Shifters - Die Stimmen der Ahnen - Francisca Dwaine - E-Book

Shifters - Die Stimmen der Ahnen E-Book

Francisca Dwaine

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Beschreibung

Während Joschis chaotischer Cousin Siggi damit kämpft, seine Drachenwandlung unter Kontrolle zu bringen, hat Dante ganz andere Probleme. Nacht für Nacht plagen ihn Albträume und tagsüber erfährt er von Sichtungen seines Bruders. Zudem bekommt Joschi Geschenke von einem Unbekannten und eine von Schicksal faselnde Krähenwandlerin schleicht um sie herum. Als Joschi dann auch noch verschwindet, hat Dante keine andere Wahl mehr. Er muss sich seiner Vergangenheit stellen. "Shifters - Die Stimmen der Ahnen" ist der zweite Teil der Shifters-Reihe und knüpft unmittelbar an den ersten Teil an. Sie sollten daher der Reihe nach gelesen werden.

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Veröffentlichungsjahr: 2023

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Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Impressum

Francisca Dwaine

 

Shifters – Die Stimmen der Ahnen

 

 

Inhalt:

 

Während Joschis chaotischer Cousin Siggi damit kämpft, seine Drachenwandlung unter Kontrolle zu bringen, hat Dante ganz andere Probleme. Nacht für Nacht plagen ihn Albträume und tagsüber erfährt er von Sichtungen seines Bruders. Zudem bekommt Joschi Geschenke von einem Unbekannten und eine von Schicksal faselnde Krähenwandlerin schleicht um sie herum.

Als Joschi dann auch noch verschwindet, hat Dante keine andere Wahl mehr. Er muss sich seiner Vergangenheit stellen.

 

Copyright © 2022 Francisca Dwaine

 

Alle Rechte vorbehalten.

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt und darf nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin ganz oder in Auszügen vervielfältigt oder kommerziell genutzt werden.

Alle handelnden Personen wurden frei erfunden.

 

Cover © Francisca Dwaine

Unter Verwendung der Bilder von © PeopleImages www.fotosearch.de und © loftisg www.fotosearch.de

 

 

 

 

 

Kapitel 1

 

Während er in der Dunkelheit saß und den kleinen Körper an sich gepresst hielt, raste Dantes Herz unentwegt. Er war nur neun Jahre alt und doch hatte er unzählige Momente wie diesen im Schrank verbracht, um der Wut seiner Eltern zu entgehen. Glücklicherweise war das über hundert Jahre alte Haus der Reichsteins einige Male erweitert worden, um der wachsenden Familie Platz zu bieten. So gab es genügend Verstecke wie diese, in die Dante mit seiner kleinen Schwester schlüpfen konnte. Da es hier keinerlei Licht gab, konnte er ihr Gesicht nicht sehen, doch er hörte ihr leises Atmen, wiegte sie immer wieder in den Armen hin und her.

Von der Gefahr hatte sie bisher nichts mitbekommen. In der Regel schlief sie viel und tief, weswegen sie diese Streitereien, die stets im gesamten Haus zu hören waren, nur selten bemerkte. Sie war ein immer zu glückliches und zufriedenes Baby, das sofort strahlte, sobald sie Dantes Gesicht erblickte. Ihre Mutter kümmerte sich kaum um sie, wodurch es seine Aufgabe geworden war, sie zu versorgen.

Dagegen war sein Bruder Alwin ganz anders. Dieser legte sich stets mit ihrem Vater an. Obwohl er zwei Jahre jünger war als Dante, kannte er keine Furcht. In seinen Augen war das Familienoberhaupt zu schwach, um sie anzuführen. Genau das sagte er diesem fast täglich ins Gesicht und bekam sogleich die Quittung dafür. Zwar versteckte sich Dante zwei Stockwerke höher, aber auch hier hörte er die Schläge und Beschimpfungen.

Lauf weg, ertönte es immer wieder in Dantes Kopf. Er musste fort von hier, wenn es ihm und seiner kleinen Schwester Katharina nicht genauso ergehen sollte. Aber wohin? Er konnte kaum alleine ein Baby versorgen und da seine Familie ihn aufgrund seiner Wandlung als einen zukünftigen Anführer ansah, wurde er zu gut bewacht. Bereits vor Katharinas Geburt, hatte er zu flüchten versucht, war jedoch nicht sonderlich weit gekommen. Bei den folgenden Prügeln hatte er sich den Arm und drei Rippen gebrochen.

Wenn er nun mit Katharina weglief und erwischt wurde … Dantes kleiner Körper zitterte. Dies schien auch seine Schwester zu bemerken, denn sie bewegte sich auf einmal in seinen Armen.

Sofort wiegte Dante sie wieder vor und zurück. »Ganz ruhig … ich bin ja da. Keine Sorge. Ich werde dich für immer beschützen und finde schon einen Weg. Du musst nur ein wenig älter werden, ja? Und dann fliehen wir gemeinsam.«

Ihr plötzliches Kichern brachte sein Herz vor Freude gefühlt zum Anschwellen und übertönte wenigstens für ein paar Sekunden die Schreie seines Bruders.

 

***

Fünf Jahre später wurde der nun 14-jährige Dante von seinem Bruder Alwin festgehalten. Ihr Vater, Joachim Reichstein, hatte die Hände zu Fäusten geballt, stierte dabei auf die kleine Katharina nieder, die weinend und mit ängstlichen Augen zu ihm aufsah.

»Nein! Lass sie in Ruhe!«, rief Dante, während ihm Tränen über die Wangen liefen und er verzweifelt gegen den Griff seines Bruders ankämpfte. Alwin war jedoch bereits seit langem stärker als er und lachte über den Versuch. »Du … du musst ihr nichts tun! Ich gehe weg mit ihr. Ihr werdet uns nie wiedersehen.«

»Diese Schande weiterleben lassen?«, bellte sein Vater ihm zu. »Niemals. Schwache Wandler müssen ausgemerzt werden. Eine Maus … das nennst du eine Wandlung?« Er griff in Katharinas Haar, warf sie vor sich zu Boden.

