Zeig mir, wer ich bin, aber bitte tu es nicht - Francisca Dwaine - E-Book

Zeig mir, wer ich bin, aber bitte tu es nicht E-Book

Francisca Dwaine

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Beschreibung

Nach seiner Scheidung hasst Jens alles und jeden. Missmutig lässt er seine Stimmung an anderen aus, ist ein grauenhafter Boss und ein noch schlechterer Bruder. Erst der süße Oli, der eines Tages in seine Tierpraxis marschiert und ihn als Arsch beschimpft, bringt wieder etwas Farbe in sein Leben. Leider besitzt dieser Mann aber auch einen ausgeprägten Fluchtreflex, steckt gleichzeitig in einer schweren Identitätskrise und sucht daher nach jedem Zusammentreffen kurzerhand das Weite. Dennoch ist Jens von ihm fasziniert. Er gibt nicht auf und gemeinsam gelingt es ihnen schließlich, sich ihren Problemen zu stellen.

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Veröffentlichungsjahr: 2022

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Francisca Dwaine

Zeig mir, wer ich bin, aber bitte tu es nicht

 

 

Inhalt:

 

Nach seiner Scheidung hasst Jens alles und jeden. Missmutig lässt er seine Stimmung an anderen aus, ist ein grauenhafter Boss und ein noch schlechterer Bruder. Erst der süße Oli, der eines Tages in seine Tierpraxis marschiert und ihn als Arsch beschimpft, bringt wieder etwas Farbe in sein Leben. Leider besitzt dieser Mann aber auch einen ausgeprägten Fluchtreflex, steckt gleichzeitig in einer schweren Identitätskrise und sucht daher nach jedem Zusammentreffen kurzerhand das Weite.

Dennoch ist Jens von ihm fasziniert. Er gibt nicht auf und gemeinsam gelingt es ihnen schließlich, sich ihren Problemen zu stellen.

 

 

»Zeig mir, wer ich bin, aber bitte tu es nicht« erzählt die Geschichte von Oli, der bereits in »Berühr mich, aber bitte tu es nicht« seinen Auftritt hatte. Da die Romane zu Beginn zeitgleich spielen, überschneiden sich einige Szenen, werden aber aus anderer Sichtweise erzählt.

Copyright © 2020 Francisca Dwaine

 

Alle Rechte vorbehalten.

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt und darf nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin ganz oder in Auszügen vervielfältigt oder kommerziell genutzt werden.

Alle handelnden Personen wurden frei erfunden.

 

Cover © Francisca Dwaine

Unter Verwendung der Bilder von © Choreograph www.fotosearch.de und

© curaphotography www.fotosearch.de Vielen Dank an meine Betaleser, die mich bei der Entstehung dieser Geschichte tatkräftig unterstützt haben.

 

 

 

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Epilog

Impressum

Kapitel 1

 

»Ich denke, wir sollten aufgeben. Es hat keinen Zweck mehr.«

Das waren die zwei Sätze, die Jens Fahrenberg nie vergessen würde. Sie bedeuteten das Ende einer sechsjährigen, unglaublichen Beziehung und gleichzeitig das Aus seiner Ehe. Als es ihnen 2017 endlich erlaubt worden war, richtig zu heiraten, hatten sie genau das als ihre letzte Chance angesehen. Jens war davon überzeugt gewesen, eine Hochzeit wäre der Funke, der ihre Flamme wieder aufleben ließ, doch letztendlich hatte es nicht funktioniert.

Gavin sah ihn traurig an. Er war kleiner als Jens – eine Tatsache, die Gavin tödlich nervte –, doch dafür besaß er eine riesige Persönlichkeit. Ihre Beziehung war stets ein Kampf gewesen. Unablässig hatte Gavin ihn herausgefordert und etwas in Jens geweckt, das dieser zuvor nicht gekannt hatte. Durch ihn war er ein anderer, ein besserer Mann geworden. Umso schwerer war es nun, ihn diese Worte sagen zu hören. »Es tut mir wirklich leid, aber du weißt, dass ich recht habe. Wir haben gekämpft und … ich dachte, wir könnten es schaffen. Das war ein Irrtum.«

»War es nicht!« Jens trat auf ihn zu, legte die Hände auf Gavins Schultern. Sanftes Morgenlicht fiel durch die Terrassentür ihres Hauses in das Wohnzimmer hinein, doch Gavins Gesicht lag in Schatten. »Wir brauchen nur etwas mehr Zeit. Wenn wir darüber reden, dann wird alles besser. Bestimmt! Wir-«

Gavin schüttelte den Kopf. »Gefühle kommen durchs Reden auch nicht wieder zurück. Ich liebe dich nicht mehr und ich weiß, dass du im Grunde genauso fühlst. Du liebst immer noch die Erinnerungen an früher und willst das zurück. Mir geht es nicht anders, aber wir sollten realistisch sein.«

»Realistisch? Das war unsere Beziehung doch von Anfang an nicht. Denk mal an all die Leute, die gesagt haben, wir würden nicht zueinander passen. Sie lagen falsch«, meinte Jens eindringlich. Er erinnerte sich noch genau an die ersten Monate ihrer Beziehung. Jeder hatte ihnen gesagt, sie würden einander nur schaden. Wie könnte auch ein störrischer und wenig ambitionierter Mann wie Jens das streitsüchtige Energiebündel Gavin glücklich machen? Doch sie hatten es allen gezeigt. Ihre Beziehung hatte sie beide zu besseren Menschen gemacht. Nur durch Gavin hatte Jens den Mut finden können, seine eigene Tierpraxis zu eröffnen und Gavin war durch ihn gelassener, harmoniebedürftiger geworden. »Gerade weil wir so unterschiedlich sind, haben wir einander perfekt ergänzt und das tun wir immer noch. Gefühle können durch die kleinsten Dinge zurückkommen. Wir sollten zusammen wegfahren … an die Nordsee vielleicht. Wir könnten uns das gleiche Ferienhaus mieten wie beim letzten Mal.«

