Shifters - Flucht nach vorn - Francisca Dwaine - E-Book

Shifters - Flucht nach vorn E-Book

Francisca Dwaine

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Beschreibung

Ein Kaninchen inmitten von Raubtieren … so sah Joschis Leben früher aus. Nun lebt er in München, aber als ihn ein Hilferuf seiner Familie ereilt, muss der junge Anwalt zum ersten Mal nach fünf Jahren in sein Heimatdorf zurückkehren. Dort trifft er nicht nur auf seinen alten Erzfeind Theo, sondern auch auf den heißen Dante, der inzwischen Joschis Pflichten auf dem Hof der Familie übernommen hat, und sich ihm gegenüber ungewöhnlich feindselig verhält. Zusätzlich muss sich Joschi mit einem Katzenwandler auf Baldrian herumschlagen, die Streitigkeiten im Dorf schlichten und sich diesen merkwürdigen Gefühlen stellen, denen er sich kaum entziehen kann … Da hilft nur noch eines: die Flucht nach vorn! Hinweis: Dieser Roman ist der Beginn einer neuen Serie, die sich an klassischen Wandlern (Menschen, die sich normalerweise nur in ein Tier verwandeln können) orientiert. Er hat daher nichts mit Deep Valley zu tun.

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Veröffentlichungsjahr: 2023

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Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Impressum

 

Francisca Dwaine

Shifters – Flucht nach vorn

 

 

Inhalt:

 

Ein Kaninchen inmitten von Raubtieren … so sah Joschis Leben früher aus. Nun lebt er in München, aber als ihn ein Hilferuf seiner Familie ereilt, muss der junge Anwalt zum ersten Mal nach fünf Jahren in sein Heimatdorf zurückkehren.

Dort trifft er nicht nur auf seinen alten Erzfeind Theo, sondern auch auf den heißen Dante, der inzwischen Joschis Pflichten auf dem Hof der Familie übernommen hat, und sich ihm gegenüber ungewöhnlich feindselig verhält.

Zusätzlich muss sich Joschi mit einem Katzenwandler auf Baldrian herumschlagen, die Streitigkeiten im Dorf schlichten und sich diesen merkwürdigen Gefühlen stellen, denen er sich kaum entziehen kann …

Da hilft nur noch eines: die Flucht nach vorn!

Copyright © 2022 Francisca Dwaine

 

Alle Rechte vorbehalten.

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt und darf nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin ganz oder in Auszügen vervielfältigt oder kommerziell genutzt werden.

Alle handelnden Personen wurden frei erfunden.

 

Cover © Francisca Dwaine

Unter Verwendung der Bilder von © yacobchuk www.fotosearch.de und © prometeus www.fotosearch.de

 

 

 

Kapitel 1

 

»Er gehört nicht zu uns!«

Während er den Saum seines T-Shirts umfasste und versuchte, seine Tränen zurückzuhalten, zitterten die Schultern des achtjährigen Joschis. Die Worte seines Cousins Wolf hörte er nicht zum ersten Mal, und doch schmerzten sie bis ins Mark.

»Wer will schon mit einem Kaninchen spielen?«, legte sein anderer Cousin Michl nach und Joschi biss sich auf die Unterlippe.

Er musste bereits genug Spott aufgrund seiner Wandlung ertragen. Da wollte er nicht auch noch als Heulsuse beschimpft werden. Dennoch wurde es mit jeder Sekunde schwerer, seine Gefühle zu unterdrücken. So drehte er sich von ihnen fort, sah stattdessen zur untergehenden Sonne, die soeben hinter den Bergen verschwand und atmete tief ein.

Außer den Jungs standen auch noch Joschis fünf Jahre ältere Schwester Elsie und seine Tante Magda auf dem Hof, der inmitten von drei Häusern lag. Hier lebten die von Redeburgs bereits seit Jahrhunderten. Für Außenstehende wirkten sie nur wie eine besser betuchte, ehemals adlige Familie, aber eine ungewöhnliche Kraft machte sie zu etwas Besonderem. Leider war es jedoch genau diese Fähigkeit, die Joschi von den anderen Kindern abgrenzte. Durch sein schneeweißes Haar sah er nicht nur anders aus, er besaß auch nicht die gleichen Möglichkeiten wie seine Cousins und seine Schwester.

»Du sollst so etwas nicht über ihn sagen«, schimpfte Tante Magda und warf Joschi einen traurigen Blick zu. »Er kann doch nichts dafür, dass er anders ist.«

»Mir egal! Wir wollen ihn trotzdem nicht dabei haben.« Damit lief Wolf zu seinem Bruder Michl. Noch während er rannte, schien er auf einmal in sich zusammenzuschrumpfen. Schließlich verschwand er vollkommen in seinen Klamotten und tauchte dann als grauhaariger Maine-Coon-Kater unter ihnen hervor. Lachend tat Michl es ihm gleich, wurde seinerseits zu einer Siamkatze mit tiefblauen Augen. Sie spielten miteinander, hetzten herum und warfen sich spielerisch auf Siggi, der noch in der Gestalt eines menschlichen Jungen steckte, aber etwas abseits von ihnen auf dem Boden eingeschlafen war. Joschis Schwester Elsie stand zunächst unschlüssig auf dem Hof herum, trat dann jedoch von einem Fuß auf den anderen und verwandelte sich ebenfalls. Sie wurde zu einer Fuchsmanguste, einem kleinen Raubtier, das große Ähnlichkeit mit einem Erdmännchen besaß. Trotz der anderen Art warf sie sich auf die spielenden Katzen und begann, mit ihnen herumzutollen.