Dante schluchzte, kämpfte und kämpfte, doch er konnte nichts tun. »Sie kann nichts dafür … bitte! Bitte lass sie gehen!«

»Sieh nur zu«, flüsterte Alwin in sein Ohr. »Wenn du es getan hättest, wäre es schnell gegangen, aber er wird sie vorher leiden lassen.« Er lachte gehässig, umfasste Dantes Arme so feste, dass es wehtat. »Du kannst niemanden beschützen, Dante. Dafür bist du zu schwach.«

Noch einmal versuchte Dante, sich zu befreien, doch schließlich hing er nur noch lose in der Umklammerung seines Bruders, ließ den Kopf hängen und weinte bitterlich, während er die Schreie seiner Schwester mit anhören musste.

 

***

 

Dante erwachte mit einem Keuchen. Er schoss kerzengerade nach oben, hielt sich eine Hand auf die Brust. Sein Herz raste genauso wie damals vor dem Haus der Familie.

Sofort legten sich Joschis Arme um ihn, drückten ihn an seinen warmen, nackten Körper. »Der gleiche Traum?«, fragte er leise und Dante nickte.

»Ja, ich … sehe es immer wieder. Dieses Mal war aber noch eine andere Erinnerung dabei. Ein Moment, kurz nachdem Katherina geboren worden war. Ich … ich habe ihr versprochen, sie zu beschützen und doch …«

Joschi strich ihm sanft über den Rücken, legte die Lippen an die Stelle direkt unter seinem Ohr. »Du hast getan, was du konntest. Schließlich warst du noch ein Kind, Dante. Wie hättest du sie alleine retten sollen?«

»Indem ich weggelaufen wäre!«, rief er ihm nun zu und es musste ein wenig zu laut gewesen sein, denn Joschi zuckte zusammen. »Tut mir leid. Ich wollte nicht …« Er griff sich in sein schwarzes, mit hellen Flecken übersätes Haar, schluchzte dabei. »Es ist nur so verdammt frustrierend. Ich wusste, während sie noch so jung war, hätten wir alleine keine Chance gehabt, aber … ich hätte nie gedacht, dass ihre Wandlung … ich meine, es war wie bei dir. Kaum jemand in meiner Familie wurde zu einem Fluchttier. Und dann ausgerechnet sie …«

»Wie gesagt: Du konntest nichts tun«, wiederholte Joschi, rückte dabei näher an Dante heran. »Es war eine unmögliche Situation für dich. Jeder andere wäre an deiner Stelle ebenso machtlos gewesen.«

Dante sagte daraufhin nichts. Auch wenn Joschis Worte wahr waren, so änderten sie nichts an seinen Schuldgefühlen. Wenn er nun daran dachte, wie sein Bruder dort draußen war und anderen Menschen das antat, was seine Familie Dante angetan hatte … wenn er daran dachte, wie erneut kleine Kinder sterben mussten, nur weil ihre Wandlung nicht der Vorstellung seines Bruders entsprach …

»Ich muss ihn aufhalten«, flüsterte er Joschi zu. »Es liegt in meiner Verantwortung. Ich …«

Joschi schüttelte jedoch den Kopf. »Du weißt doch nicht einmal, wo er sich aufhält. Mama bekommt zwar immer wieder Hinweise, aber er scheint sich schnell durch das gesamte Land zu bewegen. Sobald du einen der Orte erreichst, wird er bereits fort sein.«

»Und was soll ich sonst tun? Darauf warten, dass er hierherkommt und …« Dante schluckte hart, wagte nicht, die Worte, die ihm auf der Zunge lagen, auszusprechen. Joschi zu verlieren … erneut dabei zu versagen, jemanden zu beschützen, den er liebte … diese Vorstellung war zu grausam.

Joschi betrachtete ihn traurig, schlug dann die Bettdecke von sich und rutschte zum Rand des Bettes. »Lass uns aufstehen. Wir hätten ohnehin nur noch eine Stunde gehabt.«

»Tut mir leid«, sagte Dante, während er ebenfalls aufstand. »Jetzt raube ich dir auch noch den Schlaf.«

»Das tust du sowieso. Obwohl ich deine übrigen Methoden weit mehr schätze.« Joschi grinste, doch als er sah, wie versteinert Dantes Miene war, bewegte er sich um das Bett stirnrunzelnd auf ihn zu. Er streichelte Dante über die Arme, lächelte zu ihm auf. »Hey, mach dir keine Sorgen. Damals warst du alleine, aber jetzt hast du eine Familie. Eine richtige Familie. Wir lassen dich nicht mit diesem Kampf alleine. Ganz egal, was passiert.«

»Und wenn mir gerade das Angst macht?« Er nahm Joschis Hand, bewegte sie zu seinen Lippen. »Wenn ich dich verliere …«

»Denk an so etwas noch nicht einmal. Schließlich gibt es da noch meine Eltern und Siggi. Wenn der seine Wandlung jemals in den Griff bekommen sollte, hat niemand gegen ihn eine Chance. Glaub mir, keiner von ihnen würde zulassen, dass mir etwas geschieht.« Er legte nun die Hände auf Dantes Wangen. »Genauso wenig wie du es tun würdest. Ich fühle mich in deiner Gegenwart vollkommen sicher. Mach dir also bitte keine Gedanken.«

Dante nickte knapp und zog Joschi in seine Arme. Wenn er doch nur nicht die ganze Zeit über dieses unangenehme Gefühl hätte …

Kapitel 2

 

»Wie ich Sie bereits fragte … muss das hier sein?« Mit hochgezogenen Augenbrauen saß Joschi an seinem Schreibtisch und betrachtete die beiden etwa 80-jährigen Männer stirnrunzelnd. Ihre faltigen Gesichter beherbergten blaue Flecken, sie verschränkten die Arme und weigerten sich strikt, einander in die Augen zu sehen.

Dante stand derweil hinter ihnen und hatte die Hände auf jeweils eine ihrer Schultern gelegt. Eigentlich war er nach dem Einkauf nur kurz in Joschis Kanzlei gegangen, um nach dem Rechten zu sehen. Was er allerdings nicht erwartet hatte, waren zwei gestandene Männer, die sich auf dem Boden wälzten und sich wie kleine Kinder prügelten. Kurzerhand hatte er sie auseinandergezogen und spielte nun den Aufpasser.

