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Nachdem er von seinem Vater jahrelang misshandelt wurde, packt der 18-jährige Nick seine Sachen und möchte ein neues Leben beginnen. Ohne Geld und Unterkunft führt ihn sein Weg ausgerechnet in das Brunch, ein kleines Café, dessen größte Attraktion der gutaussehende Kellner Sadi ist. Sadi möchte Nick helfen, nimmt ihn bei sich auf und lässt ihn im Brunch arbeiten. Als Nick dann herausfindet, dass sein neuer Kollege und Mitbewohner schwul ist, muss er mit Gefühlen kämpfen, die er so niemals erwartet hätte. »Winterbrunch - Heißes zum Kaffee« ist ein homoerotischer Liebesroman und der erste Teil einer Reihe.
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Veröffentlichungsjahr: 2015
Francisca Dwaine
Winterbrunch – Heißes zum Kaffee
Gay Romance
Inhalt:
Nachdem er von seinem Vater jahrelang misshandelt wurde, packt der 18-jährige Nick seine Sachen und möchte ein neues Leben beginnen. Ohne Geld und Unterkunft führt ihn sein Weg ausgerechnet in das Brunch, ein kleines Café, dessen größte Attraktion der gutaussehende Kellner Sadi ist.
Sadi möchte Nick helfen, nimmt ihn bei sich auf und lässt ihn im Brunch arbeiten.
Als Nick dann herausfindet, dass sein neuer Kollege und Mitbewohner schwul ist, muss er mit Gefühlen kämpfen, die er so niemals erwartet hätte.
»Winterbrunch - Heißes zum Kaffee« ist ein homoerotischer Liebesroman.
Copyright © 2013 Francisca Dwaine
Alle Rechte vorbehalten.
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt und darf nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin ganz oder in Auszügen vervielfältigt oder kommerziell genutzt werden.
Alle handelnden Personen wurden frei erfunden.
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Cover © Francisca Dwaine
Fotos © stux und LoboStudioHamburg / pixabay.com
Kapitel 1: Das Brunch
Wenn jemand die Gäste im Café Brunch danach fragte, was eigentlich das Besondere an dem Laden war, dann nannten sie zwei Dinge in einem Atemzug: den Kuchen und den gutaussehenden Kellner. Der entscheidende Grund, warum besonders die weiblichen Gäste gerne in das Brunch gingen, war allerdings ein ganz anderer. Über ihn sprach niemand und doch zog er täglich dutzende von ihnen in das kleine Lokal: Es waren die Geschichten des Café-Besitzers.
Ronald Monick war ein Mann, der sich gerne reden hörte. Ständig sah man ihn an einen der Tische sitzen und endlos mit den Gästen quatschen, während die Getränke der Lauschenden kalt wurden. Er genoss diese Aufmerksamkeit, liebte die gespannten Blicke.
Auch an diesem Tag sprach er zu zwei Frauen, die an seinen Lippen hingen. »Das Brunch ist Geburtsort zahlreicher Liebesgeschichten, müsst ihr wissen«, sagte er und lehnte sich lässig in seinem Stuhl zurück. Wären nicht die angegrauten Haare und seine faltige Haut, so würde man ihn eher für Mitte zwanzig statt Anfang sechzig halten. »Hier sollen sich Paare treffen, die für die Ewigkeit zusammenbleiben.«
»Und das ist wirklich wahr?«, fragte eine der Frauen, eine Blondine mit rotgeschminkten Lippen. Auch die Brünette an ihrer Seite hatte die Augen weit aufgerissen, als könnte sie mit nur einem einzigen Wimpernschlag etwas Spannendes verpassen.
»Natürlich! So wahr ich hier sitze! Unser Sadi ist das beste Beispiel dafür.« Ronald deutete auf den gutaussehenden Kellner, einen jungen Mann mit schwarzen Locken und leicht gebräunter Haut. »Auch er hat hier den Richtigen gefunden.«
»Den Richtigen?«, fragte die Blondine.
»Oh, ja! Das ist eine der jüngsten Geschichten des Brunchs. Wollt ihr sie hören?«
Aufgeregtes Nicken folgte und Ronald hatte gerade den Mund geöffnet, als eine weitere Stimme sprach. »Nichts da!«
Sadi stand auf einmal hinter ihm. Er hatte einen Besenstil in seiner Hand, den Ronald aus den Augenwinkeln heraus anschielte. »Meinst du nicht, du solltest mir mal helfen? Der Laden ist komplett voll!«
»Ach, du schaffst das schon. Ich hab doch diese Probleme mit meinem Rücken«, meinte Ronald, hielt sich demonstrativ eine Hand ins Kreuz und zwinkerte den Mädchen zu.
Sadi knirschte mit den Zähnen, wagte aber nicht, inmitten all dieser Gäste mehr zu sagen. Zumindest darauf konnte sich Ronald verlassen. Stattdessen warf er dem älteren Mann einen Blick zu, der aussagte, er würde das am Ende des Tages noch bereuen und ging zurück an seine Arbeit.
Obwohl Sadis Wut ihn jedes Mal ins Schwitzen brachte, machte sich Ronald nicht viel aus diesen Drohungen. Der Junge bellte mehr als er biss. Und wozu hatte er diesen Jungspund, wenn nicht dafür, seine Arbeit zu übernehmen?
Die Türglocke bimmelte und mit dem Gast kam eiskalte Luft in den warmen Laden herein. Das Wetter ließ den Anfang des Jahres mit dem kleinsten Windhauch spüren und draußen fielen dicke Schneeflocken auf die weiße Erde.
Ronald pustete auf seine dampfende Tasse und nahm einen Schluck. »Wo war ich? Ah, ja! Sadis Geschichte. Ich war leider nicht bei allem dabei, doch weiß ich aus zuverlässigen Quellen, dass alles mit dem Schicksal eines jungen Mannes begann …«
***
Drei Monate zuvor stürmte Nick Gehlen mit riesiger Reisetasche in der Hand aus der Wohnung eines Plattenbaus in Köln-Chorweiler. Im Flur drehte er sich um und ließ die Tasche fallen. Sein Atem raste, die Brust hob und senkte sich schnell. »Halt doch die Fresse, du alter Sack! Ich bin hier weg! Für immer!«, schrie er, riss die Tür hinter sich zu, erstickte damit die Schreie seines Vaters.
Ein Druck lag auf seiner Brust, der das Atmen erschwerte. Er tastete nach seiner aufgesprungenen, schmerzenden Lippe. Auch sein rechtes Auge fühlte sich heiß an, war mit Sicherheit bereits geschwollen. Die letzten Abschiedsgeschenke seines Vaters … hätte Nick ihm doch nur in seine verdammten Eier getreten!
Das Treppenhaus des Wohnkomplexes war leise und nur Nicks Keuchen durchbrach die Stille. Er starrte das hängende Namensschild an der Tür an. Durch den Aufprall schwang es immer noch hin und her. Es brachte Erinnerungen an längst vergangene Zeiten hervor. Damals hatte er noch seine Mutter gehabt und sein Vater war kein dämlicher Säufer gewesen, der sein Kind schlug. Eine Familie wie aus dem Bilderbuch. Doch dann … dann hatte sich alles verändert.
Nicks Hände ballten sich zu Fäusten. Mit voller Wucht trat er gegen die Tür und Schmerz explodierte in seiner Fußspitze.
Die Augen tränten, als er nach seiner Reisetasche griff und sie über die Schulter warf.
Tief atmete er ein und drehte sich um. Natürlich entdeckte er dabei die werte Frau Nachbarin in ihrem Eingang. Im Blümchenkleid und mit Pantoffeln an den Füßen stand sie in der Tür und starrte ihn an. Sie durfte schließlich nichts von dem Streit verpassen, um genug Redestoff für die anderen Weiber des Hauses zu haben. Gerüchte verbreiten … ja, das konnte die Meschke. Nur dem Jugendamt hatte sie nichts zu sagen gehabt, war zu feige gewesen. Nicks Augen verengten sich, als er in dieses verkniffene Gesicht schaute. Sein Anblick musste furchterregend sein, denn die Alte verschwand ohne ein Wort in ihrer Wohnung.
Für einen Moment wollte Nick grinsen, aber der Schmerz in seiner Lippe brachte nur eine Grimasse hervor. Er rückte seine Reisetasche zurecht, sah ein letztes Mal auf diese Tür und ging dann aus dem verdammten Haus hinaus. Achtzehn Jahre hatte er in dieser Wohnung verbringen müssen, ein Tag schlimmer als der andere. Doch nun begann endlich sein neues Leben!
Ein Problem gab es allerdings noch: Wo sollte er jetzt hin?
***
Nachdem er die U-Bahn ohne Fahrkarte zur Innenstadt genommen hatte und glücklicherweise nicht beim Schwarzfahren erwischt worden war, irrte Nick fast eine Stunde lang in den Straßen herum. Freunde, bei denen er unterkommen konnte, hatte er keine, dem Staat vertraute er nicht und genug Geld für ein Hotelzimmer besaß er ebenso wenig. Alles, was er hatte, war das Wechselgeld des letzten Einkaufs.
Die paar Cent würden nicht einmal für einen Kaffee reichen und sein Vater hätte ihm die wahrscheinlich auch noch abgenommen, wenn Nick nicht so schnell abgehauen wäre.
