Das Berghotel 304 - Verena Kufsteiner - E-Book

Das Berghotel 304 E-Book

Verena Kufsteiner

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Beschreibung

Sechzehn Jahre ist es her, dass die damals zwanzigjährige Melanie Hartlieb St. Christoph mit den Worten verlassen hat: "Ich heuere auf einem Kreuzfahrtschiff als Kellnerin an, suche mir einen alten Knacker und komme als reiche Witwe wieder zurück." Das junge Madl sah einfach keine Zukunft bei seiner engstirnigen Familie, die nur im Kopf hatte, ihren Hof und den Besitz durch günstige Heiraten der Töchter zu mehren. Nein, Melanie wollte die Welt sehen, auch wenn all ihre Freunde doch in der Heimat blieben.
Jetzt macht in St. Christoph eine Nachricht die Runde, die alle nach Luft schnappen lässt: Melanie kommt heim, denn sie will heiraten - einen Mann, der doppelt so alt ist wie sie und tatsächlich schwerreich. Engel oder Erbschleicherin, eine große Liebe auf den ersten Blick oder nur vorgetäuschte Gefühle?


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Inhalt

Cover

Engel oder Erbschleicherin?

Vorschau

Impressum

Engel oder Erbschleicherin?

Melanies Aufrichtigkeit wird in St. Christoph auf die Probe gestellt

Von Verena Kufsteiner

Sechzehn Jahre ist es her, dass die damals zwanzigjährige Melanie Hartlieb St. Christoph mit den Worten verlassen hat: »Ich heuere auf einem Kreuzfahrtschiff als Kellnerin an, suche mir einen alten Knacker und komme als reiche Witwe wieder zurück.« Das junge Madl sah einfach keine Zukunft bei seiner engstirnigen Familie, die nur im Kopf hatte, ihren Hof und den Besitz durch günstige Heiraten der Töchter zu mehren. Nein, Melanie wollte die Welt sehen, auch wenn all ihre Freunde in der Heimat blieben.

Jetzt macht in St. Christoph eine Nsachricht die Runde, die alle nach Luft schnappen lässt: Melanie kommt heim, denn sie will heiraten – einen Mann, der doppelt so alt ist wie sie und tatsächlich schwerreich. Engel oder Erbschleicherin, eine große Liebe auf den ersten Blick oder nur vorgetäuschte Gefühle?

»Alles Gute zum 20. Geburtstag, Melli!« stand in goldenen Buchstaben über der Tür des aufgelassenen Heustadels. Drinnen hackte eine Lichtorgel im Takt zur Musik neonfarbige Schatten über die Köpfe der Tanzenden: Grün – Pink – Gelb – Türkis. Das verlieh den Gesichtern abwechselnd einen gruseligen, einen außerirdischen oder auch einen kränklichen Ausdruck. Den jungen Leuten, die ausgelassen feierten, schien dies gut zu gefallen.

»Großartig, wie ihr das hingekriegt habt!«, freute sich das Geburtstagskind Melanie Hartlieb und schaute sich bewundernd um.

Ihre Freundinnen hatten sich wirklich große Mühe gegeben, den leer stehenden Heustadel in eine Disco zu verwandeln. Es war wie früher, als sich die Clique der Halbwüchsigen nach der Schule an diesem »geheimen« Ort getroffen hatte, um über ihre Eltern und Lehrer zu lästern und Zukunftspläne zu schmieden.

Inzwischen waren sie alle keine Teenager mehr – manche von ihnen standen schon mitten im Berufsleben, andere studierten noch, zwei waren verheiratet, und Melanies beste Freundin Geli erwartete in drei Monaten sogar schon ihr erstes Kind. Aber allen war klar gewesen, dass es zur Feier des zwanzigsten Geburtstags von Melanie Hartlieb genau eine Party wie früher brauchte.

