Das Berghotel 314 - Verena Kufsteiner - E-Book

Das Berghotel 314 E-Book

Verena Kufsteiner

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Beschreibung

Neugierig mustert Hedi Kastler bei ihrem Einkauf die junge Frau, die soeben den Dorfladen betreten hat und sich als neue Betreuerin der alten Luise Hofbacher vorstellt. Merkwürdig - Hedi hat noch gar nicht mitbekommen, dass jemand Neues zugezogen ist. Und das, wo der umtriebigen Hotelchefin doch sonst nichts entgeht. Aber sie hat Luise auch schon lange nicht mehr besucht. Und die junge Frau, offensichtlich fremd hier, sieht eigentlich auch so aus, als könne sie ein wenig Abwechslung gut vertragen.
Hedi wäre nicht Hedi, wenn sie nicht immer wollen würde, dass es ihren Mitmenschen gut geht. Und so entscheidet sie spontan, Luise und ihrer Betreuerin Maripol einen Besuch abzustatten. Das Schicksal der jungen Frau rührt sie, denn eigentlich war Maripol eine Primaballerina auf dem Höhepunkt ihrer Karriere - bis sie durch eine Jüngere ersetzt wurde und nun auf der Suche nach einem neuen Weg für ihre Zukunft ist. Ob dieser sie für immer nach St. Christoph führen wird?


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Inhalt

Cover

Ausgetanzt

Vorschau

Impressum

Ausgetanzt

Eine gescheiterte Ballerina sucht Zuflucht in den Bergen

Von Verena Kufsteiner

Neugierig mustert Hedi Kastler bei ihrem Einkauf die junge Frau, die soeben den Dorfladen betreten hat und sich als neue Betreuerin der alten Luise Hofbacher vorstellt. Merkwürdig – Hedi hat noch gar nicht mitbekommen, dass jemand Neues zugezogen ist. Und das, wo der umtriebigen Hotelchefin normalerweise nichts entgeht. Aber sie hat Luise auch schon lange nicht mehr besucht. Und die junge Frau, offensichtlich fremd hier, sieht eigentlich auch so aus, als könne sie ein wenig Abwechslung gut vertragen.

Hedi wäre nicht Hedi, wenn sie nicht immer wollen würde, dass es ihren Mitmenschen gut geht. Und so entscheidet sie spontan, Luise und ihrer Betreuerin Maripol einen Besuch abzustatten. Das Schicksal der jungen Frau rührt sie, denn eigentlich war Maripol eine Primaballerina auf dem Höhepunkt ihrer Karriere – bis sie durch eine Jüngere ersetzt wurde und nun auf der Suche nach einem neuen Weg für ihre Zukunft ist. Ob dieser sie für immer nach St. Christoph führen wird?

Noch ein Schluck. Bitter rann der Aperitif-Likör ihre Kehle hinunter. Wie konnten die Leute nur so begeistert sein von diesem Zeug? Ein Schauer schüttelte ihren Oberkörper, dann hob sie das Glas, setzte es an ihre Lippen und ließ die letzte orangefarbene Pfütze in ihren Mund laufen.

»Mach langsam, Süße! Du willst doch nicht gleich vom Stuhl fallen, oder?«

Das war Lou, ihre Stimme der Vernunft – eigentlich ihre Mitbewohnerin. Die Stimme der Vernunft war sonst immer sie gewesen – weshalb sie gewöhnlich keinen Alkohol trank. Und was hatte sie nun davon? Nichts! Jahre des Verzichts und der Disziplin. Niemals ausschlafen. Keine Partys. Jeden Abend um zweiundzwanzig Uhr ins Bett. Jeden Morgen um fünf Uhr aufstehen. Wozu? Damit sie mit fünfunddreißig Jahren als alte Frau eingestuft wurde, die keine Leistung mehr brachte. Gefeuert! Na, danke schön!

»Halt die Klappe, und gib mir noch einen!«, forderte sie und hielt Lou ihr leeres Glas hin.

Maripol Weingarten war seit zwei Stunden arbeitslos. Um genau zehn Uhr zwanzig war ihre Welt zertrümmert worden. Und nun saß sie vor den Brocken und wusste nicht mehr, wo welches Teil hingehörte.