Er betrachtete die Menschen um sich herum, sah Touristen, Einkaufende und Eltern mit ihren Kindern durch die Straßen ziehen. Wer in sein Gesicht sah, wich ihm aus, aber Nick kümmerten diese Reaktionen nicht. Seine Verletzungen ließen ihn gefährlich aussehen, weckten Misstrauen in den Leuten und das kannte er bereits. Er war daran gewöhnt.
Ohne dass eine wirkliche Absicht dahinter steckte, führten ihn seine Füße zum bekanntesten Ort Kölns: dem Dom.
Mit herannahendem Abend wurde es dunkler und kalt. Eisige Novemberluft zog über die Domplatte hinweg und Nick sah zu der riesigen Kathedrale hoch. Ihre Mauern thronten über ihm und wie immer sorgte sie dafür, dass er sich klein und unbedeutend fühlte.
Für die Touristen, die das Ungetüm fotografierten, war der Dom ein erhabener Anblick, aber diejenigen, die ihn jeden Tag sahen, konnten kaum etwas Besonderes an ihm finden.
Die Tasche wurde immer schwerer und der Riemen schnitt in Nicks Schulter. Er setzte sie ab, rollte seine verspannten Arme und sah sich auf dem Platz um. Menschen, jung wie alt, ruhten sich hier aus oder nutzten ihn als Treffpunkt. Er selbst ließ sich auf eine der Stufen, die zum Bahnhof führten, nieder.
Einen wirklichen Plan hatte er nicht. Sobald er achtzehn geworden war und sein Vater ihn wieder geschlagen hatte, wollte er abhauen. Und nun? Wo sollte er schlafen?
Gedankenverloren fuhr er mit dem Finger über seine gebrochene Nase. Das war eine alte Verletzung, die nie richtig verheilt war. Er hatte sie mit sechzehn bekommen, als er sich das erste Mal richtig gegen seinen Vater gewehrt hatte. Durch sie hatte seine Nase einen ungewöhnlichen Knick, der jedoch merkwürdig anziehend auf Frauen wirkte.
Das war allerdings eine Möglichkeit … Vielleicht konnte er für die Nacht bei einer Fremden unterkommen? Auf die Art war er früher mehrmals seinem Vater entkommen und was waren ein paar Runden auf der Matratze gegen einen Platz zum Schlafen und mehrere warme Mahlzeiten?
Aber das löste nicht seine Probleme. Er brauchte eine dauerhafte Lösung, einen Weg, sein Leben endlich auf die Reihe zu bekommen. Wegen eines solchen Arschlochs würde er doch nicht seine Zukunft wegschmeißen!
Zukunft wegschmeißen … der Gedanke war lachhaft. Hatte er das nicht längst getan? Mit 16 war er wegen ständiger Prügeleien von der Schule geflogen, bevor er einen Abschluss machen konnte. Seitdem hatte er nur Aushilfsjobs und als jemand, der ständig aussah, als würde er sich mit jedem Passanten prügeln, hatte Nick kaum Chancen auf einen Ausbildungsplatz.
Scheiße, verdammt!
Nick rieb sich die Hände aneinander. Die Kälte durchdrang seine dünne Jacke mit Leichtigkeit. Die anderen Menschen auf dem Platz trugen Schal und Handschuhe. Manche hatten Papierbecher mit einer dampfenden Flüssigkeit in den Händen. Kaffee … für einen Schluck des heißen Gebräus würde er jetzt alles geben.
Noch ein paar Minuten länger saß er auf der kalten Treppe, versuchte nicht an seine Situation zu denken und beneidete die Vorbeigehenden, die sorglos ihre Einkaufstüten nach Hause schleppten. Dann stand er auf, nahm seine Tasche und lief eine Weile durch die Straßen.
Durch die Bewegung fühlte er sich auch nicht wärmer, aber so konnte er sich wenigstens von seinen düsteren Gedanken ablenken. Die meisten Geschäfte waren noch geöffnet, aber die Verkäufer bereiteten sich auf den Feierabend vor, machten sauber oder zogen die Kleiderständer hinein. Die vereinzelte frühe Weihnachtsbeleuchtung erinnerte an die bevorstehenden Feiertage im Dezember. Wo würde Nick sein erstes Weihnachten als Volljähriger verbringen? Allein in einem Obdachlosenheim?
Er biss die klappernden Zähne zusammen, vergrub die rechte Hand tief in seiner Jackentasche. Mit der anderen hielt er den Riemen seiner Tasche fest und die eiskalten Finger schmerzten.
Sollte er in ein Geschäft gehen, um sich wenigstens bis zum Ladenschluss aufzuwärmen? Aber dort würden sie ihn anstarren, sähen nur seine Verletzungen und hielten ihn für einen Verbrecher … diese Art der Behandlung kannte er zur Genüge. Auch glaubte er nicht, dass die Wärme des Ladens genug wäre, um ihn aufzutauen. Er war nur noch ein Eisklumpen, spürte jeden Windhauch durch die Jacke hindurch.
Während er überlegte und jede einzelne Möglichkeit in seinen Gedanken zerkaute, sprang ihm der beleuchtete Name eines Cafés ins Auge. Café Brunch stand dort über dem Laden.
Nick runzelte die Stirn. War das nicht diese Zwischenmahlzeit aus England? Ziemlich einfallsloser Name für ein so schickes Café. Durch das Schaufenster sah er eine helle freundliche Einrichtung, die an Frankreich erinnerte. Es war gut besucht, elegant und in der Theke vorne wurden mehrere Speisen präsentiert. Nick ging näher heran und erkannte Sandwiches, Salate und belegte Baguettes. Sein Magen knurrte und ein neuer Windzug kam auf, der ihn zum Zittern brachte.
Nick zögerte. So ein Laden war garantiert kein Ort, wo er normalerweise hingehen würde. Zu spießig und teuer sah das Ding aus. Auch hatte er kein Geld und –
Eine Frau lief an ihm vorbei. Sie hielt wieder einen dieser Pappbecher in der Hand und der Duft von frischem Kaffee stieg ihm in die Nase.
So viele Menschen im Café … vielleicht konnte er abhauen, ohne zu bezahlen? War nicht sein Stil, er hasste alle Arten von Diebstahl, aber … ihm war auch wirklich kalt und die kleinen Sitzbänke in den Ecken sahen bequem aus.
Als erneut eisiger Wind aufkam und diesmal nicht abließ, siegte Verlangen über Vernunft und Nick ging in den Laden hinein.
Leider hatte er nicht mit der lauten Türglocke gerechnet und erstarrte im Eingang, als sich alle Blicke auf ihn richteten.
***
Die Klingel läutete und ein junger Mann mit riesiger Reisetasche kam ins Brunch hinein. Sadi, der zuvor mit einem der Gäste geplaudert hatte, starrte ihn an wie alle anderen auch. Der Junge sah furchtbar aus, hatte eine blutige Lippe und ein geschwollenes Auge. Seine Jacke war viel zu dünn für dieses Wetter und Sadi bemerkte, wie er erleichtert aufatmete, sobald ihn die Wärme des Cafés umgab. Kurz darauf erstarrte er allerdings.
Sämtliche Gäste beobachteten den armen Kerl, als er sich unsicher umschaute und einen der Plätze am Schaufenster ansteuerte, um sich in die Ecke zu kauern. Es gab einiges Getuschel, doch Sadi entschuldigte sich bei den Gästen, mit denen er zuvor geredet hatte, und trat auf den Mann zu.
Er sah jung aus, womöglich noch ein Teenager, obwohl etwas in seinem Blick lag, das ihn älter machte. Es könnten auch die Verletzungen gewesen sein, durch deren Anblick die Gäste im Café nervös wurden.
Als er vor dem Tisch des Jungen stehen blieb, schaute dieser ihn fast ängstlich an. Seine Augen weiteten sich und er nahm schnell die Speisekarte in die Hand und blätterte darin.
»Was kann ich dir bringen?«, fragte Sadi und bemühte sich um das freundlichste Lächeln, das er aufbringen konnte. »Etwas Heißes bestimmt. Es ist verdammt kalt da draußen, nicht wahr?«
Der Junge schaute ihn an und seine Augen wanderten augenblicklich über Sadis Erscheinung. Das war er bereits gewöhnt, denn die Leute fanden seine schwarzen Locken, die dunkle Haut und das strahlend weiße Lächeln exotisch, wie er es von seinem Exfreund so oft gesagt bekommen hatte. Auch seine gut definierten Muskeln, die er sich mühevoll im Fitnessstudio erarbeitet hatte, halfen vermutlich. Dennoch glaubte Sadi nicht, dass dieser Junge auf Männer stand. Es fehlte das Interesse in seinen Augen.
Nervös starrte er zu ihm hoch, als würde er etwas Schreckliches erwarten. Glaubte er etwa, Sadi wollte ihn bei einer falschen Bewegung rausschmeißen?
»E-Einen Kaffee«, sagte der Junge.
»Etwas zu essen dazu?«, fragte Sadi. »Du siehst halb verhungert aus.« Er war tatsächlich etwas dünn.
»Nein, ich hab keinen Hunger.« Ein lautes Magenknurren begleitete diese Worte und Sadi lachte, als der Junge beschämt zur Seite schaute.
