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Lydia ist sich sicher, dass das Wochenende auf eine Katastrophe zusteuert. Vater wird sechzig und sie fand keine passende Ausrede, um sich vor der Feier zu drücken. Also tritt sie die Reise zurück in das Dorf ihrer Geburt an, was sie mit ihrer Vergangenheit und ihrer Art, Liebe zu empfinden, konfrontiert. Ihre Familie lehnt sie ab und nach dem tragischen Tod ihres besten Freundes, der sie früher zu solchen Veranstaltungen begleitete, ist sie völlig alleine mit ihrer Trauer und dem Chaos in ihrem Herzen. Doch dann kommt alles ganz anders. Zuerst taucht diese geheimnisvolle Frau in Leder mit dem roten Auto auf. Und dass die Familienfeier aus dem Ruder läuft, begreift Lydia spätestens, als die Polizei auftaucht und beginnt, peinliche Fragen zu stellen. Schließlich muss Lydia um ihr Leben fürchten, der Hass um sie herum schlägt immer höhere Wellen. Sie will nur noch fort von diesem Ort und versteht nicht, was sie hier noch hält. Aber die Sehnsucht lässt sie einfach nicht gehen. Lydia begreift: Es ist Liebe, wenn du plötzlich den Mut findest, zu deinen Gefühlen zu stehen, weil nichts anderes mehr wichtig ist.
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Veröffentlichungsjahr: 2022
Inhaltsverzeichnis
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Ende
Liebe wird aus Mut geboren
Olaf Hauke
2022
Copyright 2022
Olaf Hauke
Greifswalder Weg 14
37083 Göttingen
Cover: prettysleepy1
T. 01575-8897019
„Wen da draußen geht es irgendwas an, was in meinem Herzen vorgeht?“
Mit einer pathetischen Geste griff sich Lydia an die Brust und neigte ihren Oberkörper vor, als wolle sie im nächsten Moment in Ohnmacht fallen. Natürlich fing sie sich im letzten Moment mit einem unwilligen Schnaufen, marschierte zum Fenster und starrte nach draußen.
Thomas verschränkte die Arme vor der Brust. „Niemanden geht es etwas an“, sagte er mit einem unwilligen Aufseufzen. Seine Augen rollten, er hoffte, dass Lydia dies im Spiegelbild der Scheibe erkennen konnte. Wenn sie es wirklich bemerkt hatte, ließ sie es nicht erkennen. Trotzig verschränkte sie die Arme vor der schmalen Brust und verharrte in ihrer Haltung.
Jenseits der Scheibe hatte sich der Sturm noch immer nicht beruhigt. Der Wind schob schwere, zerrissene, dunkle Wolkenbanken übereinander, ganz in der Ferne konnte man trotz der doppelt verglasten Fenster ein dumpfes Donnern hören. Lydia hätte viel dafür gegeben, die Tür zur Terrasse aufzureißen und einfach in die Nacht zu laufen, um nie wieder zurückzukehren. Es war so ungerecht, so leer und sinnlos.
Sie drehte sich langsam um, riss dabei gewaltsam ihren Blick aus der Schwere und Düsternis los und blinzelte Thomas an, der dastand und sie anschaute, als hätte er gerade von ihr erfahren, dass der Bus, auf den er wartete, eine Stunde Verspätung haben würde. Seine Schultern wirkten in dem hellgrauen Sakko seltsam eckig und viel zu breit, seine dunklen Haare waren unordentlich, weil er einfach nicht begriff, dass man sie, waren sie einmal mit Gel in Form gebracht, nicht mehr berühren durfte. Am Vormittag hatte sie ihn noch aufrecht und kämpferisch erlebt, jetzt war er nur noch müde und leer. Der Tag war zu lang gewesen, zu kräftezehrend, um jetzt noch eine lange Diskussion durchzustehen.
Unwillkürlich musste sie lächeln. Ihre verschränkten Arme lösten sich, sie atmete tief durch und trat langsam auf ihn zu. Ihre Hand wanderte zu ihm herüber, als müsse sie sich durch einen zähen Brei kämpfen. Unsicher berührte sie ihn an der gepolsterten Schulter. Da sie nur Schaumstoff fühlte, ließ sie die Finger nach unten über den rauen Stoff des Oberarmes gleiten.
