Finanzspritze den größeren Teil, ließ aber durchblicken, es könnte nicht ewig so weitergehen. So viel Geduld seine Mutter auch hatte, sein Vater war weniger vom Leben seines Sohnes begeistert.
»Mal abwarten. Vielleicht bekomme ich ja eine Auftragsarbeit«, sagte Malcolm auf einmal nachdenklich. »Ein Mann hat sich doch letztens bei mir gemeldet.«
»Meintest du nicht, der wäre dir nicht ganz geheuer?«
»Etwas zwielichtig vielleicht, aber in der Not«, sagte Malcolm. »Ich bilde ihn auch nackt ab, wenn es sein muss. Wir müssen uns schließlich langsam etwas einfallen lassen und mit einem schmierigen Typen zu verhandeln, ist immer noch besser, als auf der Straße zu landen. Wenn meine Eltern mir den Geldhahn zudrehen, können wir einpacken und davon sind sie nicht mehr weit entfernt. Mein Vater macht mächtig Druck.«
»Sei froh, dass sie dich überhaupt unterstützen. Meinen ist egal, wie gut ich bin oder was mit mir passiert. Sie denken, ich würde zurückgerannt kommen, wenn es zu schwierig wird. Sogar Professor Liam schätzt meine Arbeiten, aber das interessiert sie ja nicht. Sie wollen einen Kontoauszug mit vielen Nullen. Ob ich glücklich bin oder nicht, ist zweitrangig.« Niko scharrte verärgert mit dem Fuß auf dem Boden. Die vorwurfsvolle Stimme seiner Mutter klingelte wieder in seinen Ohren, als er an ihr letztes Gespräch dachte. Vielleicht sollte er Weihnachten lieber in Philadelphia bleiben und ihr nächstes Treffen so lange wie möglich hinauszögern. So hatte er wenigstens eine Gnadenfrist.
»Sie kennen Professor Liam eben nicht. Sonst würden sie anders denken.« Malcolm lachte. »Gott, ich weiß noch, wie er mich mal zur Sau gemacht hat, nur weil die Nase meiner Statue nicht ganz korrekt war. Hätte mich nicht gewundert, wenn er eine Peitsche herausgeholt hätte, um mich anzutreiben. Du weißt ja, er hat diese … diese Art.«
»Ach ja? Ich dachte, das wären nur Gerüchte.«
»Woher sollen wir wissen, was er so in seiner Freizeit treibt?«
Niko unterdrückte ein Lachen. Ihr Professor war in seinen Sechzigern und nicht gerade eine Augenweide. Vor kurzem hatte er dreißig Kilo abgenommen und ein dementsprechend eingefallenes Gesicht, das ihn noch mal zwanzig Jahre älter aussehen ließ. Dennoch ging das Gerücht um, er hätte eine Art Folterkeller in seinem Haus, was mit Sicherheit an der Art und Weise lag, wie er seine Schüler behandelte.
Der Professor war brillant, aber in seiner Kritik gnadenlos. Nicht wenige seiner Schüler beendeten nach dem ersten Jahr ihr Studium, weil sie seine Kommentare nicht mehr aushielten.
Unwillkürlich wanderten Nikos Gedanken zu Lack und Leder, in denen plötzlich sein Professor schlüpfte und die Peitsche knallen ließ. Er erschauderte. »Vielen Dank, Mal. Ich habe später noch eine Vorlesung bei ihm. Dieses Bild wird mich jetzt den ganzen Tag über verfolgen.«
Malcolm holte zu ihm auf und legte einen Arm um Nikos Schultern. »Nichts zu danken, Kumpel! Sag mir aber Bescheid, wenn du irgendwann in seinem Keller landest. Ich will Fotos machen.«
»Wenn einer von uns beiden vom Professor ausgepeitscht wird, dann bist du das. Oder hast du dein Projekt schon fertiggestellt?«
»Die Büste? Das mache ich heute Nacht. Du stehst mir doch Modell, oder?«
»Und was ist mit meinem Schönheitsschlaf?«
»Pah, du brauchst doch keinen Schlaf! Du bist auch so eine Augenweide«, sagte Malcolm und drückte Niko einen feuchten Kuss auf die Wange.
Niko rollte mit den Augen. Es lief nichts zwischen ihnen, aber Malcolm besaß nur wenig Verständnis für Distanz, ließ schon mal seine Hände wandern und drückte jedem seine Lippen auf, der sich nicht schnell genug wehrte. Das hatte ihm unzählige Ohrfeigen und Kinnhaken eingebracht, was ihn jedoch nicht aufhielt. Die meisten ihrer Mitschüler nahmen es glücklicherweise mit Humor.
Sie erreichten den Gebäudekomplex, in dem ihr Apartment lag. Es war nur etwa zehn Minuten von der Kunstschule entfernt. Dieser Luxus wurde nicht jedem Schüler der Pennsylvania Academy of the Fine Arts zuteil. Die meisten mussten sich eine Wohnung in einem ärmeren Stadtteil nehmen und jeden Morgen mindestens eine Stunde fahren. Leider war die Miete auch dementsprechend teuer. Es war so einfach wie möglich ausgestattet und doch konnten sie es sich zu zweit kaum leisten. Ständig verstopften die Rohre, die Fenster gingen kaputt und jede Nacht hörten sie ein seltsames Stöhnen, das, wie sie hofften, von einem ihrer Nachbarn stammte. Seit einiger Zeit ging sogar das Gerücht um, es gäbe Kakerlaken im Haus, woraufhin Malcolm verkündet hatte, sobald er auch nur etwas Ähnliches wie einen Fühler sähe, schliefe er unter der Brücke.
Niko störte die Vorstellung weniger. Natürlich konnte er sich Schöneres vorstellen, als mit solchen Viechern zusammenzuwohnen, aber wenigstens hatten sie eine Bleibe in unmittelbarer Nähe der Kunstschule und das war ihm einiges wert. Die Alternative wäre unschön, da sie täglich allerhand Kunstmaterialien mit sich schleppen mussten.
Das war der größte Nachteil an Nikos Studium. Er bevorzugte die Ölmalerei und die Materialien waren nicht nur teuer, sondern auch sperrig und schwer. Nicht alles konnte er davon in der Schule lassen und so war er überglücklich, dieses Apartment gefunden zu haben.