Ein schwaches Lächeln bildete sich auf Gavins Lippen. »Du bist immer schon ein Kämpfer gewesen. Ich musste mich so unheimlich anstrengen, mit dir mitzuhalten.«

»Du hast diese Seite doch erst in mir geweckt. Vor dir hatte ich keinerlei Ehrgeiz. Ich wäre auf ewig ein Angestellter geblieben und hätte nicht einmal daran gedacht, meinen Traum von einer eigenen Praxis zu verwirklichen. Bitte … wirf nicht weg, was wir zusammen haben.« Verzweifelt sah Jens Gavin an, doch bevor dieser auch nur ein Wort geäußert hatte, wusste Jens, dass es vergebens war. Gavin hatte seine Entscheidung bereits getroffen und war nicht mehr davon abzubringen. Diese unglaubliche Sturheit war eine der Eigenschaften, in die er sich verliebt hatte.

»Das, was wir hatten, ist längst weg. Früher haben wir einander noch mit kleinen Dingen überrascht. Es hat mich glücklich gemacht, dir etwas zu Essen in die Praxis zu bringen oder dir eine Kleinigkeit zu schenken. Wenn ich das heute tue, fühlt es sich wie eine Aufgabe an und ich weiß, dir geht es genauso. Eine Beziehung sollte aber nicht so sein. Wir sollten einander etwas Gutes tun wollen, weil wir uns lieben und nicht, um den Schein aufrechtzuerhalten, alles wäre noch so wie früher.«

Jens öffnete den Mund, um zu protestieren, doch kein Wort verließ seine Lippen. Im Grunde wusste er, dass Gavin recht hatte. Das letzte Jahr war eine Katastrophe gewesen. Jedes gemeinsame Abendessen hatte sich wie eine Verzweiflungstat angefühlt.

Niedergeschlagen sah Jens zu Boden. Er ballte die Fäuste, machte sich bereit für den Kampf, doch dieses Mal gab es keinen Gegner, den er bekämpfen konnte. Ihre Beziehung war bereits verloren. »Ich will aber nicht, dass es vorbei ist.«

Plötzlich legte Gavin die Hände auf Jens' Wangen, zwang ihn auf diese Weise dazu, in seine grünen Augen zu sehen. Als Jens begriff, es würde eines der letzten Male sein, dass er ihn auf diese Weise berührte, zog sich seine Brust schmerzhaft zusammen. »Das will ich auch nicht, aber … das ist es schon längst.«

»Und wie soll ich jetzt weitermachen? Ich kann mir ein Leben ohne dich nicht mehr vorstellen«, sagte Jens mit schwacher Stimme.

»Du wirst klarkommen. Wir wissen beide, wie stark du bist. Versprich mir nur bitte eines: Verschließe dein Herz nicht wieder. Ich will nicht, dass du so wirst, wie ich dich kennengelernt habe. Es war ein hartes Stück Arbeit, deine Mauern einzureißen. Ich will nicht der Grund dafür sein, dass du sie wieder aufbaust. Mit dieser Wut solltest du nicht leben.«

Das war ein Versprechen, das Jens nicht geben wollte. Gavin sah ihn jedoch so an, wie er es immer tat, wenn er etwas von ihm verlangte und so oft sie auch während ihrer gesamten Beziehung gegeneinander gekämpft hatten, dieser sanfte und doch entschlossene Blick war die Waffe gewesen, durch die Jens stets verloren hatte.

»Ich verspreche es.«

 

***

 

 

Selbst ein Jahr nach ihrer Trennung dachte Jens immer noch an diesen Moment. Er war ihn mindestens tausendmal in seinen Gedanken durchgegangen, hatte überlegt, ob es nicht irgendetwas gab, womit er ihre Ehe schließlich doch noch hätte retten können. In seiner Vorstellung war das Ergebnis aber jedes Mal das gleiche. Seine Welt brach zusammen und er verlor alles.

Sogar das unglaubliche Haus, das sie gemeinsam gekauft hatten. Da Gavin als plastischer Chirurg mehr verdiente, hatte er es behalten und Jens ausbezahlt. Zum Teil vermisste er das kleine Einfamilienhaus, aber Gavin gehörten ohnehin die meisten Möbel und er hing wesentlich mehr an dem Objekt.

Jens war stattdessen in eine Ein-Zimmer-Wohnung in der Nähe seiner Praxis gezogen. Er brauchte auch eigentlich nicht viel Platz, mochte es im Gegensatz zu Gavin lieber klein und gemütlich.

Das war ebenfalls eines der Dinge, die stets zwischen ihnen gestanden hatten. Gavin mochte es groß, eindrucksvoll und pompös. Jens blieb lieber im Hintergrund, stellte sich nie in den Mittelpunkt und vermied Menschenmengen. Wenn er Gesellschaft suchte, dann war das meistens in Form einer Katze oder eines Hundes.

