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Lilian Geiger ist vor einigen Jahren durch eine Krankheit erblindet. Davon lässt sich die Neunundzwanzigjährige ihren Lebensmut aber nicht nehmen. In St. Christoph kennt jeder Lilian und ihre speziell trainierte Hündin Ida, die ihrem Frauchen nicht von der Seite weicht. So ist es auch möglich, dass Lilian weiterhin einer ihrer liebsten Beschäftigungen, dem Wandern, nachgehen kann. Schließlich kennt sie aus der Zeit, in der sie noch sehen konnte, jeden Weg, jeden Stein, jede Stolperstelle - außer heute. Nur ein kleiner Schritt auf feuchtes Moos genügt, Lilian rutscht aus und stürzt so unglücklich, dass sie nicht mehr aufstehen kann. Und jetzt? So früh am Morgen sind normalerweise noch keine anderen Wanderer unterwegs, es kann Stunden dauern, bis Hilfe kommt. Doch Hündin Ida ist klug und findet Maik Solbach, Gast im Berghotel und gerade auf dem Rückweg von einer Sonnenaufgangswanderung. Er wird zum Ritter in Wanderschuhen für Lilian - und bald schon noch viel mehr ...
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Seitenzahl: 127
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Inhalt
Ritter in Wanderschuhen
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Impressum
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Inhaltsverzeichnis
Inhaltsbeginn
Impressum
Wenn die Berge rufen und die Liebe den Weg weist
Von Verena Kufsteiner
Lilian Geiger ist vor einigen Jahren durch eine Krankheit erblindet. Davon lässt sich die Neunundzwanzigjährige ihren Lebensmut aber nicht nehmen. In St. Christoph kennt jeder Lilian und ihre speziell trainierte Hündin Ida, die ihrem Frauchen nicht von der Seite weicht. So ist es auch möglich, dass Lilian weiterhin einer ihrer liebsten Beschäftigungen, dem Wandern, nachgehen kann. Schließlich kennt sie aus der Zeit, in der sie noch sehen konnte, jeden Weg, jeden Stein, jede Stolperstelle – außer heute.
Nur ein kleiner Schritt auf feuchtes Moos genügt, Lilian rutscht aus und stürzt so unglücklich, dass sie nicht mehr aufstehen kann. Und jetzt? So früh am Morgen sind normalerweise noch keine anderen Wanderer unterwegs, es kann Stunden dauern, bis Hilfe kommt. Doch Hündin Ida ist klug und findet Maik Solbach, Gast im Berghotel und gerade auf dem Rückweg von einer Sonnenaufgangswanderung. Er wird zum Ritter in Wanderschuhen für Lilian – und bald schon noch viel mehr ...
Hoch oben flog ein Geier über die Wipfel der Bäume. Seine Schreie verhallten in der Weite der Bergwelt. Überall, wo die Zirbeln nicht eng genug beieinanderstanden, ließen sie eine Lücke frei, wo die Sonne ihre unsichtbaren Strahlen auf die Erde niederwerfen konnte.
Auf Lilians Arm brannte es. Sie streckte vorsichtig ihre Hand aus und spürte, wie sich auch dort das Brennen ausbreitete. Wenn sie sie wieder zurückzog, wurde es augenblicklich kühler. Sie trat einen Schritt vor, sodass nun ihre gesamte rechte Körperhälfte erwärmt wurde. Das brachte die Neunundzwanzigjährige zum Lächeln.
Ein wolliger Körper drängte sich an ihre nackten Beine, sodass sie die Halterung in die andere Hand nahm, um mit ihrer linken den Hund an ihrer Seite zu streicheln. Sein langes Fell glitt zwischen ihre Finger, als würde sie es kämmen.
»Du bist ein liebes Mädchen«, lobte sie Ida, die Hündin, die stets auf sie aufpasste. »Meinst du, wir können uns noch ein paar Meter tiefer in den Wald wagen, ohne einen Hitzschlag zu bekommen?«
Ida hechelte zur Antwort. Ihr Kopf machte einen Ruck, als gäbe sie trotzdem ihr Okay.