»Ich bring dir etwas von dem Kuchen, den ich vorhin gebacken habe. Geht aufs Haus.«
Der Junge protestierte, aber Sadi hatte sich bereits abgewendet und ging zur Küche.
***
Nick starrte dem Mann hinterher. Nicht nur, dass dieser Kellner ihn nicht rauswarf, er spendierte ihm sogar ein Stück Kuchen. Sah er etwa so bemitleidenswert aus?
Halb verzweifelt versuchte er, sein Gesicht im metallischen Serviettenspender anzusehen. Selbst im verzerrten Abbild konnte er erkennen, dass sein Auge inzwischen fast auf die doppelte Größe angeschwollen war.
Kein Wunder, dass ihn alle in diesem schicken Café anstarrten. Er passte hier genauso gut rein wie in ein Kloster. Verdammt … hätte er sich doch nur einen anderen Ort ausgesucht!
Nick nahm die Karte erneut in die Hand und warf einen Blick auf die Preise. Allzu teuer waren die Angebote nicht, zumindest nicht teurer als in anderen Läden. Was ihm eher merkwürdig vorkam, war, dass überhaupt kein Kuchen auf der Karte stand.
Wollte der Typ ihn etwa verarschen?
Zwei Minuten später wurde Nicks Frage beantwortet. Der Kellner kam wieder und trug ein Tablett mit einer dampfenden Tasse Kaffee und einem großen Stück Schokoladenkuchen. Beides setzte er vor Nick ab und ein zweites Mal knurrte sein Magen vor diesem Mann.
»Guten Appetit«, sagte der Kellner und drehte sich um, aber Nicks Hand hielt ihn auf. Er hatte nach dem Arm des Mannes gegriffen, stattdessen aber seine Hand erwischt. Ganze drei Sekunden starrte Nick ungläubig auf seine Finger und ließ dann blitzartig los.
»Ich … der Kuchen steht nicht auf der Karte.«
Der Mann drehte sich wieder zu ihm und lächelte. »Wir bieten eigentlich auch keinen an, sondern nur ein paar kalte und warme Speisen. Ab und zu, wenn im Café nicht viel los ist, versuch ich ein paar Rezepte. Mein Boss hält allerdings nicht viel von Süßem.«
»Verstehe.« Eigentlich verstand Nick gar nichts, aber es lag etwas anderes auf seinem Herzen, das er unbedingt loswerden musste. »Ich kann nicht … es ist mir peinlich, aber ich kann nicht bezahlen. Den Kaffee auch nicht. Ich weiß nicht, warum ich hierher gekommen bin. Es tut mir leid.« Seine Stimme wurde mit jedem Wort leiser.
Zu seiner Überraschung lächelte der Mann immer noch. »Das hab ich mir gedacht. Keine Sorge! Genieß du erstmal deinen Kaffee und Kuchen und danach sehen wir weiter. Vielleicht kannst du mir gleich beim Putzen helfen? Wir schließen in einer Stunde.«
Als wäre eine Riesenlast von seinen Schultern genommen worden, atmete Nick auf. Er hätte nie damit gerechnet, so viel Glück zu haben. Aber eine Sache beschäftigte ihn noch. »Bekommst du denn keinen Ärger?«
»Mein Chef ist nicht im Haus. Hat Rückenprobleme und ist so gut wie nie im Café. Er muss das gar nicht wissen und selbst wenn, ich glaube kaum, dass er anders gehandelt hätte. Du siehst so aus, als könntest du etwas Hilfe gebrauchen.«
Nick lächelte gequält, seine Lippe protestierte. »Dann muss ich verdammt armselig aussehen.«
»Nicht mehr als die meisten hier«, sagte der Kellner mit einem Augenzwinkern. Ein Paar am Nebentisch sah ihn empört an, aber er schien das entweder nicht zu bemerken oder zu ignorieren. »Mein Name ist übrigens Sadi Arslan. Und deiner?«
»Nick. Eigentlich Nicolas Gehlen.« Sie reichten sich die Hand und Nick sah sich sein Gegenüber etwas genauer an. Merkwürdig einen solchen Mann als Kellner zu sehen. Sadi hatte eher das Aussehen eines Models. Ein freundliches Lächeln, Muskeln, die Nick froh machten, dass sein eigener Körper von seiner Jacke bedeckt war und schwarz glänzende Locken. Mit einem Blick zu den anderen Gästen stellte er fest, dass die meisten Frauen zu Sadi herüberschielten.
»Wie hast du das eigentlich geschafft?«, fragte Sadi und riss Nick aus seinen Gedanken.
»W-was?«
»Na, deine Verletzungen. Siehst aus, als hätte dich jemand ganz schön durch die Mangel genommen.«
»Dass ich die Treppe heruntergefallen bin, würdest du mir nicht glauben, oder?« Nick bemühte sich um einen gleichgültigen, scherzhaften Ton, aber Sadi lachte nicht.
»Höchstens, wenn dort unten jemand mit ausgestreckter Faust gewartet hätte«, sagte er. »Wurdest du überfallen?«
Nick schüttelte den Kopf. »Das war mein Vater. Ich bin von Zuhause abgehauen.«
»Oh … wie alt bist du denn?«
»Vor ein paar Tagen achtzehn geworden. Hab nur darauf gewartet, endlich verschwinden zu können. Er fand das weniger toll, wie man sehen kann.« Er deutete auf sein dickes Auge.
»Das sieht wirklich nicht gut aus. Warte einen Augenblick, ich bring dir etwas Eis.« Sadi verschwand erneut in der Küche. Diesmal war er nur wenige Sekunden später wieder da und brachte eine zugebundene Tüte mit Eiswürfeln mit, die er Nick reichte. »Kühl es damit, dann sollte die Schwellung bald nachlassen.«
Nick nahm den Eisbeutel dankbar entgegen und legte ihn auf sein heißes Auge. Es war unglaublich, wie gut ihm die Abkühlung tat. »Warum bist du eigentlich so nett zu mir?«
»Sagen wir einfach, dass mir auch mal jemand geholfen hat, als ich Probleme hatte. Manchmal braucht man einfach etwas Hilfe von Fremden.«
Sadi ging, um weitere Bestellungen anderer Gäste aufzunehmen, und Nick wendete sich seinem Kaffee und Kuchen zu. Er nahm einen Schluck und genoss, wie das heiße Getränk durch seine Kehle floss. Bis in die Fingerspitzen wärmte es ihn und das allein sorgte dafür, dass er sich besser fühlte.
Das Beste war allerdings der Schokoladenkuchen. Mit einem Bissen explodierte die Süße auf seiner Zunge. Entweder schmeckte es nur so gut, weil er in letzter Zeit kaum etwas Vernünftiges gegessen hatte, oder Sadi war einfach nur wahnsinnig talentiert.
Was es auch immer war, der Kuchen schaffte es zwar nicht ganz, seinen Hunger zu stillen, aber er brachte eine merkwürdige Ruhe über ihn. Der Geschmack lag ihm noch lange auf der Zunge und auf einmal sah seine Situation weniger aussichtslos, weniger hoffnungslos aus.
Noch während er aß, beobachtete Nick Sadi bei der Arbeit. Es war offensichtlich, dass die meisten der Gäste nur wegen ihm in diesem Café saßen. Viele der Frauen tuschelten hinter vorgehaltenen Händen und machten Sadi schöne Augen, die er aber nicht zu bemerken schien. Nick überraschte es nicht, dass er bei jedem, sogar bei den älteren Männern, beliebt war. Sein Äußeres allein wäre vermutlich Grund genug für die Frauen zu kommen, und wenn er auch nur halb so nett zu den anderen Gästen wie zu Nick war, dann mussten sie ihn einfach mögen.
Nicht ganz ohne Eifersucht musste er zugeben, dass Sadi ein tolles Bild abgab. Das weiße Hemd, die Anzugshose, dazu auch noch diese schwarze Schürze und die Muskeln, die sich deutlich unter dem Hemdstoff abzeichneten … Nick fragte sich nun zum zweiten Mal, warum er in diesem Café arbeitete. Er hatte etwas von diesen männlichen Calvin Klein Unterwäschemodels.
Als Sadi zu ihm herübersah, verschluckte sich Nick an seinem Kaffee, hustete und schaute schnell in die andere Richtung. Aus seinen Augenwinkeln heraus glaubte er, Sadi lächeln zu sehen.
Kapitel 2: Helden und Samariter
In der nächsten Stunde leerte sich das Café. Es war bald acht Uhr abends und Sadi fing bereits an, die Theke zu putzen. Nur noch eine Gruppe junger Frauen saß an einen der Tische, beobachtete jede Bewegung des Kellners, kicherte immer wieder und schien sich gegenseitig Mut zuzusprechen, die Leere des Cafés zu nutzen, um Sadi anzusprechen. Als sein Kopf durch dieses andauernde Sticheln zu schmerzen begann, stand Nick auf. Er nahm seine Reisetasche, ging zur Theke und stellte sie neben der Tür zur Küche ab. Dann lehnte er sich mit dem Rücken an die Verkaufstheke und verschränkte die Arme. Er starrte zu den Frauen herüber, bemühte sich um einen verwegenen Gesichtsausdruck, der herausfordernd, provozierend war.
