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Quinn kann zwanzig Jahre lang nur an eines denken: endlich den Mord an seinem Bruder Jonah zu rächen. Als er nach all dieser Zeit eine neue Spur entdeckt, treibt diese ihn aber ausgerechnet in die Arme des Auftragskillers Noel. Dabei findet Quinn heraus, wer wirklich in der Stadt das Sagen hat. Auf einmal erweist sich sein ganzes Leben als eine Lüge und der Mann, den er zunächst töten wollte, wird nicht nur ein wertvoller Verbündeter, sondern weit mehr als das …
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Veröffentlichungsjahr: 2022
Francisca Dwaine
Love & Kill
Rache für Jonah
Inhalt:
Quinn kann zwanzig Jahre lang nur an eines denken: endlich den Mord an seinem Bruder Jonah zu rächen. Als er nach all dieser Zeit eine neue Spur entdeckt, treibt diese ihn aber ausgerechnet in die Arme des Auftragskillers Noel. Dabei findet Quinn heraus, wer wirklich in der Stadt das Sagen hat. Auf einmal erweist sich sein ganzes Leben als eine Lüge und der Mann, den er zunächst töten wollte, wird nicht nur ein wertvoller Verbündeter, sondern weit mehr als das …
Copyright © 2022 Francisca Dwaine
Alle Rechte vorbehalten.
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt und darf nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin ganz oder in Auszügen vervielfältigt oder kommerziell genutzt werden.
Alle handelnden Personen wurden frei erfunden.
Cover © Francisca Dwaine
Unter Verwendung des Bildes von ©romancephotos @ www.fotosearch.de
Prolog
Während sein Bruder ihn durch die dunklen Straßen zerrte, stolperte Quinn mehr, als dass er rannte. So sehr er sich auch bemühte, mit ihm Schritt zu halten, seine kurzen Beine trugen ihn nicht schnell genug über den Asphalt. »Mach langsamer, Jonah. Ich kann nicht mehr.«
»Halte noch etwas durch. Wir sind gleich da«, flüsterte ihm sein Bruder zu und sah sich hektisch dabei um.
Nur eine winzige Laterne warf ihr flackerndes Licht auf die umliegenden Straßen. Die anderen waren schon vor Monaten ausgefallen. Als er die tanzenden Schatten an den Mauern beobachtete, raste Quinns kleines Herz. Wie oft hatte ihr Onkel sie davor gewarnt, nach Einbruch der Dunkelheit in dieser Gegend unterwegs zu sein? »Bitte, ich habe Angst. Lass uns einfach wieder nach Hause gehen.«
Jonah blieb stehen, drehte sich ihm zu und ging in die Hocke. Er legte seine Hände auf Quinns Schultern. »Tut mir leid, das können wir nicht. Ich muss etwas erledigen. Wir sind aber wirklich gleich da. Wenn du jetzt artig mitkommst, dann spiele ich morgen den ganzen Tag mit dir im Park, ja? Nur wir beide.«
Ein Lächeln bildete sich auf Quinns Lippen. »Wirklich? Du musst nicht arbeiten?«
»Ich nehme mir frei. Erst werfen wir ein paar Bälle und dann lade ich dich zum Eisessen ein. Genauso … genauso wie Dad das früher mit uns gemacht hat. Du erinnerst dich?«
Quinn nickte rasch. Jonah nahm wieder seine Hand und zog ihn weiter. Während Quinn in Gedanken bereits in dem Park war, schlich sich dennoch ein ungutes Gefühl in seinen Magen. So nervös hatte er seinen Bruder noch nie erlebt. Ständig sah sich Jonah um, umklammerte dabei feste seine Hand.
Dann bogen sie in eine Gasse ein und nun erkannte Quinn endlich, wo sein Bruder hin wollte. Gleich um die Ecke lag das Polizeirevier, in dem ihr Onkel arbeitete. Sie hatten fast das Ende des Durchgangs erreicht, da trat eine Gestalt ganz in Schwarz gekleidet in ihren Weg. Sie hielt etwas in der Hand, das im dunklen Schein der winzigen Laterne über ihnen rot glänzte. Sekunden später erkannte Quinn, was es war, und umklammerte die Hand seines Bruders fester.
»Lauf weg, Quinn! Renn so schnell, du kannst und schau nicht zurück!«, rief Jonah, schubste ihn nach hinten und stellte sich schützend vor ihn.
Quinn lief los, rechnete damit, dass Jonah ihm folgte, aber gleich darauf ertönte ein Knall. Wie erstarrt blieb Quinn stehen, drehte sich um. Die Gestalt war verschwunden, doch sein Bruder lag am Boden und nun glitzerte etwas anderes Rotes im Schein der Laterne …
Kapitel 1
Quinn erwachte mit einem Keuchen. Er war schweißgebadet, hatte irgendwann in der Nacht seine Decke fortgetreten und lag nun schwer atmend auf dem Rücken. Sein Körper war ausgekühlt, das Herz raste. Er tastete neben sich, doch natürlich war niemand mehr da. Die Frauen, mit denen er schlief, waren regelmäßig vor Sonnenaufgang verschwunden. Sie ließen für ihn Geschenke dort und kehrten zu ihren reichen Männern zurück, die nicht wussten, was sie in der Nacht zuvor getan hatten.
Das war Quinn allerdings nur recht. Sie benutzten einander. Für die Frauen war er mit seinen leicht mandelförmigen Augen, den schwarzen Haaren und seinem gut gebauten Körper ein aufregendes Abenteuer, das sie von ihrem tristen Leben als Hausfrauen ablenkte. Er wiederum bekam von ihnen das nötige Kleingeld, um die Suche nach dem Mörder seines Bruders zu finanzieren. Quinn fühlte sich nicht gut dabei, aber als einfacher Tanzlehrer hätte er nie genug Geld aufbringen können, um insgesamt drei Privatdetektive zu engagieren. Vergeblich, wie er nun wusste, doch dafür hatte er nun selbst einen Hinweis gefunden.
Schwerfällig setzte er sich auf, goss sich etwas Wasser in ein Glas, das auf seinem Nachttisch stand, und trank es hastig leer. Mit einem Blick auf die Uhr stellte er fest, dass er wieder bloß drei Stunden geschlafen hatte.
Kopfschüttelnd ging er ins Wohnzimmer, wo er auf eine freistehende Magnetwand starrte. Darauf waren mehrere Zeitungs- und Magazin-Artikel über verschiedene rote Revolver angepinnt, aber nur einen von ihnen hatte er eingekreist.
Vor rund 20 Jahren hatte ihm niemand geglaubt. Sie hatten behauptet, der Mord an seinem Bruder wäre ein einfacher Raubmord mit einer normalen Waffe gewesen. Die Tat eines Junkies, der für ein paar Kröten dazu bereit war, alles zu tun, aber Quinn wusste es besser.