Kopfschüttelnd ging Magda auf Joschi zu und legte ihre Hände auf seine Schultern. »Sie meinen es nicht so, Joschilein. Sie alle sind nur … kindisch und stur.«

Joschi starrte zu Boden, schluckte hart, als die Tränen nun doch noch über seine Wangen kullerten. So erging es ihm ständig. Während die anderen Kinder in seiner Familie Spaß hatten, stand er am Rand und konnte nur zuschauen. »Aber sie haben recht. Meine Wandlung ist doof und langweilig.«

Energisch schüttelte Magda den Kopf. »Keine Wandlung ist das. Deine ist anders als die von den meisten in der Familie, aber gerade das macht dich zu etwas Besonderem.«

»Was nützt mir das, wenn ich deswegen immer alleine bin? Es stimmt doch, was sie sagen. Ich bin viel zu klein und längst nicht so schnell wie sie. Wenn wir miteinander spielen, müssen sie ständig Rücksicht auf mich nehmen. Ich … ich wünschte, ich könnte wie die anderen sein.«

»Jetzt hör mir mal zu«, meinte seine Tante ernst, ging dabei ein wenig in die Hocke und sah ihn durchdringend mit ihren hellbraunen, fast gelben Augen an. Wie Joschis Haare verwies dieses körperliche Merkmal auf ihre Wandlung, denn wenn sie die Gestalt wechselte, wurde sie zu einem großen Wolf. Vermutlich verstand sie ihn deswegen so gut. Die meisten in ihrer Familie wurden zu katzenartigen Wesen, wodurch ihre Wandlung auch sie von ihren Geschwistern abgrenzte. »Du bist perfekt, so wie du bist. Durch ihre Form sind sie vielleicht schneller, aber dafür hast du andere Fähigkeiten. Und damit meine ich nicht nur, dass du als Kaninchen verdammt niedlich und kuschelig bist.« Als Joschi ihr daraufhin einen verärgerten Blick zuwarf, lächelte sie verständnisvoll. »Du hast mehr im Kopf als jeder andere hier, bist dazu unheimlich liebenswert und willst immer das Richtige tun. Das ist in meinen Augen mehr wert als Flinkheit. Lass dir niemals einreden, du müsstest anders sein, um irgendwo dazu zu gehören, verstanden?«

Joschi nickte zwar, doch der Wunsch, genauso wie der Rest seiner Familie zu sein, blieb auch in den folgenden Jahren bestehen. Für gewöhnlich ähnelten sich die Wandlungen in einer Familie über mehrere Generationen hinweg. So waren die von Redeburgs normalerweise nicht nur Katzen, sondern vor allem Raubtiere. Joschi passte als einer der wenigen nicht in diese Kategorie. Die Erwachsenen hatten zwar nie ein schlechtes Wort über seine Wandlung verloren, aber dafür waren die anderen Kinder in der Familie umso deutlicher und so verbrachte Joschi die meiste Zeit seiner Kindheit alleine.

Als Teenager wurde es besser mit ihnen, doch leider wurde er stattdessen zum Ziel von anderen Gleichaltrigen. In dem Dorf, in dem sie lebten, wusste jeder, was sie waren. Seit Jahrhunderten behielten selbst die normalen menschlichen Bewohner ihr Geheimnis für sich. Es war eine Art Vermächtnis, das von Generation zu Generation weitergegeben wurde.

Das bedeutete allerdings nicht, dass sie jeder mochte. Besonders die Vormanns, eine Familie, die ebenso lange in diesem Dorf lebte wie sie und seit Jahrzehnten einen Bürgermeister für das Dorf stellte, waren nicht gut auf die Wandler zu sprechen.

Diese Abneigung hatte auch der jüngste Sohn der Familie geerbt und so hatte er sich Joschi als leichtes Opfer ausgesucht. Im Gegensatz zu seinen Cousins mied dieser jede Art von Konflikt. Normalerweise gelang es ihm, den Teenagern zu entkommen, doch so manches Mal drängten sie ihn in eine Ecke, bewarfen ihn mit Dreck oder beschimpften ihn als Freak.

Nicht alles davon hatte sich Joschi gefallen lassen. Er war zwar weder groß noch kräftig, doch seine Tante hatte mit einem recht gehabt: Joschi besaß Köpfchen und so wehrte er sich nicht mit seinen Fäusten, sondern mit Worten.

»Seht euch das arme, ängstliche Kaninchen an!«, höhnte der 14-jährige Theo Vormann eines Tages, während er mit drei seiner Freunde vor Joschi stand. Letzterer drängte sich seinerseits an eine Mauer und suchte mit den Augen nach einem Fluchtweg. Es war nicht so, als würden sie ihn verprügeln, doch sie schubsten ihn gerne oder nahmen seine Schulsachen und warfen sie in den Schlamm. Leider war es ihnen dieses Mal gelungen, ihn in eine schmale Gasse zwischen zwei Häusern zu drängen. Hier gab es keinen Ausweg.

»Was ist nun? Hat es dem adligen Fellknäuel die Sprache verschlagen?«

Als Joschi sich sicher war, dass es kein Entkommen gab, seufzte er. Wenn er schon in der Falle saß, würde er sich wenigstens nicht kampflos ergeben. »Eigentlich nicht«, antwortete er Theo. »Ich überlege nur, mit welchen Worten ich dich als Erstes beschimpfen soll. Du gibst eine so armselige Figur ab, es gibt einfach zu viele Möglichkeiten.«

Auf der Stelle legte sich ein rötlicher Schimmer auf Theos sonst milchiges Gesicht und sein dicker Freund Max, der zu seiner Rechten stand, kicherte. »Halt doch das Maul, du … du dämliches Nagetier!«

»Wie einfallsreich«, erwiderte Joschi und rollte mit den Augen. In diesem Moment hoffte er sehr, die Jungs würden ihm seine Angst nicht ansehen. Nicht nur sein niedliches Aussehen sah Joschi als einen Nachteil seiner Wandlung an, auch seine Persönlichkeit wurde von ihr beeinflusst. So spürte er den Drang zu fliehen, sobald nur das kleinste bisschen Gefahr bestand. Ging das nicht, würde er sich normalerweise zu einem zitternden Knäuel zusammenkauern, doch diese Genugtuung wollte er diesen Jungs nicht geben. »Wann begreifst du endlich, wie sinnlos diese dämlichen Aktionen sind? Meine Eltern werden sich nur wieder bei euren beschweren und ihr bekommt Hausarrest, bis ihr 30 seid. Falls es nicht schon längst dazu gekommen ist … bei wie vielen Jahren steht ihr inzwischen?«

»Da hat er nicht unrecht«, meinte Max zu dem zähneknirschenden Theo. »Meine Mutter war beim letzten Mal stinksauer. Ist es das wirklich wert?«

»Mir ist das alles egal«, sagte der große Daniel auf Theos anderer Seite. »Ich würde sowieso viel lieber Fußball spielen.«

Hennes, der etwas weiter hinten stand und ein Gesicht voller Sommersprossen besaß, schien von alldem nichts mitzubekommen. Er hatte längst sein Smartphone herausgeholt und daddelte drauflos.