Ein Grinsen zwang sich auf sein Gesicht, als die Frauen ihn anstarrten. Sie schienen sich kurz zu beraten und mit einem weiteren giftigen Blick zu ihm verließen sie das Café. Nicks Ohren klingelten immer noch von diesem Geschnatter, als sie längst verschwunden waren. Geschah diesen notgeilen Weibern recht!
Er schaute ihnen hinterher, bis er Sadis Blick bemerkte.
»Ich helfe dir schon mal«, sagte er schnell, aber auch danach schaute Sadi ihn noch merkwürdig an. »Was ist denn? Hab ich etwas im Gesicht?«
»Es ist nur … Schon gut. Du kannst dir einen Lappen aus der Küche holen. Sind in der ersten Schublade im Schrank rechts neben der Tür.«
Noch etwas länger versuchte Nick, diesen Blick zu verstehen, doch dann setzte er sich in Bewegung und ging durch die weiße Schwingtür. Die Küche war größer als er es bei einem so kleinen Café erwartet hätte. Mehrere Öfen und Waschbecken, ein riesiger Kühlschrank und eine lange Arbeitsplattform waren vorhanden. Vielleicht war es irgendwann einmal ein normales Restaurant gewesen. Alle Oberflächen glänzten. Schwer vorstellbar, dass hier überhaupt irgendetwas zubereitet wurde. Diese Sauberkeit war erstaunlich.
Er ging zum Schrank, von dem Sadi geredet hatte, und nahm sich einen grünen Lappen heraus. Zurück im Gastraum tauchte er ihn im Waschbecken neben der Espressomaschine und half Sadi beim Putzen.
Der Blicke, die Sadi ihm immer wieder zuwarf, war er sich bewusst, ließ sich aber nicht davon irritieren. Kein Wunder, wenn er misstrauisch ihm gegenüber war. Schließlich konnte er überhaupt nicht wissen, ob seine Geschichte stimmte. Nach allem, was Sadi über ihn wusste, konnte Nick genauso gut ein Dieb oder Mörder sein.
Nick ging zu dem Tisch neben der Theke und begann gerade damit, ihn zu putzen, als ein blonder Mann in das Café trat. Unwillkürlich schaute Nick vom Tisch auf und starrte den Fremden an.
Er konnte es sich nicht erklären, aber die Ausstrahlung von ihm sorgte sofort dafür, dass er nicht wegschauen konnte. Der Mann hatte unglaubliche Muskeln, die von einer dünnen Jacke verdeckt waren, sich aber dennoch deutlich abzeichneten und blaue Augen. Mit unverhohlenem Interesse wurde Nicks Blick von dem Fremden erwidert, während er auf die Theke zutrat.
»Wer ist denn das?«, fragte der Mann Sadi und zeigte mit seinem Daumen auf Nick. »Hast du endlich eine Aushilfe bekommen?«
Seine Augen wanderten über ihn und Nick bekam das merkwürdige Gefühl, sich vor diesem Blick verstecken zu wollen. Etwas Durchdringendes lag in ihm und der unsinnige Vergleich mit Superman kam ihm in den Sinn. Muskeln, Röntgenblick, blaue Augen … gut, so unsinnig war der Vergleich nicht.
»Freut mich auch, dich zu sehen, Phil«, sagte Sadi leicht irritiert zu dem Blonden. »Das ist Nick. Er hilft mir heute ein bisschen. Hast du früher Schluss gemacht?«
»Dass ich mich über deinen Anblick immer freue, weißt du ja«, sagte Phil und zwinkerte Sadi zu. »Und ja. Der Schnösel, den ich trainiere, hatte noch einen Termin.« Er machte ein Gesicht, als wäre er der Meinung, kein Termin könnte wichtiger als sein Training sein.
Sadi wendete sich Nick zu. »Das ist Phil. Er ist ein … alter Freund und arbeitet in einem Fitnessstudio.«
»Eigentlich bin ich leidenschaftlicher Boxtrainer«, erklärte ihm Phil. »Das im Fitnessstudio ist eher was, um die Miete zu bezahlen. Du siehst aber auch so aus, als hättest du deine Deckung vernachlässigt.« Phil deutete auf sein eigenes Auge und grinste.
»Ich war nur nicht schnell genug«, sagte Nick. Etwas an Phil erweckte seinen Ehrgeiz. Für ein paar irrsinnige Sekunden wollte er tatsächlich mit diesem Muskelprotz konkurrieren. Womöglich waren es nur diese Muskeln, die ihn an seine eigene, eher schmächtige Statur erinnerten. »Der andere sieht schlimmer aus«, fügte er wie in einem Nachgedanken hinzu.
»Wenn du das sagst«, meinte Phil und wendete sich wieder Sadi zu. »Möchtest du gleich noch etwas trinken gehen? Ich geb dir was aus.«
»Lass mal. Im Café war heute die Hölle los. Bin froh, wenn ich gleich sofort ins Bett fallen kann.«
»Na, wenn es dir ums Bett geht, dann könnte ich dir doch –« Phil stoppte, als Sadi kurz den Kopf schüttelte und Nick einen raschen Blick zuwarf. Auf einmal änderte sich Phils Tonfall. »Gut, dann machen wir das eben ein anderes Mal. Du könntest sowieso mal wieder bei mir im Studio vorbeischauen. Genauso wie dein Freund hier.« Er drehte sich zu Nick. »Siehst aus, als könntest du etwas Training gut gebrauchen.«
Nick lächelte nur. Ihm war die Ablenkung nicht entgangen und interessiert schaute er von einem zum anderen. Als aber beide nichts mehr zu dem Thema »Bett« sagten, meinte er: »Ich bin nicht so der Trainingstyp, aber danke für das Angebot.«
»Schade, ich könnte dir sogar einen Sonderpreis machen. In letzter Zeit habe ich nur so reiche Pinkel unter meinen Schülern. Niemand, der Interesse an Turniere und Wettkämpfe hätte.«
»Dann bist du immer noch auf der Suche nach einem Boxer?«, fragte Sadi. »Sicher, dass du dir das antun willst?«
»Kennst mich doch, so schnell geb ich nicht auf. Wenn ich nicht selbst in den Ring kann, dann will ich wenigstens jemand anderem diese Chance geben. Sag mal, hast du vielleicht heute ein Stück Kuchen für mich übrig?«
»Klar, eins hab ich noch. Warte einen Augenblick.« Sadi ging in die Küche und ließ sie allein im Verkaufsraum zurück.
Phil stützte sich mit seinem massiven Arm auf der Theke ab und schaute Nick zu, wie dieser inzwischen zum wiederholten Mal die gleiche Stelle putzte. »Und du bist also das heutige Schäflein, dem er hilft?«
Nick runzelte die Stirn. »Schäflein?«
»Sadi hat so etwas wie einen Samariterkomplex. Gibt Obdachlosen Kaffee aus und so weiter. Wenn sein Chef das wüsste, würde er ihm den Arsch versohlen.« Phil lachte. »Hast du einen Platz, wo du schlafen kannst?« Sein Blick fiel auf Nicks Reisetasche neben der Küche.
»Nicht so richtig.«
Phil sah ihn mitleidig an und Nick wendete die Augen ab. Verdammt! Mehr Mitleid war das Letzte, das er wollte.
»Mach ihm nur nicht so viele Schwierigkeiten«, sagte Phil. »Sadi hat selbst eine Menge Probleme und versucht immer, die zu vergessen, indem er anderen hilft. Manchmal übertreibt er es.«
Daraufhin hatte Nick den Mund geöffnet, um etwas zu sagen, aber da kam Sadi auch schon aus der Küche zurück und trug einen Plastikteller, der mit Alufolie eingewickelt war.
Phil bedankte sich und nahm ihn entgegen. »Dann seh ich dich morgen im Studio. Und keine Ausreden mehr. Verstanden?«
Sadi grinste nur und Phil schüttelte den Kopf. »Mach‘s gut, Nick, und denk daran, was ich gesagt hab.«
Mit einem Nicken antwortete Nick ihm und sah Phil zu, wie er das Café verließ.
»Er hat dir hoffentlich keinen Schwachsinn erzählt«, meinte Sadi. »Phil mischt sich gerne in Sachen ein, die ihn nichts angehen.«
»Nichts Besonderes.« Die Frage, was Sadi für Schwierigkeiten hatte, lag ihm auf der Zunge, aber es ging ihn kaum etwas an. Stattdessen fragte er: »Sag mal, warum kann er denn nicht boxen?«
»Phil hat sich das Sprunggelenk vor einigen Jahren verletzt. Er kann zwar noch trainieren, aber im Ring hätte er einen entscheidenden Nachteil. Hat ihn damals ziemlich fertig gemacht. Er war sehr talentiert.« Sadi schüttelte den Kopf. »Aber es ist zu deprimierend, jetzt darüber nachzudenken. Ist eh lange her. Hilfst du mir weiter mit den Tischen?«
»Klar.« Er putzte die restlichen Tische deutlich schneller ab und half Sadi dann, die Stühle hochzustellen.