Wenn er damals auch nur acht Jahre alt gewesen war, der dunkelrote Revolver hatte sich in sein Gedächtnis eingebrannt und nun hatte er ihn endlich in einem Artikel wiedergefunden. Auf der ganzen Welt existierten nur drei dieser Waffen und bloß eine davon befand sich noch in den USA. Leider hatte jemand den Revolver vor dem Mord von einem reichen Sammler gestohlen, was Quinns Suche ein jähes Ende bereitet hatte, doch das würde ihn nicht aufhalten.
Sich den steifen Nacken massierend ging Quinn in die Küche, warf dem Kuvert mit Geld, das ihm Mrs. Coldwell hinterlassen hatte, nur einen kurzen Blick zu und machte sich eine Tasse Kaffee. So wartete er auf den Sonnenaufgang und verließ um acht Uhr schließlich das kleine Apartment im Bostoner Norden, in dem ihn sein Onkel wohnen ließ. In seinem alten Chevy fuhr er zur Friend Street, wo er vor einem Antiquitätengeschäft hielt. So freundlich der Straßenname auch klang, als er mit seinem Rucksack in der Hand ausstieg, bekam Quinn augenblicklich ein schlechtes Gefühl. Wie der Großteil von Boston wechselten sich in diesem Stadtteil alte und neue Gebäude ab. Hier und dort gab es ein Graffiti, doch nichts wies auf unmittelbare Gefahr hin … wenn da nicht die Blicke wären, die er spürte. Zunächst sah er niemanden, aber dann entdeckte er zwei dunkel gekleidete Männer, die zwischen den Häusern standen und miteinander tuschelten. Nervös warf Quinn einen Blick auf einen Zettel, tat dabei sein Bestes, das Geflüster zu ignorieren. Sein Freund Rio kannte viele Leute in Boston und hatte ihm die Adresse eines Pfandleihers gegeben, der seine Augen und Ohren überall in der Stadt haben sollte. Wenn einer wusste, was mit der Waffe nach dem Diebstahl geschehen war, dann er.
Inmitten der anderen Geschäfte war das Pfandhaus »Tony's Point« nicht zu übersehen. Im Schaufenster waren Unmengen Waffen verschiedenster Art und Schmuck in abgeschlossenen, gläsernen Kästen ausgestellt. Nachdem Quinn die Tür geöffnet hatte, sah er außerdem Musikinstrumente und Videospielkonsolen, die entweder an den Wänden hingen oder sich in Kartons am Boden stapelten. Der Laden selbst war recht dunkel und sobald er einige Schritte in den Verkaufsraum gemacht hatte, verfolgten ihn erneut die Augen zweier Männer, die doppelt so groß und breit waren wie er. Zögernd lief Quinn auf den Tresen zu, der mit einer schusssicheren Scheibe abgesichert war.
»Hast du dich verlaufen, Kleiner?«, fragte ihn ein dünner, aschblonder Mann mit tiefen Rändern unter den Augen und einem verschmitzten Grinsen.
»Nein«, sagte Quinn leise und sah hinter sich die beiden Kerle von eben auf ihn zugehen. Als er bemerkte, wie einer von ihnen die Hand auf eine Pistole an seiner Hüfte legte, schluckte er hart. »Ich bin nicht auf der Suche nach Ärger. Mir wurde nur gesagt, dass man sich an Tony wenden soll, wenn man etwas sucht.«
Der Mann vor ihm lehnte sich mit den Unterarmen auf seinen Tisch. Das Glas vor ihm beschlag, während er fragte: »Und wer behauptet so etwas?«
Quinn zögerte. War es wirklich eine gute Idee, diesem Kerl Rios Namen zu verraten? Dass in diesem Laden nicht alles legal ablief, war offensichtlich. Andererseits … er hätte Quinn gewarnt, wenn es nicht sicher wäre. »Rio«, antwortete er schließlich. »Rio Tavares.«
Der Mann lachte auf einmal laut auf und winkte seinen Männern mit einer flüchtigen Handgeste zu, woraufhin sie sich zurückzogen. »Rio also … den habe ich schon ewig nicht mehr gesehen. Der beste Tänzer, den ich je im High End getroffen habe.« Grinsend öffnete er ein Fach unten an der Scheibe und schüttelte Quinns Hand. »Ich bin der Tony, den du suchst. Die Show von vorhin tut mir leid. Wir hatten in letzter Zeit etwas Ärger mit zwei Gangs in der Gegend. So ein paar junge Burschen denken, sie könnten Gangster spielen, aber die richtigen Leute werden sich schon darum kümmern. Was bringt dich hierher?«
Erleichtert griff Quinn in seine Hosentasche und zog den eingekreisten Zeitschriftenartikel heraus. »Ich bin auf der Suche nach einem ganz besonderen Revolver. Es soll nur einen davon in den USA geben und ich glaube, er ist noch irgendwo hier in Boston.« Er reichte den Artikel Tony, der sich eine Lesebrille aufsetzte und das Bild genau betrachtete.
»Kurios. Ein seltenes Stück. Wenn ich mich nicht irre, war es ein Geschenk eines alten Waffennarrs an seine besten Mitarbeiter.«
»Dann kennen Sie den Revolver?«, fragte Quinn begeistert.
Tony seufzte, nahm seine Brille ab und sah ihn ernst an. »Ja, und ich muss dir leider raten, das Ding zu vergessen. Zufällig weiß ich, wem er momentan gehört, und vertrau mir, der Kerl wird sich nicht davon trennen.«
»Darum geht es mir nicht«, meinte Quinn schnell. »Ich suche eher den Besitzer als die Waffe selbst und-« Als er Tonys gerunzelte Stirn sah, verstummte Quinn augenblicklich und setzte neu an. »Bitte! Ich suche sie seit über 20 Jahren. Was Sie auch für die Information verlangen, ich werde es Ihnen geben.«
»Das ist ein Satz, den du niemals in dieser Stadt aussprechen solltest … und sonst wo eigentlich auch nicht.« Tony richtete sich auf, betrachtete ihn mit scharfem Blick. »Ich kenne Leute wie dich. Du wärst überrascht, wie oft verzweifelte Menschen wie du in meinen Laden kommen. Wen du auch durch dieses Ding verloren hast, ich verspreche dir, suchst du den Besitzer auf, wirst du das nicht überleben.«
Einen Moment lang war Quinn verblüfft darüber, wie schnell ihn dieser Mann durchschaut hatte, doch er fing sich wieder. Seit Jahren war dies die erste Spur, die er gefunden hatte. Er würde nicht nachgeben, bis er die Information hatte. »Sie wären überrascht, wenn Sie wüssten, was ich in meinem Leben bereits alles durchgestanden habe. Ich werde nicht aufgeben, bis ich ihn finde. Wenn Sie mir nicht sagen, wo er ist, dann wird es jemand anderes tun.«
Ein Lächeln erschien auf Tonys Gesicht. »Na schön, immerhin habe ich es versucht. Fünf Riesen und ich sage dir, was du wissen willst.«
Quinn schluckte hart, aber er nahm seinen Rucksack ab, griff hinein und zog einen Umschlag mit einem großen Bündel Scheine heraus. Selbst mit seinem kleinen Nebengeschäft war das eine Menge Geld, doch für diese Chance hatte er schließlich jahrelang gespart.