Aber wie lange konnten sie noch bleiben? Ein Jahr hatten sie fast geschafft, aber drei lagen noch vor ihnen. Seine Arbeit im Restaurant wirkte sich bereits negativ auf Nikos Studium aus. Sollte er weiterhin seine Vorlesungen verpassen oder in den Prüfungen versagen, könnte er sogar sein Stipendium verlieren und das wäre eine Katastrophe.
Seine Eltern verdienten beide nicht schlecht, aber an mehr als einer Gelegenheit hatten sie ihm klargemacht, wie wenig sie von professioneller Malerei hielten. Ginge es nach ihnen, würde Niko entweder Arzt werden oder irgendwo in einer Bank arbeiten und sich nicht mehr mit diesem Hobby die Zeit vertreiben.
Malcolm war der erste Mensch, der ihn wirklich verstand. Sie waren sich bereits am ersten Tag in der Kunstschule begegnet und hatten sich auf Anhieb gemocht. So wurde schnell klar, dass sie zusammen eine Wohnung suchen würden. Malcolms Eltern waren Immobilienmakler. Ihnen verdankten sie auch das Apartment, in dem sie wohnten. Wie Nikos Eltern waren sie wenig begeistert von Malcolms Wahl. Er sollte eigentlich ins Familiengeschäft einsteigen, aber wie er Niko mehrmals gesagt hatte, interessierten ihn diese Wünsche genauso wenig wie Niko die von seinen Eltern.
»Und du meinst wirklich, deine Eltern verlieren die Geduld?«, fragte Niko unsicher, als er darüber nachdachte, was er tun würde, wenn sie tatsächlich die Unterstützung verlieren sollten.
»Machst du Witze? Das haben sie schon. Dass sie mir immer noch den Großteil der Miete bezahlen, liegt nur daran, dass ich ihnen im Büro aushelfe und meine Mutter Angst hat, ich würde irgendwann auf der Straße landen. Das ist so ziemlich das einzig Positive an ihrer Bemutterung.«
Niko musste lachen. Ja, Malcolm war ständig genervt von den Sorgen seiner Mutter. Am liebsten hätte sie ihn in Watte gepackt und irgendwo eingesperrt, damit ihm ja nichts passierte. Ein krasses Gegenteil zu seiner Mutter, fand Niko. Diese war zeit ihres Lebens nur glücklich, wenn sie an ihm herummeckern konnte.
»Immerhin sorgen sich deine Eltern um dich. Meine sind viel zu beschäftigt damit, mir vorzuwerfen, was für ein schrecklicher Sohn ich doch bin.«
»Sie wollen nur das Beste für dich.« Bei den Worten 'das Beste', hatte Malcolm Zeige- und Mittelfinger beider Hände gehoben und sie wie Anführungszeichen hoch und runter bewegt. »Geld … es geht immer nur darum, oder? Wenn man es hat, kann man ohne große Schwierigkeiten alles erreichen, aber wenn nicht, dann bist du der Verlierer und es gibt kaum etwas, das du dagegen tun kannst.«
»Das würde ich nicht sagen. Wenn man nur hart genug arbeitet, kann man alles erreichen«, sagte Niko.
»Arbeitest du deshalb als Tellerwäscher und Kellner? Von der Aushilfe zum Millionär? Dass das klappt, glaubst aber auch nur du. Manchmal denke ich sogar, es wäre doch besser, wenn ich das Geschäft von meinen Eltern übernehme. Ich meine, ich bin längst nicht so talentiert wie du. Meine Werke werden niemals in anerkannte Museen landen, aber du … du kannst echt etwas erreichen.«
»Jetzt verkauf dich doch nicht so unterm Wert. Denkst du etwa, Professor Liam hätte die Antwort auf alles? Nur weil er dich kritisiert, heißt das noch lange nicht, dass du nicht gut bist. Die meisten großen Künstler mussten sich irgendwann so etwas anhören. Du hast Talent und daran solltest du glauben.«
Malcolm lächelte. »Ohne dich würde ich nicht über das erste Semester hinauskommen.«
»Und ohne dich würde ich irgendwo auf der Straße schlafen. Eine Hand wäscht die andere, nicht wahr?«
Niko öffnete die Tür zu ihrem Apartmenthaus und sie steuerten mit vager Hoffnung den Fahrstuhl an, doch bereits nach wenigen Schritten konnten sie das »Out-of-Order«-Schild sehen. Das Ding war seit Wochen kaputt und der Vermieter versprach jeden Tag erneut, ihn reparieren zu lassen, aber einen Handwerker hatten sie bis jetzt weder sehen noch hören können.
»Vielleicht ist es besser so«, sagte Malcolm mit einem Seufzen. »Das Ding wäre uns irgendwann unter den Füßen weggebrochen. Immerhin bekommen wir so unser tägliches Training. Wettlauf bis nach oben?« Niko warf ihm nur einen bezeichnenden Blick zu, bis Malcolm abwehrend die Hände hob. »Ist ja gut! Du musst mich nicht gleich so ansehen. Dann eben so wie immer. Wer oben noch atmen kann, der gewinnt.«
So nahmen sie Stufe um Stufe, bis sie den fünften Stock erreichten. Keuchend kamen sie an ihrer Tür an und hielten sich die stechenden Seiten.
»Un… un… unentschieden«, japste Malcolm, aber Niko hörte ihn kaum.
Er war zu beschäftigt damit, ihre Tür anzustarren. Was er dort sah, ließ ihn jeden Schmerz vergessen. »Nein … bitte, bitte nicht!«, flüsterte er.
Ein klaffendes Loch befand sich an der Stelle, wo zuvor das Schlüsselloch gewesen war. Die Tür war nur angelehnt. Holzsplitter bedeckten den Boden.
Malcolm, der um einiges kräftiger als Niko war und in seiner Jugend Boxtraining genommen hatte, drängte ihn mit dem Arm hinter sich, ging vor und stieß mit leichtem Druck die Tür auf.
Chaos. Das fiel Niko als Erstes auf, als er über Malcolms Schulter blickte.
Nichts schien mehr an seinem alten Platz zu stehen. Die Schränke standen offen und ihr Inhalt war teilweise über dem Boden verstreut. Ihre Kleidung lag überall im Wohnzimmer verteilt. Scherben bedeckten den Teppich, wo früher eine alte Vase gestanden hatte und ihre Bücher waren aus den Regalen gerissen worden.
Malcolm nahm einen Baseballschläger, den er für solche Fälle gegen die Wand neben der Tür gelehnt hatte, und schlich in den Raum. Niko war dicht hinter ihm. Mit klopfendem Herzen sah er in jede Ecke, in der er einen Angreifer vermuten konnte. Es wurde jedoch schnell deutlich, dass wer auch immer in ihr Apartment eingebrochen war, es längst wieder verlassen hatte.