»So, das war‘s dann wohl«, sagte Sadi. »Und was ist mit dir? Hast du einen Platz zum Schlafen?«
Nick schaute ihn an. Nach Phils Aussage hatte er diese Frage bereits erwartet. »Nicht wirklich. Ich wollte nur weg von diesem Dreckssack.«
Bei dem letzten Wort hoben sich Sadis Augenbrauen. »Gut, dann mach ich dir einen Vorschlag: Du kommst erstmal bei mir unter und hilfst mir dafür im Café. Kriegst dann natürlich neben Essen und Unterkunft auch noch etwas dafür. Noch so ein Tag allein halte ich nämlich nicht aus und morgen ist auch noch Samstag.« Er machte ein Gesicht, als ob er Schmerzen hätte. »Die ganzen Touristen … Mir wird schlecht, wenn ich nur an die Arbeit denke!«
»Ist das wirklich dein Ernst?«, fragte Nick. Er konnte sein Glück kaum fassen.
»Klar, aber glaub nicht, dass ich dir damit einen Gefallen tue. Spätestens morgen Mittag zu unserer persönlichen Rush Hour wirst du mich dafür hassen. Hast du schon einmal gekellnert?«
Gekellnert? Nun, da war dieses eine Mal beim Schulfest gewesen … Ob das zählte?
» … Ja?«
»Gut, denn Erfahrung wirst du brauchen. Das ist aber nur eine Notlösung, ja? Du musst dir unbedingt einen richtigen Job suchen oder eine Ausbildung machen und dir etwas Eigenes suchen, verstanden?«
Wieder nickte Nick und seine Lippe protestierte, aber er konnte nicht anders als breit zu grinsen.
Erneut runzelte Sadi die Stirn. »Du erinnerst mich stark an Phil. Ich meine das ernst, ja?«
»Schon klar. Ich hätte sowieso gern eine eigene Wohnung. Wenn du mir bis dahin helfen könntest, wäre das super.«
»Gut, dann verlasse ich mich auf dich. Meine Wohnung ist direkt über dem Café. Es sieht allerdings etwas … unaufgeräumt aus. Durch Ronalds Fehlen – das ist mein Boss – hatte ich nicht viel Zeit und bin nach der Arbeit immer gleich ins Bett gefallen.«
Mit »unaufgeräumt« musste Sadi ein paar herumliegende Klamotten meinen. Seine Erscheinung sah zumindest nicht so aus, als wäre er schlampig.
»Das macht nichts. Damit kann ich dir auch helfen. Ich musste auch immer hinter meinem Vater herräumen.«
»Na ja, so schlimm ist es bestimmt nicht. Keine Sorge.«
Nur etwa fünf Minuten später erfuhr Nick, dass das eine glatte Lüge gewesen war.
Kapitel 3: Notlösungen
Sadis Wohnung erreichte man durch einen kleinen Seiteneingang direkt neben dem Café. Als sie die lange Treppe hinaufgingen, geriet Nick schnell außer Atem. Früher war er oft im Park joggen gegangen, nur um für eine halbe Stunde den Problemen zu Hause zu entgehen. Als sich jedoch sein Geburtstag genähert hatte, wurde sein Vater immer unausstehlicher. Oft hatte er Nick in seinem Zimmer eingesperrt und sich geweigert, ihn gehen zu lassen. Manchmal für Tage und je näher sie seinem 18. Geburtstag kamen, desto öfter. Natürlich musste er bereits geahnt haben, dass Nick vorgehabt hatte, ihn zu verlassen. Oft genug angedroht hatte er es ihm ja. Aber die Polizei und das Jugendamt hatten Nick immer wieder einen Strich durch die Rechnung gemacht.
Wenn sie ihm doch nur damals geglaubt hätten …
Sadi schloss die Wohnung auf, trat ein und gab den Blick in das Wohnzimmer frei. Nick klappte das Kinn herunter. Er hatte eine ähnliche Sauberkeit wie im Café unten erwartet, den Glanz der Küche und die Gemütlichkeit des Verkaufsraumes, doch das hier war einfach … Müll.
Überall lagen Klamotten herum, auf dem Couchtisch befanden sich mehrere leere Chipstüten und Verpackungen anderer Süßigkeiten. In der offenen Küche stapelte sich das dreckige Geschirr und der Boden war voller Krümel.
»Ich hatte wirklich nicht viel Zeit«, sagte Sadi entschuldigend und rieb sich seinen Nacken. »Und ehrlich gesagt, ich war noch nie besonders ordentlich. Phil hat sonst immer aufgeräumt.«
»Du hast mit Phil zusammengewohnt?«, fragte Nick überrascht.
»Er war mein Mitbewohner und ist dann vor ein paar Monaten ausgezogen. Danach war keiner mehr hier … zumindest nicht für lange. Du kannst sein Zimmer haben.«
Wieder entging Nick diese Pause nicht. Übersah er etwas Wichtiges? Schon im Café hatten sich die beiden so merkwürdig benommen. Sadi machte allerdings keinen weiteren Kommentar dazu, sondern ging in die Wohnung hinein und deutete auf die erste Tür links in einem kleinen Flur.
»Das hier ist es«, meinte er. »Mein Zimmer ist direkt gegenüber und das Badezimmer befindet sich am Ende des Gangs. Die Wohnung ist klein, aber ich denke, sie wird dir fürs Erste reichen.«
Nick hatte kein Problem mit der Größe, aber diese Unordnung störte ihn gewaltig. Er schaute sich um und sein Blick blieb wieder und wieder auf den herumliegenden Sachen und dem Müll hängen.
»Stört es dich, wenn ich ein bisschen aufräume?« Noch bevor Sadi überhaupt antworten konnte, stellte Nick seine Reisetasche neben dem Eingang zum Flur ab, zog seine Jacke aus und hängte sie über einen der Sessel. Dann bückte er sich und sammelte die Klamotten vom Boden auf.
»Das ist dreckig«, sagte Sadi etwas kleinlaut, doch Nick beachtete ihn nicht. Teil für Teil sammelte er auf, versuchte den Geruch von Schweiß und Nikotin zu ignorieren und ging mit den Sachen zum Badezimmer. Das war zum Glück vergleichsweise sauber, aber er schüttelte den Kopf, als er auch dort überall Sachen auf dem Boden herumliegen sah. Nick legte die Sachen in einen Wäschekorb und ging zurück ins Wohnzimmer, wo er weiter aufräumte.
»Bist du eigentlich Raucher?«, fragte Nick, als ein voller Aschenbecher unter einer Zeitschrift zum Vorschein kam.
»Phil raucht. Zwar nicht viel, aber er kommt öfter vorbei und steckt sich dann gern eine an«, sagte Sadi.
Nick nickte und betrachtete die Zeitschrift etwas genauer, die er aufgesammelt hatte. Auf dem ersten Blick war es ein typisches Männermagazin mit einem US-Schauspieler auf dem Cover. Als Nick es allerdings aufschlug, stellte er fest, dass sich das gesamte Heft fast nur um Mode drehte.
»Meine Schwester ist Designerin«, sagte Sadi zu Nick, als er weiterblätterte. »Sie schickt mir die immer, weil sie will, dass ich für ihre Sachen model.«
»Tust du das denn?«
Sadi zuckte mit den Schultern. »Nicht wirklich mein Ding. Ich hasse es, wenn ich angestarrt werde, aber Kayra ist im Moment sowieso in Paris und versucht dort, den Durchbruch zu schaffen. Wenn sie zurück ist, dann hab ich keine andere Wahl.«
»Du magst es nicht, angestarrt zu werden?« Nick musste schmunzeln. »Sorry, aber du könntest glatt in einer dieser Zeitungen stehen. Da hast du doch eh keine Chance, dem zu entgehen.«
Nicks Aussage schien Sadi unangenehm zu sein, denn er starrte zu Boden. »Das sagt sie mir auch immer, aber mit Scheinwerferlicht und Kameras ist es eben doch etwas anderes … und so gut seh ich auch wieder nicht aus.«
Diesmal lachte Nick laut und fluchte sofort, als der Schnitt in seiner Lippe sich deutlich spannte. »Quatsch keinen Scheiß, Mann! Du siehst geil aus, mach was draus!«
Damit legte Nick die Zeitschrift auf einen Stapel in einem Regal und machte weiter.
***
Sadis Gesicht brannte. Er wusste nicht, wo er hinschauen oder was er tun sollte und setzte sich deshalb einfach auf die nun befreite Couch. Komplimente bekam Sadi oft, aber er wusste nie etwas mit ihnen anzufangen. Besonders Phil nutzte das gerne aus und verwandelte Sadi in ein stotterndes Etwas. Nick sollte aber nur ein Mitbewohner bleiben und nicht zu einer seiner ausweglosen Beziehungen werden. Davon hatte es genug in seinem Leben gegeben.
Sadi riss seine Gedanken los und schaute Nick stattdessen zu, wie er seine Wohnung aufräumte. Es ging erstaunlich schnell. Innerhalb von zwanzig Minuten schaffte er es tatsächlich, dass alles wieder ordentlich war und vor Sauberkeit glänzte.
»Bist du ein Zauberer oder sowas?«, fragte er ihn und sah sich um. Wohnzimmer und Küche sahen aus wie neu.