Sobald Tony die Scheine sah, weiteten sich seine Augen. »Scheiße, Kleiner, bist du verrückt? In diesem Teil der Stadt sollte niemand mit so viel Kohle in der Tasche herumlaufen. In jedem anderen Laden wärst du dafür ausgeraubt worden.«
»Dann ist es ja gut, dass ich in Ihren gegangen bin.« Quinn zählte das Geld ab und schlug es auf den Tresen. »Wie lautet der Name?«
»Du gefällst mir besser und besser, Süßer.« Tony setzte sich erneut die Brille auf, griff durch das Loch in der Scheibe und zählte nach. Sobald er zufrieden war, legte er es unter den Tresen und schrieb etwas auf einen Block. »Das Arschloch heißt Noel Rodríguez. Ich kann dir sogar seine Adresse geben, aber wie gesagt: Ich muss dich warnen. Der Kerl ist ein Auftragskiller und verdammt gefährlich. Wahrscheinlich macht er dich kalt, bevor du auch nur ein Wort herausbringen kannst.«
»Das macht nichts. Ich habe nicht vor, viel mit ihm zu reden«, erwiderte Quinn, dessen Herz inzwischen so stark klopfte, dass er kaum noch atmen konnte. Ein Auftragskiller … er wusste doch, dass Jonahs Tod kein einfacher Raubmord gewesen war!
Tony starrte ihn einen Moment lang an, sah dann zu seinen Männern im Laden und befahl ihnen, die Tür zu bewachen. »Da ich dich mag, lege ich noch die hier drauf«, sagte er, fasste unter den Tresen und zog eine Waffe hervor, die er zusammen mit einer Packung Munition durch das Loch in der Scheibe zu Quinn schob. »Das ist eine Glock 17. Zuverlässig, leicht und mit geringem Rückstoß. Ich denke immer noch, dass dich der Kerl kalt machen wird, aber mit dem Teil hier hast du wenigstens eine Chance.«
Quinn schluckte hart und nahm die Waffe entgegen. »Sie … sie ist schwerer, als sie aussieht.«
»Du hattest aber schon einmal eine Knarre in der Hand, oder? Ansonsten solltest du die Sache wirklich vergessen.«
Rasch nickte Quinn. »Es ist eine Weile her, aber mein Onkel hat mich früher oft mit auf den Schießstand genommen.« Mit flinken Fingern entfernte er das Magazin, zog den Verschluss zurück und warf einen Blick in den Laderaum. »Er hat eine Ähnliche.«
»Verstehe. Er ist aber kein Bulle, oder?«, fragte Tony mit einem Lachen. Als Quinn ihn daraufhin nur ansah, riss er die Augen auf. »Kein Scheiß? Junge, wenn mir dieser Mist Ärger macht …«
»Keine Sorge. Er weiß nicht, dass ich hier bin. So wie alle anderen hat er mir nicht geglaubt, aber jetzt … jetzt kann ich die Sache in die eigene Hand nehmen«, erwiderte Quinn, ließ den Verschluss zurückschnappen und setzte das Magazin wieder ein.
»Na schön, dann viel Glück. Du wirst es echt brauchen.«
Quinn sagte nichts dazu, sondern packte Waffe und Munition in den Rucksack, nahm die Adresse entgegen und warf einen Blick auf den Zettel. Erneut schlug sein Herz schneller. Der Mistkerl wohnte doch tatsächlich keine halbe Stunde von seinem Apartment entfernt … und dann auch noch in einem der reichsten Viertel von Boston.
Mit grimmiger Miene knüllte Quinn den Zettel zusammen und stopfte ihn in seine Hosentasche. Zunächst würde er zur Arbeit fahren, doch in der Nacht stattete er dem Kerl einen Besuch ab und dann … dann würde er ihn endlich für den Mord an seinem Bruder büßen lassen.
Kapitel 2
Um zwei Uhr morgens hielt Quinn endlich vor dem entsprechenden Wohngebäude. Wie viele Häuser in dieser Gegend war auch dieses ehemalige Fabrikgebäude umgebaut worden und beherbergte nun riesige Lofts für einen sündhaft teuren Preis.
Zu seiner Überraschung befand sich jedoch kein Wachmann vor dem Gebäude und, soweit Quinn sehen konnte, gab es auch keinen Empfang. Sollte nicht jemand, der als Beruf Menschen ermordete und dabei anscheinend erstaunlich gut verdiente, mehr auf seine Sicherheit achten?
Quinn sah zu der Papiertüte auf dem Beifahrersitz, in der er die Waffe versteckt hatte, und zögerte. Je länger er hier stand, desto schlechter wurde sein Gefühl. Gab es vielleicht ein anderes Sicherheitssystem? Geheime Kameras, Infrarot-Strahlen oder gar tödliche Laser, die ihn kaltmachten, bevor er überhaupt das Gebäude betreten konnte?
Rasch schüttelte Quinn den Kopf. Nein, zumindest der letzte Teil war Unsinn. Er steckte hier schließlich nicht in einem Spionagefilm. Wahrscheinlich setzte der Kerl eher auf Bewegungsmelder. Mehr Personal würde auch mehr Zeugen bedeuten. Doch wie sollte Quinn dann hineingelangen, ohne entdeckt zu werden?
Mit wild klopfendem Herzen nahm er die Waffe aus der Papiertüte, stieg aus, überprüfte die Sicherung und steckte die Pistole anschließend hinten in seinen Hosenbund. Nachdem er die Jacke darüber gezogen hatte, schlich er um das Haus herum und lächelte. Bingo! Dahinter lag ein kleiner Hof und eine Feuertreppe führte hinauf.
Sie war zwar nicht heruntergezogen und daher trennten ihn ungefähr drei Meter von seinem Ziel, aber das war für jemanden wie Quinn, der beruflich tanzte und früher Parkour gemacht hatte, kein Problem.