»Nix da! Wenn du noch mehr in der Geschwindigkeit trinkst, musst du dich gleich übergeben. Und ich hab' keine Lust, dein Erbrochenes wegzuwischen. Sorry, Süße! So weit reicht meine Freundschaft dann doch nicht.«

Lou stand von ihrem Stuhl auf und nahm die Flasche Aperitif vom Tisch, deren Inhalt sie nun in das Spülbecken goss.

Maripol sah träge dabei zu, wie die Flüssigkeit aus dem dünnen Flaschenhals eilte. Ihr Kopf war leer, der Schmerz betäubt vom Alkohol. Somit hatte wenigstens etwas zum Erfolg geführt.

»Ich glaube, dafür ist es zu spät«, konnte sie noch sagen, bevor sie in Richtung des Badezimmers lief und gerade rechtzeitig die Kloschüssel erreichte, um wieder alle Gifte auszuspeien, die sie so sorgfältig ihrem Körper zugefügt hatte.

»Alles okay, Süße?«, rief Lou ihr aus der Küche hinterher.

In diesem Moment hätte Maripol ihre Mitbewohnerin erwürgen können. Schweißüberströmt kniete sie vor der Kloschüssel und hielt sich mit einer Hand fest. Wie hatte sie so tief sinken können? In gerade mal zwei Stunden. Heute Morgen war doch noch alles in Ordnung gewesen.

Es hatte mit einem Anruf begonnen. Alle schlimmen Dinge begannen mit einem Anruf. Ob sie morgen Vormittag Zeit hätte. Es gäbe da etwas zu besprechen, das das Ensemble betraf. Maripol tanzte seit fünfzehn Jahren in dem Ballettensemble, welches seinen festen Sitz in Berlin hatte. Während der Wintermonate war sie mit der Gruppe durch ganz Deutschland, Österreich und die Schweiz getourt. Manchmal hatten sie auch Auftritte in Paris und London gehabt. Ballett war Maripols Leben. Als Erste Ballerina war sie außerdem der Star jedes Auftritts gewesen. Bis zu diesem Anruf.

Als sie dann heute Morgen wie vereinbart zum Treffpunkt erschienen war, ein kleines Café, an dessen Namen sie sich nicht erinnern wollte, hatte sie auch noch zwanzig Minuten auf Markus, den Regisseur des Ensembles, warten müssen. Markus hatte die Angewohnheit, stets zu spät zu erscheinen. Er wollte damit den Eindruck vermitteln, ein wichtiger Mann zu sein. Dass er damit all seine Mitmenschen in den Wahnsinn trieb und jegliche Antipathie erzeugte, interessierte ihn ebenso wenig wie der Umstand, dass er anderen Leuten kostbare Zeit stahl.

Als er schließlich das kleine Café betreten hatte, hatte auf seinem Gesicht der übliche wichtigtuerische Ausdruck gelegen, den er immer aufsetzte, sofern er im Rampenlicht stand. Und im Rampenlicht stand er oft. Denn Markus beherrschte die Kunst, sein gesamtes Leben so zu inszenieren, als wäre es ein großes Bühnenstück und er darin der Hauptakteur, den alle Menschen gefälligst zu bewundern hatten.

Sein dünner Schnurrbart, den er im Stil von Fred Astaire trug, hatte gezuckt, als er Maripol begrüßt hatte.

»Guten Morgen, meine Schönheit«, hatte er sie genannt. Maripol hatte schon lange aufgehört, sich darüber zu ärgern, dass er sie als »seine« betrachtete. Daher hatte sie auch an diesem Morgen über seine gesäuselten Worte hinweggesehen. »Ich hoffe, du hast gut geschlafen. Du siehst fantastisch aus. Aber das tust du ja immer.«

Nachdem er einen Espresso bestellt hatte, hatte er sie mit einem ernsten Ausdruck im Gesicht angesehen.

»Also, warum hast du mich herbestellt?«, hatte Maripol wissen wollen, der das Schauspiel langsam zu viel geworden war.

»Wir haben sie«, hatte er erwidert. Da sie nicht verstanden hatte, hatte er sich zurückgelehnt, sie gemustert und mit einem süffisanten Grinsen wiederholt: »Wir haben sie! Francine Gérard hat sich für uns entschieden. Francine Gérard. Kannst du es fassen? Also ich nicht.«

Sein kleiner Finger hatte abgestanden, als er aus der winzigen Tasse in seiner Hand genippt hatte.

Ungläubig hatte Maripol ihren Vorgesetzten angesehen.

»Und was bedeutet das nun?«, hatte sie nachgehakt.