„Keine Bange, ich kenne die Diskussion, die wir haben werden“, sagte sie mit einem gequälten Lächeln. „Ich werde von meinen Gefühlen reden, du von den Jobs und den Leuten da draußen.“ Sie drehte sich von ihm weg, ihr langen, rotblonden Locken schwangen als Schattenbilder auf der Scheibe, sie konnte sie genau beobachten, machte einen Schritt von ihrem Manager weg.
Natürlich liebte Thomas sie, das hatte er ihr oft genug gesagt und gezeigt. Doch so sicher sie sich über seine Gefühle ihr gegenüber war, so sicher war sie auch, dass sie sie nie im Leben würde erwidern können. Sie sah sein Gesicht in der Scheibe, er wusste genau, was ihr durch den Kopf ging. Er folgte ihr, legte seine Hände mit einer entschlossenen Geste auf ihre Schultern. „Ich habe mich doch längst damit abgefunden, dass du ... dass du meine Gefühle nicht verstehst, nicht verstehen kannst. Wir brauchen nicht darüber zu sprechen, dass es völlig okay ist, wen du aus welchen Gründen liebst. Wir leben im einundzwanzigsten Jahrhundert. Aber in deinem speziellen Fall ... “
„ ... würde es die Auftraggeber abschrecken und sie davon abhalten, mich zu buchen. Ja, und du hattest mich bereits letztes Jahr davor gewarnt. Du sagtest, ich solle gleich die Karten auf den Tisch legen oder so ähnlich.“ Lydia merkte, wie sich ihr Atem beschleunigte. „Und habe ich auf dich gehört? Nein, das habe ich nicht. Ich habe mich von einer Vorauszahlung blenden lassen, die ich allerdings noch mit weiteren Aufträgen abarbeiten muss. Und immer, wenn ich an diesen Punkt komme, fühle ich mich wie eine geldgierige Schlampe.“
Thomas gluckste leicht in sich hinein. „Das liegt daran, dass du eine geldgierige Schlampe bist“, sagte er und konnte ein Lachen in der Stimme nicht unterdrücken. Die Provokation schien ihm zu gefallen, er meinte sie nicht ernst, zumindest nicht ganz, da war sich Lydia sicher, denn auch an diesem Punkt waren sie schon mehr als einmal in ihren Debatten gewesen.
„Du als mein Manager hast mich dazu verführt, du hast meine Unschuld und meine Naivität ausgenutzt!“ In gespielter Dramatik drehte sie sich durch den Raum, legte dabei betont dramatisch den Handrücken an die Stirn. Die düstere Stimmung war dabei, sich langsam aufzulösen.
„Du hast mich durchschaut! Ich suchte ein dummes Blondchen für meinen eigenen Vorteil. Ich wollte dich von Anfang an nur benutzen!“ Er zog einen Mundwinkel nach oben und sah für einen Moment tatsächlich aus wie die Karikatur eines Bösewichtes in einem schlechten Film.
„Du bist so widerlich!“
„Aber du hast gewusst, dass du dich mit dem Bösen einlässt!“ Thomas sah sie zunächst düster an, zog die Augenbrauen zusammen. Doch dann musste er lachen. Draußen zuckte ein Blitz verschwommen durch die dunklen Wolkenbänke. Thomas ließ sich auf die Polster der Sitzgarnitur des Ferienhauses fallen, seine Krawatte lockerte sich. Er zog sie mit einer fließenden Bewegung noch ein Stück weiter auf.
„Hör zu, wir bleiben noch ein paar Tage hier und spannen aus. Ich hoffe, dass sich das Wetter bis morgen Früh beruhigen wird. Ich fahre dann runter nach Hamburg und rufe dich von dort aus an. Wenn du es wirklich willst, cancele ich die Verträge. Es wird eine Stange Geld kosten, aber wir werden es überleben. Ich könnte für dich einige kleinere Jobs besorgen, zumindest hoffe ich das. Auch ich bin dieses Versteckspiel leid, es ist blödsinnig und überflüssig.“
Lydia nickte. Natürlich interessierten sie die möglichen Alternativen, die Thomas in seinen letzten Worten angedeutet hatte. Aber sie konnte an seinem Gesicht ablesen, wie müde und erschlagen er war. Und so wie sie ihn kannte, würden sich seine Schilderungen wieder mal in irgendwelchen Details verlieren, zu denen sie um diese Uhrzeit keine Lust mehr verspürte. Ein wenig zögernd ging sie auf die Treppe zu, die nach oben in das Schlafzimmer des Ferienhauses führte. Er bemerkte das und richtete sich sofort ein wenig auf.