Er nahm Anlauf, sprang hoch, stieß sich mit einem Fuß an der Mauer ab, hielt sich mit ausgestreckten Armen an dem Absatz der Feuertreppe fest und zog sich mit zusammengebissenen Zähnen nach oben. Beinahe verlor er dabei die Waffe, schlang jedoch gerade noch rechtzeitig den Arm um das Gitter und benutzte die andere Hand, um die Glock auf den Boden der Treppe zu legen. Sobald er sich weiter hochgezogen und über das Geländer geklettert war, schnappte Quinn nach Luft, steckte die Waffe wieder ein und sah nach oben. Den ersten Teil hatte er hinter sich. Nun kam es darauf an, wie die Fenster des Mannes gesichert waren.
So leise er konnte, schlich er die Treppe hinauf und achtete dabei darauf, von niemandem durch die Scheiben gesehen zu werden. Ganz oben sah er in einen der Räume, doch es war so dunkel, dass er kaum etwas erkannte. Lediglich die rote Standby-Anzeige eines Fernsehers warf einen winzigen Lichtstrahl in das Zimmer. So konnte er immerhin davon ausgehen, dass es sich hier um das Wohnzimmer handelte. Mutig genug mit dem Handy hineinzuleuchten, war Quinn nicht.
Stattdessen untersuchte er den Fensterrahmen mit den Augen, den er dank der Laterne auf dem Hof wenigstens relativ gut sah. Auch hier gab es keinerlei Sicherung.
Aber konnte das sein? Jemand wie dieser Noel musste doch Unmengen an Feinden haben … wieso sicherte er dann nicht sein eigenes Zuhause? Mit nun wild klopfendem Herzen nahm Quinn einen Schraubenschlüssel aus seiner Hosentasche und stemmte den Rahmen hinter dem Verschluss auf, wie er es in einem Online-Video gesehen hatte. Sekunden später war er bereits erfolgreich und stieg vorsichtig in die Wohnung hinein. Er nahm seine Waffe in die Hand, schlich sich vortastend voran, bis er eine Tür fand. So leise er konnte, öffnete er sie, befand sich auf einmal in einem großen Schlafzimmer, in dem das Doppelbett von den leuchtenden Ziffern eines Weckers beleuchtet wurde. Eine Person zeichnete sich deutlich unter der Bettdecke ab.
Mit zitternden Händen hob Quinn seine Waffe, zögerte jedoch. Was, wenn es gar nicht der Kerl war, sondern er stattdessen eine Freundin hatte? Verdammt noch mal … er war so besessen davon gewesen, endlich seinen Bruder rächen zu können, dass er gar nicht an diese Möglichkeit gedacht hatte.
Was nun? Sollte er die Person aufwecken? Einfach abknallen konnte er den Mann ohnehin nicht. Schließlich hatte er zuvor noch einige Fragen an ihn. Warum hatte er Jonah getötet? War es ein Auftragsmord gewesen? Und wenn ja, für wen?
Sich ein Herz fassend, griff Quinn nach der Decke und zog sie mit einem Ruck zur Seite. Kurz darauf erstarrte er.
Kissen. Die Form unter der Bettdecke bestand bloß aus zusammengelegten Kopfkissen.
»Wie lange willst du eigentlich dort rumstehen?«, fragte ihn auf einmal eine tiefe Stimme und ein sinkendes Gefühl legte sich in Quinns Magen. Etwas Hartes drückte sich gegen seinen Rücken. »Falls du jetzt denkst, ich freue mich nur, dich zu sehen, muss ich dich leider enttäuschen. Das ist eine S&W 500, die sich da auf dein Rückgrat presst. Der größte in Serie produzierte Revolver der Welt. Eine falsche Bewegung und er pustet dir ein neues Loch in deinen schönen Rücken.« Der geflüsterte, beinahe liebevolle Ton jagte Quinn einen kalten Schauer über die gesamte Haut. Wie erstarrt stand er da, während sein Herz nervös in seiner Brust hämmerte. »Das ist jetzt normalerweise der Moment, an dem man die Waffe herunternimmt.«
Quinn, der vor Angst kaum noch denken konnte, ließ die Hände sinken. Anschließend nahm ihm jemand die Pistole ab. Überraschend sanfte Finger strichen dabei über seine Haut.
»Gute Entscheidung. Geh zum Bett und setz dich.«
Zwar schluckte Quinn hart, doch er befolgte den Befehl, drehte sich um und setzte sich auf die Matratze. Nur Sekunden später schaltete der Mann das Licht an und Quinn riss augenblicklich die Augen auf. Der Kerl, der ihn bedrohte, war komplett nackt. Mit einem frechen Grinsen stand er dort, zielte mit einer riesigen Waffe auf Quinn und inspizierte die Glock, die er ihm zuvor abgenommen hatte. Er besaß leicht gebräunte Haut, einen so durchtrainierten Körper, wie Quinn ihn selten gesehen hatte, und trug einen Drei-Tage-Bart, der ihm ein etwas verwegenes Aussehen verschaffte. Am auffallendsten waren jedoch die vier kreisrunden Narben auf seinem Oberkörper. »Ah, ja. Als ich dein Auto vor meinem Haus gesehen habe, da hatte ich so einen Verdacht … Tony hat dich hergeschickt, oder? Zumindest kenne ich sonst keinen, der auf so stümperhafte Art die Seriennummer abfeilt.«
Kein Wort kam über Quinns Lippen. Er konnte nicht sagen, was ihn am meisten schockierte: Dass dieser Mann Tony kannte, offenbar bereits seit Ewigkeiten von Quinns Anwesenheit wusste oder, dass er sich trotz allem nicht einmal eine Hose übergezogen hatte.
Ein Grinsen schlich sich auf das Gesicht des Fremden. »Ich verstehe ja, dass ich gut aussehe, aber wenn du mich weiterhin so anstarrst, wird meine Waffe weder das größte noch das härteste Ding in diesem Raum bleiben. Da das peinlich für uns beide wäre, solltest du also wirklich meine Fragen beantworten.« Er warf ihm einen langen Blick zu und schüttelte anschließend den Kopf. »Ehrlich, wenn du nicht so süß wärst, hätte ich dich bereits abgeknallt, als du durch mein Fenster gestiegen bist.«
»D-Dann hast du mich gesehen?«, fragte Quinn nervös. Die Worte von zuvor hatte er kaum registriert. Stattdessen bemühte er sich, die Augen auf Noels Gesicht zu behalten.