Sobald ihnen dies bewusst wurde, ließ Malcolm den Schläger sinken und lief zur Kommode. Er warf einen schnellen Blick in die dritte Schublade und fluchte laut. »Sie haben sogar unser Geheimfach entdeckt! So eine verdammte Scheiße! Das war unsere Haushaltskasse. Wovon sollen wir jetzt bis Ende des Monats leben?«
Mit mulmigem Gefühl ging Niko an ihm vorbei und zu seinem Schlafzimmer, doch die Tür war noch nicht ganz offen, da hatten sich seine schlimmsten Vermutungen bereits bestätigt. Der Dieb hatte nicht nur ihr Geld genommen. Seine Staffelei, der große Koffer mit Ölfarben, seine Strukturmasse, Malermesser und Pinsel … der Großteil seiner Kunstmaterialien war verschwunden.
Niko musste sich am Türrahmen festhalten, als seine Knie zu wackeln anfingen. Was sollte er jetzt machen? Er konnte nicht einfach an seiner Schule um weitere Materialien bitten. Nicht, wo Professor Liam durch seine Überstunden im Restaurant bereits jetzt so schlecht auf ihn zu sprechen war.
»Wer zum Teufel war das?« Malcolm fluchte. Niko hatte ihn noch nie so wütend gesehen. Auch er hatte inzwischen in seinem Zimmer nachgesehen und raufte sich die Haare, während er auf und ab ging. »Sie haben sogar meine Spachtel und den Ton mitgenommen. Wer tut so etwas?«
Niko stieß ein humorloses Lachen aus. »Studenten wie wir wahrscheinlich. Es muss Dutzende geben, die sich das Studium kaum leisten können. Sie haben uns bestimmt bis nach Hause verfolgt und dann zugeschlagen. Oder sieht das hier für dich wie das Werk eines Profis aus?«
Malcolm schüttelte den Kopf. »Ein Profi hätte nicht in einer Bruchbude wie dieser eingebrochen und wäre am helllichten Tag so ein Risiko eingegangen. Nicht für die paar Kröten.« Er ließ den Kopf hängen. »Jetzt muss ich meine Eltern schon wieder anpumpen. Die werden mir die Hölle heißmachen.«
»Ich kann vielleicht im Restaurant um einen Vorschuss bitten. Wenn ich die Sache erkläre … Tanja ist bisher ziemlich verständnisvoll gewesen.«
»Hast du das nicht schon letzten Monat gemacht? Wir sind am Arsch, Mann. Das ist eine Katastrophe. Und was machen wir mit der Tür? Wenn wir Pech haben, wird der Vermieter die Kosten nicht übernehmen.«
»Darf er das denn?«
»Keine Ahnung, aber er wird es versuchen. Du kennst das Arschloch doch. Und was machen wir bis dahin? Irgendwie müssen wir das Ding schließen können. Verdammt noch mal … wie können wir nur so viel Pech haben?«
Das fragte sich Niko inzwischen auch. Als er den Entschluss gefasst hatte, auf eigenen Beinen zu stehen und seinen Traum zu leben, hatte er Schwierigkeiten erwartet, aber die Realität überstieg seine Vorstellungen. Was sollte er ohne Materialien machen? So konnte er sein Kunststudium vergessen.
Noch einmal warf er einen Blick in sein Zimmer. »Sogar meine Bilder haben sie mitgenommen.« Er fühlte einen Stich in seinem Herzen. Zwei Gemälde waren für ihn besonders wertvoll gewesen. Eines von Malcolm, für das er von Professor Liam persönlich die beste Note erhalten hatte, und eines von seinen Eltern. Das war das einzige Bild gewesen, für das sie ihn je gelobt hatten.
Malcolm legte eine warme Hand auf Nikos Schulter. »Mach dir keine Sorgen. Wir schaffen das schon irgendwie. Und wenn wir um Geld betteln müssen! Und deine Bilder … vielleicht kriegen sie die Täter ja. Ist ja nicht so, als könnten sie die irgendwo verkaufen. Na ja, und selbst wenn nicht, du machst einfach Neue und noch Bessere. Glaub mir, wir schaffen das!«
Niko wäre gerne genauso zuversichtlich. Erst vor ein paar Minuten war er noch derjenige gewesen, der Malcolm gut zugeredet hatte, doch von diesem Optimismus war nun nichts mehr vorhanden. Ohne Materialien, ohne Geld, vielleicht auch bald ohne Wohnung. Wie sollte er so weiter studieren? Die bloße Vorstellung, aufgeben zu müssen und zurück zu seinen Eltern zu kriechen, sich einzugestehen, dass sie die ganze Zeit Recht gehabt hatten. Dieser Gedanke war noch unerträglicher, als auf der Straße zu leben.
»Wir müssen die Nachbarn fragen, ob sie etwas gesehen oder gehört haben. Aber du weißt ja, die sind taub für alles, was sie nicht unmittelbar angeht.« Für einen Moment stand Malcolm einfach nur dort und sah aus, als wüsste er nicht, was er mit sich anfangen sollte. Dann zückte er sein Handy und rief die Polizei.
***
Cale wäre am liebsten überall, nur nicht in diesem stickigen Raum voller Menschen, die er nicht leiden konnte. Sehnsüchtig sah er durch das Fenster auf den blauen Himmel, der sich wolkenfrei über die Stadt zog. Er hörte den Verhandlungen seines Vaters kaum zu. Es waren ohnehin wieder die gleichen Worte und Argumente, die er immer benutzte.
Das musste er Eugene Harington lassen: Er wusste, wie man die Menschen manipulierte. Sicher wäre er niemals so weit gekommen, wenn er nicht zahlreiche Sponsoren gefunden hätte, die seine Sache unterstützten. Auf diese Weise hatte er sich ein Netzwerk in Philadelphia aufgebaut, auf das er bei jedem seiner Geschäfte zurückgreifen konnte.
Manch einer würde denken, Cales Vater wäre geldgierig und würde deswegen jedem Deal hinterherhetzen, doch die Wirklichkeit sah anders aus. Es war wie ein Spiel für ihn, ein Rausch. Cale wusste, sein Vater brauchte das Erfolgsgefühl. Ganz gleich, wie riskant es auch war, er liebte es, wenn seine Pläne aufgingen.