Melanie sah immer noch aus wie ein Teenager, und sie hatte auch in ihrem Wesen nichts von ihrer Wildheit verloren. Als Fünfzehnjährige war Melli einmal zu Fuß von Mayrhofen nach Hause gewandert, weil sie nach einer Party den letzten Bus verpasst hatte. Es hatte vier Stunden gedauert, die steile, eng gewundene Bergstraße nach St. Christoph hinaufzustapfen – und das mit hochhackigen Schuhen! Anderntags hatte das Mädel trotzdem wie immer um sieben Uhr morgens an der Bushaltestelle gestanden, um wieder ins Tal zu fahren, wo es weitere sechs Stunden im Klassenzimmer gesessen und eine Mathematikarbeit geschrieben hatte, ohne mit der Wimper zu zucken.

»Wer feiern kann, kann auch arbeiten«, hatte sie lachend gesagt. »Außerdem würde mir der Vater den Kopf abreißen, wenn er wüsste, dass ich unter der Woche auf einer Party war.«

Andere Teenager hätten sich dem strengen Vater gefügt – Melanie hingegen war immer viel zu lebenslustig gewesen, um sich einschränken zu lassen. Lieber hatte sie die eine oder andere Strafe in Kauf genommen, wenn ihre Eskapaden aufflogen.

Dank des alten Heustadels auf dem Grundstück von Gelis Elternhaus hatten die jugendlichen Freunde damals zum Feiern meist in ihrem Heimatort St. Christoph bleiben können. Und so hatten sich mit der Zeit Flaschenöffner und Kerzen, Decken und Girlanden angesammelt und waren mit den Jahren, als die Freundesgruppe erwachsen geworden war, allmählich verstaubt. Melanies zwanzigster Geburtstag war nun der Anlass, alles wieder hervorzuräumen und noch einmal die Musik hochzudrehen.

Ein mobiler Stromgenerator sorgte für Licht und Musik, in mit Eis gefüllten Kübeln standen zahlreiche Bierflaschen bereit. Soeben wurde eine große Torte hereingetragen, auf der zwanzig Kerzen brannten, und das war das Signal für ein gemeinschaftlich gegröltes »Happy Birthday«.

Melli beugte sich über die Kerzen und blies sie in einem Schwung aus. Dann klatschte sie in die Hände und hüpfte im Takt zur Musik so wild herum, dass die zu Zöpfen geflochtenen dunklen Haare ihre Wangen peitschten. Mit ihren Jeans und dem lustigen knallroten T-Shirt sah Melanie aus, als wäre sie gerade erst sechzehn geworden.

Die anderen lachten fröhlich.

»Melli, du verrücktes Huhn«, neckte Geli die Freundin und stupste sie in die Seite. »Sieh doch nur, wie dich der Stanzinger-Manfred schon wieder anschaut!« – Wie immer, fügte Geli im Stillen hinzu.

Dass der Manfred Stanzinger ein Auge auf Melanie geworfen hatte, war nichts Neues. Schon in der Schule hatte der zukünftige Besitzer der Engel-Apotheke rote Wangen gekriegt, sobald er mit Melanie alleine gewesen war.

Melanie warf einen kurzen Blick zu dem jungen Mann, der in einer Ecke des Stadels lehnte und sie mit interessierten Blicken maß. Sie zuckte achtlos mit den Schultern.

»Ach, der Manfred«, erwiderte sie gutmütig. »Ich mag ihn ja wirklich gern – aber nur als Freund.«

»Überleg dir das, Melli«, setzte Geli nach. »Die Chance würde ich mir nicht entgehen lassen. Ein künftiger Apotheker, das ist schon eine gute Partie!«

Dabei zwinkerte sie nervös.

Alle wussten, dass Geli bis vor Kurzem selbst hoffnungslos in den Apothekersohn verliebt gewesen war – leider waren diese Gefühle genauso einseitig gewesen wie Manfreds Liebe zu Melanie. Geli hatte sich schließlich damit abgefunden und in ihrem Thomas einen lieben Partner gefunden. Freilich hätte sie sich insgeheim ein bisschen mehr Zeit zu zweit gewünscht, aber dann war sie halt schwanger geworden und hatte kurz darauf mit Thomas auch schon vor dem Altar gestanden.

»Du kannst froh sein, dass der Mann zu dir und dem Kind steht«, hatte die Mutter gemahnt und Geli zur Heirat gedrängt.