»Er hat angefangen!«, rief der Rechte von ihnen und spuckte, während er sprach. »Wer hat denn versucht, mir die Rosie auszuspannen?«

»Rosie? Die hätte dich doch nie angeschaut! Eine Schönheit wie sie will einen richtigen Mann und keinen Verlierer wie dich!«

Joschi sah von einem zum anderen. »Moment mal … ist Rosie nicht diese junge Pflegerin in Ihrem Heim?« Bei diesen Worten zuckten Dantes Lippen. Alte, geile …

»Na und?«, riefen ihm die zwei gleichzeitig zu, sodass Joschi zusammenzuckte.

Er erholte sich jedoch rasch von dem Schreck und verkündete mit strenger Miene: »Dann muss ich Ihnen ganz ehrlich sagen, sie haben beide keine Chance.«

Die Gesichter der Männer liefen rot an und sie versuchten, sich zu erheben, doch Dante drückte sie zurück auf ihre Stühle. »Sitzen bleiben und zuhören«, meinte er mit einem leisen Fauchen in der Stimme.

Joschi schenkte ihm ein dankbares Lächeln. »Es tut mir sehr leid, dass ich so ehrlich sein muss, aber Sie sind beide ungefähr 60 Jahre älter als die Dame. Macht es wirklich Sinn, als die letzte verbleibende Verwandtschaft darüber zu streiten, wen so ein junges Mädchen lieber mag? Ich denke nicht.«

Erneut verschränkten die Brüder die Arme und schoben ihre Unterlippen vor. »Ihr Vorschlag?«, fragte der Rechte.

»Suchen Sie sich zwei nette Schwestern im Heim und genießen Sie Ihren Lebensabend. Deswegen sind Sie doch hierhergekommen, oder? Damit ich Ihnen helfe, derartige Spannungen aus dem Weg zu räumen? Ich meine, die Lage ist ernst. Das Mittsommer Seniorenheim hat Ihnen nun zum dritten Mal mit dem Rausschmiss gedroht, wenn Sie Ihre Streitigkeiten nicht unterlassen. Entweder vertragen Sie sich oder einer von Ihnen muss das Heim verlassen. So sieht es leider aus.«

»Das können die nicht machen!«, rief der Linke.

»Das ist unser Zuhause!«, meinte der Rechte.

»Dann muss sich etwas an Ihrem Verhalten ändern. Sie müssen ja nicht die besten Freunde werden, aber als Familie sollte man doch wenigstens zusammenhalten und sich nicht gegenseitig verprügeln.«

Die Brüder warfen einander einen Blick zu. »Wir müssen darüber nachdenken«, meinte der auf der rechten Seite schließlich und Joschi antwortete mit einem Nicken.

»Nehmen Sie sich eine Woche Zeit und versuchen Sie so lange, miteinander auszukommen. Sie werden sehen, so schwer ist das nicht.« Wie in einem Nachgedanken fügte er noch hinzu: »Und lassen Sie bitte die arme Pflegerin in Ruhe. Sie könnte fast Ihre Urenkelin sein, Himmi Herrschaftseitn!«

Die beiden Männer wirkten zwar missmutig, doch sie standen auf, schnappten sich ihre Rollatoren und verließen den Raum, ohne ein weiteres Mal ausfallend zu werden. Nachdem sie fort waren, setzte sich Dante auf einen der verlassenen Stühle vor Joschis Schreibtisch. »Der letzte Satz war ein wenig gemein, Häschen.«

»Aber notwendig«, erwiderte Joschi leicht gereizt. »Einer muss ihnen den Spiegel vorhalten, bevor sie sich noch weiter in die Bredouille reiten.« Kurz darauf erschien ein amüsiertes Lächeln auf seinen Lippen. »Aber dass ich mal mitbekommen würde, wie sich zwei über 80-jährige Männer in meiner Kanzlei prügeln, das hätte ich auch nicht gedacht. Zum Glück haben sie sich nichts gebrochen und du warst da, um den Kampf zu beenden.« Joschi sah auf, runzelte die Stirn. »Ach ja, warum bist du eigentlich hier? Müsstest du nicht auf dem Hof sein?«

»Mir haben noch einige Zutaten für das Mittagessen gefehlt und da dachte ich, ich schaue kurz bei dir rein.« Dantes Lippen zuckten erneut. »Einen Kampf der geilen, alten Säcke hätte ich aber auch nicht erwartet.«

Ein Schmunzeln schlich sich auf Joschis Gesicht. »Ach, und ich bin gemein?«, fragte er, stand auf, ging um seinen Schreibtisch herum und zog Dante an seinen Händen nach oben. Anschließend umarmte er ihn, drückte sich so fest wie möglich an ihn.

Dante lächelte, als er die Wärme seines Freundes spürte. »Ich wurde vermisst, hm?«

»In jeder Sekunde, die du nicht bei mir warst«, erwiderte Joschi im Flüsterton. Heute war der erste Tag, an dem sie getrennt arbeiteten. Zuvor hatte Dante ihm noch im Büro ausgeholfen, doch nun musste er wieder seine Arbeit auf dem Hof antreten.

Dante missfiel das genauso wie Joschi. Er hatte sich so sehr an seine Nähe gewöhnt, dass es ihm merkwürdig vorkam, auf einmal den halben Tag ohne ihn zu verbringen. Fast hatte er das Gefühl, etwas würde ihn zurückziehen, sobald er durch die Tür nach draußen trat. »Vielleicht sollte ich dein Assistent werden«, schlug er automatisch vor. »Ich meine, ich bin ein paar Stunden weg und schon sieht dein Schreibtisch aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen.« Während er dies sagte, sah er an Joschi vorbei und betrachtete die zahlreichen Papiere, die sich auf seinem Schreibtisch stapelten. »Zuhause bist du nicht so unordentlich.«

Hastig trat ihm Joschi in den Weg, blockierte damit seinen Blick. »D-Das hat überhaupt nichts mit mir zu tun. Das sind alles die Dokumente vom Altenheim. Aufforderungsschreiben, schriftliche Beschwerden, Berichte über verschiedene Vorkommnisse … die Brüder haben es faustdick hinter den Ohren. Ehrlich gesagt, weiß ich nicht einmal, ob es nicht vielleicht sogar das beste für das Heim ist, wenn sie sich nicht verstehen. Wer weiß, was sie anrichten, sobald sie zusammenarbeiten.«