„Oh, kein Problem, geh nur nach oben, ich mache es mir hier unten gemütlich. Ich hole mir nur ein paar Sachen, dann störe ich dich nicht länger.“ Sein Lächeln wirkte angestrengt und gequält, aber er hätte vermutlich nicht mal unter Folter gestanden, was seine wahren Wünsche ihr und dieser Nacht gegenüber waren. Er folgte ihr mit einem fast lächerlich großen Abstand.
Eine halbe Stunde später lag sie ausgestreckt auf dem Bett und konnte keine Ruhe in ihrem Kopf finden, so sehr sie sich auch bemühte. Die gemeinsame Nacht, die jetzt gut ein Jahr her sein musste, hatte etwas in ihm geweckt, was niemals zum Schweigen kommen würde. Keine Frage, sie nutzte ihn irgendwie aus, auch wenn ihr selbst noch nicht klar war, wie genau das aussah. Sie hatte ihn nie belogen, zumindest nicht in den wesentlichen Dingen. Und doch hatte sie irgendwie das Gefühl, dass das Gewitter, das noch immer draußen tobte und sich inzwischen in einem heftigen Regen entlud, auch in ihrem Herzen tobte. Sie fühlte sich zerrissen zwischen dem, was sie sich wünschte und dem, was die Welt von ihr zu erwarten schien.
Als sie am nächsten Morgen aus einem unruhigen Schlaf hochschreckte, der sie irgendwann in der Nacht überwältigt haben musste, war Thomas bereits auf dem Weg nach Hamburg. Das Wetter hatte sich kaum gebessert, es regnete in Strömen, an einen morgendlichen Lauf war nicht zu denken. Missmutig ging sie in den Keller des Ferienhauses und probierte die in die Jahre gekommenen Fitness-Geräte.
Eine Stunde später erhielt sie den Anruf, dass Thomas einen schweren Unfall auf der Autobahn gehabt hatte.
„Wie lange ist es jetzt her seit diesem schrecklichen Unfall, bei dem dein Freund gestorben ist?“ Mutter hatte diesen eigentümlich mitfühlenden Unterton in der Stimme, der stets etwas Anklagendes in sich trug. Was Lydia in diesem konkreten Fall falsch gemacht haben konnte, wusste sie nicht. Eine entsprechende Frage würde ohnehin unbeantwortet bleiben, daher versuchte Lydia, sich auf die Worte zu konzentrieren nicht auf das, was möglicherweise dahinterstecken konnte.
„Ziemlich genau sechs Monate.“
Mutter hatte sich nie zu Lydias Beziehungen geäußert. Aber der Kontakt zu ihren Eltern war erst wieder dagewesen, nachdem Mutter geglaubt hatte, dass sie und Thomas ein Paar waren. Lydia konnte sich noch gut an einen Gesprächsfetzen erinnern, den sie in der Küche aufgeschnappt hatte und in dem Mutter ihrer Schwester gegenüber in der Art von sie hat wieder den rechten Weg gefunden gesagt hatte. Natürlich war sie damals wütend gewesen, natürlich hatte sie alles aufklären wollen, aber Thomas in seiner klugen, besonnenen Art hatte ihr geraten, erst einmal zu schweigen. Und er hatte bei den wenigen Treffen die Rolle des Lebensgefährten perfekt gespielt. Vermutlich auch deshalb, weil es für ihn kein Spiel gewesen war.