Das lag vor allem an ihrer Ehrlichkeit. Menschen logen, wann immer sie konnten, aber Tiere zeigten stets, wie sie sich fühlten. Am liebsten hätte er sich mit Gavin einen Hund angeschafft, doch da dieser allergisch auf fast alle Arten von Tierhaar reagierte, war das ein unerfüllter Traum geblieben.

Jens musste immer noch schmunzeln, wenn er daran dachte, wie Gavin regelmäßig an die Scheibe der Praxis geklopft hatte, um ihm und seinen Mitarbeitern etwas zu Essen zu bringen. Jens musste sich nach der Arbeit sogar im Untersuchungsraum umziehen, um ja keine Tierhaare mit nach Hause zu schleppen. Vielleicht hätte er aufgrund all dieser Unterschiede zwischen ihnen ahnen müssen, dass ein Funken Wahrheit in den Worten der anderen gelegen hatte, doch Gavin und er waren glücklich zusammen gewesen. Für die meiste Zeit zumindest.

Nun war das Trennungsjahr beendet und die Scheidung offiziell durch. Jens hatte Gavin nach dem letzten Treffen mit ihren Anwälten weder gesehen noch mit ihm gesprochen. Vermutlich war es besser so. Gavin sollte ihn nicht so sehen.

Trotz seines Versprechens war es Jens nicht gelungen, sich zusammen zu reißen. Zunächst hatte er es versucht, doch mit der Zeit war ihm immer bewusster geworden, wie sehr er Gavin brauchte. Ihre Liebe war vielleicht bereits vor Jahren erloschen, aber er war nicht nur sein Partner, sondern auch Jens' Anker gewesen.

Ohne diesen Hoffnungsschimmer in seinem Leben erschien nun alles so sinnlos. Durch Gavin hatte er sich wie ein starker Held gefühlt, der erreichen konnte, was immer er sich in den Kopf setzte. Ohne ihn schien Jens auch seine Kraft, seine Energie verloren zu haben. Er konzentrierte sich stur auf seinen Job und wurde genauso, wie Gavin befürchtet hatte: sarkastisch und verschlossen.

Nur selten machte er sich morgens die Mühe, sich zu rasieren. Er hatte längst aufgegeben, seine Kleidung zu bügeln und falls er es noch mal wagen sollte, seinen Haaren mit einer Bürste auch nur nahezukommen, würden diese vermutlich vor Schreck ausfallen. Eines war also sicher: Er hatte auf ganzer Linie versagt, sein Leben auf die Reihe zu bekommen.

»Sie sehen aus wie das, was die Katze dieser alten Dame vorhin auf den Untersuchungstisch gekotzt hat.«

Genervt wandte sich Jens seiner blonden Tierarzthelferin zu. Sie besaß einen etwas üppigeren Körperbau und ein verschmitztes Grinsen lag stets auf ihren Lippen. Eigentlich war ihre Arbeitszeit bereits seit zwanzig Minuten vorbei, doch während der letzten Tage war sie immer länger geblieben, um Jens Ratschläge zu erteilen. »Wie charmant, Anita.«

»Sie schätzen es doch, wenn ich ehrlich bin. Ist es wegen Gavin? Wirklich schade, dass es mit euch nicht geklappt hat. Ich mochte ihn. Im Gegensatz zu Ihnen besaß er Humor.«

»Gleich und gleich gesellt sich gern. Er hat ein ebenso großes Maul wie Sie.«

Als Anita daraufhin so tat, als würde sie ihren Hut vor ihm ziehen, zuckten Jens' Mundwinkel. Er kannte sie schon, seitdem sie zusammen in einer Tierklinik in Potsdam gearbeitet hatten. Sie besaß genau das, was Jens schätzte: brutale Ehrlichkeit. Wann immer er Mist baute oder zu schroff zu ihr und den anderen Mitarbeitern war, sagte sie ihm das direkt ins Gesicht. Dass er ihr Chef war, spielte dabei keine Rolle.

»Ich meine es ernst. Sie sollten wenigstens den Schein wahren und an Ihrem Erscheinungsbild arbeiten. Die wenigsten Menschen wollen, dass ihre geliebten Schätzchen von einem alkoholsüchtigen Obdachlosen behandelt werden.«

»Ich habe eine Wohnung und trinke nie vor oder während der Arbeit«, erwiderte Jens mit gerunzelter Stirn.

»Nein, aber dafür die halbe Nacht lang. Das sagen zumindest Ihre Augenringe. Außerdem würde ich den Raum, in dem Sie wohnen, nicht als Wohnung bezeichnen. Wohnungen haben nämlich normalerweise so etwas wie Möbel.«

Jens fluchte innerlich. Eigentlich hatte er nie gewollt, dass Anita seine Wohnung zu Gesicht bekam, doch leider hatte sie das Abholen von Büromaterial als Vorwand missbraucht, um einen Blick hineinzuwerfen. Viel hatte sie allerdings nicht sehen können, denn Jens besaß lediglich ein Bett, einen Fernseher und die Küche, die bereits in der Wohnung gewesen war. Ansonsten lebte er aus Kartons.