Dante lachte. »Warum erinnern die mich plötzlich an Wolf und Michl?«

Auch Joschi grinste daraufhin. »Ja, es gibt gewisse Parallelen. Wenn die beiden irgendwann mal in einem Heim landen, dann bleibt bestimmt kein Stein auf dem anderen.« Nun sah er Dante von oben bis unten an und runzelte die Stirn. »Wenn du einkaufen warst, wo sind die Vorräte? Du hast doch auch für uns eingekauft, oder?« In diesem Moment sah Dante deutlich, wie Joschi das Wasser im Mund zusammenlief. Dann leckte er sich über die Lippen und grinste.»Vergiss nicht, du hast mir Lasagne für heute Abend versprochen.«

Ungläubig schüttelte Dante den Kopf. »Steht total auf Grünzeug, aber Lasagne ist seine Schwäche.«

»Hey, ich bin ja kein Vegetarier. Ganz selten esse ich schon mal Fleisch. Außerdem gibt es auch davon vegetarische Varianten.«

»Ja, ich weiß genau, was du meinst«, erwiderte Dante und verzog das Gesicht. Er erinnerte sich noch deutlich daran, wie Joschi einmal für sie gekocht hatte. Die Pampe aus Soja, Reis und irgendwelchen undefinierbaren Bohnen hatte am Ende eine erstaunliche Ähnlichkeit mit Beton gehabt. Bis heute konnte er sich nicht erklären, wie Joschi das geschafft hatte.

»Du solltest dem einfach mal eine Chance geben. Mein Versuch ließ zu wünschen übrig, zugegeben, aber echte vegetarische Küche ist wirklich gut. Da gibt es jetzt auch eine Menge, die man fertig kaufen kann.« Er betrachtete Dante einige Sekunden lang nachdenklich und nickte. »Ja, ich sollte es definitiv noch einmal probieren. Das nächste Mal bekomme ich das Essen bestimmt auch aus dem Topf, ohne den Löffel zu verbiegen.«

Das wagte Dante zu bezweifeln. Er hatte Joschi damals nur mit Mühe davon abhalten können, sich die Handsäge ihres Nachbarn auszuleihen. Wer wusste schon, was er als Nächstes kreierte? »So sehr ich es mag, wenn du zuversichtlich bist, Häschen, das Kochen mache in Zukunft lieber ich. Du darfst mir aber gerne ein Rezept raussuchen.«

Eigentlich hatte Dante daraufhin Protest erwartet, doch zu seiner Überraschung lächelte Joschi, als wäre seine Reaktion genau das, worauf er gehofft hatte. »Oh, wirklich? Zu schade.«

Sein lässiger Tonfall sorgte dafür, dass sich Dantes Augen misstrauisch verengten. »Wieso nur kaufe ich dir das nicht ab?«, begann er und dann fiel auf einmal der Groschen. »Warte mal … hast du extra so miserabel gekocht, damit du es in Zukunft nicht mehr machen musst?«

»Ich habe keine Ahnung, was du meinst«, erwiderte Joschi mit einem leichten Trällern in der Stimme. Daraufhin nahm er Dantes Hand, zog ihn mit sich zur Tür. »Lass uns zusammen zum Hof fahren. Ich habe jetzt eh Mittagspause. Dann kann ich mit euch essen. Mein nächster Mandant kommt erst heute Nachmittag.«

»Meinetwegen, aber wenn du denkst, ich würde die Sache vergessen, liegst du falsch.«

Sie verließen gerade Joschis Büro und betraten den Empfangsraum, als Dantes Blick auf den verlassenen Schreibtisch fiel. Bisher hatte Joschi noch nicht genug verdient, um sich einen Anwaltsgehilfen leisten zu können. Darum war der Tisch komplett leer, bis auf ein kleines Paket, das Dante aufgrund der lauten Schlägerei von zuvor bis jetzt nicht aufgefallen war.

»Hast du etwas bestellt?«, fragte Dante schließlich stirnrunzelnd. Die Adresse der Kanzlei stand auf dem Paket geschrieben, doch kein Absender. Wenn es um etwas für sein Büro oder ihre Wohnung ging, dann besprach Joschi das normalerweise immer zuerst mit ihm. Daher musste es etwas anderes sein … allmählich schlich sich ein Lächeln auf Dantes Gesicht. »Ist das eine Überraschung für mich? Etwas Versautes?«

Joschi lachte. »Du denkst auch immer nur an das eine. Tatsächlich habe ich keine Ahnung. Die Brüder kamen herein, gerade als der Paketbote hier war.« Leicht verwirrt betrachtete Joschi das Päckchen. »Ich bin mir sicher, nichts bestellt zu haben.« Damit riss er sichtlich neugierig das Paketband ab. Sobald die Kiste offen war, kamen mehrere Kleinigkeiten zum Vorschein. Unter anderem entdeckte Dante eine englische Tafel Schokolade, eine CD mit Jazzmusik, einen kleinen Kaktus, der von einer Plastikkuppel umgeben war und eine Tüte Chips, die ebenfalls von einer englischen Marke stammte.

»Was ist das alles?«, fragte er Joschi, der überrascht die Augen weitete.

»Das … das sind alles meine Lieblingssachen. Wirklich … alles. Die Chips und die Schokolade kenne ich von einem Ausflug, den wir mal mit der Schulklasse nach England gemacht haben. Die fand ich so klasse, dass ich dort praktisch nichts anderes gegessen habe. Dadurch habe ich bestimmt drei Kilo zugenommen. Die CD ist von meiner Lieblingsband. Ich hatte in meinem Leben einige musikalische Phasen, aber meine Liebe für Jazz ist geblieben. Was den Kaktus angeht …« Joschi lächelte. »Du hast bei der Arbeit auf dem Hof vielleicht bemerkt, dass ich im Umgang mit Pflanzen zwei linke Hände habe. Deshalb hatte ich früher immer mehrere Kakteen. Das hier ist meine Lieblingssorte. Ganz selten besitzt er sogar eine Blüte.« Er sah Dante an. »Das … ist keine Überraschung von dir? Du hast nicht Wolf oder Michl gefragt und das Paket für mich vorbereitet?«

Dante schüttelte den Kopf, sah anschließend noch einmal auf die Sachen zurück. »Nein, ich … wusste nicht, dass du das alles magst.«

»Wie könntest du auch? Wir haben schließlich nie darüber geredet.« Nachdenklich strich Joschi sich über sein Kinn. »Wer kann nur davon gewusst haben? Und wer würde mir überhaupt so etwas schicken?« Auf einmal lachte er laut auf. »Vielleicht habe ich einen heimlichen Verehrer.«

Dante war dagegen weniger zum Lachen zumute. Wenn das stimmte, dann gab es jemanden, der deutlich mehr über Joschi wusste als er. Da gab es natürlich einige Kandidaten. Seine Familie zum Beispiel. Aber zum einen würden sie Joschi nichts schicken, sondern die Geschenke direkt übergeben und zum anderen hätten sie nicht auf einen Absender verzichtet. Wer das getan hatte, der wollte nicht, dass seine Identität herauskommt. Aber warum? Wegen Dante? Damit er demjenigen nicht dazwischenfunkte?