»Siehst du?«, fragte Joschi und versuchte ein Lächeln, das sich für ihn jedoch gequält anfühlte. Dennoch unterdrückte er seine wahren Gefühle, kämpfte gegen das drohende Zittern seines Körpers an. Vorbei waren die Zeiten, während derer er in Tränen ausbrach. Joschi hatte längst gelernt, die Fähigkeiten zu nutzen, die er besaß. Selbst dann, wenn er nicht mehr tun konnte, als sein Maul aufzureißen. »Deine Karten stehen nicht gut. Was hast du überhaupt gegen mich?«

»Na was schon?«, rief Theo verärgert. »Du bist kein Mensch, sondern ein Monster. Oder denkst du etwa, es wäre normal, sich in Tiere verwandeln zu können? Niemals.«

»Du bist doch nur eifersüchtig. Ich habe selbst gehört, wie du mit deinen Freunden darüber geredet hast, wie cool es wäre, sich in ein Raubtier verwandeln zu können.«

»Das … das habe ich nicht so gemeint!« Nun wurde Theos Gesicht noch röter und er ballte die Hände zu Fäusten. »Außerdem kannst du das auch nicht. Du wirst nur zu einem winzigen Nagetier. Das ist nicht cool, sondern armselig.«

Damit hatte er einen wunden Punkt getroffen, aber das würde Joschi Theo gegenüber nicht zugeben. »Als würde deine Familie deswegen meine hassen. Den wahren Grund kennen wir doch alle: Ihr seid neidisch auf uns! Wir sind die Gründer dieses Dorfes und genießen damit ein Ansehen, welches ihr niemals haben werdet. Dein Vater bleibt auf ewig nur der ehrenamtliche Bürgermeister und genau das Gleiche erwartet dich eines Tages.« Er hatte kaum zu Ende gesprochen, da traf ihn Theos Faust mitten ins Gesicht. Max hielt ihn sofort zurück, aber durch den Schlag schmerzte Joschis Nase und er hatte sich auf die Zunge gebissen. Blut lief nun aus seinem Mund. Sichtlich erschrocken sahen die Jungs ihn an und rannten schließlich davon.

Joschi starrte ihnen zunächst hinterher, wischte sich dann mit der Hand über den Mund und sank vor der Mauer zu Boden.

Nur wenige Sekunden später fand ihn sein Cousin Wolf dort hocken und lief sofort besorgt auf ihn zu. »Ich wusste doch, dass diese kleinen Bälger wieder etwas ausgeheckt haben. So wie die weggerannt sind …« Er kniete sich vor Joschi auf den Boden und betrachtete ihn eingehend. »Alles okay, Jojo? Haben sie dir sehr weh getan?«

Joschi schüttelte den Kopf und sah ihn mit Tränen in den Augen an. Nun gelang es ihm nicht mehr, das Zittern zurückzuhalten. Die Angst, die für ihn mittlerweile ebenso natürlich war wie das Atmen, die Wut über seine Hilflosigkeit und die Frustration, nichts an seiner Situation jemals ändern zu können … all das brach auf ihn herein. Er rollte sich zu einem kleinen Ball zusammen, legte die Arme über seinen Kopf. »Ich kann das nicht mehr, Wolf. Ich muss hier weg. Am besten so schnell wie möglich.«

»Hey, das meinst du nicht ernst.« Wolf schüttelte leicht seine Schulter, doch Joschi wollte ihn nicht ansehen. »Das hier war im Grunde ganz gut. Dieses Mal haben sie dich verletzt und jetzt wird sich selbst der dämliche Vormann nicht herausreden können. Die kriegen richtig Ärger und wagen es bestimmt nicht, dich noch einmal anzufassen.«

Nun sah Joschi doch mit tränennassen Wangen zu ihm auf, fasste in Wolfs dichtes Haar, das dieser stets schulterlang trug und genau wie bei seiner Wandlung wild durcheinander fiel. Es beruhigte ihn immer, die Finger durch diese Mähne gleiten zu lassen. »Wir wissen beide, dass er nicht aufhören wird. Leute wie er bekommen nie ihre gerechte Strafe. Sie hacken auf Schwächeren herum, weil es ihnen Spaß macht, und geben dann den anderen die Schuld. Außerdem ist es ja nicht einmal das.« Als ihm neue Tränen über die Wangen liefen, wischte Joschi sie fort. »Ich gehöre nicht hierher. Ich bin anders als ihr. Dieser Ort nimmt mir die Luft zum Atmen.« Schließlich sah er Wolf entschlossen an und stand auf. »Sobald ich meinen Abschluss habe, gehe ich weg und werde Anwalt. Ich … ich werde diejenigen verteidigen, die das nicht selbst können und so für Gerechtigkeit sorgen.«

Überrascht richtete sich Wolf nun ebenfalls auf. »So nobel das auch ist, deine Eltern würden das niemals zulassen, Jojo.«

»Das ist mir egal. Wenn es sein muss, schaffe ich es eben alleine«, erwiderte Joschi und ballte die Fäuste.

Und an diesem Vorhaben hielt er fest, bis er schließlich neun Jahre später in einem Saal des Münchner Landgerichts stand und mit dem Finger auf eine Dame im geblümten Kleid deutete. »Und deshalb ist eindeutig bewiesen, dass … dass die Kothaufen zu dem Hund dieser Frau gehören. Die Unterlassungsklage ist damit absolut gerechtfertigt.« Nach Beendigung dieses Satzes konnte Joschi ein Seufzen nicht unterdrücken. Dem Richter schien es ähnlich zu gehen, denn er schüttelte merklich den Kopf und rief die Verteidigung auf.