Nick lächelte zufrieden. »Nicht wirklich, aber ich hab seit Jahren den Haushalt Zuhause geschmissen. Da bleibt was hängen.«
»Verstehe … und deine Mutter?«
»Ist abgehauen, als ich zehn war. Seitdem ist mein Vater auch so draufgewesen. Hat mir die Schuld dafür gegeben.« Nick zuckte mit den Achseln. »Kann man nichts machen. Hauptsache ich bin da weg und kann ein neues Leben anfangen.«
Sadi sah ihn lange an. Es war fast ein Wunder, dass Nick trotz allem so ein toller Kerl geworden war. Noch kannte er ihn zwar nicht lange, aber Sadi hatte ein sehr gutes Gefühl bei ihm. Es hatte ihn überrascht, dass Nick überhaupt bis zum Feierabend im Café geblieben war. Die meisten, denen er etwas spendierte, hauten danach schnell ab, doch er hatte tatsächlich sein Angebot angenommen und ihm geholfen.
Nur wegen Phil machte sich Sadi Sorgen. Sein Exfreund reagierte energisch, wann immer er jemandem im Café aushalf. Morgen beim Training würde er mit Sicherheit wieder eine Standpauke von ihm bekommen.
Und damit kam er zum nächsten Problem: Sollte er Nick sagen, dass er schwul war?
Kaum jemand – eigentlich nur seine Familie und Phil – wussten das von ihm. Wie würde Nick darauf reagieren? Seinen Freunden hatte Sadi diese Sache aus gutem Grund verheimlicht.
Bevor er weiter darüber nachdenken konnte, stand Nick vor ihm und grinste. Sein gesamtes Gesicht strahlte durch diesen Ausdruck.
»Ich bin fertig«, sagte er stolz.
Sadi sah sich um und lächelte ihn dann an. »Weißt du, vielleicht bin ich tatsächlich der eigentliche Glückspilz von uns. Ohne dich wäre ich vermutlich im Dreck erstickt.«
Nick verschränkte die Arme. »Es war auch extrem. Ist Phil deswegen ausgezogen?«
»Nein, wir haben nur gedacht, dass es besser wäre. Obwohl … vielleicht hab ich ihn auch ein bisschen damit genervt, dass er hinter mir herräumen musste.«
»Wie kommt es eigentlich, dass die Küche und das Café so scheiß sauber und ordentlich sind? Ist ein echter Unterschied.«
»Du kennst meinen Chef nicht.« Sadi zog eine Grimasse bei dem Gedanken an das militärähnliche Training an seinem ersten Arbeitstag vor drei Jahren. »Jeder kleinste Fleck treibt ihn in den Wahnsinn. Außerdem geht es da um Lebensmittel, die ich anderen vorsetze. Da bin ich einfach anders.«
Nick sah ihn erstaunt an, fragte aber nicht weiter nach. Sadi nutzte die Zeit, um ihn genauer anzusehen. Sein Auge war etwas abgeschwollen, aber noch deutlich dicker als das andere. Auch seine Lippe war inzwischen geschwollen.
»Setz dich erstmal auf die Couch. Ich hol den Verbandskasten.«
»Das ist nicht nötig!«, sagte Nick abwehrend. Er wirkte fast panisch. »Das heilt von alleine. Hat es immer.«
»Unsinn! Und tu nicht so gleichgültig, deine Verletzungen sind nichts Harmloses. Ganz im Gegenteil.«
»Mach dir keine Umstände. Das ist wirklich nicht – hey!«
Sadi war an Nick vorbei und zum Badezimmer gegangen. Dort nahm er den Erste-Hilfe-Kasten aus dem Spiegelschrank und kehrte ins Wohnzimmer zurück.
»Setz dich«, befahl er.
Nick wirkte deutlich unwohl dabei, setzte sich aber auf die Couch.
Sadi desinfizierte den Schnitt an der Lippe und benutzte dann eine Wundheilungscreme. Offenbar versuchte Nick, sich nichts anmerken zu lassen, aber er zuckte leicht zusammen.
»Was ist mit deiner Nase? War das auch dein Vater?«, fragte Sadi, während er eine Salbe für Nicks Auge heraussuchte. Gut, dass er früher immer Phil versorgt und noch das Zeug aufbewahrt hatte.
»Ja, ist aber schon länger her. Der Arzt wollte meine Nase richten, aber die Krankenschwester meinte, es würde mir stehen.« Er grinste Sadi zu und erneut überraschte ihn dieses Verhalten. Wie konnte jemand, der jahrelang so viel ertragen musste, so leichtfertig über diese Erlebnisse sprechen? War das seine Art, damit umzugehen?
»Du musst nicht stark vor mir tun. Es muss schrecklich gewesen sein, von dem eigenen Vater verprügelt zu werden.«
Für einen Moment schien das Lächeln auf Nicks Gesicht zu kippen, doch dann fing er sich wieder. »Ist doch eh vorbei. Bist du fertig?«
Sadi trug etwas mehr Salbe auf und nickte dann. Er sah ihm zu, wie Nick die Stellen vorsichtig mit den Fingern berührte. Noch öffnete er sich Sadi gegenüber zwar nicht, aber das hatte auch Zeit bis später.
***
Beinahe hätte Nick tatsächlich zu heulen angefangen. Das wäre das Letzte, was er wollte. Geflenne war ein Zeichen von Schwäche, von Nutzlosigkeit. Er musste stark sein, wenn er endlich die Vergangenheit hinter sich lassen wollte.
Sadi machte es aber schwer, sich zusammenzureißen. Dieses Mitgefühl, die Großzügigkeit und auch die Tatsache, dass er ihm einfach glaubte … all das brachte Gefühle hervor, die Nick lieber versteckte. Er konnte es sich nicht leisten, schwach zu sein. Schwach und nutzlos durfte er nicht sein, wenn er bei Sadi bleiben wollte.
»Wir sollten schlafen gehen«, sagte Sadi. »Morgen wird ein harter Tag.« Er stand auf und ging in Richtung Flur.
Nick folgte ihm und blieb vor der Tür zu Phils ehemaligem Zimmer stehen. »Ist es eigentlich in Ordnung, wenn ich dir mit diesem Gesicht im Café helfe?«, fragte Nick Sadi und deutete auf sein Auge. »Schreckt es die Gäste nicht ab?«
»Keine Sorge, wir haben viele Stammgäste und die würden sich nie von sowas beeindrucken lassen. Davon abgesehen, lieben die alles, worüber sie lästern können«, sagte Sadi mit einem Augenzwinkern.
Super, dachte Nick. Noch mehr alte Tratschtanten wie die Meschke ... das hat mir noch gefehlt.
»Ich werd mich dann mal zum Schlafen fertigmachen. Wenn du irgendetwas brauchst, dann klopf einfach, okay?« Sadi deutete auf seine Zimmertür.
»Geht klar«, sagte er und Sadi hatte schon die Hand auf seiner Klinke, als Nick hinzufügte: »Und danke, echt! Ich … ich wusste nicht, was ich tun sollte und du …«
Sadi lächelte und streckte die Hand aus. Nick zuckte leicht zusammen, aber Sadi wühlte ihm nur etwas durch die Haare. »Ist kein Ding. Hol dir ‘ne Mütze voll Schlaf und Morgen sieht die Welt ganz anders aus.« Damit verschwand Sadi in seinem Zimmer und auch Nick drehte sich zu der Tür um.
Mit zitternden Händen nahm er seine Reisetasche, griff nach der Klinke und drückte sie hinunter. Vor ihm öffnete sich ein einfacher Raum. Ein bezogenes Bett stand in der Mitte, ein Kleiderschrank befand sich in der Ecke und die orangefarbenen Vorhänge verhinderten Blicke von draußen. Kaum hatte er einen Blick auf die weichen Kissen des Bettes geworfen, spürte Nick, wie ihm die Augen zufielen. Seine Tasche stellte er neben dem Bett ab und fiel dann auf die Matratze. Er schloss die Augen und innerhalb von Sekunden war er eingeschlafen.
***
Am nächsten Tag stellte Nick fest, dass Sadi gerne Dinge kleinredete. Es wurde nicht einfach ein »harter Tag«, wie er gesagt hatte.
Stattdessen erlebte Nick die Hölle auf Erden.
Er hatte sich die Arbeit im Café deutlich einfacher vorgestellt und die Gäste dabei stark unterschätzt. Von Extrawünschen über Beschwerden bis hin zu Zechprellern hatten sie am nächsten Tag alles dabei.
Womöglich ärgerte ihn der Junge, der versucht hatte, ohne zu bezahlen wegzulaufen, noch mehr, weil Nick am Vortag denselben Plan gehabt hatte. Auf jeden Fall war er drauf und dran, ihm hinterherzulaufen und den Hintern zu versohlen, als Sadi ihn an der Tür aufhielt.
»Lass gut sein. Das ist ein Junge aus der Nachbarschaft und ich kenne seine Mutter. Ich sag ihr später Bescheid und sie wird ihn schlimmer bestrafen, als wir es je könnten.« Auf einen Blick von Nick fügte er hinzu: »Sie schlägt ihn nicht, keine Sorge. Aber die Frau hat eine Stimme wie ein Nebelhorn. Nach einer einstündigen Standpauke wird er wie ein Baby flennen.«
Missmutig richtete Nick seine Klamotten zurecht. Sadi hatte ihm ein Hemd und eine Hose geliehen, da seine üblichen Jeans und T-Shirts nicht schick genug waren. Es war verdammt unbequem. Immer wieder zupfte er an sich herum und die Hose saß so eng, dass ihm am Abend mit Sicherheit die Eier abfallen würden. Schicke Klamotten konnte er noch nie leiden. Mit Sporthosen und Sweatshirts ließ sich einfach mehr machen.