Leider beinhalteten diese auch immer Cales Anwesenheit und so musste er bei jedem Treffen dabei sein, ob er nun wollte oder nicht. In seinen Augen war das sinnlos. Er hatte keine Ahnung von Geschäften und nie etwas zu sagen. Womöglich war es nur der verzweifelte Versuch, ihn für die Firma zu interessieren.
Endlich schienen die Verhandlungen abgeschlossen zu sein. Erfolgreich, natürlich. Davon ging Cale zumindest aus, denn beide Parteien zeigten ein breites Grinsen, als sie sich voneinander mit einem Händedruck verabschiedeten.
Sobald der Bürgermeister und seine Mitarbeiter den Raum verlassen hatten, strahlte sein Vater ihn an. »Das hätte nicht besser laufen können. Bald sind wir Besitzer eines riesigen Einkaufszentrums, mein Junge.«
»Ich verstehe immer noch nicht, warum du das tun willst. Du weißt noch nicht einmal, ob tatsächlich alle Eigentümer verkaufen werden.«
»Und genau das ist der Reiz an der Sache. Die Gefahr, scheitern zu können, harte Verhandlungen, das Gefühl, wenn man trotz der Skepsis anderer am Ende gewinnt. Dafür lebe ich. Du wirst das sicher eines Tages verstehen. Hast du schon von Yale gehört?«
Cale trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. Yale. Natürlich musste er wieder davon anfangen. Sein Vater hatte dort studiert und würde nun auch Cale am liebsten dort sehen.
Ihre Firma ER Real Estate Management kaufte Immobilien, baute sie in Luxuswohnungen um und vermietete sie anschließend an reiche Geschäftsleute. Daher hatte Cales Vater auch so wahnsinnig viele Kontakte. Seine anderen Geschäfte, wie das geplante Einkaufszentrum mitten in Philadelphia, waren mehr ein Hobby als wirkliche Arbeit. Ein millionenschweres Hobby. Cale würde es nicht wundern, wenn er eines Tages eben keinen Erfolg mit diesen Geschäften hätte und plötzlich mittellos dastünde.
»Du weißt doch, ich habe mich noch nicht für Yale entschieden. Am liebsten würde ich sowieso in der Stadt bleiben. In einer Stadt, die mit Sicherheit kein drittes Einkaufszentrum braucht.«
»Das glaubst du vielleicht, aber keine Sorge. Ich habe einen Plan.«
»Und genau deswegen mache ich mir Sorgen. Du musst immer mit allem so übertreiben.«
»Das bildest du dir nur ein«, sagte Eugene und sah auf seine goldene Rolex. »Wir haben gleich Mittag. Sollen wir etwas essen gehen? Ich kenne da zwei Damen, die uns gerne begleiten würden. Victoria Secret Models. Eine davon würde dir gefallen.«
In diesem Moment musste Cale sich zusammenreißen, um nicht mit den Augen zu rollen. Den Verkupplungsversuch hätte er kommen sehen müssen. »Da muss ich passen. Ich bin schon verabredet.«
»Komischerweise sehe ich nie diese Verabredungen, von denen du immer sprichst. Selbst, wenn sie im Gefängnis gesessen hat, auf dem ganzen Körper tätowiert ist und wie ein Hafenarbeiter flucht, kannst du sie mir trotzdem vorstellen. Die Faszination einer solchen Dame würde ich verstehen. Solange alles hinter verschlossenen Türen bleibt, versteht sich.«
»Du bist der merkwürdigste Vater der Welt«, sagte Cale kopfschüttelnd. »Aber es ist nichts dergleichen. Bloß ein alter Schulfreund, der zufälligerweise in der Stadt ist.«
»Ach ja? Du … wirst mir aber irgendwann eine vorstellen, nicht wahr?«
Cale antwortete nicht darauf, schnappte sich seine Jacke von der Garderobe und zog sie über. »Ich muss los. Es kann sein, dass ich heute im Apartment übernachte. Warte also nicht auf mich.«
»Sei nicht albern«, sagte sein Vater lachend. »Dank deiner Verabredung gehe ich gleich mit zwei Models essen. Ich warte auf niemanden.«
Natürlich. Cale hätte sich denken können, wieder einen solchen Spruch von seinem Vater zu hören. Seitdem er von Cales Mutter verlassen worden war, folgte eine Affäre der nächsten. Nie war es etwas ernstes gewesen und gerade deswegen hatte er trotz seines Alters großen Erfolg bei Frauen. Aus dem Grund und wegen seines Aussehens, das auch Cale geerbt hatte. Grüne Augen, ein markantes Gesicht und mit 1,90 überragten sie die meisten ihrer Mitmenschen. Vielleicht verspürte sein Vater daher den Drang, besser als alle anderen zu sein. Er kannte es nicht anders.
Cale hasste derweil diese Eskapaden. Nicht, weil es ihm peinlich wäre, mit Frauen auszugehen, die kaum älter als Cale waren, sondern wegen der Presse. Er sah seinem Sohn so ähnlich, dass Vergleiche unvermeidlich waren. Jeder ging davon aus, Cale wäre ebenfalls ein Schürzenjäger, der Frauen wie Spielzeug sammelte. Dabei war Cale ganz anders. Er interessierte sich nicht für Frauen. Wenn ihn ein perfekter Körper begeisterte, dann gehörte dieser einem Mann.
Sein Vater wusste natürlich nichts davon. Cale hatte mehrmals versucht, es ihm zu sagen, aber jedes Mal begann er wieder von Frauen zu sprechen. Vermutlich ahnte er es bereits und wollte es bloß nicht wahrhaben.
Homophob war er nicht. Dafür arbeitete er mit zu vielen schwulen Männern und lesbischen Frauen zusammen. Er interessierte sich mehr dafür, was Menschen taten, als dafür, wen sie mit ins Bett nahmen. Cale glaubte, das Problem seines Vaters lag woanders.
Zum einen war seine Familie seit Generationen extrem konservativ und zum anderen verkaufte die Presse Cale als den begehrtesten Junggesellen von Philadelphia. Würde er sich als schwul outen, ginge es plötzlich nicht mehr um die waghalsigen Geschäfte und Affären seines Vaters, sondern alle würden nur noch über ihn reden. Das wollten weder Eugene noch Cale.
Also ging das Versteckspiel weiter. Cale war daran gewöhnt, aber er musste zugeben, langsam genug davon zu haben. Die ständigen Vorsichtsmaßnahmen wie stundenlanges Fahren, um einen Schwulenclub außerhalb der Stadt aufzusuchen, falsche Namen in Hotelzimmern und das unablässige Gefühl, beobachtet zu werden. Es machte ihn müde.