Eine Stunde später saß Joschi mit seinem Kollegen in einem italienischen Restaurant, wo sie für gewöhnlich ihre Mittagspause verbrachten. »Ich habe genug«, sagte er stöhnend. »Zwei Jahre und ich bekomme nur solche Fälle? Wen stört es schon, wenn ein Ast drei Zentimeter über der Grundstücksgrenze hängt? Oder der Nachbar am Sonntagmorgen etwas zu laut die Nationalhymne singt?« Frustriert betrachtete er Georg. »Was mache ich falsch?«

»Du bist nicht aggressiv genug. Schau dir mal Nadja an … ich schwöre dir, die hat nach mir gebissen, als Herr Scholz mit dem neuen Fall heute Morgen gewedelt hat. Alles nur, um als Erste bei ihm zu sein. Das liegt nicht in deiner Natur«, erwiderte sein Freund grinsend und schaufelte sich eine Ladung Lasagne in den Mund. »Immerhin war deine Argumentation schlüssig und deine Mandantin kann sich bald über einen hundekotfreien Garten freuen. Das ist ein Sieg, Joschi. Wenn auch nur ein kleiner.«

Joschi verzog das Gesicht. »So habe ich mir die Arbeit nicht vorgestellt. Ich wollte Menschen richtig helfen und nicht nur Probleme aus dem Weg schaffen, die eigentlich keine sind.«

»Dann musst du eben selbst aktiv werden. Suche dir deine eigenen Mandanten. Eigeninitiative wird bei 'Hermann & Scholz' gern gesehen.« Den letzten Satz hatte Georg mit einer merkwürdig nasalen Stimme ausgesprochen und damit perfekt einen ihrer zwei Chefs imitiert. »Ich meine, du hast immerhin diesen tollen Namen. Joshua von Redeburg. Für einen Anwalt macht der ganz schön was her. Alles, was du für den Erfolg noch brauchst, ist die richtige Attitüde. Du musst … arrogant und selbstbewusst rüberkommen. Wie ich.« Nach diesen Worten grinste er und zeigte damit seine blendend weißen Zähne, die vermutlich sogar den Piloten eines Flugzeugs blenden würden.

»Leichter gesagt als getan. Du hast schon recht … es liegt nicht in meiner Natur«, erwiderte Joschi mit düsterer Miene. Kurz darauf klingelte sein Handy und als er auf das Display sah, klappte sein Mund offen.

»Möchtest du nicht rangehen?«, fragte Georg ihn, nachdem einige Sekunden verstrichen waren.

Mit großen Augen sah Joschi zu ihm auf, schüttelte leicht den Kopf. Anschließend verstarb das Klingeln, doch gerade, als Joschi erleichtert aufatmen wollte, erklang das Geräusch erneut.

Dann musste es wohl wichtig sein, aber … was konnte seine Mutter von ihm wollen?

Kapitel 2

 

 

Zwei Wochen später zog Joschi seinen Koffer unter Ächzen und Stöhnen durch den Schlamm. Der Regen der letzten Tage hatte die ohnehin kaputte Straße überspült. Nun schien wieder die Sonne, doch eine dicke Schicht Erde war auf den Asphaltbrocken zurückgeblieben und erschwerte seinen Weg.

Fast wünschte er sich, er hätte sein Auto genommen, aber diese Straßen waren nichts für einen BMW. Der Kleinbus, der nur zweimal am Tag in diese Richtung fuhr und natürlich ausgerechnet heute ausgefallen war, besaß Allrad-Antrieb und wurde spielend mit derartigen Wettersituationen fertig. Nicht so jedoch Joschis Stadtwagen. Der auf Hochglanz polierte schwarze Luxuswagen machte ja schon bei größeren Schlaglöchern Probleme. Zudem wollte er sich nicht die hämischen Kommentare seiner Cousins vorstellen …

Als ihm der Schweiß über die Stirn lief, blieb Joschi einen Moment lang stehen, wischte sich mit dem Handrücken über das Gesicht und japste nach Luft. Rededorf befand sich zwischen drei Bergen und lag nicht wesentlich höher als München, aber dennoch bemerkte er den Höhenunterschied. Kein Wunder, eigentlich. Schließlich war er das letzte Mal vor fünf Jahren hier gewesen. Die Stadtluft war eine gänzlich andere. Schon jetzt vermisste er den Trubel und den Lärm.

Hier gab es nur das Trällern der Vögel, die Geräusche des Windes zwischen den Bäumen, das Quietschen eines Schubkarrenrades, das mit gewaltigem Tempo näherkam, und … Moment, was?

Verwirrt öffnete Joschi die Augen, blinzelte gegen das Licht der Sonne und sobald er sah, was da genau auf ihn zu donnerte, hob er rasch abwehrend die Hände hoch. »Siggi! Siggi, stopp!«

Im letzten Moment hechtete Joschi zur Seite und landete mit dem Gesicht zuerst im Schlamm. Gleichzeitig dröhnte ein ohrenbetäubendes Krachen in seinen Ohren. Er drehte sich noch rechtzeitig um, um zu sehen, wie sich der Inhalt seines Koffers auf der Straße verteilte. Eine Schubkarre lag umgekippt auf dem Boden und genau daneben befand sich sein Cousin Siggi mit ausgestreckten Gliedmaßen liegend. Er starrte gen Himmel und blinzelte, als wäre er sich nicht sicher, wie er dort gelandet war.

So wie Joschi ihn kannte, entsprach genau das auch der Wahrheit. »Siggi … sieh nur, was du Trottel wieder angestellt hast«, stöhnte er und schüttelte seine Hände aus. Schlamm spritzte nach links und rechts. Seine Kleidung war vollkommen durchnässt und klebte nun an seiner Haut. »Der Anzug hat 2000 Euro gekostet!«

»Tatsache? Ich hab einen für 20 im Schrank hängen und der ist nicht so dreckig«, erwiderte Siggi, ohne sich zu rühren.

Während sein Kopf gefährlich pochte, atmete Joschi tief ein. »Siggi, dreckig ist er nur wegen dir.«

»Ach echt?« Daraufhin glotzte er nur in den Himmel und schien gar nicht ans Aufstehen zu denken. »Hee … was es wohl heute zum Mittag gibt?«

Joschi starrte ihn zunächst an, und als Siggi dann auch noch die Augen schloss und zu schnarchen begann, schüttelte er den Kopf. Während seiner Zeit in der Stadt hatte er die Eigenheiten seines Cousins fast vergessen. Er hatte ein neues Leben fern von diesem Wahnsinn begonnen.

Es war allerdings nicht so, als würde Joschi seine Familie hassen. Ganz im Gegenteil. Vor seinem Umzug waren sie sogar richtig nett zu ihm gewesen, nur … das machte die jahrelange Einsamkeit nicht wieder gut, die er hier ertragen hatte.