Lydia spürte wieder einmal, wie sehr sie Thomas vermisste. Es war nicht die Trauer einer liebenden Frau, eher die einer Schwester, die bei einem tragischen Autounfall ihren Bruder verloren hatte. Obwohl sie seine Zuneigung nie so hatte erwidern können, wie er es sich gewünscht hatte, hatte sein Tod eine schmerzliche Lücke in ihr Leben gerissen. Und erst jetzt, ein halbes Jahr nach seinem Tod verstand Lydia, dass sie Thomas noch immer benutzte, so wie sie es getan hatte, um die Auseinandersetzung mit ihren Eltern zu vermeiden.
Eine innere Stimme sagte ihr, dass ihre Eltern die Lügen um sie und Thomas doch irgendwie durchschaut hatten, aber nie im Leben würde sie Mutter danach fragen.
Sie hatte nicht einmal darum gebeten, aus den Verträgen entlassen zu werden. Doch als die Firmen, mit denen Thomas Verträge geschlossen hatte, von seinem Tod erfuhren, entließen sie Lydia aus den Verpflichtungen, die ihre Unterschrift begründet hatte. Nur einmal noch hatte sie einen der Unternehmer getroffen, er hatte ihr nicht mal die Hand gedrückt, wirkte ein wenig so, als hätte er Angst, sich indirekt über Lydia mit dem Tod zu infizieren, so albern dieser Gedanke auch sein mochte.
„Wie geht es dir denn? Fühlst du dich inzwischen besser?“
Lydia brauchte einen Moment, um sich eine angemessene Antwort zu überlegen. Was sollte sie sagen? Dass sie noch immer keine Ahnung hatte, wie es weitergehen würde? Dass sie nicht die geringste Lust verspürte, ihr Architektur-Studium wiederaufzunehmen, weil es ohnehin nur ein Lückenbüßer gewesen war bis zu dem Moment, als sie Thomas angesprochen, ihr seine Karte gegeben und von irgendwelchen Model-Jobs geredet hatte? Und es war nicht mal eine plumpe Art gewesen, mit der er ihre Bekanntschaft hatte suchen wollen - zumindest nicht ausschließlich.
„Du arbeitest aber nicht mehr für diese Fotografen, oder? Ich meine, jetzt, wo Thomas dich nicht mehr begleiten ... “
Da sie zu lange mit der Antwort gezögert hatte, hatte Mutter den Gesprächsfaden einfach weitergesponnen.
„Nein, ich ... ich habe mein Studium wieder im Blick“, sagte Lydia und fand die Formulierung reichlich schräg. Doch ihrer Mutter schien sie auszureichen, passte sie doch in ihr Weltbild.
„Das ist gut, Kind, du wirst schließlich nicht jünger.“
Nein, dachte Lydia, das werde ich sicher nicht.
„Und wann bist du fertig?“
„Ach, ich denke, es wird nicht mehr lange dauern - vielleicht noch ein Jahr!“ Die Idee mit dem Jahr war Lydia ganz spontan gekommen, warum, wusste sie selbst nicht. Aber Mutter schien der Gedanke an diese runde, griffige Jahreszahl ebenfalls zu gefallen. Lydia war, auch wenn es tragisch geendet hatte, zurück auf den rechten Weg gekommen, dazu würde sie in einem Jahr einen Berufsabschluss bekommen und mit ein wenig Glück einen anderen Thomas finden. Alles war also auf dem richtigen Platz in Mutters kleiner Welt. Konnte sie wirklich derart naiv sein?
„Du denkst an Vaters Sechzigsten?“
Lydia, die es sich gerade in ihrer Lüge bequem gemacht hatte wie in einer gespannten Hängematte im Sommer, fuhr unmerklich zusammen. Endlich erklärte sich der Grund von Mutters Anruf. Sie hatte sich vergewissern wollen, ob Lydia es wert war, dass man sie einlud. Nun, da offenbar alles im grünen Bereich zu sein schien, würde sie in zwei Wochen den weiten Weg in das Dorf ihrer Heimat antreten können. Können? Wohl eher müssen! Wo war in den verzweigten Hirnwindungen eine passende Ausrede, wenn man sie am dringendsten brauchte?