Lilian Geiger liebte ihre täglichen Spaziergänge in den frühen Morgenstunden. Es war die Zeit, in der sich die Touristen zumeist noch im Bett oder beim Frühstück befanden, sodass sie den Wald für sich allein hatte. Schon als Kind war sie häufig mit ihrem Opa in den Wald gelaufen. Dabei hatte er ihr alles über die Vögel erzählt, die sie gemeinsam entdeckt hatten. Davon übrig geblieben waren nur noch nostalgische Bilder in ihrem Kopf und das Erkennen der Vogellaute. Ohne hinzuschauen, wusste Lilian, wann es sich um einen Steinadler oder um einen Geier handelte. Waren die Laute des Adlers wie ein hohes Rufen, so hörten sich Geier bedrohlicher an.
Ida führte sie über den Weg in den nächsten Schatten. Normalerweise lief Lilian nur etwa drei Kilometer tief in den Wald. Doch der Tag war so besonders, dass sie sich noch nicht von ihrem morgendlichen Ritual verabschieden und umkehren wollte. Auch die Hündin erweckte den Eindruck, zufrieden zu sein.
Unter Lilians Füßen stieg der Weg langsam an. Es wäre vernünftiger gewesen, umzukehren. Gerade die herabgefallenen Zirbelzapfen konnten zu einer gefährlichen Falle werden, wenn sie darüber stolperte. Doch auf der anderen Seite fühlte sich der Boden unter ihr wie ein weicher Teppich an, sodass sie sich sicher fühlte.
»Danke für deine Begleitung, Ida«, sagte Lilian jetzt und spürte, wie sich der Körper der Hündin zur Bestätigung, dass sie verstanden hatte, wieder an ihre nackten Beine drückte. »Weißt du, ohne dich würde ich jetzt vermutlich zu Hause am Küchentisch hocken und ...«
Lilian geriet urplötzlich ins Rutschen, wahrscheinlich war das Moos noch an einer Stelle etwas feucht gewesen. Ihre Hand ließ automatisch die Halterung los, an der sie normalerweise Ida festhielt. Ihre Arme ruderten in der Luft. Kein Baumstamm. Kein Halt. Ihr Fuß knickte weg, und Lilian fiel mit voller Wucht auf den Boden, wo sie atemlos und mit schreckerstarrtem Gesicht verharrte.
Unter ihrem Po machte sich ein stechender Schmerz breit. Sie wartete, bis der erste Schock nachließ. Doch zum Glück wurde der Schmerz nicht schlimmer.
»Ida?«, rief sie und spürte ihr Herz unter dem Brustkorb protestieren.
Sofort stupste die Hündin sie mit ihrer Nase am Arm an. Erleichterung machte sich in der jungen Frau breit. Mit ihrer Hand tastete sie nach der Halterung, fand zunächst das Geschirr und dann die Stange, die sie entlangfuhr, bis sie oben am Griff angekommen war.
»Vielleicht sollten wir jetzt doch besser umkehren.«
Lilian seufzte und stützte sich mit der freien Hand vom Boden ab, um aufzustehen. Da schoss ein stechender Schmerz in ihren Knöchel, sodass sie sofort wieder niedersank.
Ihr Atem beschleunigte sich. Ihr Steißbein hatte beim Aufprall so wehgetan, dass sie den Schmerz im Fußgelenk nicht wahrgenommen hatte. Noch immer pochte es, als wären kleine Männer mit Hämmern darin zugange.
Was sollte sie tun? Lilian drehte ihren Kopf in alle Richtungen, aber sie konnte niemanden hören. Also wartete sie, bis das Pochen im Knöchel abklang. Als sie glaubte, dass es besser geworden wäre, startete sie einen neuen Versuch. Aber auch dieser endete mit einem kleinen Schmerzensschrei. Verzweifelt ließ sich Lilian auf den Boden zurücksinken, während Ida geduldig neben ihr ausharrte.
»Und jetzt?«, fragte sich die Neunundzwanzigjährige verzweifelt.