»Hey, kein Grund, plötzlich so ernst auszusehen«, meinte Joschi und lächelte zu ihm auf. »Da wollte sich sicher nur jemand bei mir bedanken. Vielleicht sogar einer aus dem Dorf, weil wir die Streitigkeiten geklärt haben … oder es hat sich jemand schuldig gefühlt. Ich meine, keiner hat mir geholfen, als Theo auf mich losgegangen ist.«

»Ja, das kann schon sein, aber …« Tatsächlich spukte Dante ein anderer Name im Kopf herum. Schließlich gab es einen Mann, der es auf jeden Fall auf Joschi abgesehen hatte und definitiv genug über ihn wusste, um ihm all diese Dinge beschaffen zu können. »Meinst du nicht, es könnte von Xaver sein?«

»Xaver?« Joschi entfuhr ein Lachen. »Das ist Unsinn. Geschenke übergibt er immer direkt. Außerdem ist das mit uns Geschichte. Wenn du also tatsächlich denken solltest, er würde auf diese Weise versuchen, mich zurückzugewinnen …«

»Ist der Gedanke denn so unsinnig? Offensichtlich empfindet er noch etwas für dich und nun, wo du wieder in der Nähe wohnst, rechnet er sich bestimmt Chancen aus.« Dante wollte eigentlich nicht so nervös klingen, aber allein der Gedanke daran, Joschi verlieren zu können, war schwer zu ertragen. Für Joschi war die Beziehung mit Xaver vorbei, doch bei jedem Treffen sah Dante Xavers Blick an, wie anders dieser über die Sache dachte. Je länger Joschi in seiner Nähe war, desto mehr wollte er ihn zurück.

Das Schlimmste an der Geschichte war, wie gut Dante ihn verstand. Jemanden wie Joschi zu verlieren und dann auf einmal die Chance zu erhalten, ihn zurückzubekommen … An Xavers Stelle hätte er es ebenfalls versucht. Mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln.

Noch während Dante gegen dieses Gefühl in seinem Magen ankämpfte, legte Joschi die Arme um seinen Hals. »Wir haben darüber gesprochen, oder? Keine Eifersucht mehr. Auch dann nicht, wenn deine Natur sie dir vorschreibt.«

»Aber-« Weiter kam er nicht, denn genau in diesem Moment berührte Joschi Dantes Lippen mit seinen. Er bewegte sie langsam, zärtlich und trennte sich von ihm mit einem verständnisvollen Lächeln.

»Kein Aber. Xaver klammert nicht. Er weiß genau, wann es Zeit ist, loszulassen und wir haben schon längst den Zenit überschritten. Das mit uns ist vorbei. Endgültig. Das ist ihm genauso bewusst wie mir. Mach dir also keine Sorgen. Wer das auch geschickt hat, der hat bestimmt keinerlei Hintergedanken.«

Dante hoffte wirklich, dass Joschi Recht hatte. Er warf den Sachen einen weiteren Blick zu und sagte dann: »Wir sollten über diesen Schulausflug reden. Nein, über jeden Ausflug, den du je gemacht hast. Und über deinen Musikgeschmack … ganz zu schweigen von dem Fastfood, das du dir gerne einwirfst. Ich will alles wissen, hörst du?«

Als hätte er diese Reaktion erwartet, lächelte Joschi verständnisvoll. »Wenn du mir auch von dir erzählst, gerne. Nach wie vor ist es nämlich erstaunlich schwierig, etwas über dich in Erfahrung zu bringen. Du weichst ständig aus, wenn ich dich etwas Persönliches frage.«

Dante richtete den Blick zu Boden. »Vielleicht bin ich zu sehr daran gewöhnt. Ich meine, mit 14 bin ich von zuhause weggegangen und mit 15 habe ich praktisch ununterbrochen gelogen, sobald es um meine Herkunft ging. Es ist nicht leicht, plötzlich so … offen zu sein. So sehr ich das auch will.«

»Hm, dann muss ich dich eben dazu bringen.« Joschi nahm Dantes Hand, zog ihn zur Eingangstür der Kanzlei. »Komm jetzt. Fahren wir zum Hof. Ich wollte ohnehin sehen, wie Siggis Training vorankommt. Die Häuser stehen alle noch?«

Obwohl nach wie vor dieses schlechte Gefühl tief in seiner Brust steckte, lächelte Dante. »Das taten sie, als ich weggefahren bin. Jetzt kann ich für nichts mehr garantieren.« Sobald sie draußen waren, sah er zum Himmel. »Aber ich sehe keine Rauchwolken. Ein gutes Zeichen, denke ich.«

»Wenn man bedenkt, wie viele Feuerlöscher Mama gekauft hat, wundert mich das nicht. Beeilen wir uns lieber.« Kaum hatte Joschi dies gesagt und sich zu seinem parkenden Geländewagen umgedreht, da stieß er auch schon mit einer älteren Frau zusammen und hielt diese rasch am Arm fest, damit die Dame nicht umfiel. »Oh je, das tut mir so leid. Ich hätte besser aufpassen sollen.«

»Keine Sorge. Das war Schicksal, mein Lieber. Schicksal«, erwiderte sie mit einer kratzigen Stimme und als Dante sie genauer ansah, runzelte er die Stirn.

Vom Aussehen her musste sie weit über 70 sein. Sie besaß dunkle Haut, trug ein Tuch über ihre schwarzen, mit grauen Strähnen durchzogenen Haaren, das jedoch nicht festgebunden war, und ein buntes Kleid. An ihren Händen befanden sich zahlreiche goldene Ringe mit teils großen Steinen und als sie lächelte, kamen drei Goldzähne zum Vorschein. »Wir mussten einander auf diese Weise treffen.«

»Ist das so?«, fragte Joschi verwirrt und warf Dante einen fragenden Blick zu.