„Du, ich habe in nächster Zeit zwei Klausuren, die ... “
Aber Mutter fiel ihr sofort ins Wort, die Ausrede war der buchstäbliche Windhauch im Auge des Sturms. Wie schön wäre es, wenn die Familie wieder beisammen wäre! Wenn man sich endlich einmal wieder in die Arme schließen könnte? Der folgende Wortschwall wurde von den Phrasen Familie und Glück überstrahlt, helle Sterne in der Dunkelheit am Firmament des Lebens.
Lydia blieb lediglich die Rolle der Zuhörerin, die in regelmäßigen Abständen zustimmend den Kopf bewegen musste. Erst nach einer ganzen Weile fiel ihr auf, dass sie mit ihrer Mutter lediglich telefonierte, ohne ein Bild zu haben. Insofern war ihr Nicken völlig sinnlos, Mutter konnte es nicht sehen. Aber das schien sie nicht zu stören, solange sie ihre Botschaften nach draußen senden konnte.
Erst als sie eine gute halbe Stunde später das Gespräch beendete, begriff Lydia, dass sie soeben ihr Erscheinen auf der Geburtstagsfeier für ihren Vater zugesagt hatte. Ärgerlich wanderte sie in dem Zimmer ihrer kleinen Einraum-Wohnung auf und ab. Vor Wut über sich selbst wäre sie am liebsten buchstäblich aus der Haut geplatzt. In ihrem Kopf konnte sie die ruhige Stimme von Thomas hören, der mit einem freundlichen Lächeln erklärte, dass es immerhin ihre Eltern waren, die sie schon ewig nicht gesehen hatte. Und sie sah sich selbst, wie sie wütend die Arme in die Luft warf und schnaufend erklärte, dass sie auf keinen Fall fahren würde. Und Thomas würde ihr zustimmen, würde immer wieder freundlich nicken, volles Verständnis zeigen und ihr anschließend erklären, was sie alles in die Reisetasche packen musste.
„Ist ja schon gut“, flüsterte sie in Richtung der Wand, an der ein reichlich billiger und schlechter Kunstdruck aus einem Kaufhaus hing. „Ich werde fahren und das Beste aus dem Wochenende machen. Vielleicht spiele ich die trauernde Witwe, dann lassen sie mich in Ruhe oder stopfen mich mit Essen voll.“ Und in Anbetracht ihres leeren eigenen Kühlschranks war das vielleicht nicht die schlechteste Variante, die ihr blühen konnte.
„Klar übernehme ich deine Schicht, kein Problem“, sagte Anna und wischte mit einem feuchten Lappen das Tablett ab. Dann streckte sie den Rücken durch und blickte müde durch den Raum. Es waren nur noch wenige Gäste in der Kneipe. Sie war eine fröhliche, kleine Frau mit einer karierten Bluse und einer engen Jeans, die ihren ausladenden, kugelrunden Hintern stützte.
„Dann hast du nichts vor?“ Nach dem Tod von Thomas und der Absage aller Aufträge hatte sich Lydia schnell entschlossen, den Job in der Kneipe als Bedienung anzunehmen. Die Miete bezahlte sich nicht von selbst, von ihren Eltern hätte sie nie im Leben Geld genommen und sie konnte kaum den ganzen Tag auf der Couch liegen und die Wand anstarren. So hatte sie ein wenn auch bescheidenes Auskommen. Außerdem waren die beiden Betreiberinnen der Kneipe und die anderen Frauen, die hier arbeiteten, freundlich und ein wenig verrückt. Das ließ Lydia den ein oder anderen dämlichen Gast vergessen.
Die Arbeit war trotzdem hart, nach jeder Schicht meldete sich Lydias Rücken. Auch ihre Füße standen häufig kurz davor, ihr den Dienst zu versagen. Sie lehnte sich an den Tresen und nahm einen Schluck Leitungswasser. Ihr Magen war leer und protestierte, er schien auf nahrhaftere Kost gehofft zu haben.
Die letzten Gäste winkten Anna zum Zahlen. Dann erhoben sie sich und winkten zum Abschied noch einmal. Anna holte den Schlüssel unter ihrer Schürze hervor und schloss hinter ihnen ab. „Feierabend!“
Sie räumte die letzten Gläser ab und wischte über den kleinen, runden Holztisch. Danach stellte sie die Stühle hoch. Lydia drückte sich von der Theke los und half ihr. Erst am letzten Tisch blieb Anna eine Sekunde unschlüssig stehen. „Na, noch einen Happen?“ fragte sie mit einem Zwinkern.