»Ersparen Sie mir bitte Ihr Urteil. Das hat nichts mit Ihrer Arbeit zu tun.«

Er bereute diese Worte sofort, als Anita die Hände an die fülligen Hüften stemmte. »Natürlich hat es etwas damit zu tun! Wenn uns die Kunden davonlaufen, können Sie mich nicht mehr bezahlen. Das wiederum bedeutet, ich kann mir die Miete nicht leisten, lande mit meiner Tochter auf der Straße und muss meine Lungen verkaufen, um zu überleben.«

Nur mit Mühe unterdrückte Jens ein Seufzen. Wenn sich einer gerne in Situationen hineinsteigerte und überdramatisierte, dann war das Anita. »Ich bin zwar kein Arzt für Menschen, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass ein Überleben ohne Lungen unmöglich ist.«

»Dann eben die Nieren.« Bevor Jens sie unterbrechen konnte, fuhr sie erregt fort. »Oder was auch immer! Der Punkt ist, ich will nicht auf der Straße landen und bereuen, meinen damaligen Job aufgegeben zu haben. Also reißen Sie sich gefälligst zusammen. Nicht nur Sie leiden unter der Trennung. Mit ihm waren Sie wenigstens erträglich. Außerdem vermisse ich diese kleinen Küchlein, die uns Gavin immer mitgebracht hat.«

Mit einem Augenrollen wandte sich Jens wieder den Datenblättern zu, die er zuvor gelöchert hatte und nun einheftete. »Manchmal frage ich mich wirklich, wer hier eigentlich der Boss ist.«

»Die Frage könnte ich Ihnen beantworten, aber das würde mindestens acht Staffeln dauern und die Zeit haben wir nicht. Außerdem sehen Sie längst nicht so gut aus wie Tony Danza. Also hören Sie bitte auf mich und richten sich in Zukunft wenigstens etwas her.«

Da Jens die Energie fehlte, mit ihr zu streiten, wedelte er nur unwirsch mit der Hand, stellte den Ordner zurück in den Schrank und sah sich stattdessen am Laptop seine Termine für den nächsten Tag an, während Anita ihre dünne Jacke anzog. »Ich meine es ernst«, sagte sie noch einmal, als wäre das anhand ihrer energischen Worte nicht bereits überdeutlich gewesen. »Sie müssen etwas ändern und aufhören, in Selbstmitleid zu versinken. Warum gehen Sie nicht mal aus, anstatt alleine in Ihrer Wohnung zu saufen?«

»Woher wollen Sie denn wissen, dass ich alleine trinke?«, fragte Jens, ohne zu ihr aufzublicken.

»Ich kenne Sie eben.« Anita schloss ihre Jacke und begann kurz darauf in ihren Taschen zu kramen. »Da gibt es diesen Club zwei Straßen weiter, der von einem schwulen Pärchen geführt wird. Das Summer's Day. Gute Musik, fantastische Drinks und jede Menge Männer, die ähnlich verzweifelt sind wie Sie. Mist … ich dachte eigentlich, ich hätte einen Flyer dabei. Jedenfalls sollten Sie sich den Laden mal anschauen. Schlimmer kann es doch nicht mehr werden, oder?«

Von Sekunde zu Sekunde nervte sie Jens mehr. Ihm war auch so bewusst, was für ein armseliges Leben er zur Zeit führte. Wozu brauchte er da noch die Kommentare seiner übereifrigen Angestellten? »Da ich den Abend auch damit verbringen könnte, Ihnen weiter zuzuhören, kann es definitiv schlimmer werden.«

»Wir wissen beide, dass Sie mir eben nicht zuhören. Wenn Sie es täten, hätte ich Ihnen längst zu einer neuen und glücklichen Beziehung verholfen. Meine Ratschläge sind nämlich immer großartig.« Anita holte ihre Handtasche aus dem Pausenraum und baute sich anschließend noch einmal vor ihm auf. »Spaß beiseite, gehen Sie hin. Ein Abend in Gesellschaft könnte Ihnen guttun.«

Jens wedelte nur noch einmal missmutig mit der Hand, bis sie schließlich aufgab und die Praxis mit einem Seufzen verließ. Daraufhin schaltete er den Laptop aus und nahm sein Smartphone aus der Hosentasche. Zunächst zögerte Jens noch, doch dann suchte er nach dem Club. Die Bilder auf der Webseite sprachen ihn erst wenig an – wenn Jens überhaupt ausging, dann bevorzugte er eine kleine Bar und keinen Tanzclub –, aber ein Banner verriet ihm, dass es die Drinks heute zum halben Preis gab.

Warum also nicht? Wenn er ihn sich wenigstens ansah, hörte Anita vielleicht für ein paar Tage auf, ihn wegen seines nicht vorhandenen Privatlebens zu nerven.

Außerdem hatte er es Gavin versprochen. Er wollte sein Leben normal weiterführen, sich amüsieren und so tun, als wäre seine Welt nicht vollkommen auseinandergefallen. Gut, den letzten Teil hatte er sich während ihres Gesprächs damals nur gedacht, doch falls Gavin ihn je wirklich gekannt hatte, musste ihm bewusst sein, wie sehr Jens unter der Trennung litt.

So richtete er sich im Badezimmer der Praxis notdürftig her, zog seinen Kittel aus und machte sich auf den Weg. Sobald er in der richtigen Straße war und die lange Schlange vor dem Club bemerkte, wollte Jens am liebsten wieder umdrehen, doch er biss die Zähne zusammen und stellte sich an. Nach fünfzehn Minuten betrat er endlich das Summer's Day, ignorierte die Tanzfläche und lief sofort zur Bar.