Auf einmal angespannt, betrachtete dieser sie genau. Joschi hatte vermutlich das Gleiche wahrgenommen wie er: dem Geruch nach war diese Frau wie sie eine Gestaltwandlerin.

»So ist es«, sagte sie, umklammerte plötzlich Joschis Handgelenk und kam seinem Gesicht näher. »Hüte dich vor dem grünen Mann, Junge.«

»Dem grünen … was?«, fragte Joschi, doch die Frau ließ ihn bereits wieder los, drehte sich um und lief ohne ein weiteres Wort die Straße hinunter. Verdutzt wandte sich Joschi Dante zu. »Hast du vielleicht eine Ahnung, was das zu bedeuten hatte?«

Dante schüttelte langsam den Kopf. »Nein, aber wir sollten deine Mutter fragen, ob sie diese Dame kennt. Fremde Wandler verirren sich für gewöhnlich nur in diese Gegend, wenn sie etwas von deiner Familie wollen.«

»Ja, aber warum ist sie dann in Neubütteln und nicht in Rededorf?«, fragte Joschi stirnrunzelnd, denn die Frau betrat gerade das Hotel, das am Ende der Straße lag.

»Keine Ahnung. Erst dieses merkwürdige Paket und dann das. Häschen, sei bitte vorsichtig. Irgendwas scheint hier zu passieren, wovon wir noch keine Ahnung haben.« Während er sprach, wurde dieses unangenehme Gefühl in Dantes Brust erneut stärker.

»Allerdings … der grüne Mann? Meint sie etwa Außerirdische?« Joschi schüttelte den Kopf. »Verrückt. Vielleicht hat sie wirklich nicht alle beisammen. Von ihrem Aussehen und der Stimme her, würde ich auf Krähenwandlerin tippen. Die sollen ohnehin recht … speziell sein.«

»Vorurteile? Das hätte ich von dir nicht erwartet«, meinte Dante, grinste jedoch. »Aber du hast recht. Ihnen werden sogar gewisse Fähigkeiten nachgesagt. Sie sollen Verbindungen mit alten Seelen aufnehmen können. Vielleicht hat dir ja ein Geist das Paket geschickt. Deshalb der fehlende Absender. Man kann schlecht die Adresse eines Friedhofs angeben«, meinte Dante scherzhaft. Sobald er jedoch Joschis geweitete Augen sah, runzelte er die Stirn. »Alles klar bei dir? Du bist auf einmal so blass.«

»Du hast mir ja auch gerade verkündet, mein heimlicher Verehrer wäre ein Geist. Schick mir Mumien, Zombies oder Serienkiller, aber Geister? Körperlose Seelen, die unsichtbar um dich herumschleichen, womöglich deinen Körper übernehmen können und gegen die du dich nicht verteidigen kannst? Nein, danke.«

Dante lachte. »Du hast echt Angst vor Geistern?«

»Lach nicht. Ich wäre verrückt, wenn ich die nicht hätte. Nimm Urgroßtante Ella zum Beispiel. Die war mal von der Seele eines Gorillawandlers besessen, der an Tollwut gestorben ist. Du kannst dir das Chaos nicht vorstellen, das sie bis zum Exorzismus angestellt hat. Die Arme war danach nie wieder dieselbe.«

»Für mich klingt das ja eher so, als wäre die gute Ella ganz einfach durchgedreht. Und lass mich raten: Derjenige, der den Exorzismus durchgeführt hat, verlangt für den Service horrende Summen.«

»Nun … sie soll schon mal zu tief ins Glas geschaut haben und ja, der Priester hat viel verlangt, aber das war ja auch verständlich. Wie viele Wandler gibt es schon, die so etwas durchführen können? Er musste von weit her kommen.«

Daraufhin stieß Dante einen Seufzer aus, legte einen Arm um Joschis Schultern und drückte die Lippen in sein seidiges, weißes Haar. »Häschen, verlier bitte niemals deine anbetungswürdige Naivität. Die könnte zwar etwas hinderlich sein, wenn es um deinen Beruf geht, aber … sie ist definitiv unheimlich niedlich.«

Joschi brummte daraufhin nur genervt. »Jedenfalls sollte man Geister nicht auf die leichte Schulter nehmen. Wir müssen aufpassen, wenn diese Frau in unserer Nähe herumschleicht. Wenn du später noch mal einkaufen fährst, besorg Salz. Jede Menge davon.«

»Und das soll helfen? Meinst du etwa, der Geist wäre ein Schneckenwandler in seinem früheren Leben gewesen?«, fragte Dante scherzhaft, doch Joschi schien ihm nicht zuzuhören. Stattdessen murmelte er etwas davon, sich Salbei und Lavendel bei Magda besorgen zu wollen, und so führte Dante ihn nur mit einem leisen Seufzer zum Wagen.

Kapitel 3

 

Da Joschi nach seiner Mittagspause zurückfahren wollte, nahmen sie beide Autos, um zum Anwesen zu fahren. Sobald sie die Grenze des Dorfes passiert hatten und langsam durch die engen Straßen fuhren, wurden sie von zahlreichen Bewohnern gegrüßt.

Dantes Meinung nach war es erstaunlich, wie sehr sich die Lage in Rededorf verändert hatte. Nachdem Bürgermeister Vormann endlich sein wahres Gesicht gezeigt hatte und von Siggi in seiner Drachenform bloßgestellt worden war, hatte er jede Unterstützung verloren. Zwar war noch nicht jeder auf der Seite von Joschis Familie, doch sie waren immerhin wieder dazu bereit, seiner Mutter Nora zuzuhören, und das war Dantes Meinung nach viel wert.

Außerdem betrachteten sie Joschi, der sich für ihre Wünsche eingesetzt und Theo mit seinem Vater geholfen hatte, als eine Art Helden. So konnten sie nur wenige Meter weit ins Dorf hineinfahren, bis sie von der Bäckerin angehalten wurden, die Joschi unbedingt einen Korb mit Backwaren schenken wollte. Ebenso lief es, als sie beim Blumenladen vorbeikamen und schließlich dem Besitzer des Keramikladens in der Nähe des Marktplatzes begegneten.