Auch hatte er die One-Night-Stands satt. Cale war längst für eine Beziehung bereit, aber wie sollte er das anstellen? Wie konnte er aus den Medien bleiben und trotzdem glücklich werden? Eines ohne das andere schien unmöglich zu sein.
Mit knappen Worten verabschiedete sich Cale von seinem Vater und verließ den Konferenzraum. Wie sie so schnell diesen Termin im Rathaus bekommen hatten, wusste er nicht, aber vermutlich war es bloß ein persönlicher Anruf gewesen. Inzwischen würde es Cale nicht einmal mehr überraschen, wenn der Bürgermeister seinen Vater auf der Kurzwahltaste hätte.
Vor dem Rathaus zog Cale sein Smartphone aus der Tasche und suchte im Internet nach einem Restaurant in der Nähe. Was seine Verabredung anging, hatte er gelogen. Cale hatte bloß keine Lust, Interesse an einer schönen Frau vorzuheucheln. Er musste zu vielen Geschäftsessen gehen, um der einen oder anderen Dame den Kopf zu verdrehen und sie damit für das jeweilige Projekt zu gewinnen. Eugene Harington hatte keine Skrupel seinen Sohn auf diese Weise einzusetzen und Cale ließ es sich für gewöhnlich gefallen, denn auch er lebte schließlich von dem Geld, das sie dadurch verdienten. Aber den Nachmittag auf diese Weise zu vergeuden, ohne einen Nutzen davon zu tragen und womöglich auch noch die Medien mit neuen Gerüchten anzustacheln? Darauf konnte er verzichten.
Im Internet fand er kein Restaurant, das ihm zusagte und so ging er zu dem Laden, der ihm am nächsten war. Immerhin lief er dort nicht Gefahr, doch seinem Vater oder einem seiner Geschäftsfreunde zu begegnen. Es handelte sich um ein kleines Lokal, das vor allem eines war: billig. Die meisten Gäste, die dort aßen, waren Studenten der nahegelegenen Kunstschule. Da sie das meiste Geld dafür verwendeten, ihre horrenden Studiengebühren zu bezahlen, war das Restaurant immer gut gefüllt. Ideal also, um in der Menge unterzutauchen. Es bestand zwar die Gefahr, von jemandem erkannt zu werden, aber das war Cale lieber, als seinen Mittag mit unbedeutenden Gesprächen zu verschwenden.
Seufzend ließ Cale seine Hand durch die gegelten Haare gleiten und löste damit die strenge, ordentliche Frisur, die er zu jedem wichtigen Meeting trug. Er mochte seine Haare lieber wild und ungezügelt, liebte den leicht verwegenen Look. Leider fühlte er sich ganz und gar nicht danach. Er war müde, hatte angespannte Schultern, die er langsam kreisen ließ, bis er ein unangenehmes Knacken hörte. Etwas musste sich ändern. Lange würde er es nicht mehr aushalten, den braven Millionärssohn zu spielen.
Nachdem er das Smartphone zurück in die Tasche gleiten ließ, machte er sich auf den Weg.
***
»Niko, ich mag dich sehr und ich bin auch immer mit deiner Arbeit zufrieden gewesen, aber ich kann das nicht tun«, sagte Tanja im Gastraum ihres Restaurants. Sie fuhr sich mit einer Hand durch die roten Haare und sah ihn an, als würden ihr diese Worte körperliche Schmerzen bereiten. Wie Malcolm vorausgesagt hatte, konnte sie Niko nicht noch einen Vorschuss zahlen. Er hatte auch nicht wirklich daran geglaubt. Das Restaurant lief gut, aber allein die Miete musste Tanja fast das Genick brechen. Vielleicht hatte sie deswegen so viel Verständnis für seine Situation.
»Hast du denn keine Ahnung, wer bei euch eingebrochen sein könnte? Niemand hat etwas gesehen?«, fragte sie, band sich die Schürze um und tippte mit dem Zeigefinger an ihr Kinn. »Wenn vor allem die Kunstsachen weg sind, dann muss es jemand sein, der sich auskennt. Jemand, der euch kennt. Zumindest jemand, der die Sachen gebrauchen kann. Verkaufen kann man sie bestimmt nicht so leicht.«
»Das habe ich der Polizei auch gesagt, aber ich glaube nicht, dass sie richtig ermitteln. Dafür ist der Schaden zu gering.« Niko erinnerte sich nur ungern an das Gespräch mit dem Polizisten. Er hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, Fingerabdrücke von der Tür zu nehmen. Wie konnten sie so die Diebe fassen? »Verdammt … ich weiß nicht mehr, was ich noch machen soll. Die Hälfte des Monats liegt noch vor uns. Wir können uns nicht einmal etwas zu essen kaufen.«
»So gerne ich dir helfen würde … Nun ja, du kannst natürlich wie immer einige Reste mitnehmen und mehr Schichten übernehmen, aber das würde sicher nicht mit deinem Studium zu vereinbaren sein.«
Niko sah sie mit einer Mischung aus Verzweiflung und Dankbarkeit an. Erst in diesem Moment wurde ihm seine Situation richtig bewusst. »Nein, wohl nicht. Obwohl es keinen großen Unterschied machen wird. Ich habe nicht einmal mehr einen Pinsel, mit dem ich malen kann, und bis ich wieder genug Geld für neues Material habe, wird es ewig dauern. Vielleicht sollte ich bis dahin abwarten und mit dem Studium eine Pause einlegen. Nur … der Professor wird das gar nicht gerne sehen. Das Stipendium kann ich dann vergessen.«
»Er ist nicht unbedingt für seine Großzügigkeit bekannt, das ist wahr.« Tanja kannte Professor Liam, da die meisten Lehrer und Schüler der Kunstschule in diesem Restaurant essen gingen. Das Tanja’s lag in unmittelbarer Nähe der Schule, war preisgünstig und das Essen genießbar. Damit erfüllte es also die drei wichtigsten und einzigen Kriterien, die Lehrer und Schüler an es stellte. Professor Liam war einer der Stammgäste, aber wie über die Werke seiner Schüler beschwerte er sich auch gerne über das Essen. Das hinderte ihn jedoch nicht daran, jeden Tag zu kommen.