Obwohl viele Leute versuchten, die Aufmerksamkeit des Barkeepers für sich zu gewinnen, ging dieser schnurstracks auf Jens zu, sobald er ihn entdeckte. Trotz seines eigentlichen Desinteresses bemerkte Jens, wie gut der Mann aussah. Seine blonden, kurzen Haare waren zerzaust und sahen doch nicht unordentlich aus. Ein verschmitztes Lächeln lag auf seinem Gesicht, wodurch sich feine Grübchen auf seinen Wangen bildeten. »Was kann ich dir bringen, mein Hübscher?«

»Gib mir das Stärkste, was du hast, und lass bitte die blöden Sprüche. Ich bin nicht in Stimmung dafür«, maulte Jens zurück. Nachdem er bereits so lange in der Schlange gestanden hatte, wollte er sich nur noch betrinken und diesen lauten Ort so schnell wie möglich verlassen.

»Oha. Da ist wohl einer mit dem falschen Fuß aufgestanden. Möchtest du darüber reden?« Als Jens ihm daraufhin nur einen säuerlichen Blick zuwarf, lachte der Mann. »Nicht in Stimmung, schon klar. Dann mach ich dir einen Zombie. Der passt zu deinen Augen. Verstehst du? Augen? Zombie? Wegen deiner Augenringe?«

Jens knirschte mit den Zähnen. Es war schlimm genug, dass er die Kommentare von Anita ertragen musste. Da wollte er jetzt nicht das gleiche von einem nervtötenden Barkeeper hören. »Der Drink, wenn du dann fertig bist.«

Seufzend machte sich der Barmann ans Werk und wenig später stand ein orangener Cocktail mit einer Zitronenscheibe auf der Theke. Jens verzog das Gesicht. Eigentlich verabscheute er diese fruchtigen Kreationen, aber es war wohl das Beste, das er hier kriegen konnte. »Ist der auch wirklich stark?«

»Deiner auf jeden Fall. Ich habe dir einen Extraschuss Rum gegönnt.« Als jemand nach dem Barkeeper rief, drehte er den Kopf. »Nun, mein Typ wird verlangt. Wenn du den Nächsten willst, ruf einfach nach Tom und ich bin sofort wieder bei dir.«

Jens runzelte die Stirn. »Also, falls du dir Hoffnungen machst …«

Tom lachte. »Keine Sorge, Süßer. Du bist heiß, aber nicht mein Typ. Ich kenne nur Leute wie dich und die bringen das meiste Geld in die Kasse. Also trink nur. Vielleicht erfahre ich so auch, wegen wem du so fertig bist.«

»Träum weiter«, erwiderte Jens bissig und nahm einen großen Schluck von seinem Cocktail. Zu seiner Überraschung brannte er tatsächlich stark in seinem Hals. »Das scheinst du wenigstens zu können.«

»Oh, ich kann noch eine ganze Menge mehr.« Tom zwinkerte ihm zu und bediente anschließend die anderen Gäste, die schon sehnsüchtig auf ihn warteten.

So verbrachte Jens die nächste Stunde. Tom versorgte ihn regelmäßig mit neuen Drinks, bis er schließlich tatsächlich leicht beschwipst war. Sobald es etwas ruhiger an der Bar wurde, kam Tom zu ihm zurück und lehnte sich mit den Unterarmen auf den Tresen. »Und? Schon betrunken genug, um mir dein Leid zu beichten?«

»Nicht mal ansatzweise«, brummte Jens zurück und leerte seinen dritten Cocktail.

»Schade … obwohl ich mir auch so denken kann, was los ist. Dir steht es ins Gesicht geschrieben, dass es um eine verlorene Liebe geht. Mann oder Frau?«

»Das geht dich einen Scheiß an.«

»Mann also. Auch das dachte ich mir. Und ich schätze … es ist das Ende einer langen Beziehung. Einer, von der du geglaubt hast, sie würde ewig halten.«

»Ehe«, keifte Jens ihm zu. »Und jetzt mach lieber wieder deinen Job und gib mir einen weiteren Drink.«

»Das kannst du vergessen. Die meisten vertragen nicht einmal zwei davon. Es geht Ihnen gut und sobald sie dann versuchen, vom Barhocker aufzustehen, liegen sie am Boden. Den Stress will ich mir nicht antun. Nicht heute Nacht.«

»Dann ist heute Nacht etwas Besonderes?«

»Kann man so sagen. Ich habe ein heißes Date und wenn ich zulasse, dass du noch mehr trinkst, werde ich vom Chef damit belohnt, dass ich deine Kotze aufwischen darf. Das würde mir garantiert die Stimmung vermiesen.«

Mit stolzgeschwellter Brust unterdrückte Jens ein Rülpsen. »Ich kotze nie vom Alkohol.«

»Bis jetzt noch nicht. Wie gesagt, warte darauf, wie du dich fühlst, sobald du aufstehst«, erwiderte Tom mit einem nervtötenden Grinsen. »Also, mein Hübscher, kommen wir zu dem Kern deines Problems: Du hast die Liebe deines Lebens verloren und nun bestrafst du dich und deine Umwelt mit Missgunst. Dabei ist die Lösung so einfach. Du musst nur jemand Neues finden.«

»Als ob das so leicht wäre.« Jens stützte sich mit dem Ellbogen auf der Bar ab, hielt sich die Stirn. Ihm wurde schwindlig. »Gavin war … er war alles für mich. Mein ganzes Leben. Ihn kann man nicht ersetzen.«