Somit hatte sich Geli den Stanzinger-Manfred endgültig aus dem Kopf schlagen müssen. Jetzt legte sie ihre Hand auf den schwellenden Bauch.

»Ich habe es wirklich gut getroffen«, sagte sie laut, wie um sich selbst Mut zuzusprechen. »Ich freue mich unbändig auf das Kind!«

Melanie betrachtete die Freundin nachdenklich. Sie zweifelte nicht daran, dass Geli ihr Kind über alles liebte – und auch ihrem Mann Thomas war sie sehr zugetan. Dennoch gab es sicherlich Momente, wo Geli gern mit ihr getauscht hätte. Aber so war es immer schon gewesen: Die beiden Freundinnen waren nun einmal sehr unterschiedlich. Geli hatte immer nach der großen Liebe gesucht und sich nach einem heimeligen Zuhause gesehnt.

Melanie hatte sich hingegen nie auf eine längere Beziehung eingelassen.

»Ich will mir erst das Leben anschauen und alles ausprobieren, was mir in den Sinn kommt«, hatte sie schon als Schulmädel erklärt.

Und so hatte sich die eine Freundin ein Nest geschaffen, und die andere war ein freier Vogel geblieben – und manchmal beneidete eine die andere um ihr Glück.

Genauso war es jetzt, als Geli ihren Bauch streichelte. Melanie empfand für einen Augenblick eine tiefe Sehnsucht nach einem geborgenen Zuhause, in dem sie mit einem treuen Partner eine kleine Familie gründen könnte. Aber dann straffte sie schnell ihre Schultern, und es war, als würde sie mit dieser Bewegung all ihre Unsicherheiten abstreifen.

»Lasst uns tanzen!«, rief sie und hüpfte wieder los.

Etwas später saßen die Freunde vor dem Stadel auf ein paar schnell ausgebreiteten Decken. Sie tranken Bier und Limonade und schauten in den Sternenhimmel.

»Jetzt erzähle uns endlich von deinen Plänen, Melli!«, bat die zierliche Marion, die gerade dabei war, in Innsbruck ihre Ausbildung zur Erzieherin zu beenden. »Du wirst ja nicht ewig Kellnerin bleiben wollen, oder?«

»Warum nicht?«, fragte Melanie etwas schnippischer als beabsichtigt. »Da verdiene ich wenigstens mein eigenes Geld! Außerdem habe ich in Gretl Waldinger eine wirklich nette Chefin.«

»Geld ist doch nicht alles«, warf Geli ein, die sich gerade mit ihrem Thomas beim Hausbau ein wenig verschuldet hatte.

»Für mich schon«, gab Melanie bestimmt zurück und warf trotzig den Kopf in den Nacken.

Alle schwiegen. Für einen Moment war die fröhliche Stimmung verflogen.

Melanie Hartlieb bedauerte es, dass die anderen sie jetzt für oberflächlich hielten. Die Wahrheit hätte allerdings kaum einer verstanden, denn ihre wahren Gefühle hatte sie immer für sich behalten.

Melanie war das fünfte Kind und die vierte Tochter eines recht wohlhabenden Milchbauern in Bergfelden, einem abgelegenen Weiler, der zu St. Christoph gehörte. Als Jüngste hatte sie nicht nur die abgelegten Kleider und Spielsachen ihrer Schwester bekommen – es war auch nicht mehr viel elterliche Liebe für sie übrig gewesen. Sie war als ungeplantes Nachzüglerkind in das Leben ihrer Eltern getreten, die Mutter war erschöpft gewesen und der Vater hatte sowieso kein Interesse an dem weiteren Mädchen gehabt. Für den Hartlieb-Bauern hatte immer nur der Sohn gezählt, der einmal den Hof weiterführen würde.

Bernhard hatte ihn auch nicht enttäuscht. Der Bursch' hatte schon als kleiner Junge tatkräftig mit angepackt und danach getrachtet, den Familienbesitz zu vergrößern. Mit Mitte zwanzig hatte Bernhard seine Babsi geheiratet und war kurz darauf Vater eines strammen Jungen geworden – zwei weitere Söhne waren in knappen Abständen gefolgt. Auch Melanies Schwestern hatten die elterlichen Erwartungen erfüllt und ihrerseits »gut« geheiratet – wenn auch nicht glücklich. Als letzte war Birgit vor den Altar getreten und hatte sich mit dem Besitzer einer gut gehenden Gärtnerei in Mayrhofen vermählt. Ihre kleine Tochter Fanny war inzwischen auch schon ein Jahr alt.