Niko fürchtete sich bereits vor der Konfrontation, die mit Sicherheit folgen würde. »Er wird mir den Kopf abreißen. Da ist es egal, ob ich etwas dafür kann oder nicht. Er wird sagen, ich hätte die falsche Einstellung. Zwar großes Talent, aber wenn ich mich nicht zusammenreiße, würde ich es zu nichts bringen.« Niko schnaubte. »Vielleicht sollte er sich mal mit meinen Eltern zusammensetzen. Dann können sie gemeinsam über mich herziehen.«
»Fang erst mal deine Schicht an und dann sehen wir weiter. Ich kann ja ein gutes Wort für dich einlegen, wenn er das nächste Mal hier ist. Vorausgesetzt natürlich, mein Essen schmeckt ihm«, sagte Tanja mit einem Augenzwinkern und ging in die Küche.
Noch in Gedanken darüber versunken, wie ein solches Gespräch wohl ausgehen würde, wollte Niko ihr folgen, als er mit jemandem zusammenstieß. Zerstreut sah er auf und wollte sich schon dafür entschuldigen, dass er nicht aufgepasst hatte, als er die imposante Gestalt vor sich näher ansah. Der Mann war einen Kopf größer als Niko und trug einen dunkelblauen Anzug. Er sah ihn nicht einmal an, als er eine Entschuldigung nuschelte und dann zur Theke ging, wo er etwas zum Mitnehmen bestellte.
Niko starrte ihm hinterher und er war nicht der Einzige. Er konnte einige Stimmen hinter sich reden hören. »Hey, weißt du, wer das ist? Cale Harington! Ich hätte nie gedacht, dass er in einem Laden wie diesem hier essen würde. Sein Vater soll stinkreich sein.«
»Mann, manche haben’s wirklich gut. Ich wette, er musste noch nie richtig arbeiten. Sieh dir nur diesen Anzug an.«
Auch Niko warf ihm einen genaueren, interessierteren Blick zu. Dieser Mann machte nicht den Eindruck eines verwöhnten, reichen Millionärssohns. Sein kantiges Gesicht wirkte müde, die Haare waren unordentlich, als käme er direkt aus einem Sturm und seine breiten Schultern hingen schlaff herunter. Neugierig wanderten Nikos Augen weiter, doch was sie fanden, vertrieb diesen ersten Eindruck augenblicklich. Eine dicke Brieftasche ragte aus seiner hinteren Hosentasche heraus.
Eine irrwitzige Idee formte sich in Nikos Kopf. Er brauchte nicht in diese Brieftasche hinein zu sehen, um zu wissen, dass der Inhalt die Lösung all seiner Probleme wäre. Aber … nein, das konnte er nicht tun. Er hatte noch nie gestohlen und wie aussichtslos seine Situation auch war, er wollte jetzt nicht damit anfangen.
»Alter, die sollen sogar eine ganze Straße gekauft haben, um dort eigene Läden einzurichten. Kannst du dir das vorstellen? Die spielen Monopoly mit echtem Geld, Mann. Und mein Zimmer hat nicht einmal ein eigenes Fenster.«
Niko wünschte sich, der Typ hinter ihm würde aufhören zu reden. Die Verzweiflung kämpfte mit seinem Stolz. Er war erst vor wenigen Stunden selbst bestohlen worden und nun überlegte er, genauso tief zu sinken?
»Und einen Ferrari! Der fährt einen Ferrari, echt! Ich hab’s gesehen. War in der Zeitung, Mann.«
Wie ein Teufelchen, das auf Nikos Schulter saß, redete der Mann hinter ihm einfach weiter und ließ sein engelsgleiches Gewissen verstummen. Wenn dieser Typ wirklich so reich war, würde es ihm nicht wehtun. Wer wusste schon, wie viel Geld in dieser Brieftasche war? Es wirkte so dick und einladend, wie es ihm aus der Hose heraushing.
Niko schluckte. Der Kampf zwischen Gut und Böse tobte in seinem Kopf. Wenn er sich nur so viel nahm, wie er für einige Pinsel und Farben brauchte? Irgendwie könnte er ihm den Rest zukommen lassen, wenn mehr in der Brieftasche war. Das würde zumindest sein Studium retten. Womöglich könnte er das Geld sogar später zurückgeben. Und doch …
Die Zeit lief ihm davon. Noch bevor er die Chance hatte, genauer darüber nachzudenken, bot sich Niko eine einmalige Gelegenheit. Der Mann bezahlte, steckte die Brieftasche zurück, stellte sein bestelltes Essen auf die Ablage und ging in eine Ecke, wo er sich in Ruhe die Schuhe zubinden konnte. Dieser Ort war von den Blicken der anderen Gäste geschützt und es wäre ein Leichtes für Niko, die Brieftasche aus der Hosentasche zu ziehen. Er konnte nicht widerstehen!
So vorsichtig wie möglich schlich er von hinten an den sich bückenden Mann heran, nahm das braune Leder mit zwei Fingern und zog schnell daran. Schnell, aber nicht schnell genug. Eine Hand schloss sich um seinen Arm. Nikos Herz sank ihm in die Hose.
»Keine gute Idee«, sagte der Mann. Als er Niko ansah, öffneten sich seine Augen weit, der Griff um sein Handgelenk wurde fester. Und was für Augen er hatte … grün mit grauen Flecken. Ungeheuerlich, dass Niko dieses Detail trotz seiner Panik auffiel. Während der Fremde Niko interessiert musterte, schlug Nikos Herz schneller. »Bei mir haben ja schon oft Taschendiebe ihr Glück versucht, aber von dir hätte ich das nicht erwartet. Du siehst gar nicht wie ein Dieb aus.«
Niko riss seinen Arm los. Was sollte denn der Spruch? Dieser Kommentar und der Blick, mit dem ihn der Mann ansah … kannten sie sich? Er kam ihm bekannt vor, aber Niko konnte nicht sagen, warum. »Wie sieht ein Dieb denn aus?«, fragte er stattdessen, unwillig den Schwanz einzuziehen und um Vergebung zu betteln. Zumindest jetzt noch nicht.
Lächelnd verschränkte der Mann die Arme. »Wie jemand, der sich nicht gleich in die Hose macht, wenn er erwischt wird. War das dein erstes Mal?«
»Und … und wenn schon!« Niko konnte sich diese trotzigen Worte nicht verkneifen. Etwas an dem Tonfall des Mannes sorgte dafür, dass ihm plötzlich nicht mehr das Verbrechen an sich peinlich war, sondern seine diebischen Fähigkeiten. Absurd! Trotz des Ausbruchs schien der Mann ihn jedoch amüsant zu finden. Sein Lächeln blieb.