So musste Dante immer wieder ungeduldig warten, während Joschi mit genierter Miene einen Strauß Blumen, eine hübsch verzierte Schale und weitere kleine Geschenke von anderen Dorfbewohnern annahm. »Beliebt wie eh und je«, sagte Dante schließlich mit einem Grinsen zu ihm, als Joschi mit hochrotem Kopf zu ihm aufsah.

»Sie übertreiben maßlos …«

»Das würde ich nicht sagen. Schließlich bist du ihr Held.« Dante sah zum Gemeindehaus. Es stand immer noch ein Gerüst an der Fassade, doch der Großteil des Wiederaufbaus war bereits abgeschlossen. »Vermutlich bist du die einzige Person, die so zwischen deiner Mutter und den Dörflern vermitteln konnte. Wer weiß, in was für Schwierigkeiten deine Familie stecken würde, wenn du ihnen nicht geholfen hättest.«

Mit einem Seufzen schüttelte Joschi den Kopf. »Es gefällt dir, mich verlegen zu machen, oder?«

Dante grinste ihn an. »Ich muss zugeben, dass dieser schüchterne Blick unheimlich süß ist, ja. Aber es ist auch meine ehrliche Meinung. Du bringst Menschen zusammen, Häschen, da bin ich mir sicher.«

Daraufhin ging Joschi auf einmal auf ihn zu, griff in Dantes T-Shirt und presste das nun rote Gesicht gegen seine Brust. »Stopp … hör bloß auf. Das ist mir viel zu peinlich.«

Lachend drückte Dante ihn kurz an sich. »Dann lass uns weiterfahren, bevor wir noch mehr von deinem Fanclub begegnen. Ich möchte erst gar nicht wissen, was Theo für Geschenke für dich bereit hätte, wenn wir ihn treffen.«

Joschi sah zu ihm auf. »Wo du gerade von ihm sprichst … ich habe ihn ewig nicht gesehen. Ob es ihm gut geht? Leider war ich so mit der Kanzlei beschäftigt, dass ich kaum Zeit hatte, nach ihm zu sehen.«

»Ich weiß nur, dass er im Moment mit deiner Mutter zusammenarbeitet. Dann wird es ihm wahrscheinlich gut gehen, oder? Vermutlich hat er ebenso viel zu tun wie du.«

»Ja … vielleicht.«

Anschließend fuhren sie noch an der neuesten Attraktion des Dorfes vorbei: einem Lokal, das tagsüber eine mittelalterliche Schenke darstellen und sich dann abends in einen modernen Club verwandeln sollte. Ursprünglich war in dem Gebäude mal ein Restaurant gewesen. Da die Besitzer jedoch in modernere Räume am Stadtrand gezogen waren, stand es frei und bot die optimalen Räumlichkeiten. Es musste dennoch einiges umgebaut werden, weswegen sich auch hier ein Gerüst vor der Fassade befand und mehrere Handwerker ein- und ausgingen.

Joschi staunte nicht schlecht, als er einen Blick hineinwarf und die auf alt gemachte Bar sah. »Das sieht wirklich aus wie im Mittelalter.« Als er zur Decke sah, bemerkte er jedoch auch die zahlreichen Scheinwerfer, die den Club am Abend in die Neuzeit befördern sollten, und grinste. »Das nenne ich mal einen Kontrast. Max ist sicher begeistert.«

»Den habe ich erst heute Morgen auf dem Marktplatz getroffen«, erwiderte Dante. »Er möchte unbedingt dabei sein, wenn die Bühne gebaut wird.«

»Ich bin schon gespannt … bisher weiß ich nicht einmal, welche Art von Musik er spielt. Obwohl er tagsüber ohnehin den Minnesänger mimen muss.«

»Vielleicht findet er darin ja seine Berufung.«

Daraufhin ging es endlich ohne weitere Unterbrechungen zum Anwesen der von Redeburgs. Sobald sie auf die Einfahrt fuhren und ihre Autos neben dem Tor parkten, sahen sie auch schon, wie Siggi mitten auf dem Hof nackt die Fäuste ballte und mit hochrotem Gesicht die Zähne zusammenbiss.

»Versucht er, sich zu verwandeln oder ein Ei zu legen?«, fragte Joschi Wolf, der neben Michl stand und das Schauspiel genau wie sie mit einem kaum unterdrückten Lachen beobachtete.

Dieser drehte sich Joschi zu und grinste. »Keine Ahnung, aber die Wetten laufen. Bisher hat er es nur geschafft, grün anzulaufen und ich bin mir nicht sicher, ob das tatsächlich eine beginnende Verwandlung war, oder ihm durch die Anstrengung schlecht wurde.«

»Hör nicht auf ihn!«, rief Siggi Joschi jedoch zu. »Ich kann es spüren! Da ist wieder dieses Kribbeln in meinem Magen. Ganz deutlich. Gleich passiert es. Gleich … gleich ist es so weit …« Er ballte die Hände so feste zu Fäusten, dass die Knöchel weiß wurden, presste die Lippen aufeinander und … ein quietschender, langgezogener Ton entfloh seinem Hintern.

Zunächst starrten ihn alle verdattert an, doch dann brachen Wolf und Michl in schallendes Gelächter aus. Sie mussten einander sogar stützen, um nicht umzufallen.

»Halt das nächste Mal ein Feuerzeug dran«, meinte Dante mit einem breiten Lächeln. »Das bringt dich einem Drachen wenigstens ein Stück näher.«

Joschi schien derweil noch zu versuchen, sich für Siggi zusammenzureißen, doch seine Schultern zitterten deutlich vor unterdrücktem Gelächter und schließlich entfloh auch ihm ein »ha!«, woraufhin er sich rasch die Hand auf den Mund schlug.