Es war ein Ritual, dass sie fragte. Nach Feierabend hatten die Betreiberinnen der Kneipe nichts dagegen, wenn sich die Frauen, die bis zum Schluss die Stellung gehalten hatten, noch einen Feierabend-Schluck und ein Sandwich genehmigten. Dafür hatten sie bis zum frühen Morgen ausgehalten. Trotz der späten Stunde fühlte Lydia keine Müdigkeit, hätte sich vermutlich zu Hause nicht einmal sofort ins Bett gelegt. Abgesehen davon war ihr Magen so leer wie ihr Kühlschrank.
„Gerne“, sagte sie und ging zurück hinter den Tresen, um alles für einen Absacker zu besorgen und auf ihr Tablett zu laden. Anschließend ging sie zum Kühlschrank und belegte sich eines der letzten Brötchen, die ansonsten in den Müll gewandert wären, mit einigen Scheiben Käse, ebenfalls schon leicht gebogen. Im Laufe der Zeit hatte sie ein gutes Auge dafür entwickelt, was man sich nehmen durfte, ohne unverschämt zu sein, mit dem man jedoch auch gleichzeitig seinen Hunger konnte. Auch Anna kam und bediente sich schweigend.
„Du siehst blass aus“, stellte ihre Kollegin fest, während sie ihren eigenen Teller balancierte, sich an den Tisch setzte und dabei mit dem Fuß den Stuhl unter ihr Hinterteil zog. Es gab ein scharrendes, unangenehmes Kratzen in der Stille des Raumes.
Lydia ließ sich mit der Antwort Zeit. „Ach, ist halt eine anstrengende Zeit“, meinte sie schließlich ausweichend und biss in ihr Brot. Sie warf einen Blick auf die Uhr hinter der Theke. „Und schließlich ist es halb drei, wer ist da noch frisch?“ Sie lächelte schief und spürte, wie sich in ihrem Magen die angenehme Wärme von Essen breitmachte.
Aber Anna schien ihre Antwort nicht zufriedenzustellen. Die dunklen Augen in dem rundlichen Gesicht fixierten sie unverwandt. Außerdem sagte sie kein Wort, nur das unablässige Ticken der Uhr drang durch die Stille. Wenigstens, so dachte Lydia, muss ich die dumpfe Musik im Hintergrund nicht mehr ertragen. Allerdings zerrte auch das Schweigen ihrer Kollegin an ihren Nerven.
„Mein Vater hat seinen Sechzigsten am nächsten Wochenende. Das ist auch der Grund, warum ich freimachen will. Ich habe im Grunde keinen Bock, die liebe Verwandtschaft ertragen zu müssen.“ Sie schob ein betont klägliches Seufzen hinterher und lehnte sich ein wenig zurück. Anna, die normalerweise immer lässig und fröhlich wirkte, stets einen albernen Spruch auf den Lippen trug, sah sie ungewohnt ernst an und zog die Lippen für einen Moment nach innen.
„Und sie haben keine Ahnung, dass du eine Schwester bist, oder?“ fragte sie mit einer verstörenden Beiläufigkeit. Sie griff nach ihrem Brot und biss herzhaft hinein, ohne den Blick von Lydia zu nehmen. Lydia klappte die Kinnlade herunter, für einen Moment war sie im wahrsten Sinne des Wortes sprachlos. Sie ließ ihr Essen sinken, starrte Anna an und merkte, wie ihr die Hitze in den Kopf stieg, ohne dass sie es unterdrücken konnte.