»Natürlich. Ich habe überall in der Wohnung Infrarotkameras versteckt.«
»Oh. Ich dachte … weil es kein Sicherheitssystem gab … oder war es ein stiller Alarm?«
Noel lächelte und legte die Glock auf die Kommode, die neben ihm stand. »Du wirst mit einer Waffe bedroht und fragst mich über das Sicherheitssystem aus?«
»Ich … ich rede viel, wenn ich nervös bin.« Quinn senkte den Blick, faltete die Hände und spürte, wie hart ihm das Herz gegen die Rippen schlug. »Dann bist du Noel Rodríguez? Und du bringst mich jetzt um? Wie meinen Bruder?«
»Deinen Bruder?« Sichtlich überrascht runzelte Noel die Stirn. »Deshalb bist du also hier? Lass mich raten: Du warst auf der Suche nach mir, bist dabei in Tonys Laden gelandet und der hat dir schließlich für einen dicken Batzen Kohle meine Adresse gegeben.«
Quinn nickte knapp und wandte seine Augen ab. Dass der Kerl komplett nackt war, schüchterte ihn inzwischen mehr ein als die Waffe in seiner Hand. Dank Quinns derzeitiger Position befand er sich leider mit dem langen Schwanz des Kerls auf Augenhöhe. Mit den dunklen Augen und seinem geradezu abartig sympathischen Grinsen sah er außerdem so verdammt gut aus, dass diese Tatsache Quinn noch mehr ärgerte. Er besaß dieses riesige Loft, jede Menge Kohle und einen traumhaften Körper, während Jonah dank ihm bloß 16 Jahre alt geworden war? Das alles war so unfair, dass Quinn die Hände zu Fäusten ballte und seine Tränen zurückhalten musste.
Noel starrte ihn zunächst an, seufzte dann auf einmal. »Okay, lassen wir diese Spielchen für einen Moment. Wie hieß dein Bruder?« Er ging auf Quinn zu, beugte sich und sah mit einem überraschend sanften Blick in sein Gesicht. »Hm, du hast etwas Asiatisches an dir. Deine Augen sind leicht mandelförmig. Du gehörst nicht zur Bellacchio-Familie, oder?«
»Nein«, antwortete Quinn knapp und versuchte dabei, ihn nicht anzusehen. Noel war ihm so nahe, dass er seinen Atem auf dem Gesicht spürte.
»Zu wem dann? Oder war dein Bruder ein Dieb, der dumm genug war, die Sorrentinos zu beklauen?«
Obwohl die Waffe immer noch auf ihn gerichtet war, sprang Quinn auf, wodurch Noel einen Schritt zurückwich. »Natürlich nicht! Er hat nie etwas Unrechtes getan. Er war … er war der beste Mensch, den man sich vorstellen kann, und dann kamst du und hast … hast ihn einfach vor meinen Augen …« Quinn biss sich auf die Unterlippe. Nun standen doch noch Tränen in seinen Augen. »Ich habe ihn so sehr geliebt und du hast ihn mir genommen.«
Mit gerunzelter Stirn hob Noel die Hand. »Moment. Das mag jetzt wie eine schlechte Ausrede klingen, aber ich glaube, du hast den Falschen erwischt. Ich töte nie vor den Augen eines anderen Menschen. Erst recht nicht vor seinen Angehörigen.«
»Aber du hast es getan!«, schrie Quinn. »Er … er wollte nur etwas erledigen und plötzlich hast du dort gestanden und … und mit dieser roten Waffe auf Jonah gezielt.«
»Jonah? Okay, jetzt bin ich mir sicher, dass du den Falschen hast. Ich erinnere mich an jeden Namen und der war nicht darunter. Außerdem töte ich ausschließlich die Feinde der Sorrentinos. Hast du mein Gesicht gesehen?«
Quinn ballte die Fäuste. »Nein. Der Täter war komplett in Schwarz gekleidet und sein Gesicht war verdeckt. Ich konnte nur die rote Waffe erkennen und die hat mich auf deine Spur geführt. Tony hat sie erkannt und …« Plötzlich sah Quinn auf. »Moment mal. Hat er mich reingelegt?«
»Das ganz sicher. Es stimmt zwar, dass ich eine rote Waffe besitze, aber ich bin nicht der, den du suchst. Eine Tatsache, die ihm eigentlich klar sein musste.« Noel seufzte. »Sorry, Kleiner, aber du bist da in ein Spiel zwischen uns hineingeraten. Warte mal kurz.« Zu Quinns Überraschung legte er die Waffe auf die Kommode neben sich, nahm stattdessen sein Handy von einem kleinen Tisch und rief jemanden an. »Hey, Tony, ich wecke dich hoffentlich? Das hast du nämlich mit Sicherheit verdient, du Hurensohn«, sagte Noel mit einem Grinsen.
Er musste den Lautsprecher eingeschaltet haben, denn kurz darauf hörte Quinn Tonys Stimme. »Sag bloß, er ist schon da«, erwiderte Tony mit einem Lachen. »Da du mich anrufst, nehme ich an, er lebt noch und hat mich verraten?«
»Das musste er nicht. Ich wusste es gleich, nachdem ich ihm die Waffe abgenommen habe. Das sieht dir mal wieder ähnlich, den Kleinen so auszunutzen. Bei was für einem Verbrechen wurde die Knarre benutzt?«
»Nur für einen kleinen Raub, der schiefgelaufen ist. Ich habe gerade überlegt, wem ich sie andrehen kann, und da läuft dieser Leckerbissen in meinen Laden. Wie hätte ich widerstehen können?«
Noel zog eine Grimasse. »Du bist ein echtes Arschloch, Tony.«
»Hey, die meisten in dieser Stadt hätten an meiner Stelle das Gleiche getan. Außerdem ist er genau dein Typ. Eigentlich müsstest du mir dankbar sein.«
»Ach, und ich schätze, du hast nicht gehofft, er könnte mit seiner naiven und tollpatschigen Art Erfolg haben, hm?«
»Nun ja, ich habe die härtesten Kerle zu dir geschickt und du hast sie zu Hackfleisch verarbeitet, bevor sie überhaupt Hallo sagen konnten. Einen Versuch war es wert. Erledigst du ihn? Wäre schade. Er hat einen echt geilen Arsch.«
»Die Entscheidung darüber steht noch aus, aber du wirst die Knarre zurücknehmen. Ich mache mit Sicherheit nicht die Drecksarbeit für dich.«
»Schon gut, schon gut. Sehen wir uns am Freitag? Die Jungs vermissen dich.«
»Da bin ich geschäftlich auf einer Party.«
»Ah. Santos schon wieder? Du solltest vorsichtig sein. Der Kerl hat es auf dich abgesehen.«
»Wie viele andere auch. Bis später.« Damit legte Noel auf und sah Quinn an. »Da hast du es. Er hat dich schamlos ausgenutzt und dir eine heiße Waffe angedreht. Wenn sie dann deine Leiche mit dem Ding gefunden hätten, wäre sein Auftraggeber fein raus gewesen.«