»Auf frischer Tat ertappt und dann auch noch so frech. Aber immerhin streitest du deine Absichten nicht ab. Arbeitest du hier?«, fragte er mit einem Blick auf Nikos Schürze. »Was deine Chefin wohl dazu sagen wird, wenn ich ihr davon erzähle …«
Augenblicklich erbleichte Niko. Wenn er seinen Job verlor, wäre das sein sicheres Ende. »Bitte nicht! Es tut mir leid. Ich hätte es niemals versucht, wenn ich nicht in einer Notsituation stecken würde. Ich habe einfach nicht nachgedacht. Ich-«
»Deine Geschichten kannst du dir sparen. Ich könnte die Sache vergessen, aber sicher nicht ohne Gegenleistung.« Er warf Niko einen weiteren, noch durchdringenderen Blick zu. Wenn diese grünen Augen doch nicht wären … »Wie wäre es, wenn du heute Abend mit mir essen gehst?«
»Was?« Niko musste sich verhört haben, ganz klar.
»Mit mir essen gehen. Zusammen. In einem Restaurant. Nicht in diesem hier, natürlich. Das Essen ist zwar nicht schlecht, aber ich habe da etwas anderes im Sinn. Also?«
Das war Niko zu hoch. Eben hatte er noch versucht, diesen Mann zu bestehlen, und jetzt wurde er zum Essen eingeladen? »Aber dir ist schon klar, dass ich nur deine Brieftasche stehlen und nicht deinen Hintern begrapschen wollte, oder?«
»Und wenn die Alternative meinem Hintern gefallen würde?«
Niko war sprachlos. Sein Herz hatte nach der missglückten Aktion noch nicht das normale Tempo erreicht, da schlug es plötzlich aus anderem Grund heftiger. Dieser Mann flirtete mit ihm! Seine grünen Augen sahen ihn immer noch so unwiderstehlich an, die Müdigkeit schien auf einmal aus dem jungen Gesicht verschwunden zu sein und Niko bemerkte, dass auch der Rest von ihm unheimlich attraktiv war. Besonders dieses Lächeln machte es ihm schwer, sich zu konzentrieren.
»Und? Bekomme ich keine Antwort?«
»Worauf?«, fragte Niko dümmlich.
»Meine Einladung, natürlich. Es kommt dir vielleicht komisch vor, dass ich dich darum bitte, aber ich hatte nicht gerade die beste Woche und du bist der erste Mensch, der mich in den letzten Tagen zum Lachen gebracht hat. Alles, was ich will, ist einen netten Abend zu erleben, der mich auf andere Gedanken bringt. Keine Verpflichtungen, keine weiteren Erwartungen. Nur ein Essen. Und wer weiß, womöglich helfe ich dir dann auch finanziell etwas aus.«
Offenbar glaubte dieser Mann, Niko kaufen zu können. Das allein ärgerte ihn schon genug, dass er am liebsten mit Nein geantwortet hätte, aber was für eine Wahl hatte er? Wenn Tanja erfuhr, dass er versucht hatte, einen Gast zu bestehlen, dann würde selbst sie ihn ohne weiteren Gedanken feuern. Und Niko brauchte diesen Job.
»Also gut, aber du zahlst und ich gehe nur mit dir essen. Kein weiterer … Service oder sonstiges.«
»Außer, wenn du mich darum bittest.«
Niko wollte etwas Schlagfertiges entgegnen, aber jedes Wort blieb ihm im Hals stecken. Was bildete sich dieser Mann eigentlich ein? Nur, weil er reich war, gut aussah und diese wahnsinnig tollen Augen hatte, hieß das noch lange nicht, dass Niko gleich mit ihm ins Bett steigen würde. Obwohl er auch noch einen wahnsinnig geilen Arsch hatte … und waren das Muskeln, die sich unter der Jacke an den Oberarmen abzeichneten?
Konzentrier dich, Niko! Du bist doch kein dauergeiler Teenager, ermahnte er sich. Leider schien sein Körper diese Warnung zu ignorieren. Unablässig fuhr sein Blick über den Körper des Mannes und blieb immer wieder an diesen grünen Augen hängen. Grüne Augen, die ihn auf einmal ansahen, als könnten sie durch seine Klamotten sehen. Niko fühlte sich nackt. Warum sah ihn ein Fremder an, als würde er ihn Sekunden später um den Verstand vögeln?
Blut schoss in seinen Kopf und auch noch etwas weiter gen Süden, doch Niko hatte nicht vor, sich von seiner überaktiven Libido steuern zu lassen. Zumindest nicht so schnell. »M-Mach dir keine falschen Hoffnungen. Wie heißt du überhaupt?«, fragte er mit einer Stimme, die, wie er hoffte, herausfordernd klang. Natürlich hatte er den Namen bereits gehört, aber das musste dieser Typ ja nicht wissen.
»Cale. Cale Harington. Es überrascht mich, dass du das nicht weißt. In dieser Gegend kennt mich eigentlich jeder.«
Angeber! »Offenbar nicht, sonst hätte ich kaum gefragt. Ich bin Niko.«
»Nur Niko? So wie Cher?«, fragte Cale mit einem Grinsen.
Weitere Hitze stieg in Nikos Gesicht. »Den Nachnamen brauchst du nicht. Hinterher überlegst du es dir doch anders und zeigst mich an.«
»Das würde mir nie in den Sinn kommen, solange du dich nur an die Abmachung hältst. Dann treffen wir uns heute Abend um acht vor diesem Restaurant?«
»Meinetwegen.«
»Und zieh dir etwas Nettes an.«
»Hab ich nicht«, entgegnete Niko knapp. Nicht in die Augen sehen … nicht in die Augen sehen …
»Keinen Anzug?«, fragte Cale.
»Nein.«
»Ein Hemd und eine Krawatte?«
»Auch das nicht.«
»Du willst es mir nicht leicht machen, was? Aber gut. Ich liebe Herausforderungen.« Cale nahm sein Essen und drehte sich in Richtung Ausgang. »Meinetwegen kannst du auch nackt kommen. Würde mir gefallen. Sei bloß nicht zu spät«, sagte er noch über seine Schulter, bevor er verschwand.