Er erinnerte sich noch genau, wie das alles begann. Mit sechs Jahren erhielten die meisten Gestaltwandler ihre Fähigkeiten und erfuhren damit auch, zu welchem Tier sie in Zukunft wurden. Dem Kind wuchsen je nach Wandlung zunächst zusätzliche spitze Ohren oder ein puscheliger Schwanz. Dann lernten sie allmählich, ihre Kräfte zu kontrollieren. Das war nicht schwieriger für sie, als das Laufen oder Sprechen zu erlernen. Es lag ihnen im Blut.

Als Joschi damals jedoch von seiner Form erfahren hatte, war das wie ein Weltuntergang für ihn gewesen. Die Ausgrenzung der anderen Kinder prägte ihn bis heute und machte sein Heimatdorf zu einem Ort, zu dem er eigentlich nie zurückkehren wollte. Fünf Jahre lang hatte er sich dagegen gesträubt, doch nun hatte er keine Wahl mehr. Seine Mutter hatte ihn um Hilfe gebeten und was wäre er schon für ein Mensch, wenn er anderen helfen wollte, aber seine eigene Familie im Stich ließ?

Kopfschüttelnd betrachtete er Siggi, der nun halb im Schlamm liegend schlief und eine von Joschis Unterhosen auf der Brust liegen hatte. Dieser Trottel war der Grund für seine Reise. Ihm war mal wieder ein Malheur im Dorf passiert. Was genau hatte Joschis Mutter nicht am Telefon sagen wollen, doch es musste etwas Ernstes sein, wenn sie es nicht ohne seine Hilfe klären konnten. Als Dorfgründer besaßen die von Redeburgs immer noch ein hohes Ansehen unter den anderen Einwohnern und daher waren Siggis Fehltritte schnell verziehen, wenn er nur hart daran arbeitete, sie wieder gutzumachen. Eine Klage war bisher undenkbar gewesen. Die seltenen Telefongespräche mit seiner Familie wiesen allerdings darauf hin, dass sich die Lage inzwischen geändert hatte. Wofür Siggi dieses Mal auch verantwortlich war, es musste ordentlich Öl ins Feuer gegossen haben.

Mit einem frustrierten Grummeln stand Joschi endlich auf und sammelte seine mit Schlamm bespritzte, durchnässte Kleidung vom Boden auf. Nachdem er sich auch noch die Unterhose von Siggis Brust geschnappt hatte, stopfte er alles in den Koffer und trat seinem Cousin leicht gegen die Seite. Da Siggi daraufhin nur ein widerlich feucht klingendes Schnarchen ausstieß, versuchte Joschi es ein zweites Mal, aber nun etwas fester. Plötzlich schoss Siggi in die Höhe und nahm eine Stellung mit geballten Fäusten ein, als würde er sich gegen einen Feind verteidigen wollen. Sobald er Joschi jedoch bemerkte, grinste er ihn an.

»Oh, willkommen daheim. Gute Reise gehabt?« Er betrachtete ihn von oben bis unten, sah dann anschließend an sich herunter und warf außerdem einen Blick auf die umgestürzte Schubkarre. Erst jetzt nahm Joschi von dem Beutel Kenntnis, der darin gelegen haben musste und nun das schlammige Wasser unter sich aufsaugte. »Oh. Die Sachen sind eigentlich für Eber. Bücher, Klamotten und so weiter.«

»Eber?«, fragte Joschi erstaunt und vergaß für einen Moment seinen Ärger. »Der ist immer noch auf seinem Posten? Er hat vorhin keine Meldung gemacht. Das wäre mir aufgefallen.«

Sichtlich nachdenklich kratzte sich Siggi am Kopf. »Kein Plan, Mann. Er wird älter und schläft in letzter Zeit ständig ein. Deine Mama denkt, er ist zu lange verwandelt geblieben und wird langsam nachtaktiv. Deshalb versuchen wir immer noch, ihn mit diesem Kram hier dazu zu bringen, zum Menschen zu werden. Irgendwas muss er ja vermissen.«

Vergeblich, wie es schien. Bereits, als Joschi das Dorf verlassen hatte, um zu studieren, war Eber so lange wie möglich verwandelt geblieben. Als Eule saß er auf einem Baum am Eingang des Tals und informierte sie über ein Funkgerät, wenn jemand versuchte, das Dorf ohne Ankündigung zu erreichen. Früher hatte er wenigstens noch als Mensch Berichterstattung gegeben, doch nun schien er dauerhaft eine Eule zu bleiben.

»Wenn er sich nicht mehr zurückverwandelt, wie sagt er euch dann, dass jemand kommt?«

»Na, das Funkgerät kann er auch so einschalten. Is ja nur 'n Knopf. Und Elsies Eulisch ist verdammt gut geworden. Die hält die Huus, Schuuhs und Wahuus auseinander wie nichts.« Als Siggis Augen auf Joschis verbeulten Koffer fielen, runzelte er die Stirn. »Den solltest du reparieren lassen. Sieht übel aus.«

»Dir ist schon klar, dass ich das allein dir zu verdanken habe, oder?«

Als Siggi ihm daraufhin nur ein verpeiltes Grinsen zuwarf, schüttelte Joschi den Kopf. Er sollte wahrscheinlich keine Entschuldigung erwarten. Diesem Mann war selten bewusst, was er mit seinen Handlungen anrichtete.

Mit einem düsteren Blick stellte Joschi seinen Koffer auf und zog ihn hinter sich her, um die Räder zu testen. Sie liefen nicht ganz rund, doch wenigstens halbwegs funktionierten sie noch.

Siggi tat es ihm gleich, stellte seine Schubkarre auf und legte den Sack wieder hinein. Auch der war nun voll mit Schlamm und Joschi wollte sich gar nicht erst vorstellen, wie der Inhalt aussah. »Ich werd' dann mal weiter zum Eber. Riech dich später, Alter!«

»Wenn ich nicht bald aus diesen Klamotten rauskomme, dann ganz sicher«, brummelte Joschi genervt und setzte seinen Weg fort. Sobald er seinen Koffer einen Hügel hinaufgezogen hatte, sah er es auch schon.

Mit nur 1523 Einwohnern war Rededorf klein, aber dennoch etwas Besonderes. Es bestand aus zahlreichen verwinkelt gebauten Häusern, die mit engen Gassen verbunden waren, und erinnerte damit stark an Italien. Zwar gab es fließendes Wasser, Strom und ein modernes Abwassersystem, aber ansonsten war hier noch alles wie vor 200 Jahren. Man begegnete mehr Pferdekutschen als Autos, in den Läden, die besonders Handwerkskunst anboten, wurden sämtliche Arbeiten mit altbekannten Methoden gefertigt und nicht selten setzten sich die Leute vor ihre Häuser, um gemeinsam mit den Nachbarn zu essen und miteinander zu quatschen.