»Wie hältst du das nur den ganzen Tag in diesen verdammten Klamotten aus? Ich fühl mich, als würde ich ersticken.«
»Du wirst dich dran gewöhnen«, sagte Sadi achselzuckend. »Ronald legt auf ordentliche Kleidung Wert. Er würde mich kielholen, wenn ich jemanden in Jeans hier arbeiten ließe. Allerdings sollten wir dir bei Gelegenheit wirklich etwas Passenderes kaufen.«
»Und Ronald war nochmal …?«
»Mein Chef. Besitzer des Cafés und gleichzeitig mein Vermieter.«
»Wo du gerade davon redest: Macht es ihm nichts aus, dass du mich einfach hier arbeiten lässt?«
»Machst du Witze? Der kann froh sein, dass ich diesen Mist überhaupt mitmache.« Sadi ging zur Theke zurück und Nick folgte ihm. »Wenn er zu knauserig ist, dann übernehme ich eben die Sache, jemanden einzustellen. Obwohl du natürlich noch kein richtiger Angestellter bist. Er könnte auch jederzeit wieder zurückkommen.«
Das Thema ließ Nick einfach nicht los und so fragte er weiter, während Sadi einen Espresso zubereitete. »Arbeitest du hier eigentlich schon lange?«
»Ja, seit drei Jahren. Ronald hatte das Brunch davor schon einige Zeit, hat aber immer wieder die Kellner vergrault. Ich bin dann irgendwie … hängen geblieben. Es vergeht aber keine Woche, in der er mir nicht droht, mich zu feuern.« Sadi lächelte. »Wirft mir ständig vor, keine Leidenschaft zu haben, aber mal ehrlich: Ohne mich hätte er den Laden längst in den Ruin getrieben. Eigentlich übernehme ich sämtliche Aufgaben im Brunch und er liegt nur auf der faulen Haut.«
»Was war hier eigentlich früher mal? Die Küche sieht nicht gerade so aus, als wäre sie für ein Café geschaffen worden.«
»Das stimmt. Es war mal ein kleines italienisches Restaurant, das aber meist nur Catering betrieben hatte. Ronald hat es gekauft, nachdem der Besitzer sich größere Räumlichkeiten beschafft hatte.«
»Hey, werde ich hier irgendwann nochmal bedient?«
Sadi rollte die Augen in Nicks Richtung, überließ ihm dann aber die Aufgabe, den Espresso zu Tisch Nummer 4 zu bringen und ging mit einem falschen Lächeln zu dem unfreundlichen Kerl im Anzug.
Nick war sich nicht sicher, was dieser Ronald mit »Leidenschaft« meinte, denn seiner Meinung nach besaß Sadi ziemlich viel davon.
***
Die Mittagszeit kam und nun wusste Nick auch, was Sadi mit der Rush Hour gemeint hatte. Das Café füllte sich mit gestressten Verkäufern, die sich in ihrer kurzen Pause etwas zu Essen holen wollten, bevor sie sich wieder an ihre Arbeitsplätze begeben mussten.
Nick lernte schnell, dass die Kunden in Anzug und Kostüm am schlimmsten waren. Vielen von ihnen klebte immerzu ein Smartphone am Ohr und nichts konnte schnell genug gehen.
Mit jedem Drängeln und jeder Beschwerde wurde Nick nervöser. Er wollte alles richtig machen, schien es aber einfach nicht zu schaffen.
»Verdammte Scheiße!«, rief Nick, als er sich in seiner Hast, den Bankmitarbeiter an Tisch 7 zu bedienen, heißen Kaffee über seine Finger schüttete. Das Gebräu brannte auf seiner Haut. Nick stellte das Tablett ab und wischte die Flüssigkeit mit seiner Schürze von den Fingern. Noch immer fiel es ihm schwer, das Tablett richtig auf der Hand zu balancieren. Das war nun das dritte Mal, dass er heute etwas verschüttet hatte. Wie sollte er Sadi helfen, wenn er noch nicht einmal so etwas Einfaches konnte, wie ein Tablett von einem Ort zum anderen zu tragen? Er musste sich zusammenreißen, verdammt!
»Bist du in Ordnung?«, fragte Sadi, als er Nicks Missgeschick bemerkt hatte.
Hitze stieg in ihm auf und Nick versteckte sofort seine Hand. Es fehlte noch, dass Sadi sich Sorgen um ihn machte. Er durfte keine Fehler mehr machen!
»Alles in Ordnung. Ich bekomme das hin.«
Sadi sah ihn zweifelnd an, ließ ihn aber in Ruhe. Bestellungen aufnehmen, sie sicher an die Tische bringen und kassieren … das konnte doch nicht so schwer sein!
Mit zusammengebissenen Zähnen ging er neuen Kaffee holen und brachte ihn zu dem Bankangestellten. Kurz darauf wurde er auch von zwei Teenagern gerufen, die bemüht cool auf ihren Stühlen hingen.
»Ey, Alter, hat dir jemand die Fresse poliert? Siehst richtig scheiße aus, Mann!«, sagte einer der pickligen Jungen und sein Freund lachte anerkennend.
Nicks Kopf fing an zu pochen. Allein diese ganzen Missgeschicke, die ihm immer und immer wieder passiert waren, hatten seine Nerven bereits bis zum Äußersten strapaziert. Die Anstrengung, sich zurückzuhalten und den beiden nicht das Tablett in dieses dämliche Grinsen zu schlagen, war nun fast unerträglich.
»Was wollt ihr bestellen?«, fragte Nick mit betont ruhiger Stimme.
»Zwei Hähnchensandwiches und eine Cola. Aber pronto!«
Diese Möchtegern-Macker mussten sich toll fühlen, wenn sie ihn so herumkommandierten. Der Griff um seinen Stift wurde fester und er durchlöcherte fast seinen Block, als er die Bestellung aufschrieb. Früher hätte er diesen Ärschen gedroht oder ihnen gleich eine reingehauen, aber das konnte er hier nicht bringen.
Stattdessen ging Nick hinter die Theke zurück, stützte sich mit beiden Händen auf ihr ab und atmete tief ein.
Auf einmal fühlte er eine Hand auf seiner Schulter. Er zuckte zusammen und drehte schnell den Kopf. Erleichtert atmete er wieder aus, als er ihren Besitzer erkannte. Es war nur Sadi.
»Alles in Ordnung?«, fragte er. »Wenn die Kids Ärger machen, kannst du sie rausschmeißen. Die stören dann eh nur die anderen Gäste.«
»Nein, ist schon gut. Sind nur ein paar Halbstarke. Machst du zwei Hähnchensandwiches fertig?«
Sadi nickte und bereitete die Bestellung vor. Es war ein merkwürdiges Gefühl, ihn so besorgt zu sehen. Wann hatte ihm das letzte Mal jemand so viel Fürsorge gezeigt? Allerdings ärgerte es ihn gleichzeitig auch. Hielt Sadi ihn für ein Kind, dem man die Hand halten musste? Wirkte er so unfähig?
»Sag mal, wie alt bist du eigentlich?«, fragte Nick.
»Ich? 21.«
»Wirklich?«, sagte Nick mit gespielter Überraschung. »Dann bist du ja nur drei Jahre älter.«
Die Art wie Sadi stutzte, sagte Nick, dass er recht behalten hatte: Er sah in ihm tatsächlich noch ein Kind.
»Das … ja, das ist richtig. Kommt noch was zu der Bestellung?«
»Eine Cola.«
Nick sah ihm zu, wie Sadi ein Glas an dem Automaten füllte. War es Stolz oder Trotz, dass er plötzlich das Verlangen verspürte, Sadi zu zeigen, dass er unrecht hatte? Warum wollte er ihm auf einmal zeigen, dass er kein Kind mehr war?
***
»Das war‘s für heute«, meinte Sadi am Abend, nachdem auch der letzte Gast gegangen war. »Gratuliere, du hast überlebt!«
Nick fiel in einen der Stühle und stöhnte. Seine Füße brachten ihn um und nun verstand er, was Sadi gestern gemeint hatte: Er wollte nur noch schlafen gehen.
Sadi öffnete seinen Kragen etwas und nahm sich die schwarze Schürze ab. »Ich geh zu Phil ins Studio. Möchtest du mitkommen?«
Nick sah ihn an, als wäre ihm ein zweiter Kopf gewachsen. »Das kann nicht dein Ernst sein. Du willst jetzt noch trainieren?«
»Na ja, wollen trifft es nicht ganz, aber Phil will mich unbedingt beim Training sehen. Ich war die letzten Wochen auch ziemlich faul, was das angeht. Du kommst also nicht mit?«
Wieder stöhnte Nick und zog sich die Schuhe aus, um seine schmerzenden Füße zu reiben. Zum Glück hatte er seine Turnschuhe anlassen können. »Ich will nur ins Bett.«
Sadi nickte und zog einen Schlüssel aus seiner Hosentasche. Ungläubig schaute Nick das glänzende Metallstück an.