Niko atmete tief ein. Worauf hatte er sich jetzt schon wieder eingelassen? Dieser Abend konnte nur ein Desaster werden. Davon abgesehen, dass er nichts Ordentliches zum Anziehen besaß, worüber sollte er mit Cale reden? Niko kannte niemanden, der reich war, und er hatte mit Sicherheit auch noch nie ein Date mit einer solchen Person gehabt.
War das überhaupt ein Date? Cale hatte es nur ein Abendessen genannt, aber offenbar beabsichtigte er, Niko in ein richtiges Restaurant auszuführen. Andererseits sah er es möglicherweise als ein Geschäftsessen an und Niko war nichts anderes als eine bezahlte Begleitung. Bezahlt in dem Sinne von, dass er weder angezeigt noch bei Tanja angeschwärzt wurde. So gesehen hatte Niko verdammt Glück und irgendwie war es auch ganz nett von Cale, ihm diesen Vorschlag zu machen.
Mit rasenden Gedanken schüttelte Niko den Kopf. Es war nicht nett, sondern völlig verrückt. In seinen Augen musste er nichts weiter als ein Taschendieb sein. Fanden reiche Leute solche Dinge tatsächlich interessant? War das ein Spiel für sie? Wie das Kaufen einer verdammten Straße? Verkehrte Welt.
Gott … Malcolm würde ihn auslachen, sobald er von der Sache erfuhr.
Kapitel 3: Ein Nicht-Date im Mondschein
»Ist das wirklich so witzig?«
Niko hasste es, wenn er Recht behielt. Malcolm bekam seit zehn Minuten immer wieder neue Lachkrämpfe und hielt sich an ihrer lädierten Kommode fest. »Es tut mir leid, aber diese Geschichte ist zu köstlich! Wenn ich mir nur dein Gesicht vorstelle … Ist er wenigstens heiß?«
»Er ist … keine Ahnung. Irgendwie schon, aber irgendwie auch nicht. Er hat mich genervt und sah erst so … fertig aus. Als hätte er an dem Tag ziemlich viel Stress gehabt. Keine Ahnung, was das für reiche Leute bedeutet.«
»Na, na. Verurteile ihn nicht, nur weil er Geld hat. Es ist doch ein feiner Zug von ihm, dass er dich nicht verraten oder sogar angezeigt hat.«
»Du hast ja Recht, aber … was soll ich tun, wenn er doch mehr von dem Abend erwartet? Er ist bestimmt daran gewöhnt, das zu bekommen, was er will. Wenn ich mich weigere, kann er mir noch richtige Probleme machen.«
Malcolm zuckte mit den Achseln. »Wäre es denn so schlimm, mit ihm zu schlafen? Er scheint schließlich nicht potthässlich zu sein und du bist auch ewig nicht zum Zug gekommen. Wer war dein Letzter? Dieses Aktmodell? Oder war es der Fotograf?«
»Das Aktmodell«, sagte Niko grinsend. »Oh, der hatte einen richtig großen-«
»Bitte, red nicht weiter!«
»- Appetit. Hat uns fast die Haare vom Kopf gefressen, weißt du noch?« Gerade als Malcolm erleichtert aufatmen wollte, sprach Niko weiter. »Aber sein Schwanz war auch riesig, ja.«
Malcolm sog scharf Luft ein und kniff seine Augen zusammen. Obwohl er selbst etwas mit Männern gehabt hatte, konnte er es nicht leiden, von Nikos Ex-Freunden zu hören. »Danke, Mann. Wie jedes Mal … danke.«
»Du hast damit angefangen«, sagte Niko, aber seine gute Laune hielt nur so lange an, wie er nicht auf das Chaos um sie herum achtete. Ein Teil war bereits aufgeräumt, aber die Täter hatten die Schubladen ihrer Schränke mit einer solchen Wucht herausgerissen, dass das Holz gesplittert war. So konnten sie das meiste ihrer Sachen nur irgendwo in einer Ecke stapeln, bis sie entweder neue Möbel bekamen oder die alten reparierten. »Sie hätten wenigstens etwas vorsichtiger mit unserem Zeug umgehen können. Das ist ein Totalschaden.«
»Sie wollten so schnell wie möglich wieder abhauen«, sagte Malcolm. »Es war riskant genug, am helllichten Tag in eine Wohnung einzubrechen.«
»Hast du noch mal mit der Polizei geredet?«
»Ja, aber sie sind pessimistisch und haben mir durch die Blume erklärt, dass sie Wichtigeres zu tun haben. Ich denke, wir können das Geld und unsere Sachen abschreiben. Und Tanja kann dir auch nichts geben?« Malcolms Stimme klang so hoffnungsvoll, dass Niko am liebsten nicht geantwortet hätte.
»Nein. Sie kann es sich nicht leisten.«
»Dann müssen wir uns etwas anderes einfallen lassen. Vielleicht kann dein neuer Millionärsfreund dein Sponsor werden.«
Niko sah ihn an, als wäre sein Freund verrückt geworden. »Das kann nicht dein Ernst sein. Mein Sponsor? Du meinst, dass er meine Malerei finanzieren soll? Warum sollte er das tun?«
»An deine Malerei habe ich jetzt weniger gedacht, aber das wäre natürlich auch eine Möglichkeit«, meinte Malcolm mit einem Grinsen, das keinen Zweifel darüber ließ, was er eigentlich gemeint hatte. »Millionäre suchen doch immer Bedürftige, denen sie helfen können, um vor ihren reichen Freunden anzugeben. Kann sein, dass das so einer ist. Und wenn nicht … Zumindest steht er auf dich und vielleicht versucht er ja, dich so für sich zu gewinnen. So oder so, das könnte die Lösung für uns sein.«
»Aber dir ist schon klar, dass du gerade wie mein Zuhälter klingst, oder?«
Malcolm winkte ab. »Jetzt sieh das mal nicht so eng. Du sollst ja nicht mit ihm pennen, wenn du nicht willst, aber mal ehrlich: Was sollen wir sonst tun? Eine Karriere als Dieb wirst du wohl kaum hinlegen.«
Malcolms Grinsen war nun so breit, dass Niko ihm gegen die Schulter schlug. »Du bist manchmal wirklich ein Idiot. Ich glaube kaum, dass er mir Geld geben wird. Nicht ohne eine Gegenleistung zumindest. Er hat auch nicht den Eindruck gemacht, als würde ihn die Mitleidstour beeindrucken. Außerdem … ich fühle mich nicht gut dabei. Bisher habe ich immer für mein Geld gearbeitet. Ich will keine Almosen. Das mit dem Diebstahl war eine Verzweiflungstat.«