Das hatte Joschi immer an seinem Heimatdorf geliebt, aber leider gab es auch vieles an diesem Ort, das ihn wünschen ließ, sofort wieder umzudrehen. Ein Grund dafür lachte laut auf, sobald er das Dorf betrat.

»Wie siehst du denn aus? Trägt man das so in der großen Stadt?«

Theo Vormann. Natürlich musste er ausgerechnet ihm begegnen, während er mit Schlamm bespritzt war und einen verbeulten Koffer hinter sich her zog. Nach wie vor war seine Haut milchig blass, aber er trug die Haare kürzer als früher und schien ordentlich trainiert zu haben, denn dicke Muskeln zeichneten sich unter seinem T-Shirt ab. Dieser gehässige Ausdruck auf seinem Gesicht hatte sich allerdings nicht verändert.

Wie auch schon damals ignorierte Joschi ihn und lief ohne ein Wort an Theo vorbei. Aber natürlich folgte dieser ihm. »Was denn? Ist der Herr Staranwalt sich zu fein, mit dem niederen Volk zu reden?«

»Vielleicht habe ich auch einfach keine Lust, meine Zeit mit jemandem wie dir zu verschwenden?«

Kaum hatte Joschi diesen Satz beendet, wurde er mit so einer Wucht nach vorne geschubst, dass er seinen Koffer losließ und mit rudernden Armen stolperte. Erstaunt sah Joschi ihn daraufhin an. Nach dem Schlag von damals hatte Theo es nicht mehr gewagt, ihm gegenüber handgreiflich zu werden. Derartige Skrupel schienen ihm nun allerdings fremd zu sein.

»Pass auf, was du sagst, du Missgeburt!«, rief dieser ihm mit Wut verzerrtem Gesicht zu. »Ihr von Redeburgs haltet euch vielleicht für etwas Besseres, aber ihr habt hier gar nichts mehr zu melden. Ich könnte dich auf offener Straße zusammenschlagen und niemand würde ein Wort dagegen sagen.«

Mit großen Augen sah sich Joschi um. Leider schien er recht zu haben. Obwohl einige Bewohner aus ihren Häusern kamen, um nachzuschauen, was auf der Straße los war, rührte niemand einen Finger, um ihm zur Hilfe zu eilen.

»Die alten Zeiten sind vorbei«, meinte Theo nun grinsend zu Joschi. »Warte es nur ab. Bald ist das hier eine freakfreie Zone.«

»Ach ja? Ich wusste gar nicht, dass du umziehen willst«, sagte auf einmal eine unbekannte, tiefe Stimme.

Joschi drehte sich um und musste unweigerlich schlucken. Ein Mann trat neben ihn, wie er ihn bisher selten gesehen hatte. Kräftig gebaut, braungebrannt und beladen mit Einkäufen, durch deren Schwere seine riesigen Bizepse angespannt waren. Während sein Herz zu rasen begann, fluchte Joschi innerlich. Natürlich musste er mit Schlamm bedeckt sein, wenn er seinen Traummann traf. Wie könnte es auch anders sein?

»Misch dich nicht ein«, zischte Theo dem Fremden zu. »Du hast hier noch weniger zu sagen als er. Dieser Freak wurde hier wenigstens geboren.«

Bei diesen Worten zuckte sofort Joschis Nase. Tatsächlich … der Mann sah nicht nur unglaublich gut aus, sondern er war auch noch eindeutig ein Wandler. Am Telefon hatte er von seiner Mutter gehört, dass sie jemanden geholt hatten, um Joschi zu ersetzen, aber wie heiß der Neue war, das hatte sie dabei nicht erwähnt.

»Ich habe den Auftrag, ihn abzuholen. Der Einzige, der hier stört, bist du.« Der Fremde grinste. »Oder willst du dich mit mir anlegen? Du weißt bestimmt noch, was ich mit deinem Handlanger gemacht habe, als der frech geworden ist, oder?«

Theo starrte ihn mit vor Zorn funkelnden Augen an. Dann drehte er sich von ihnen fort. »Das ist noch nicht vorbei. Ihr werdet schon sehen, was ihr davon habt, euch mit meiner Familie anzulegen!«

Nachdem er daraufhin hinter der nächsten Straßenecke verschwand, schnaubte der Traumtyp verächtlich. »Große Klappe, aber nichts dahinter.« Auf einmal sah er zu Joschi, der vor Scham augenblicklich errötete. Er musste aussehen wie ein Idiot. »Du bist Siggi begegnet, was?«

»So offensichtlich?«, fragte Joschi mit einem leichten Grinsen.

Der Mann seiner schlaflosen Träume zuckte mit den Achseln. »Ich bin jedenfalls Dante. Deine Mutter hat sich Sorgen wegen der Vormanns gemacht. Deshalb sollst du vorerst nicht alleine im Dorf herumlaufen.« Damit ging er auf einmal die Straße hinunter.

Verblüfft hob Joschi den Griff seines Koffers vom Boden auf, zog diesen hinter sich her und folgte ihm. »Dann ist es tatsächlich so schlimm geworden?«

»Ich fürchte ja. Vormann hat viele Menschen hier davon überzeugt, dass unser Benehmen nicht mehr hinnehmbar ist. Nein … stattdessen denken sie sogar, wir wären eine Gefahr. Dabei ist Siggi der Einzige, der hier Probleme macht. Als ich hier angefangen habe, haben die Leute seine Tollpatschigkeit noch als eine liebenswürdige Eigenschaft angesehen, aber durch das Feuer letztens ist die Meinung der Öffentlichkeit gekippt. Fast hätte es sich ausgebreitet und wäre auf die anderen Häuser übergegangen. Viele haben nun Angst und wollen deiner Familie ihre Macht entziehen. Sie drängen sie dazu, ihre Grundstücke zu verkaufen.«

Ein Feuer? Joschi wollte eigentlich nachfragen, doch es fiel ihm schwer, mit Dante Schritt zu halten. Dieser drehte sich kein einziges Mal zu ihm um und sprach einfach weiter.