Quinn starrte ihn fassungslos an, setzte sich anschließend wieder. »Das … das bedeutet aber noch nicht, dass du nicht der Mörder meines Bruders bist.«
Noel warf ihm einen ungläubigen Blick zu. »Du befindest dich in Lebensgefahr und bestehst immer noch darauf?«
Mit zusammengezogenen Augenbrauen sah Quinn ihn an. Erneut spürte er unfassbare Wut. Selbst, wenn dieser Mann nicht der Mörder seines Bruders wäre, er war immer noch ein Killer. Das, was Quinn als kleiner Junge widerfahren war, hatte Noel anderen angetan. »Ich muss es wissen! Nach dieser Waffe suche ich bereits seit über zwanzig Jahren. Endlich habe ich eine Spur gefunden … das kann und werde ich nicht einfach so vergessen.«
»Seit über zwanzig Jahren? Verstehe … ich dachte, es wäre kürzlich passiert, aber in dem Fall ist die Sache klar.« Noel nahm die Waffe vom Schrank und ging zur Tür. »Komm mit. Ich werde dir etwas zeigen, das mich entlastet. Dann hast du wenigstens die Gewissheit, dass ich nicht derjenige bin, den du suchst.« Er ging zur Tür, drehte sich anschließend jedoch noch einmal um. »Oh, und du solltest lieber nicht versuchen zu fliehen. Nach nur drei Schritten hättest du bereits eine Kugel im Rücken.«
»Keine Sorge. Daran denke ich im Moment überhaupt nicht.«
Noel lächelte. »Ja, das dachte ich mir irgendwie.«
Er führte Quinn zur Küche, wo an einem Kühlschrank zahlreiche Fotos mit Magneten angepinnt waren. Noel nahm eines davon ab und gab es Quinn. »Das bin ich ungefähr zu der Zeit, als der Mord passiert sein muss. Da war ich gerade 15 und habe noch bei meiner Mutter in Spanien gelebt. Erst vor fünfzehn Jahren bin ich in die USA ausgewandert und habe bei den Sorrentinos angefangen.«
Quinn starrte das Foto an. Es zeigte eine jüngere Version von Noel, wie er glücklich den Arm um eine ältere Frau gelegt hatte. Er drehte das Foto herum und sah das Datum: 16. April 2002.
»Das … das muss aber immer noch nichts heißen. Du könntest für ein paar Tage in den USA gewesen sein, um den Job zu erledigen.«
Noel seufzte schwer. »Ziemlich hartnäckig, was? Aber ich sage dir, du liegst falsch. Der rote Revolver, den ich besitze, gehörte zuvor einem Dieb, den ich umgebracht habe.« Er runzelte die Stirn. »Nun … gehören wäre eigentlich zu viel gesagt. Der Kerl hat alles geklaut, was er in seine gierigen Finger kriegen konnte. Deshalb wollten die Sorrentinos, dass ich ihn erledige. Entweder hat er ihn dem Mörder deines Bruders irgendwann entwendet oder, was wahrscheinlicher ist, der Revolver wurde entsorgt und ist auf diese Weise in seinen Besitz gelangt. Ich meine, was erwartest du? Man muss schon verdammt dämlich sein, um eine so auffällige Mordwaffe zu behalten. Ich würde das Ding niemals für ein Verbrechen benutzen. Viel zu riskant.«
Quinn ließ den Kopf hängen. »Natürlich habe ich daran gedacht, aber … es war meine einzige Spur. Jahrelang habe ich überall nach der Waffe gesucht. Ich … ich musste der Sache nachgehen, als ich sie endlich in einem Artikel entdeckt habe.«
»Dann glaubst du mir?«
Quinn nickte zögerlich. »Ich verstehe nur nicht, warum du überhaupt versuchst, mich zu überzeugen. Tony hat recht. Warum lebe ich noch?«
Daraufhin betrachtete Noel ihn mit einem schwachen Lächeln. »Ein lieber Kerl wie du hält mich wahrscheinlich für ein Monster, weil ich Menschen für Geld töte. Ich kann dir aber versichern, ich bin nicht so grausam, wie du denkst. Wie Tony sehr genau weiß, töte ich keine Unschuldigen. Deshalb hat er vermutlich geglaubt, du hättest eine Chance, mich zu erledigen.«
»Was für eine Beziehung habt ihr eigentlich?«, fragte Quinn leicht gereizt. Erst jetzt wurde ihm bewusst, wie dämlich er gewesen war. Tony hatte ihn reingelegt und er hätte beinahe versucht, einen Mann zu töten, der nichts mit dem Mord zu tun hatte.
»Wir sind die besten Freunde, natürlich.« Als Noel Quinns verwirrten Blick sah, lachte er. »Das ist eine interessante Geschichte. Wir hatten mal diesen gemeinsamen Freund, der mit Tony gewettet hat, dass er mich indirekt und auf extrem dämliche Weise umbringen kann. Seitdem schickt er mir regelmäßig Leute, die meinen Kopf wollen. Deshalb habe ich fast das gesamte Sicherheitssystem entfernt. Das macht die Sache wesentlich interessanter. Auf diese Weise ehren wir unseren Freund und haben auch noch Spaß dabei.«
»Spaß?«, fragte Quinn entgeistert. »Willst du dich so gerne umbringen lassen?«
»Das natürlich nicht, aber ich liebe den Adrenalinkick. Es gibt keinen besseren Rausch.« Noel ließ auf einmal die Waffe sinken, sicherte sie und legte sie auf den Küchentisch. »Da du mich nicht mehr umbringen willst, können wir uns das wohl sparen und zum eigentlichen Grund deines Besuches kommen. Möchtest du den Revolver sehen?«
Augenblicklich begann Quinns Herz wieder schneller zu schlagen. »Ja, bitte. Du … du willst mich doch auch nicht mehr umbringen, oder?«
»Solange du keine Gefahr für mich darstellst, habe ich keinen Grund dafür. Das würde mir nur mehr Arbeit bescheren und mich eine große Summe für die Entsorgung kosten. Cleaner sind richtige Aasgeier, wenn man sie privat anheuert.«
Entsorgung … Quinn stellte sich auf einmal vor, wie jemand seinen leblosen Körper zerstückelte. Er erschauderte, rieb sich die plötzlich kalten Arme. Erst in diesem Moment wurde ihm bewusst, in was für einer Gefahr er eigentlich schwebte.
»Hey, keine Sorge«, sagte Noel mit einem Lächeln und kam ihm auf einmal näher. »Solange dich niemand von der Familie tot sehen will, hast du vor mir nichts zu befürchten.« Er drehte sich daraufhin um und ging zu einer Vitrine, die aufleuchtete, sobald er sich ihr näherte.