Melanie liebte ihre kleine Nichte über alles, aber ansonsten zweifelte sie am Glück ihrer Schwester. Birgits Gatte Fritz war nicht nur ein jähzorniger Mann, der oft einmal einen über den Durst trank – es war auch überall bekannt, dass er seine Frau ständig betrog.

»Halte den Mund und sei zufrieden«, hatte Franz Hartlieb nur gesagt, als Birgit ihren Eltern einmal das Herz ausgeschüttet hatte.

Und der Jungbauer Bernhard hatte nur verächtlich den Kopf geschüttelt und die Klagen seiner Schwester abgewimmelt.

»Lass deinem Mann doch den Spaß«, hatte er gesagt und zweideutig gegrinst. »Wir Männer brauchen halt gelegentlich ein wenig Abwechslung!«

Melanie, die damals neben ihrer Schwester am Tisch gesessen hatte, hatte an jenem Abend vor Zorn gebebt. Ganz fest hatte sie Birgits Hand gedrückt.

Später, als sie allein mit ihr gewesen war, hatte sie gesagt: »Lass dich scheiden, Birgit. Ich helfe dir. Du wolltest doch immer einen kleinen Blumenladen eröffnen – nun bist du stattdessen eine billige Arbeitskraft im Betrieb deines Mannes. Was ist aus deinem Traum geworden?«

»Ach, Melli« hatte Birgit geseufzt. »Die Zeiten, mein Leben in die Hand zu nehmen, sind für mich vorbei. Ich habe ein Kind und darf nicht mehr an mich selbst denken. Nur noch Fannys Glück zählt.«

Genau das, stellte Melli nun fest, als sie in den nächtlichen Sternenhimmel von St. Christoph blickte, war der Grund, warum sie es anders machen wollte. Liebe war ja schön und gut, und es wäre toll, das einmal zu erleben: Herzklopfen, zitternde Knie und leuchtende Augen. Aber wenn das dann so endete wie bei Birgit, wollte sie lieber ganz darauf verzichten.

»Geld ist nicht alles«, führte sie nun das Gespräch von vorhin fort. »Aber es macht mich unabhängig.«

»Und was ist nun mit deinem Plan, den du vorhin angekündigt hast?«, wollte Marion wissen.

Melanie pflückte einen Strohhalm aus der Wiese, steckte ihn in den Mund und kaute eine Weile daran herum.

Dann erklärte sie: »Ich habe in der Konditorei gekündigt und werde schon nächste Woche nach Bremerhaven fahren, um dort auf einem Kreuzfahrtschiff anzuheuern. Da werde ich als Kellnerin arbeiten und kann mir nebenbei die Welt anschauen!«

Sie sah sich triumphierend um, konnte aber nur leise zustimmendes Gemurmel vernehmen. Die Gesichter waren im fahlen Nachtlicht verschwommen zu erkennen, aber es war offensichtlich, dass die Freunde von Melanies Worten nicht besonders angetan waren.

»Und deine Heimat?«, fragte der sonst so stille Max, der in Mayrhofen im Gemeindeamt arbeitete.

»Und deine Familie?«, fragte Rosa, die Kinderkrankenschwester geworden war und in Innsbruck in einer Klinik arbeitete.

»Und deine Zukunft?«, fragte Marion. »Du warst in der Schule immer eine der Besten. Du könntest noch eine gute Ausbildung machen. So viel ich weiß, hast du dich als Kellnerin ja auch nur anlernen lassen«, fügte sie missbilligend hinzu. »Wenn du wenigstens diesen Beruf ordentlich lernen würdest!«

»Und deine Freunde?«, fragte schließlich Manfred und sah Melanie aus verwundeten Augen an.

Geli schwieg überhaupt. Es kränkte sie zutiefst, dass ihre beste Freundin die Geburt ihres Kindes verpassen würde – und das aus freien Stücken.