»Deshalb bist du hier. Deine Mutter meint, du wärst gut darin, andere von etwas zu überzeugen. Wenn ich an vorhin denke, bin ich ja eher skeptisch. Besonders schlagfertig war das nicht gerade.«

Stirnrunzelnd blieb Joschi stehen, betrachtete nachdenklich Dantes breiten Rücken. Bildete er sich das nur ein oder spürte er tatsächlich eine gewisse Feindseligkeit, die von diesem Mann ausging? »Theo hat früher schon immer versucht, mich fertig zu machen. Das war nur … ein Ausrutscher. Ich bin aber wirklich gut in dem, was ich tue.«

»Ich muss dich wohl beim Wort nehmen. Hoffen wir mal, dass du die Erwartungen, die in dich gesetzt werden, erfüllst. Die Stimmung im Dorf ist schon angespannt genug. Wir brauchen Resultate und keinen Möchtegernanwalt, der versucht, sich als Retter aufzuspielen.«

Während er sprach, war der Tonfall dieses Mannes immer schärfer geworden und nun war sich Joschi sicher. »Sag mal … hast du irgendetwas gegen mich?«

»Gegen einen Kerl, der seine Familie im Stich lässt und nicht einmal Zeit hat, regelmäßig mit ihr zu telefonieren? Warum sollte ich?«

Während sich Dantes Schultern sichtlich anspannten, widerstand Joschi der Versuchung, einen Seufzer auszustoßen. Das fing ja toll an. »Ich war erst mit dem Studium beschäftigt und muss jetzt versuchen, mich in meiner Firma durchzusetzen. Das bedeutet, ich bin von morgens bis abends im Büro. Außerdem kann ich nicht ständig Urlaub nehmen.«

»Du hast freie Tage, oder? München ist nicht weit weg. So eine Behandlung haben deine Eltern nicht verdient.«

»Das geht dich nichts an«, erwiderte Joschi gereizt. So attraktiv er auch war, Dante hatte kein Recht dazu, ihn für sein Handeln zu verurteilen. Als sich dieser jedoch zu ihm umdrehte, zuckte Joschi augenblicklich zusammen und musste kurz gegen das Verlangen ankämpfen, die Flucht zu ergreifen. Ja, Dantes Wandlung war eindeutig die eines Raubtiers. Welche, das konnte Joschi noch nicht genau sagen, aber seine schwarzen Haare, die mit helleren Flecken übersät waren, standen an zwei Stellen ab und sahen dabei ein bisschen wie Katzenohren aus. Zwar ähnelte nicht jeder Wandler dem Tier, zu dem er wurde, doch diejenigen von ihnen, die noch einigermaßen reines Wandlerblut besaßen, wiesen gewisse Merkmale auf. Zusätzlich zu seinen Haaren hatte Dante hellbraune Augen, die wie bei Joschis Tante Magda schon fast eine Spur von Gold aufwiesen.

Sein Gegenüber schnaubte auf einmal. »Sehe ich so aus, als würde ich dich fressen wollen? Stell dich nicht so an. Tu einfach das, wofür du hier bist, und verschwinde wieder ganz schnell in deine Großstadt. Dann sind wir alle glücklich.«

Joschi richtete daraufhin den Blick zu Boden und trottete wortlos hinter ihm her. Dabei versuchte er, das Getuschel der Leute um sie herum zu ignorieren. Früher hatte ihn jeder gegrüßt, wenn er durch das Dorf gelaufen war, doch nun betrachteten sie ihn wie eine unerwünschte Ratte.

»Wie hat Vormann das geschafft?«, fragte Joschi schließlich, als sie den Stadtteil mit den kleinen Gassen hinter sich ließen und das Wohngebiet der größeren Einfamilienhäuser erreichten. »Die Stimmung scheint sich um 180 Grad gedreht zu haben.«

»Propaganda. Er hat den Leuten erzählt, was Wandler angeblich in der Geschichte getan haben. Beweisen kann er natürlich nichts, aber genauso wenig können wir das Gegenteil nachweisen. Noch dazu behauptet er nun, deine Familie hätte den Vormanns das Land geklaut. Wie du weißt, haben sie das Dorf mit ihrer Hilfe gegründet. Nun sagen die Vormanns jedoch, ihr Ururur-Großvater wäre damals betrogen worden.«

»Das ist doch Blödsinn. Aus den alten Schriftstücken geht eindeutig hervor, dass dieses Land den von Redeburgs gehört.«

»Vormann behauptet, es wären Fälschungen. Das Problem ist, dass er ständig auf die Leute einredet. Er lässt Behauptungen in jedes Gespräch einfließen.«

Joschi strich sich über sein Kinn und kratzte sich anschließend mit verzogenen Mundwinkeln den getrockneten Schlamm ab. Er mochte sich gar nicht vorstellen, wie sein Gesicht inzwischen aussah. »Das ist Verleumdung und üble Nachrede. Vor Gericht würde er damit nicht durchkommen. Aber wie ich meine Familie kenne, wollen sie das ohne Verhandlung regeln?«

»Natürlich. Sie wünschen sich Frieden und keinen Krieg.«

Wie könnte es auch anders sein? Es war schon merkwürdig, wie sehr eine Familie von Raubtieren Konflikten aus dem Weg ging.

»Du scheinst genauso wenig davon zu halten wie ich«, sagte Joschi vorsichtig.

Dante stieß ein missmutiges Schnauben aus. »Bilde dir nichts darauf ein. Ich bin nur nicht naiv und habe nicht die Vorgeschichte deiner Familie. Ich meine, ich verstehe schon, dass sie mit den Vormanns seit Jahrzehnten eine enge Bindung haben, aber es gefällt mir nicht, wie diese liebenswürdigen Menschen durch den Dreck gezogen werden.«

»Du hältst viel von meiner Familie.«

Aufgebracht drehte sich Dante zu ihm um. »Natürlich! Sie sind nicht nur eine der ältesten Wandlerfamilien der Welt, sondern sie haben mir auch ein Zuhause gegeben, als ich nicht wusste, was ich mit meinem Leben anfangen soll. Ich verdanke ihnen eine Menge.« Seine Miene verdüsterte sich. »Und genau deshalb kann ich dir nicht vergeben. Du weißt nicht einmal, wie sehr du deine Eltern verletzt hast.«

Joschi betrachtete ihn mit einer Mischung aus Verwirrung und Scham. Womöglich wusste er das wirklich nicht. Natürlich hatte er bemerkt, dass seine Mutter bei ihren seltenen Gesprächen häufiger erwähnt hatte, er sollte doch mal nach Hause kommen, aber … vermissten sie ihn tatsächlich so sehr? Früher war Joschi immer in der Familie untergegangen. Mit seiner für sie ungewöhnlichen Wandlung fehlte ihm eine Verbindung, die die anderen besaßen. Er kam sich daher wie eine Last vor und fühlte sich nicht wie ein richtiger Teil der Familie.