»Das ist mein Zweitschlüssel für die Wohnung«, erklärte Sadi. »Du kannst auch ein Bad nehmen, wenn du möchtest. An meinem ersten Tag hat mich das gerettet.«
Nick nahm den Schlüssel und drehte ihn in seiner Hand. »Und du bist dir sicher, dass du mir die Wohnung anvertraust? Du kennst mich doch kaum.«
»Würdest du irgendetwas vorhaben, dann glaube ich nicht, dass du dir so viel Mühe bei der Arbeit gegeben hättest«, sagte Sadi achselzuckend. »Ich lass es drauf ankommen.«
Nicks Augenbrauen hoben sich. War das wirklich sein ernst? Hoffentlich war Sadi nicht bei jedem Fremden so vertrauensselig. Das grenzte stark an Naivität und nun machte auch Phils Benehmen Sinn. Er musste sich Sorgen machen, dass Sadi tatsächlich einmal auf jemanden hereinfiel, der es längst nicht so gut mit ihm meinte.
»Dann grüß Phil von mir. Und du kannst ihm sagen, dass du nichts vor mir zu befürchten hast«, sagte Nick.
»Ihr habt also doch über etwas Merkwürdiges geredet.« Sadis dunkle Augen verengten sich. »Willst du mir nicht sagen, worum es ging?«
Nur mit einem Grinsen antwortete Nick ihm und Sadi seufzte, fuhr sich mit einer Hand durch die Locken. »Wie auch immer, ich hole meine Sachen und mach mich dann auf den Weg. Bleib nicht so lange auf.«
Darauf konnte er seinen Modelarsch verwetten. Nick rief nur noch ein Bad und ein schönes, weiches Bett.
***
»Dann ist der Kerl also in Ordnung?«, fragte Phil Sadi später, als er ein riesiges Gewicht auf die Stange der Hantelbank hob.
Sie befanden sich im Muscle-X-treme-Fitnessstudio, Phils Arbeitsplatz und Trainingsort. Es lag nur etwa zehn Minuten vom Brunch entfernt und war überwiegend Zielort für professionelle Bodybuilder und Superreiche, die sich einen Personal Trainer leisten konnten. Um diese Zeit war es allerdings bereits verlassen und nur Phil und Sadi nutzten noch die Geräte. Wie immer lag eine Geruchsmischung von Schweiß und Deo in der Luft. Die Fenster waren geöffnet, schafften es aber trotz der kalten Luft kaum etwas Erfrischung in die riesige Halle zu tragen. Sadi zitterte dennoch, als ein Luftzug den Weg zu ihm schaffte.
Er saß auf einer Sit-up-Bank und wischte sich die nasse Stirn mit dem Handrücken ab, während Phil auf der Hantelbank einen Kleinbus an Gewichten hob. Zumindest kam es Sadi so vor.
»Ja, der Junge hat einfach nur eine Menge Pech gehabt. Er schlägt sich gut. Flucht ein bisschen oft, aber kommt so weit mit den Kunden zurecht«, sagte er.
Phil stutzte. »Du nennst ihn immer Junge. Sagtest du nicht, dass er 18 ist?«
»Ja, er hat mich heute dezent darauf hingewiesen, dass ich ihn nicht wie ein Kind behandeln soll«, meinte Sadi. Die Erinnerung brachte ein Grinsen auf sein Gesicht. »Es ist nur … er erinnert mich irgendwie an Nadir. Ist genauso temperamentvoll und ehrgeizig.«
Eine kurze Pause trat ein, in der Phil mehrere Male die Gewichte stemmte, bevor er sprach. »Hast du deinen Bruder denn mal wieder gesehen?« Es lag genau die Menge an Mitgefühl in seiner Stimme, die Sadi erwartet hatte.
»Leider nicht. Mein Vater will nicht, dass ich mit ihm rede und meine Mutter schweigt sich aus. Sie legen sofort wieder auf, wenn ich in der Türkei anrufe.«
Er schloss die Augen, als die gewohnte Sehnsucht ihn ergriff. Seine Mutter war vor zwei Jahren allein mit Nadir in ihre Heimat zurückgekehrt, weil sie die Türkei so sehr vermisst hatte. Sadi erinnerte sich noch genau, wie sein Bruder damals geweint hatte. Sie kamen den Rest ihrer Familie regelmäßig besuchen, aber seit nun einem Jahr hatte er die beiden nicht mehr sprechen können.
»Na ja, das gibt sich wieder«, sagte Phil. Er stand auf, wischte sich das Gesicht mit seinem Handtuch und legte eine Hand auf Sadis Schulter.
»Dein Vater war nur geschockt«, sagte er. »Wenn er sich erst an den Gedanken gewöhnt hat, wird er es verstehen.«
Das glaubte Sadi kaum. Als er sein Coming-out gehabt hatte, war sein Vater regelrecht explodiert. Seitdem durfte er auch seine Geschwister nicht mehr sehen. Seine große Schwester Kayra setzte sich regelmäßig über dieses Verbot hinweg, aber Nadir war einfach nicht mehr zu erreichen.
»Und wenn er mir nicht verzeiht? Er hatte sich immer Enkelkinder von seinem ältesten Sohn gewünscht.«
»Er hat noch zwei andere Kinder und so wie ich ihn kennengelernt habe, ist dein Vater tolerant genug, um dir zu vergeben. Ich meine, es ist doch nicht so, als hättest du dir das ausgesucht.«
Sadi legte sich mit dem Rücken auf die Bank und schaute die Decke an. »Erzähl ihm das. Er ist sturer als du denkst.«
»Dann weiß ich endlich, von wem du das hast«, sagte Phil. »Aber ehrlich: mach dir nicht so einen Kopf und wart einfach ab. Das gibt sich wieder. Ich meine, mein Vater ist auch nicht gerade begeistert gewesen, aber er hat sich an den Gedanken gewöhnt.«
»Bei dir kommt die Religion aber nicht ins Spiel. Wenn er es überhaupt irgendwann verstehen wird, dann wird das mit Sicherheit lange dauern.« Sadi setzte sich wieder auf und fuhr sich mit einer Hand durch die Haare. Durch den Schweiß mussten sie nach allen Seiten abstehen.
»Dann musst du dich eben in Geduld üben«, sagte Phil und erhöhte die Gewichte beim Butterfly. »Am besten, du lenkst dich etwas ab. Schon über eine neue Beziehung nachgedacht?«
»Ich glaube, es ist besser, wenn ich erstmal eine Pause mache. Vielleicht was Unverbindliches …«
Phil sah ihn streng an. »Du bist nicht der Typ für One-Night-Stands, Sadi. Das ist nichts für dich.«
Ein spöttisches Lächeln machte sich auf Sadis Gesicht. Wieder diese Bemutterung. Das war einer der Gründe, warum sie sich getrennt hatten. Phil kümmerte sich gerne um seine Partner und übertrieb dabei maßlos. Er mischte sich in alles ein, gab ständig Ratschläge und wollte sie vor allem beschützen. Leider vergaß er dabei, dass Sadi ein erwachsener Mann war, der diese Art von Bevormundung nicht brauchte.
»Vielleicht schätzt du mich falsch ein?«, meinte Sadi und die Worte waren bitter auf seiner Zunge. Er hasste es, durchschaubar zu sein. »Unsere Beziehung konnte man auch nicht gerade als etwas Festes bezeichnen, oder sehe ich das falsch?«
»Nun, wir haben nicht mit anderen Typen rumgemacht.«
Sadi schüttelte den Kopf. »Aber mehr als Sex hatten wir auch nicht und ein neuer Kerl im Moment … ich kann das jetzt einfach nicht. Es geht mir zu viel durch den Kopf.« Die Sache mit seiner Familie ließ ihn nicht los, bereitete ihm unzählige schlaflose Nächte und lenkte ihn bei der Arbeit ab. Sein kleiner Bruder war alles für ihn gewesen und nun konnte er nicht einmal mehr mit ihm reden.
»Deswegen sag ich ja, du solltest dich ablenken. Allerdings nicht mit diesem Nick.« Phils Blick wurde auf einmal finster. »Schlecht sieht er nicht aus, obwohl er im Moment ziemlich ramponiert ist, aber ich weiß nicht. Irgendwas ist nicht ganz koscher mit ihm. Ich spür das.«
»Mach dich nicht lächerlich! Das hast du bisher bei jedem Kerl gesagt, mit dem du mich gesehen hast. Außerdem glaub ich nicht, dass er zu uns gehört.«
»Bist du dir da sicher? So wie das klingt, legt er sich ganz schön ins Zeug für dich. Vielleicht will er dich beeindrucken?«
Sadi dachte für einen Moment nach. Beeindrucken … ja, das wollte er wohl. Das hatte aber eher etwas damit zu tun, dass er keinen Rausschmiss riskieren wollte. Sadi schien im Moment sein einziger Anker zu sein.
»Er will mich sicher beeindrucken«, sagte Sadi schließlich. »Aber kaum, weil er auf mich steht. Ich glaube eher, dass er Angst hat, mich zu verärgern. Wer weiß, aus welchen unsinnigen Gründen ihn sein Vater geschlagen hat.«
Phil schüttelte den Kopf. »Du lachst dir auch immer die schwierigsten Typen an.«
»So wie dich, meinst du?«