Dabei hatte sie ebenfalls einen Schluck Kaffee getrunken und sorgfältig darauf geachtet, dass ihr kleiner Finger nicht abstand.

»Aber Maripol, mein Engel! Was das bedeutet? Wir haben eine Primaballerina, die das ganze Ensemble in neue, nie gekannte Höhen treiben wird. Überleg doch mal! Francine Gérard! Allein der Name. Die Menschen werden uns die Eintrittskarten aus der Hand reißen! Ich hab' direkt mit Rom telefoniert und mehrere Gastauftritte im Teatro Constanzi vereinbart. Im Sommer. Überleg doch mal! Im Sommer! Wir werden die Stars der Saison sein!«

Während Markus gesprochen hatte, hatte Maripol immerzu auf den Schnurrbart schauen müssen, der mit jedem Wort über der Oberlippe getanzt hatte. Erst nach und nach war der Sinn seines Gesagten zu ihr durchgedrungen.

»Warte mal, Markus, wenn du sagst, dass du mit Francine Irgendwas ...«

»Gérard«, hatte er sie korrigiert.

»... mit Francine Gérard eine neue Primaballerina hast, meinst du damit, dass wir beide dann ein Duo werden sollten?«

Maripol war seit sage und schreibe fünfzehn Jahren die Primaballerina des Ensembles. Prima bedeutete Erste. Sie war also die Hauptfigur jedes Stücks gewesen. Und das hatte sie sich hart erkämpfen müssen. Mit Schweiß und Blut. Im wahrsten Sinne des Wortes.

»Ach so«, hatte Markus angesetzt und dabei sein Kaffeetässchen vor seine Brust gehalten, als hätte das alberne Stückchen Porzellan ihn schützen können. »Hatte ich das noch gar nicht gesagt? Du wärst dann raus. Francine Gérard übernimmt deine Rolle als Erste Ballerina. Tut mir leid, Schätzchen! Aber überleg doch mal, was das für das Ensemble bedeutet!«

Ab diesem Moment hatte Maripol nicht mehr zugehört.

***

»Ich muss sterben!«

Maripol hatte es gerade so geschafft, aus ihrem Bett zu kriechen und dabei nicht im Licht der Sonne zu verbrennen, die die Dreistigkeit besessen hatte, ihre scharfen Strahlen direkt durch ihr Schlafzimmerfenster zu werfen.

»Das nennt man Kater, meine Liebe!«

Lous aufgewecktes Gesicht, in dem die winzigen Sommersprossen wie lustige Punkte über der Nase verteilt waren, sorgte dafür, dass sich die Balletttänzerin noch kläglicher fühlte.

»Sag mir einfach, dass das wieder aufhört«, verlangte sie von ihrer Mitbewohnerin.

Schwer ließ sie sich auf einen der freien Stühle fallen, die sie einmal vor zehn Jahren vom Sperrmüll geklaut hatten. Die Stühle sahen aus wie aus einem amerikanischen Diner, was beiden Frauen so gut gefallen hatte, dass sie sie in einer Nacht- und Nebelaktion nacheinander in ihre Wohnung in den dritten Stock getragen hatten.

»Wird's. Aber ein bisschen leiden musst du schon noch. Das gehört dazu. Und jetzt trink!« Dabei hielt Lou ihr einen Becher dampfenden Kaffees hin, der ihr Inneres ein wenig grummeln ließ. Ob es Übelkeit oder Hunger war, konnte Maripol in diesem Moment nicht sagen. Doch sie nahm den Becher dankend an. »Wie geht's dir, Süße?«

Lou setzte sich mit einem besorgten Gesichtsausdruck neben sie. Dabei zog sie ein Bein unter das andere, so wie sie es immer tat. In Maripol rührte diese Haltung etwas an. Eine tiefe Zuneigung ergriff von ihr Besitz, die den Schmerz des vergangenen Tages ein wenig verdrängte.

»Der Kater ist übel, aber sonst leb' ich noch, oder?«

Mit einem Zwinkern hob Maripol ihren Kaffeebecher und stieß mit Lou an, bevor sie einen Schluck trank. Kaum, dass der erste Schluck in ihrem Magen war, antwortete dieser mit einem lauten Murren.