»Ich wusste nicht, dass ich … dass ich überhaupt vermisst werde«, gab er schließlich zu. »Du fühlst dich hier vielleicht zu Hause, aber für mich war es anders.«

»Wie auch immer«, gab Dante zurück und dieses Mal meinte Joschi, ein kaum wahrnehmbares Fauchen seiner Stimme zu entnehmen.

Plötzlich neugierig ging er schneller, sodass er etwa auf gleicher Höhe mit ihm lief und sah ihn von der Seite her an. »Sag mal … was ist deine Form?« Er betrachtete die abstehenden Haare und schmunzelte. »Katze, oder? Zumindest irgendeine Katzenart … Wenn ich mir deine Statur so ansehe, denke ich, es ist eine größere?«

»Hat dir noch nie jemand gesagt, es ist unhöflich, einen Wandler so etwas zu fragen?«

War es das? Joschi hatte bisher nie einen getroffen, der nicht Teil seiner Familie war. »Tut mir leid, aber ich bin neugierig.«

»Und du redest zu viel. Wir sind gleich da.«

Überrascht sah Joschi auf und bemerkte nun, dass sie vor der Allee standen, die direkt zum Anwesen seiner Familie führte. In der Ferne entdeckte er bereits das gusseiserne Tor.

Das Grundstück der von Redeburgs war ungefähr fünf Hektar groß. Drei unter Denkmalschutz stehende Bauernhäuser befanden sich darauf, die seiner Mutter, seiner Tante und seinem Onkel gehörten. Ihr Geld verdiente seine Familie durch die Stadtführungen, Mieteinnahmen und mit Milchkühen, die, worauf besonders seine Mutter bestand, noch mit der Hand gemolken wurden. Es war weniger effizient, aber die Milch ihrer Kühe galt im ganzen Land als die beste, die es gab.

Unweigerlich musste Joschi lächeln, als sie unter den Birken und Kirschen auf das Anwesen zuliefen. »Diesen Weg habe ich schon immer geliebt. Schade, dass die Blütezeit der Kirschbäume vorbei ist.«

»Tja, wärst du mal früher hier gewesen.«

Diesmal musste Joschi mit den Augen rollen. Dieser Kerl war wirklich nachtragend.

Als sie schließlich das Tor erreichten, wollte er zunächst seinen Schlüssel herauskramen, aber Dante drehte sich ihm mit missmutigem Gesicht zu und betrachte ihn von oben bis unten. Kopfschüttelnd stellte er seine Einkäufe auf den Boden und zog ein Taschentuch aus seiner Hosentasche. Zu Joschis Überraschung legte er eine Hand auf sein Kinn, drückte es nach oben und begann, sein Gesicht mit dem Tuch vom Schlamm zu befreien. »So kannst du den Herren des Hauses unmöglich begegnen.«

Dabei betrachtete ihn Joschi mit großen Augen. Er fühlte sich auf einmal an einen der Schundromane erinnert, die er gerne in seiner Freizeit las. In einem von ihnen hatte es eine Situation gegeben, wo der Protagonistin von ihrem Angebeteten auf gleiche Weise das Gesicht gesäubert wurde. Dort war es allerdings als eine romantische Geste dargestellt worden.

Im Gegensatz zu dem Helden der Geschichte besaß Dante das Feingefühl einer Schleifmaschine und rubbelte mit dem Taschentuch so feste auf seinem Gesicht herum, dass Joschi davon überzeugt war, er würde bald nur noch die Hälfte seiner Haut besitzen.

Trotz seiner nun brennenden Nerven fiel ihm aber gleichzeitig etwas auf. Dieser merkwürdige Drang, einen anderen zu säubern … »Du bist wirklich eine Katze«, flüsterte er Dante zu. »Entweder das oder ein Affe.«

Auf einmal hielt der Mann inne, stopfte das Tuch in seine Hosentasche und fauchte: »Vergleich mich noch mal mit einem Primaten und der Schlamm wird dein geringstes Problem sein, verstanden?«

Joschi grinste. Mit dem Temperament? Auf jeden Fall Katze.

»Komm jetzt. Du siehst zwar immer noch aus, als wärst du ein betrunkener Landstreicher, der in einer Pfütze gelandet ist, aber das muss vorerst reichen.« Dante griff in seine andere Tasche, zog einen großen Schlüssel heraus und schloss das Tor auf.

Auf dem Anwesen schien sich seit seines Umzugs nichts verändert zu haben. Kein Wunder, eigentlich. Schließlich liebte seine Familie Traditionen. Selbst die Form der Büsche und die Anordnung der Blumen in den Beeten war seit Jahrzehnten gleich geblieben.

Während sie den Weg zu dem in der Mitte stehenden Haus hinaufgingen, trafen sie bereits einige Mitglieder von Joschis Familie. Sein Onkel Christoph grüßte ihn, bevor er sich auf einer Bank unter seinem Lieblingsbaum zurückzog, um, wie jeden Vormittag, summend Pfeife zu rauchen. Sie trafen außerdem seine Nichte und seinen Neffen, die ihn trotz seines Zustandes kurz umarmten und dann in ihren Klamotten verschwanden, um Sekunden später als kleine Katzenkinder darunter hervorzuschießen und einander zu jagen begannen.

»Sie sind so groß geworden«, flüsterte Joschi, während er sie beobachtete. »Und ihre Verwandlung scheinen sie perfekt unter Kontrolle zu haben.«

»Natürlich. Es ist schließlich fünf Jahre her.«

Joschi seufzte schwer. »Ist es dir eigentlich nicht peinlich, dich ständig zu wiederholen? Ich hab's kapiert, in Ordnung? Ich bin der schlechteste Sohn, Neffe, Onkel und was auch immer der Welt.

---ENDE DER LESEPROBE---