Quinn hatte sie erst in diesem Moment bemerkt. In ihr waren zahlreiche Waffen ausgestellt. »Ist das so eine Art Trophäensammlung?«
»Das ist ziemlich scharfsinnig von dir«, erwiderte Noel und legte seinen Finger auf ein Touchpad neben der Vitrine, wodurch sie sich öffnete. Er griff hinein und nahm einen Revolver von einer Halterung in der obersten Reihe. »Das ist er.«
Mit zitternden Händen nahm Quinn die Waffe entgegen, betrachtete sie dabei von allen Seiten. Sie schimmerte rot golden im Licht. Kein Zweifel … das war mit Sicherheit der Revolver, der seinen Bruder getötet hatte. Niemals würde er diese Verzierungen am Griff und die dunkelrote Farbe vergessen. Nun, wo er ihn tatsächlich in den Händen hielt, wusste er nicht, was er fühlen sollte. Dieses Ding hatte ihm alles genommen. Warum also fühlte es sich so unheimlich leicht an?
»Alles okay? Es ist der richtige, oder?«
Quinn nickte knapp. »Ich habe so lange danach gesucht und jetzt … obwohl ich ihn endlich habe, nützt er mir nichts. Die Spur ist erneut kalt.«
»Hm, das würde ich nicht unbedingt sagen. Der Kerl, dem ich das Teil abgenommen habe, hat gerne mit seiner Beute geprahlt. Es würde mich nicht wundern, wenn er jemandem davon erzählt hätte.«
»Aber wem?«, fragte Quinn sofort, wandte sich Noel zu. »Wer könnte davon wissen?«
»So einige. Andere Diebe zum Beispiel, aber alleine wirst du nicht weit kommen.« Noel lächelte auf einmal. »Wieso erzählst du mir nicht genau, was damals passiert ist, und wer weiß … vielleicht werde ich dir helfen.«
Quinn starrte ihn an. »Das … das würdest du tun?«
Noel zuckte mit den Achseln. »Warum nicht? Es klingt interessant und wenn tatsächlich jemand Kinder in dieser Stadt ermordet, dann will ich wissen, wer es ist. Außerdem … könntest du dich dafür erkenntlich zeigen.«
Nun schlug Quinns Herz erneut schneller, doch dieses Mal war es nicht aus Angst oder Aufregung. Stattdessen machte ihn Noels durchdringender Blick nervös. »Ich … ich bin nicht schwul, also … wenn ich dich mit meinem Körper bezahlen soll, dann …«
Noel lachte auf. »Keine Sorge, so etwas würde ich niemals verlangen. Obwohl … man könnte das, was ich von dir will, schon so nennen. Da gibt es morgen Abend diese Party, auf die ich gehen muss. Der Veranstalter ist ein perverser Auftraggeber, der jedes Mal versucht, mehr als meine üblichen Dienste in Anspruch zu nehmen. Bisher war er immer wesentlich weniger aufdringlich, wenn ich jemanden mitgenommen habe und wenn es dann auch noch ein süßer Kerl ist wie du …« Er lächelte. »Außerdem würde es sich für dich lohnen. Auf seinen Partys ist immer der größte Abschaum von Boston zugegen. Wenn der Dieb, Ronkoff hieß er, jemandem von dem Revolver erzählt hat, dann wird derjenige dort sein.«
»Wenn das so ist, dann komme ich mit«, erwiderte Quinn mit einem Lächeln.
»Gut, dann wäre das ja geklärt. Am besten setzen wir uns, machen eine Flasche Wein auf und dann erzählst du mir von deinem Bruder.« Noel war bereits auf dem Weg zu seiner Couch, als Quinn ihn am Arm festhielt.
»Das mache ich gerne, aber …«, begann er und sah ihn mit einem leicht nervösen Lächeln an. »Könntest du dir vielleicht vorher etwas anziehen?«
Kapitel 3
Während sich Noel im Badezimmer anzog, saß Quinn im Wohnzimmer und sah sich nervös um. Er wurde nicht schlau aus diesem Mann. Nur Minuten zuvor war er in seine Wohnung eingebrochen, um ihn umzubringen, und nun ließ er ihn hier alleine? Nichts würde Quinn in diesem Moment davon abhalten, sich seine Glock im Schlafzimmer zu schnappen und Noel doch noch abzuknallen.
Oder … er könnte abhauen. Bevor Noel wusste, was geschehen war, wäre Quinn bereits unten bei seinem Auto und hätte diesen Ort weit hinter sich gelassen.
Warum kümmerte Noel das nicht? Quinn war nicht nur eine Gefahr für sein Leben, sondern auch für seine Freiheit. Er wusste schließlich, was er beruflich tat. Ein kurzes Gespräch mit seinem Onkel und die Handschellen würden klicken.
Natürlich hieße das, die einzige Spur zu Jonahs Mörder zu verlieren … War Quinn die Verzweiflung etwa so sehr anzusehen?
»Du bist also noch da«, meinte Noel mit einem Lächeln, als er aus dem Badezimmer zurückkehrte. Eine Jogginghose hing nun lässig an seinen Hüften und seine muskulösen Oberarme waren noch durch ein enges Tanktop zu sehen.
»Dann hast du damit gerechnet, ich würde abhauen?«
»Ich wollte dir wenigstens die Chance dazu geben.« Noel betrat die Küche und kam wenig später mit einer Flasche Wein und zwei Gläsern zurück. »Es könnte nicht offensichtlicher sein, dass du hier in eine Welt hineingestolpert bist, die du nicht verstehst.«
Quinn wandte den Blick zu Boden. Da hatte er recht. Quinn hatte nicht die geringste Ahnung, was er tat. Jahre der Suche und Vorbereitung … aber trotz allem wuchs ihm die Sache bereits über den Kopf. »Dann erklär sie mir …«, sagte er schließlich und sah auf. »Alles. Was geht in der Unterwelt von Boston vor sich? Du … hast einen Namen erwähnt. Sorrentinos?«
»Du hast ein gutes Gedächtnis«, meinte Noel mit einem Lächeln. »Allerdings … kann alles, was ich dir heute Abend erzähle, Gefahr für dich bedeuten. Die Menschen, die von den Sorrentinos wissen, gehören entweder selbst dazu, sind ihre Feinde oder stehen auf ihrer Gehaltsliste. Es wird Stillschweigen über sie bewahrt und das seit Jahren.«
Quinn rutschte ein wenig auf seinem Platz vor. »Sag es mir trotzdem. Wer sind sie?«
»Eine Mafia-Familie«, antwortete Noel schließlich und bestätigte damit Quinns stille Vermutung. »Eine mit Wurzeln in Italien, die jedoch vor Ewigkeiten zum Teufel gejagt wurde. Irgendein Ahne wurde damals zu gierig und hat sich anschließend hier in Boston etwas Eigenes aufgebaut. Nun regieren sie zusammen mit einer anderen Familie die Stadt.«
Überrascht betrachtete Quinn ihn. »Wieso habe ich noch nie etwas davon gehört? Mein Onkel ist bei der Polizei …«
»Weil Stillschweigen darüber bewahrt wird«, erwiderte Noel mit einem Lächeln und legte sich den Finger auf die Lippen. »Früher gab es noch eine dritte Familie, aber die war … zu brutal und damit auch zu auffallend. Deshalb wollten die beiden anderen sie loswerden. Vor nun 15 Jahren wurden angeblich alle Mafia-Mitglieder aus der Stadt vertrieben, doch das entspricht nicht der Wahrheit. Sie haben nur die brutalsten entfernt und regieren nun aus dem Untergrund. Das bedeutet mehr Sicherheit für die normale Bevölkerung und ein gutes Geschäft für den kriminellen Rest.«
»Wie dich …«, sagte Quinn, bevor er sich aufhalten konnte und Noel lächelte.