»Unsinn. Weißt du eigentlich, wie viele von deiner Sorte hier regelmäßig sitzen? Sie alle denken, es wäre das Ende, aber dann sehe ich sie eines Tages mit jemandem tanzen oder flirten und auf einmal ist die Welt wieder in Ordnung. Die Zeit besteht aus Momenten, mein Hübscher, und jeder davon ist mit einem Wimpernschlag vorbei.«

Jens stöhnte. »Ich bin zu betrunken, um mir diesen philosophischen Schwachsinn anzuhören.«

Tom betrachtete ihn wie ein geduldiger Lehrer, der seinem unwilligen Schüler einen Rat geben wollte. »Dann tue es nicht. Das meiste wirst du morgen sowieso vergessen haben. Im Grunde ist es nur wichtig, dass du dir eine Sache merkst: Du lebst weiter. Du wirst dich neu verlieben und es wird mindestens genauso fantastisch werden wie die Liebe, die du verloren hast.«

»Jetzt klingst du, als wüsstest du genau, wovon du sprichst. Dabei glaube ich kaum, dass deine Verabredung der Typ ist, in den du verliebt bist«, giftete Jens zurück. Allmählich hatte er es satt, von allen Leuten Ratschläge zu bekommen, obwohl sie ihr eigenes Leben kaum besser im Griff hatten als er.

Tom schenkte ihm allerdings ein mildes Lächeln. »Bei mir ist es leider einseitig und hoffnungslos. Deshalb habe ich mir geschworen, für all jene den Amor zu spielen, die an meine Bar kommen.«

»Und wie lautet dein Rat? Soll ich mir einfach einen dieser verzweifelten Kerle schnappen und auf das Beste hoffen?«

»Du bist nicht der Typ dafür. Jemand wie du, der so auf feste Bindungen steht, dass er sogar heiratet, muss im Grunde nur die Augen offen halten. Die Liebe findet dich.«

Jens brummte unwirsch. Er kramte einen Zwanziger aus seiner Brieftasche und knallte ihn auf den Tresen. »Behalt den Rest. Vielleicht erspart das dem nächsten Gast dein Gelaber.«

»Man dankt«, erwiderte Tom grinsend. »Und sei vorsichtig, wenn du aufstehst.«

Mit einer letzten missmutigen Grimasse rutschte Jens vom Barhocker und hielt sich am Tresen fest, als seine Knie tatsächlich nachgaben. Ohne einen Blick zu Tom, der nun sicher noch breiter grinste, machte er sich auf den Weg zum Ausgang.

Er sollte eine neue Liebe finden? Als ob das etwas ändern würde. Jemanden wie Gavin gab es kein zweites Mal und ganz sicher würde er nie wieder eine solche Beziehung erleben.

Das dachte er zumindest, während er an der Tanzfläche vorbeiging. Sobald er die anderen Clubgänger betrachtete, die wesentlich glücklicher wirkten als er, fühlte Jens jedoch eine Spur von Sehnsucht. Wann hatte er das letzte Mal so mit jemandem gelacht und Spaß gehabt? Sicher war es mit Gavin gewesen, doch inzwischen konnte er sich kaum daran erinnern.

Wahrscheinlich sprach nun der Alkohol aus ihm, aber … eigentlich hatte Tom recht. Wenn er auch nicht daran glaubte, noch einmal so glücklich zu werden, es konnte nicht schaden, die Augen offen zu halten, oder?

 

Kapitel 2

 

Tom hatte nicht zu viel versprochen. Jens fühlte sich am nächsten Tag wie ein Zombie. An das Trinken hatte er sich zwar inzwischen gewöhnt, doch nach den Drinks von gestern brauchte er mehr als eine Tasse Kaffee, um einigermaßen klar denken zu können. Wenigstens halfen die Aspirine, die er genommen hatte, gegen den Kater und am Mittag fühlte er sich schließlich fast wieder wie er selbst. Keine echte Verbesserung, aber immerhin gelang es ihm, seiner Arbeit nachzugehen, ohne jeden umbringen zu wollen, der ihn ansprach. Richtig aufnahmefähig war er allerdings noch nicht.

»Als Nächstes ist eine Katze dran. Hier ist das Datenblatt«, sagte Anita und runzelte die Stirn, als Jens es nicht entgegennahm. »Dr. Fahrenberg?«

Sein Kopf fuhr zu ihr herum. »Was?«

Sie rollte mit den Augen, fing sich jedoch rasch wieder und hielt ihm das Klemmbrett etwas energischer entgegen. »Eine Katze«, wiederholte sie deutlich genervt. »Sie war schon einmal hier.«

Jens nickte, nahm die Papiere und überflog sie mit den Augen, während sich Anita vor den Laptop setzte. In diesem Moment öffnete sich die Tür, doch er stand mit dem Rücken zu ihr, betrachtete stirnrunzelnd die Daten.

Schließlich drehte er sich um. »Fisch … die Katze heißt Fisch? Oder ist das ein Fehler?« Er warf dem Kerl, den er für den Besitzer hielt, einen kurzen Blick zu. Im Vergleich zu ihm fühlte sich Jens geradezu schäbig. Seine Kleidung war vollkommen knitterfrei und ebenso perfekt lagen die braunen, streng gekämmten Haare an seinem Kopf. Die einzige Unvollkommenheit entdeckte Jens an seinen Händen. Rote Stellen bedeckten seine Haut.