Mit rotem Gesicht richtete sich Siggi auf und verschränkte die Arme. »Ihr habt ja alle keine Ahnung, wie schwer das ist. Ein Drache ist etwas anderes als eine Katze. Viel … grüner und schuppiger. Schnurrhaare sind leicht, aber Stacheln und das, was auch immer das Feuer in meinem Hals entstehen lässt? Ganz große Kunst.«

»Ja, ja, du bist großartig«, erwiderte Wolf und trat lächelnd auf ihn zu. »Aber nun solltest du mal etwas anderes probieren. Ich meine, du versuchst es schon seit vier Wochen. Vielleicht sollten wir dich richtig wütend machen. Das könnte helfen.«

»Ich bin schon wütend«, meinte Siggi jedoch, schob dabei leicht schmollend die Unterlippe vor. »Ich meine, ihr habt mich aufs Trockene gelegt! Daran liegt es bestimmt. Wenn ihr mir nur ein bisschen Baldrian geben würdet …«

Dante schüttelte auf der Stelle den Kopf. »Damit wir einen zugedröhnten Drachen über der Stadt fliegen haben, der sämtliche Häuser in Brand steckt? Vergiss es.«

»Aber so klappt es nicht«, heulte Siggi nun. »Dabei strenge ich mich so an.«

»Du tust es aber nicht genug. Tja, dann bist du eben doch ein Versager«, meinte Michl auf einmal. Dante verstand sofort, was er mit diesen Worten bezweckte, aber Joschi und Wolf betrachteten ihn mit großen Augen. »Ich habe noch nie einen erwachsenen Wandler gesehen, der solche Probleme hatte.«

»Es ist meine zweite Wandlung!«, rief Siggi nun wütend. »Die hat sonst keiner. Natürlich ist das schwieriger.« Sein rötliches Gesicht schien nun einen etwas fahleren Ton anzunehmen. Fast schon … grün?

Dante runzelte die Stirn. Michls Taktik funktionierte doch nicht etwa?

Zumindest schien dieser das zu denken, denn ein schmales Lächeln legte sich auf seine Lippen. Er verschränkte die Arme, betrachtete Siggi zufrieden. »Das ist nur eine Ausrede. Wahrscheinlich willst du es gar nicht schaffen. Du genießt die Aufmerksamkeit.«

»Das … das ist nicht wahr!«, rief Siggi, schien gleichzeitig ein wenig zu wachsen.

»Natürlich ist es das. Deshalb stellst du doch auch immer alle möglichen Sachen an. Du willst nur von jedem beachtet werden. Wirklich armselig.«

Siggi ballte die Hände zu Fäusten, atmete schwer. Ein gelber Farbton legte sich in seine Augen. »Nimm das zurück!«

Bei dem Anblick stellte sich Dante direkt etwas gerader hin. Wandler besaßen einen gewissen Instinkt, was Gefahr anging und der Ausdruck auf Siggis Gesicht versprach nichts Gutes. Das schien auch Joschi zu spüren, denn er machte einen Schritt nach hinten.

Nur Michl bekam offenbar nichts davon mit. Er stichelte weiter. »Warum? Ich habe doch recht. Du willst Aufmerksamkeit und machst uns dadurch nur Probleme. Außerdem …« Michls Grinsen wurde breiter. »… bist du richtig doof!«

»Ich bin nicht doof! Und schon gar nicht richtig!« Siggi biss die Zähne aufeinander. Er krümmte sich zusammen, schnappte nach Luft, lief noch grüner an und dann brachen plötzlich zwei lange, schuppenbedeckte Flügel aus seinem Rücken. Sie breiteten sich aus, bewegten sich und schlugen einen so gewaltigen Windstoß in ihre Richtung, dass Dante und Joschi einige Schritte über den Boden nach hinten schlitterten.

Siggi schien das nicht kontrollieren zu können, denn auf einmal stieg er ein paar Zentimeter in die Luft, stieß plötzlich nach vorne. Michl und Wolf sprangen gerade noch rechtzeitig zur Seite, als er zwischen sie hindurch schoss und genau auf das Scheunentor zuflog. Joschis Onkel Christoph, der soeben eine Pause machte und zuvor dabei gewesen war, das Tor grün anzustreichen, sah mit großen Augen dabei zu, wie Siggi im letzten Moment die Kurve kriegte, dabei jedoch mit dem Flügel die Leiter erwischte und den Eimer mit grüner Farbe umstieß. Er landete auf seinem Kopf, blieb darüber gestülpt, während er weiter über den Hof zischte.

»Ich seh nichts! Ich seh nichts, verdammt!«

»Siggi, nach rechts!«, rief Joschi gerade noch rechtzeitig, da Siggi fast mit der Mauer von Magdas Haus zusammengestoßen wäre. Siggi befolgte zum Glück die Anweisung, zog scharf nach rechts, befand sich dann jedoch auf direkter Fluglinie mit Joschi. Bevor einer von ihnen etwas tun konnte, hatte er ihn umgerissen, schlitterte mit ihm einige Meter über den Boden, bis beide schließlich liegen blieben.

»Scheiße! Seid ihr in Ordnung, Häschen?«, rief Dante, während er, Michl und Wolf auf sie zu rannten.

Siggi und Joschi richteten sich stöhnend auf. Sie besaßen einige Abschürfungen und waren von oben bis unten mit grüner Farbe bekleckert, doch ansonsten schienen sie in Ordnung zu sein.

»Warum nur«, begann Joschi und spuckte, als ihm etwas der Farbe in den Mund lief. »Warum nur gehe ich immer zu Boden, wenn ich dich treffe?«

»Schwerkraft«, erwiderte Siggi. Noch während er sprach, zogen sich die grünen Flügel in seinen Rücken zurück und er nahm seine übliche rosige Gesichtsfarbe an … zumindest an den Stellen, die nicht mit Farbe bedeckt waren. »Aber dieses Mal wissen wir alle, wer an dieser Situation schuld ist, oder?«

Sie richteten den Blick auf Michl, der entschuldigend grinste. »Hey, es war ein kleiner Erfolg. Ich meine, immerhin hat er eine teilweise Verwandlung geschafft. Das ist ein Anfang. Und wir wissen jetzt sicher, dass er wütend werden muss.«

»Ein Erfolg? Erzähl das mal meinem Anzug«, erwiderte Joschi, der inzwischen aufgestanden war, nun an sich hinuntersah und ein gequält klingendes Seufzen ausstieß. »Warum habe ich mich nicht umgezogen, bevor ich hierhergekommen bin? Das Ding ist jetzt für immer ruiniert.«

»Kein großer Verlust«, erwiderten Michl und Wolf gleichzeitig.

Dante wischte jedoch die grünen Haare aus Joschis Gesicht. »Immerhin wissen wir nun, was diese Frau mit ihrem Rat meinte.« Eigentlich hatte er dies nur scherzhaft gemeint, doch Joschi betrachtete ihn auf einmal mit großen Augen.

---ENDE DER LESEPROBE---