»Ganz genau. Prostitution, Waffen- und Drogenhandel laufen fantastisch, aber jeder hält sich dabei an feste Regeln. Unschuldige und vor allem Kinder werden nicht verletzt. Tanzt jemand aus der Reihe, wird er entweder mit Schmerzen an diese ungeschriebenen Gesetze erinnert oder … ich kümmere mich um ihn.«
»Und das wurde so lange geheim gehalten? Wie?«
»Bestechung, Erpressung, Angebote, die nicht abgelehnt werden können … solche Dinge eben.« Wieder schenkte Noel ihm ein abartig sympathisches Lächeln. »Aber du wolltest über deinen Bruder reden. Was ist passiert?«
»Ich … ich war damals acht. Wir hatten zwei Jahre vorher unsere Eltern verloren und dann bei unserem Onkel gewohnt. Jonah hatte zahlreiche kleine Jobs neben der Schule und doch tat er sein Bestes, sich auch um mich zu kümmern.«
»Klingt nach einem großartigen Menschen.«
»Der wunderbarste, den du dir vorstellen kannst«, erwiderte Quinn lächelnd. Es tat gut, über Jonah zu reden. Sonst kannten ihn nur noch sein Onkel und Tonya, die Frau, der die Tanzschule gehörte, in der er arbeitete. Beide wechselten jedoch jedes Mal das Thema, wenn Quinn über seinen Bruder reden wollte. Entweder war es zu schmerzhaft für sie oder sie befürchteten, Quinns Obsession mit Jonahs Mörder könnte erneut zunehmen. Allerdings wussten sie auch nichts von den Privatdetektiven, die er zwischendurch engagiert hatte …
Daraufhin begann Quinn, weiter zu erzählen. »An dem Abend hat Jonah mich früher von meinem Freund abgeholt, als eigentlich geplant war. Er war sehr nervös und hat mich regelrecht durch die Straßen gezerrt.«
»Ihr wurdet also verfolgt?«
»Vermutlich, ja«, erwiderte Quinn mit einem Nicken. »Irgendwann habe ich begriffen, dass er zum Revier wollte, in dem mein Onkel arbeitete. Wir waren auch fast da, aber dann war da diese schwarz gekleidete Gestalt mit der Waffe.« Er warf der Vitrine einen kurzen Blick zu. »Und dann … der Schuss. Der Revolver war das Einzige, was ich erkannt habe.« Langsam schüttelte Quinn den Kopf. »Niemand hat mir geglaubt, dass sie überhaupt existiert. Weder mein Onkel noch seine damalige Freundin und Partnerin. Sie meinten, es wäre der Schock gewesen und ich hätte mir das alles nur eingebildet. Dabei habe ich genau die Waffe jetzt endlich gefunden.«
»Ich kann die Zweifel allerdings verstehen … wer benutzt schon eine so auffällige Waffe für einen Mord? Das sagt mir, es ist im Affekt passiert. Es war keine andere vorhanden und die Tat musste schnell geschehen. Vermutlich war der Mörder panisch …«
»Dagegen spricht nur, dass ich noch lebe. Warum wurde ich verschont?«
Sichtlich nachdenklich strich sich Noel über sein Kinn. »Weil der Mörder nicht ganz ohne Gewissen ist, denke ich. Selbst den härtesten Gangstern kann es schwerfallen, ein Kind zu töten. Dein Bruder war zwar auch noch jung, aber einen achtjährigen einfach abzuknallen? Das würden die wenigsten übers Herz bringen. Noch dazu geschah das alles vor zwanzig Jahren … da war die Stadt noch eine andere. Dein Bruder hat nichts gesagt, was auf seinen Mörder hinweist?«
»Du kannst mir glauben, ich bin diese Nacht in Gedanken Tag für Tag durchgegangen. Ich weiß noch alles, was er gesagt und getan hat, aber nichts deutet auf ein Verbrechen hin, das er gesehen oder wovon er gehört hat. Ich bin nur bei einem Freund gewesen, Jonah hat mich wie gewohnt abgeholt und dann zum Polizeirevier gezogen. Sonst war da … nichts.«
»Wenn er sich am Morgen auch noch ganz normal verhalten hat, dann muss etwas in der Zeit dazwischen geschehen sein.«
Quinn nickte. »Und das muss ich herausfinden. Vermutlich brauche ich das noch mehr als meine Rache. Diese Ungewissheit macht mich geradezu wahnsinnig …«
»Deshalb hast du also nicht gleich meine Kissen abgeknallt«, erwiderte Noel mit einem Schmunzeln. »Es kann allerdings sein, dass du, wenn du dem wahren Killer gegenüberstehst, keine Zeit für ein Verhör hast. Den Vorteil von damals hast du nun nicht mehr. Dieses Mal würde er ohne mit der Wimper zu zucken auf dich schießen.«
»Das … das ist mir klar.«
»Ist es das?«, fragte Noel stirnrunzelnd. »Wenn ich daran denke, wie unbeholfen du in meine Wohnung gestürmt bist … ich hätte dich dreimal abknallen können, bevor du überhaupt das Schlafzimmer erreicht hast. Fürs nächste Mal: Zieh sofort deine Waffe, wenn du im feindlichen Gebiet bist. Die fünf Sekunden, die du dafür brauchst, reichen längst für einen anderen, um dich zu erschießen.«
»Denkst du, das weiß ich nicht?«, fragte Quinn und betrachtete ihn mit verschwommenem Blick.