Obwohl sie pragmatisch veranlagt war, erkannte Lilian die Not, in der sie steckte. Allein würde sie nicht mehr nach Hause kommen. Aber sollte sie etwa warten, bis irgendein Tourist sie finden würde? Da kam ihr eine Idee.
»Also gut, mein Mädchen«, sagte sie aufmunternd zu ihrer treuen Hündin. »Jetzt müssen wir uns erst mal trennen. Ohne dich schaffe ich es leider nicht.«
Ida legte den Kopf schief. Lilian spürte es, wenn sich ihre Begleiterin regte. Seit zwei Jahren waren sie nun schon ein eingespieltes Team. Noch einmal holte die blinde junge Frau tief Luft. Sie wusste, dass sie ohne den Retriever allein wäre.
»Hol Hilfe!«, befahl sie schließlich der Hündin und ließ die Halterung los.
Ida preschte los. Nur noch kurz war ein Rascheln zu hören, bis auch die letzten Laute verklangen.
»Mist«, murmelte Lilian vor sich hin.
***
Maik Solbach schloss die Augen und atmete tief ein. Die morgendliche Luft erfüllte seine Lungen. Er hatte mehr Frische erwartet. Stattdessen lag bereits die Ahnung eines schwülwarmen Tages in der Luft.
Andere hätten den Großhandelskaufmann aus dem Ruhrpott vielleicht für verrückt erklärt. Wer bestieg schon morgens um vier einen Berg? Obwohl der Hexenstein im Gegensatz zu seinem Nachbarn, dem Feldkopf, nur eine geringe Höhe aufwies, war Maiks Unterfangen doch ein bisschen außergewöhnlich gewesen. Aber er hatte einen Traum gehabt: Einmal wollte er den Sonnenaufgang vom Gipfel eines Berges aus beobachten.
Diesen Traum hatte er sich nun erfüllt. Noch immer fühlte sich der Achtunddreißigjährige beseelt von diesem außergewöhnlichen Abenteuer. Noch nie hatte er schöner gefrühstückt – unter sich den harten Fels eines Berges, in der Hand einen Thermobecher mit heißem Kaffee und neben sich die herzhafte Jause, die das Berghotel für ihn vorbereitet hatte.
Mit erfülltem Herzen setzte der erfahrene Wanderer einen Fuß vor den anderen. Der Boden war noch steinig, auch wenn er die Baumgrenze langsam erreichte. Die Zirbeln versprachen Schatten – zum Glück, denn schon jetzt brannte die Sonne vom Himmel, sodass die Haut in seinem Gesicht sich zu heiß anfühlte.
Schon vor Monaten hatte der gebürtige Essener diese Reise geplant – so, wie er alle seine Reisen sorgfältig plante. Maik war niemand, der einen Sonnenurlaub buchte und dann wochenlang am Strand herumlungerte. Er liebte das Abenteuer. Sein Herz sehnte sich nach der Natur.
In den letzten Jahren war er mehrmals in die Vereinigten Staaten geflogen, wo er verschiedene Trails abgelaufen war. Tage-, wochenlange Strapazen hatte er bewältigt. Es waren die schönsten Momente seines Lebens gewesen. Nun konnte er dem Album mit den schönsten Momenten einen weiteren hinzufügen.
Dass er dieses Jahr ein näheres Urlaubsziel ausgewählt hatte, hatte einen Grund. Aber er erlaubte sich nicht, in diesem Augenblick darüber nachzudenken. Eine Antwort stand noch aus. Und da sie seinen zukünftigen Weg beeinflussen würde, wollte er jede mögliche Sorge darüber vermeiden.
Immer wieder blieb Maik stehen, auch hier im Wald. Nicht nur der Ausblick in die Ferne löste ein Gefühl der Glückseligkeit in ihm aus. Auch die Schönheit des Waldes, die blühenden Stauden, wo sie genügend Sonnenlicht abbekamen, die Ästhetik der Kriechpflanzen und das aufgeregte Gezwitscher der Vögel lehrten ihn Ehrfurcht.
Gerade wollte er weitergehen. Doch kaum hatte er seinen Fuß mit dem schweren Wanderschuh angehoben, verharrte er.