Aus den Augenwinkeln sah er, wie ein weiterer junger Mann unruhig von einem Fuß auf den anderen trat, beachtete ihn jedoch ansonsten nicht. Wenn Jens arbeitete, dann konzentrierte er sich voll und ganz auf seine Patienten. Menschen interessierten ihn wenig. »Die Frage habe ich schon beim letzten Mal gestellt, oder?«

»Ja, die Daten sind alle richtig«, antwortete der Besitzer.

Jens nickte und machte sich eine Notiz auf dem Datenblatt. »Ungewöhnlicher Name, notiert. Wenigstens heißt sie nicht Mieze oder Maunzi. Einfallsreicher geht es kaum«, sagte er sarkastisch. Sein Blick fiel auf die Box, in der die unruhige Katze herumlief. Als er auf den Untersuchungstisch zuging, machte sie sofort drohende Geräusche. »Was fehlt ihr?«

»Sie schläft noch mehr als sonst, hat etwas Temperatur und wenig Appetit.« Der Besitzer klang zerstreut, als er dies sagte, doch Jens richtete seine Augen auf die wütende Katze.

»Hört sich zunächst nach einer einfachen Erkältung an, aber wir sollten lieber sichergehen und sie untersuchen. Sie ist ein schwieriger Patient, nicht wahr?«

»Und genau deshalb habe ich Oli hier mitgebracht.« Der Mann zog seinen Freund auf einmal neben sich. »Fisch liebt ihn abgöttisch.«

»Aber Sie sind der Besitzer?«, fragte Jens stirnrunzelnd. Er warf diesem Oli einen kurzen Blick zu, sah dann jedoch wieder in die Box, ohne weiter groß Notiz von ihm zu nehmen. Nichts war nerviger als Smalltalk. Wenn sich die Eigentümer der Tiere auf das wichtigste konzentrieren würden und ihm nicht ständig ungefragt ihre Lebensgeschichte erzählten, wäre sein Job wesentlich einfacher.

»Wir haben sie zusammen gefunden und er hat ihr als erstes Thunfisch gegeben. Seitdem hängt sie an ihm«, plapperte der Besitzer drauflos.

»So interessant diese unglaubliche Geschichte auch ist«, begann Jens mit gereizter Stimme. Seine Kopfschmerzen kehrten soeben wieder zurück und vertrieben damit den letzten Rest Geduld, den er für diese sinnlosen Gespräche aufbringen konnte, »sie interessiert mich kein bisschen. Für mich ist nur wichtig, dass sie mir nicht die Augen auskratzt. Es wäre also gut, wenn Sie bei den Fakten bleiben und nicht meine Zeit verschwenden. Würden Sie die Katze jetzt bitte aus der Box holen?«

Jens ging zur Schublade, um die Schutzhandschuhe herauszunehmen. Der Freund des Besitzers setzte sich jedoch im Gegensatz zu ihm nicht in Bewegung und erst als der andere Mann ihn mit dem Ellbogen anstieß, schien er ihn damit aus seiner Starre zu lösen.

»Oh, sorry«, sagte er. »Ich war nur für einen Moment geflasht. Du hast gesagt, er würde sich nicht für Menschen interessieren, aber kein Wort darüber verloren, was für ein Arsch er ist.«

Augenblicklich legte sich eine peinliche Stille in den Raum. Jens waren in seinem Leben bereits viele Schimpfwörter entgegengeworfen worden. Die meisten davon hatte er verdient, doch noch nie war er von einem völlig Fremden als Arsch betitelt worden.

Ungläubig starrte Jens ihn an und ebenso taten das alle anderen im Raum. Nun betrachtete er diesen Oli zum ersten Mal richtig. Er besaß einen entschlossenen, fast herausfordernden Blick. Wie die meisten Männer war er kleiner als Jens. Seine Haare waren durcheinander, wirkten jedoch an einigen Stellen, als hätte er verzweifelt versucht, sie zu glätten. Außerdem war er irgendwie … süß. Sein Äußeres erinnerte Jens an ein scheues Reh oder ein Kaninchen. Umso mehr überraschte es ihn, wie sehr dieses unschuldige Tier ihn soeben angefaucht hatte.

»Oli!«, rief der Besitzer und warf Jens einen Blick zu. »Ähm, er hat das nicht so gemeint. Sein Mund ist nur manchmal schneller als sein Hirn.«

Inzwischen hatte Jens die Augenbrauen verärgert zusammengezogen. Wenn dieser Mann auch etwas Niedliches hatte, niemand beleidigte ihn in seiner eigenen Praxis. Zumindest nicht ohne Grund. »Oh, ich glaube, er hat jedes Wort davon gemeint.« Jens ließ die Handschuhe liegen, ging auf Oli zu und verschränkte drohend die Arme. Zu seiner Genugtuung musste Oli aufschauen, um in sein Gesicht sehen zu können. »Dürfte ich erfahren, wann genau ich ein Arschloch gewesen bin?«

Zu seiner Überraschung schien sich dieser Kerl nicht einschüchtern zu lassen. Stattdessen verschränkte er ebenfalls die Arme. »Ganz einfach: Normalerweise begrüßt man seine Mitmenschen und geht höflich mit ihnen um. Man macht keine sarkastischen Bemerkungen und wenn jemand dir eine persönliche Geschichte erzählt, dann könntest du wenigstens etwas Interesse heucheln, anstatt sie als unwichtig zu deklarieren.«

Jens runzelte die Stirn. Das wurde ja immer besser. »Und warum sollte ich das tun? Schulde ich einem Fremden irgendwas, wenn er mir ungefragt etwas erzählt?«