„Ich ... nein, ich ... also, wie kommst du darauf?“
Anna lachte leise. „Keine Angst, ich habe es niemanden erzählt, es geht keinen was an. Außerdem“, sie grinste breit und griff nach ihrem Glas, „könnte so eine Geschichte die Trinkgelder schmälern, wenn sie die Runde hier dreht.“
Lydia versuchte noch immer, in den Windungen ihres Gehirns eine Erklärung, eine Lüge, eine Ausrede zu finden. Aber auch dieses Mal herrschte in den Gängen ihres Denkapparates gähnende Leere. Also wischte sie sich die Finger an einer Serviette ab und verschränkte anschließend die Arme vor der Brust. „Und wenn es so ist?“
Anna zuckte mit den Achseln. „Dann solltest du dazu stehen - also nicht hier in dem Laden. Du bist im Service unser Aushängeschild. Ich kenne einige Typen, die nur wegen dir kommen. Du glaubst gar nicht, wie viele mich schon nach deinem Namen und deiner Nummer gefragt haben.“
Für einen Moment glaubte Lydia, dass ihre Kollegin sie schlicht auf den Arm nehmen wollte. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie die männlichen Gäste eigentlich nie sonderlich beachtet hatte. Natürlich hatten Typen versucht, sie anzusprechen, sie einzuladen, aber sie war anscheinend so abweisend gewesen, dass es nie jemand ein zweites Mal versucht hatte, zumindest nicht offen, wie sie jetzt verstand. „Ach komm“, sagte sie nur etwas ratlos. Da mich Männer nicht interessieren, interessiere ich sie auch nicht, das war, von Ausnahmen wie bei Thomas abgesehen, ein Lebensmotto von ihr geworden.
„Genau, daran habe ich ja auch erkannt, wie du tickst“, sagte Anna mit einem leisen Lachen. „Jeder hat hier so seine Rolle. Ich bin die Dicke, die immer gute Laune zu haben hat, die die Typen als eine Art Kumpel sehen, den man niemals daten würde. Du bist die unnahbare Schönheit, die sich mit kühlem Blick und perfekten Hintern durch die Tische schlängelt.“
Lydia lachte auf, so hatte sie sich noch nie gesehen. „Die unnahbare Schönheit? Aber irgendwie ist das ja auch ein Kompliment.“ Für einen Moment war sie versucht nach ihrem Hintern zu fragen, ließ es jedoch lieber bleiben. „Und was ist mit dir?“ Sie fragte betont vorsichtig, um nicht irgendwelche Hoffnungen zu wecken.
„Ich? Nein, ich stehe nicht auf Frauen, obwohl ich es mal versucht habe. Wäre vielleicht mal eine Alternative zu den Arschlöchern, die ich sonst date.“ Sie griff wieder nach ihrem Brot und biss herzhaft zu.
Lydia musste gestehen, dass sie keine Ahnung hatte, mit wem sich Anna traf, wie sie überhaupt lebte. Sie studierte irgendwas, war vermutlich so Anfang Zwanzig und eine wahre Stimmungskanone. Und damit erschöpfte sich Lydias Wissen über sie. Umgekehrt schien das durchaus anders zu sein. Bin ich wirklich so oberflächlich und in meiner eigenen Welt gefangen, ging es Lydia durch den Kopf.
„Hast du einen Freund?“ fragte sie Anna, wobei ihr gleich darauf klar wurde, dass die Frage ziemlich sinnlos war.
„Nein“, kam auch die prompte Antwort. Und ein Blick in die Augen der jungen Frau machte deutlich, dass sie es sich von Herzen anders wünschte. Anna erzählte von einem Mann, der sie offenbar schon nach wenigen Tagen betrogen und ausgenutzt hatte, ihr auch Geld schuldete. Es war eine düstere Geschichte, irgendwie passend zu der Uhrzeit und der leeren Kneipe
„Was ist mit dir?“ fragte Anna irgendwann. Anscheinend schmerzten sie die Erinnerungen an die jüngste Vergangenheit zu sehr, so dass sie mit ihrer Erzählung abbrach.
Lydia zuckte mit den Schultern. „Ich hatte noch nicht mal eine feste Beziehung“, sagte sie und wurde sich in diesem Moment bewusst, was sie da erklärte. Sofort wurden ihr die Worte unangenehm. „Das Leben ... ich meine, ich hatte viel um die Ohren, es hat sich einfach nicht ergeben ... “ Aber je mehr sie sprach, umso mehr verknotete sie sich in ihren eigenen Sätzen.
„Und jetzt musst du deiner Familie erklären, warum du noch Single bist und nicht mit einer Horde Kinder anrückst?“ lenkte Anna ihre Gedanken in eine andere Richtung.