»Oh, oh«, meinte Lou und zog ihre Augenbrauen hoch, bevor sie wieder aufstand. »Ich glaube, wir sollten dem Koffein eine Grundlage geben, bevor der Kaffee nur Tohuwabohu in deinem Bauch macht.«

Sofort begann die patente Frau, Brot aus dem Schrank zu holen. Zusammen mit Marmelade, Butter, Honig und Schokoladencreme stellte sie alles auf den Tisch. Dann suchte sie Teller und Besteck hervor.

»Süßkram? Du weißt doch, dass ich keinen Zucker esse«, protestierte Maripol und sah das Gemisch auf dem Tisch kritisch an.

»Falsch«, echote Lou und drehte sich mit einem Strahlen zu ihrer Mitbewohnerin und Freundin um. »Du hast keinen Zucker gegessen. Aber jetzt, wo alles anders ist, kannst du nun so viel Zucker zu dir nehmen, bis du platzt und Diabetes bekommst. Wohl bekomm's, Süße!«

Damit setzte sie sich wieder an den Tisch und griff nach einer Scheibe Brot, die sie zuerst mit Butter und dann dick mit Schokoladencreme bestrich.

Richtig – in Maripols Leben war nun alles anders. Auch wenn sie nicht wusste, wie dieses »Anders« überhaupt aussah. Sie kannte nichts außer Tanzen.

»Ich weiß gar nicht, wie es jetzt weitergeht«, wisperte sie und machte es ihrer Freundin nach.

Sie bestrich die Brotscheibe mit Butter, wenn auch nicht so dick. Dann träufelte sie einen winzigen Klecks Kirschmarmelade darauf.

»So nicht, Freundchen«, mahnte Lou und erhob ihren Zeigefinger. Dann nahm sie ihr den Marmeladenlöffel aus der Hand und setzte einen viel größeren Klecks auf den kleinen auf Maripols Brot. Diese musste schmunzeln. Vermutlich würde sie nachher Bauchschmerzen bekommen. Auf Zucker verzichtete sie immerhin schon, seit sie ihre feste Anstellung im Ensemble erhalten hatte. Also seit fünfzehn Jahren. »Und?«

Lou heftete ihre wachen Augen erwartungsvoll auf ihre Freundin, die vorsichtig in das Marmeladenbrot biss. Maripol kaute – und schmeckte ein Aroma, von dem sie bis zu diesem Augenblick nicht gewusst hatte, wie sehr sie es vermisst hatte.

»Wahnsinn!«, stieß die Ballerina aus. »Wie konnte ich so lange ohne Marmelade auskommen?«

Sofort nahm sie noch einen Bissen, den sie gierig hinunterschlang. Selbst ihr alkoholgesäuerter Magen schien nichts dagegen zu haben.

»Tja, halt dich nur an mich, Süße!«, sagte Lou und strahlte sie triumphierend an. »Denn jetzt zeig ich dir das wahre Leben. Und das geht ganz gut ohne Ballett.«

Wie gern hätte Maripol ihrer Mitbewohnerin geglaubt. An diesem Morgen, an dem die Sonne über den glitzernden Dächern Berlins schien und der ramponierte Esstisch in ihrer Küche so herrlich gedeckt war, dass es ihr wie ein Festmahl erschien, hätte sie gerne an ein neues und gutes Leben geglaubt. Doch leider hatte sie keine Ahnung, was sie nun tun sollte.

Ihr Leben – das war Ballett. Und Ballett gab es nun nicht mehr. Dabei hatte sie geglaubt, sie hätte noch Zeit gehabt. Mit fünfunddreißig Jahren war es vielleicht naiv gewesen. Doch sie hatte immer tanzen wollen, bis sie vierzig wäre. Das war ihr Ziel gewesen. Dann hätte sie jetzt noch fünf Jahre Zeit gehabt, um sich über das »Danach« Gedanken zu machen. Sich nun in ihrem Alter bei einem anderen Ensemble zu bewerben, wäre Zeitverschwendung gewesen.

»Oh meine Güte, ich muss mich arbeitslos melden«, fiel Maripol plötzlich ein.

Bei dem Gedanken daran kam das graue Gefühl von gestern sofort wieder zurück.

»Jetzt warte doch erst mal«, erwiderte Lou. »Vielleicht ist das gar nicht nötig. Du bist ja offiziell noch in der Kündigungsfrist und bekommst dein Gehalt noch. Hast du dir denn schon überlegt, was du alternativ gern machen würdest?«

»Wann denn? Im Suff gestern? Oder als Markus mir mitgeteilt hat, dass ich nicht so toll bin wie seine Francine Gérard?«, gab die Ballerina spitz zurück und hob dabei den Namen ins Lächerliche.