Melanie spürte den Widerstand, der einen Stimmungswandel hervorgerufen hatte. Sie stand auf und zupfte vereinzelte Grashalme aus ihren Zöpfen.

»Ich bin eben nicht so wie ihr«, sagte sie leise. »Ich sehne mich nicht nach Geborgenheit, sondern nach Freiheit. Ich dachte, ihr würdet das verstehen. Aber ...«, und jetzt lachte sie grimmig, »... wer weiß? Vielleicht verliebe ich mich ja auf Kuba oder auf Jamaica und baue mir dann dort eine kuschelige Hütte und ziehe zehn Kinder groß? Oder aber – und das halte ich wirklich für einen guten Plan – ich schaue mich auf dem Kreuzfahrtschiff genauer unter den Passagieren um und suche mir einen alten Knacker. Und den heirate ich dann. Und eh ihr es euch verseht, komme ich als reiche Witwe wieder nach St. Christoph zurück.«

Sie lachte vergnügt bei dem Gedanken – aber keiner ihrer Freunde fiel in das Lachen ein.

***

Die Konditorei »Rosengarten« lag in einer kleinen, unscheinbaren Seitengasse nahe dem Hauptplatz von Mayrhofen. Aber auch, wenn flanierende Touristen weder das Gässchen noch das schmale Metallschild mit der Aufschrift »Kaffee und Kuchen« wahrnahmen, war das kleine Lokal an den Nachmittagen stets zum Bersten voll. Jeder wusste, dass die Chefin, Gretl Waldinger, ihre berühmten Schoko-Bananen-Schnitten selbst zubereitete. Dafür stand die rüstige ältere Dame jeden Morgen schon um fünf Uhr auf, denn ihr Spezialteig brauchte »viel Geduld und Ruhe«.

Die Schülerinnen und Schüler des nahe gelegenen Mariengymnasiums und der Sporthauptschule kamen vor dem Unterricht ebenso vorbei wie die Gemeindebediensteten im Rathaus in der Mittagspause. Die Einrichtung des kleinen Lokals war altmodisch und sehr gemütlich. Mochte die weinrote Polsterung der Sitzbänke auch schon ein wenig zerschlissen sein und mochte mancher der kleinen, kreisrunden Holztischchen wackeln, so störte das hier keinen. Da sah man halt über das herausquellende Füllmaterial der Sitzbank hinweg und unter das lose Tischbein schob man einen Bierdeckel – oder einen Schummelzettel, der bei der morgendlichen Schularbeit seinen Zweck erfüllt hatte und nun nutzlos geworden war.

So hatte die Besitzerin Gretl Waldinger vor vier Jahren ihre Hilfskraft Melanie gefunden: Das junge Dirndl hatte sich nach bestandenem Geografie-Test mit einer Tasse Kakao und einer Bananenschnitte belohnt und dabei den Tisch mit dem falschen Schummelzettel abgestützt. Am nächsten Morgen war das quirlige Mädel vor dem Unterricht schnell in die Konditorei gestürzt und hatte die Besitzerin atemlos bedrängt, ihr bei der Suche des betreffenden Zettelchens zu helfen. Gretl hatte sich vom Mut und der Unbekümmertheit der Sechzehnjährigen beeindruckt gezeigt und eifrig geholfen, das Altpapier zu durchstöbern. Als es der alten Dame tatsächlich gelungen war, den Schummelzettel hervorzuholen, hatte Melli sie stürmisch umarmt.

»Das vergesse ich Ihnen nie, Frau Waldinger!«, hatte sie ausgerufen. »Als Dankeschön werde ich Ihnen am nächsten Samstag beim Servieren helfen!«

»Ist schon gut, Mädel«, hatte die kinderlose Gretl Waldinger gerührt gesagt. »Jetzt geh aber schnell und schreib eine gute Note!«

»Mathematik!«, hatte Melli gesagt und das Gesicht verzogen. »Ich werde mein Bestes geben!«

Dabei hatte sie frech mit dem Schummelzettel gewunken, auf den in winziger Schrift eine ganze Reihe von mathematischen Formeln gekritzelt worden waren.