„So ungefähr ... allerdings halten sie mich für eine trauernde Quasi-Witwe. Ich habe gemodelt, mein Manager hatte vor einem halben Jahr einen tödlichen Unfall. Meine Mutter hat ihn mal kennengelernt und irgendwie die Idee bekommen, dass er mein Freund wäre. Und da Thomas mich vor dummen Fragen schützen wollte, hat er das Spiel mitgemacht.“
„Außerdem war er bestimmt ein wenig verknallt in dich, oder?“
Lydia, die inzwischen ihr Brot verspeist hatte, sah sie entgeistert an. „Wie kommst du darauf?“ fragte sie und merkte, wie sie die trockene und zutreffende Feststellung von Anna irritierte.
„Weil alle Welt in dich verknallt ist, hast du das denn noch nicht begriffen?“
Warum ist es so schwer mit diesem Leben, dachte Lydia und zog mit einem energischen Ruck den Reißverschluss ihrer vollgestopften Tasche zu. Zu ihrer Überraschung hatte sie dabei keine Mühe. Prüfend hob sie die Tasche an und warf sie sich über die Schulter. Sie roch angenehm herb nach Leder, war ein Geschenk von Thomas gewesen, ein oder zwei Wochen vor seinem Unfall. Sie hatte sie kaum benutzt, jetzt fand sie, dass der passende Zeitpunkt gekommen war. Es war ein merkwürdiger, weltfremder Gedanke, doch sie hatte auf diese Weise das Gefühl, als würde er sie auf diese Art noch einmal begleiten
Mit einem tiefen Schnaufen ließ sie die Tasche zurück auf das Bett fallen, setzte sich daneben und stützte sich auf das weiche Leder. Schade, dass sie sich nie in ihn hatte verlieben können, er wäre als Partner ideal gewesen. Aber konnte man sich aussuchen, wen man liebte? Und bisher hatten sie Männer einfach nicht angesprochen, sie wusste selbst nicht, warum das so war. Irgendwo hatte sie mal gelesen, dass Frauen, die Frauen liebten, von Männern enttäuscht worden waren. Niemand hatte sie je enttäuscht, dafür hätte sie ja eine Erwartung an einen Mann haben müssen. Aber die hatte sich bei ihr nie eingestellt. Bei Saskia damals war das völlig anders gewesen. Ein Blick auf ihre schlanken Hände, die endlosen Beine, diese herrlich kleinen, festen Brüste hatte völlig gereicht.
Heutzutage gab es Gesetze gegen Diskriminierung, Homosexuelle traten im Fernsehen auf, heirateten, bekamen oder adoptierten Kinder. Aber das geschah immer woanders, war weit weg. Weshalb hörte die Toleranz im persönlichen Umfeld mit einem Schlag auf? Wieso benahm sich Lydia selbst so verklemmt? Die Fragen rauschten wie U-Bahnen durch ihren Schädel.
Ich liebe Frauen, was ist daran so ungewöhnlich? Aber diesen Satz auch nur in ihrem Kopf zu formulieren, das hatte sie Jahre gekostet. Von außen sah es so leicht aus. Lydia konnte sich an die Geschichte erinnern, als zwei Künstler in der Kreisstadt eine der alten Häuser am Weiher erwarben und begannen, dort ihre Gemälde auszustellen. Bunte Vögel hatte Vater sie mit einem Lächeln genannt. Jeder im Dorf war früher oder später bei ihnen vorbeigegangen, hatte sich freundlich umgeschaut, manche hatten sogar die eine oder andere Kleinigkeit gekauft. Und als das Regionalfernsehen einen Bericht über die beiden brachte, da waren sie mit ihren farbenfrohen Brillen und Westen im Dorf anerkannt und wurden sogar, eine hohe Auszeichnung für Neuankömmlinge, zu der jährlichen Karnevalssitzung eingeladen.
Lydia hatte aus irgendeinem Grunde Hoffnung geschöpft. War sie nicht auch ein wenig wie die beiden Männer? Sie hatte einige Male ihre Nähe gesucht, sogar begonnen, als das schüchterne Mädchen, das sie gewesen war, ein Gespräch anzufangen.