»Francine Gérard. Was ist das überhaupt für ein Name? Ich wette mit dir, der ist nicht echt. Was soll das sein? Englisch oder Französisch? Albern, wenn du mich fragst!« Lou hatte schon immer zu den Menschen gehört, die ihr Mitgefühl auf eine Weise ausdrückten, wie es benötigt wurde. In diesem Fall verlagerte sie ihren Unmut auf eine Unbekannte, deren Existenz die Maripols vernichtete. »Jetzt aber mal ernsthaft. Hast du irgendeine Idee, wozu du gerade Lust hast? Es muss ja nichts Festes sein. Nur mal etwas, das dir eine kleine Auszeit verschafft, um dir klar darüber zu werden, was du machen könntest.«

Maripol schüttelte zerknirscht den Kopf.

»Ich hab' keine Ahnung, um ehrlich zu sein. Ballett war mein Leben – seit meinem vierten Lebensjahr. Ich kann doch nicht einfach damit aufhören und etwas anderes machen. Ich hab' doch gar nichts anderes gelernt. Oh Mann, ich werde ein unvermittelbarer Fall auf dem Arbeitsamt sein.«

Bei diesem Gedanken legte sie ihre Stirn in ihre Hand.

»Nun mal langsam, du hast doch damals dieses Freiwillige Soziale Jahr im Pflegeheim gemacht. Oder hast du das wieder vergessen?«

Lou hatte begonnen, sich ein zweites Brot mit Butter zu bestreichen. Fasziniert sah Maripol dabei zu, wie sie anschließend Honig darüber goss, der sich auf der fettigen Butter zu dünnen Streifen zusammenzog.

»Das ist Jahre her, Lou. Und deswegen bin ich noch lange keine gelernte Pflegekraft«, widersprach die Tänzerin.

Der Kaffee schmeckte nun bitter, weshalb sie einen Schuss Hafermilch in ihren Becher goss.

»Pass auf! Das ist jetzt nur eine Idee, aber ich bin zufällig auf eine Anzeige gestoßen, die mir wie geschaffen für dich scheint.« Dann zog Lou eine Ausgabe einer Zeitschrift aus dem Bioladen, die bekannt war für außergewöhnliche überregionale Kleinanzeigen zu Immobilien und Arbeitsstellen, aus einem Stapel Magazine auf der Fensterbank hervor. Geschäftig blätterte sie die Seiten um und achtete nicht darauf, dass das Papier auf ihrem Honigbrot landete. »Da!«

Maripol nahm die Zeitschrift entgegen und senkte ihren Blick auf die Zeilen, auf die Lou mit einem Finger zeigte.

Pflegekraft nach St. Christoph gesucht. Kost und Logis frei. Guter Verdienst. Unterkunft in ehrwürdiger Villa. Zuschriften bitte an ...

»Oh ja, das klingt wirklich seriös, wenn jemand extra angeben muss, dass er eine Villa besitzt. Bestimmt ist das so ein Typ, der glaubt, auf die Weise an junge, schöne Mädels ranzukommen. Wo soll das überhaupt sein, dieses St. Christoph?«

Maripols Missmut war mit jeder Silbe ihres ironischen Kommentars herauszuhören.

Doch Lou ließ sich davon nicht beeindrucken.

»Alles schon recherchiert«, gab sie grinsend zurück.

Und dann zauberte sie ihr Smartphone hervor, auf dem Bilder einer Traumlandschaft in den Bergen zu sehen waren.

***

Dass manche Menschen kein Schamgefühl besaßen, entdeckte Nikolas Hofbacher, als er die etlichen Bewerbungen durchsah, die ihn in den letzten Tagen und Wochen erreicht hatten. Ein zentimeterhoher Stapel lag nun auf seinem Schreibtisch, und am liebsten hätte er sie allesamt mit seinem Unterarm vom Tisch gewischt – direkt in den Mülleimer.

Der vierundvierzigjährige Unternehmensberater zog die oberste Bewerbung zu sich heran und schlug den gelben Plastikschnellhefter auf, den die Person verwendet hatte.

Schulabschluss, Berufsausbildung, berufliche Erfahrung. Alles stimmte – bis auf die kleine Tatsache, dass die dazugehörige Person ein Foto verwendet hatte, auf dem sie ihm mit einem Cocktailglas zuprostete. Papierkorb!