»Nein, aber man könnte sich wenigstens Gedanken über die Gefühle des anderen machen und dementsprechend reagieren. Das machen Menschen so. Mitfühlende Menschen zumindest.«

Ein ungewolltes Schmunzeln schlich sich auf Jens' Gesicht. Die Sache begann spannend zu werden. Es war eine ganze Weile her, seitdem ihn das letzte Mal jemand so herausgefordert hatte. »Interessant. Dann sag mir doch mal, was mein Beruf ist.«

Sichtlich überrascht hob Oli die Augenbrauen an. »Tierarzt natürlich.«

»Und warum soll ich mich dann für Dinge interessieren, die meinen Patienten nicht helfen? Was soll bitte so schlimm daran sein, dass ich mich auf meine Aufgabe konzentriere?« Eigentlich hatte Jens gedacht, das würde die Sache beenden, doch der Fremde überraschte ihn noch einmal.

»Sich auf die Tiere zu konzentrieren, ist gut, aber dabei muss man nicht die Menschen um sich herum ignorieren. Ein netter Kommentar kostet dich nicht mehr Energie oder Zeit als ein fieser.«

»Witzig. Mein Ex hat genauso geredet.« Jens hatte sich bemüht, spöttisch zu klingen, doch ein leichter Stich machte sich in seiner Brust bemerkbar. Langsam begann er zu begreifen, wie sehr ihn diese Begegnung an sein erstes Treffen mit Gavin erinnerte. Damals hatte Jens ihn versehentlich in einer Bar angerempelt und sich nicht bei ihm entschuldigt. Jeder andere wäre vor einem Kerl, der einen ganzen Kopf größer war, zurückgeschreckt, doch Gavin hatte sich stattdessen vor ihm aufgebaut, auf eine Entschuldigung bestanden und diese letztendlich auch erhalten.

»Dann hättest du vielleicht mal zuhören sollen«, erwiderte der Fremde bissig.

Die Sache begann Jens allmählich zu gefallen, aber schließlich drängte sich der Besitzer der Katze zwischen sie. »Ähm, es geht doch hier um Fisch. Können wir uns bitte erst um sie kümmern? Sie sollte das Wichtigste in diesem Zimmer sein. Da sind wir uns doch alle einig, oder?«

Jens starrte Oli noch an, doch beide nickten gleichzeitig. Es lag eine Spannung zwischen ihnen, die Jens ewig nicht mehr gespürt hatte. Ein aufregendes Kribbeln machte sich in seinem Magen bemerkbar, erinnerte ihn an die Gefühle, die er so lange versucht hatte, in seiner gescheiterten Beziehung wiederzugewinnen.

Schließlich nahm Oli Fisch aus der Box. Drohend fauchte sie Jens an. »Ich kann dich verstehen, Prinzessin, aber er muss dich untersuchen. Wenn er auch ein Arsch ist, er ist bestimmt ein guter Arzt.«

Mit gerunzelter Stirn zog sich Jens die Schutzhandschuhe an. »Für jemanden, der sich so dafür einsetzt, Menschen gut zu behandeln, bist du recht schnell dabei, andere ein Arschloch zu nennen.«

»Ich sagte Arsch. Das ist eine Stufe unter Arschloch.«

»Ach, ich kann noch tiefer sinken?«

»Es ist kaum zu glauben, aber ja«, antwortete Oli mit einem Nicken.

Noch während Jens sich auf diese Weise mit Oli kabbelte, vollzog er die Untersuchung der Katze automatisch. Fisch hatte leichtes Fieber und war schlapper, als Jens sie in Erinnerung hatte, doch es schien tatsächlich nur eine einfache Erkältung zu sein. Während Jens ihre Augen und Ohren kontrollierte, sah er immer wieder zu Oli, der jedoch seine Aufmerksamkeit starr auf die Katze richtete.

Ein Lächeln erschien auf Jens' Gesicht. So hatte er sich ewig nicht mehr gefühlt. Sein Herz pochte schnell, das Kribbeln wurde stärker.

Sobald die Untersuchung abgeschlossen war, schmuste Oli mit der Katze und küsste ihren Kopf. »Siehst du, Prinzessin? Der Arsch weiß, was er tut.«

»Könntest du aufhören, mich so zu nennen?« Die ständigen Beleidigungen nervten allmählich, doch Jens konnte auch nicht anders, als Gefallen an Olis Aufsässigkeit zu finden. Schlagabtausche wie diese waren der zündende Faktor in seiner Beziehung mit Gavin gewesen und Jens wollte nicht, dass sie enden. Nicht schon wieder. Solche spannenden Begegnungen hatten in seinem Leben gefehlt.

»Nicht ohne eine Beförderung«, erwiderte Oli stur. »Bisher hast du mir noch nicht bewiesen, dass du kein Arsch bist. Eher das Gegenteil.«

»Oh? Und wie könnte ich das schaffen? Durch ein Abendessen vielleicht?«, rutschte es Jens heraus. Die Scheidung war gerade erst durch und richtig bereit für etwas Neues war er noch nicht, aber nun, wo er jemanden wie Oli gefunden hatte, gingen ihm Gavins Worte und auch die von Tom nicht mehr aus dem Kopf. Sie hatten so recht gehabt. In den letzten Monaten war Jens wieder zu dem Mann geworden, den er zuvor gehasst hatte. So wollte er jedoch nicht mehr sein.

---ENDE DER LESEPROBE---