Was war das? Maik lauschte. Auf seinem Arm stellten sich die feinen Härchen auf.
Schon wieder! Etwas Großes stürzte auf ihn zu!
In Sekundenschnelle ging der Wanderer die Waldtiere in seinem Kopf durch, die ihm zur Gefahr werden konnten. Ein Wildschwein?
Hektisch sah er sich um. Die Äste der Zirbeln waren zu dünn, als dass er an ihnen hätte hochklettern können.
Kaum hatte er den Gedanken gedacht, da wurde das Rascheln und Hecheln lauter. Immer näher kam es. Immer schneller kam ihm das Geräusch vor, sodass er in Habachtstellung ging, um auf alles vorbereitet zu sein.
Als schließlich etwas Großes aus dem Gebüsch hervorgeschossen kam, setzte sein Herz für eine Sekunde aus – bis er begriff.
Der Retriever blieb vor ihm stehen, als hätte er ihn gesucht. Er setzte sich genau vor seine Füße und bellte ihn an.
Maik runzelte die Stirn, aber dann erkannte er die Botschaft. Der Hund trug ein Geschirr mit einer speziellen Halterung, die ihn als Blindenhund auswies. Sofort ließ der groß gewachsene Mann sich auf die Knie sinken, um das Tier zu kraulen.
»Braucht dein Herrchen Hilfe?«, fragte er in der Hoffnung, dass er mit seiner Stimme eine Vertrauensbasis aufbauen könnte.
Der Hund bellte. Also stand Maik wieder auf und griff nach der Halterung.
Das Tier stürmte so schnell los, dass Maik nichts anderes übrig blieb, als ihm zu folgen. Alle Vorsicht ließ er außer Acht. Nun wurde er gebraucht. Solche Situationen würden ihm vielleicht auch in Zukunft begegnen. Und er war bereit, alles zu geben, um jemand anderem zu helfen.
***
Lilian war sich nur weniger Dinge gewiss. Das Erste war, dass sie nie wieder würde sehen können. Das Zweite war, dass sie ihrer Hündin absolut vertrauen konnte. Daher fühlte sie trotz ihrer Lage eine innere Ruhe. Ida hatte sie schon einmal gerettet. Als Lilian eine Straße hatte überqueren wollen, hatte sie das Auto nicht kommen hören. Ihre Hündin hatte sie so schnell zurückgezogen, dass Lilian erst einen Schrecken bekommen hatte. Doch fast im selben Augenblick war ein leiser Motor ertönt, direkt vor ihr. Die Entwicklung der Automobile zu Elektroautos hatte nicht nur Vorteile.
Während Lilian ihren Knöchel befühlte, hörte sie ein Geräusch.
»Ida«, freute sie sich laut.
Doch da war noch mehr. Es waren Schritte, die dem Rascheln folgten. Schwere Schritte. Aber nur von einer Person.
Die Verletzte drehte ihren Kopf in Richtung der Geräusche und streckte ihre Arme nach dem Tier aus.
»Hey, warte«, stieß eine dunkle Stimme aus.
Dann vernahm Lilian, wie das Rascheln schneller wurde. Nur wenige Sekunden später preschte Ida in ihre Arme.
»Mein Goldschatz«, stieß Lilian erleichtert hervor, während sie ihre Hündin am gesamten Körper kraulte und für ihre Heldentat lobte.
»Sind Sie verletzt?«, erklang da plötzlich die dunkle Stimme, die sich nur noch in wenigen Metern Entfernung befand.
»Ich fürchte, ja«, antwortete sie und lächelte entschuldigend.
Der Mann, dem die Stimme gehörte, kam direkt auf sie zu, bis seine Schritte verklungen waren. Sie spürte, wie er in die Hocke ging.
»Wo haben Sie denn Schmerzen?«, erkundigte er sich und legte behutsam eine Hand auf ihren Arm.
Obwohl Lilian überrascht über die Art der Verbindung war, freute sie sich, dass er so wenig Berührungsängste hatte. Gerade als Mensch mit Sehbehinderung wusste sie, wie selten es war, dass ihre Umgebung völlig natürlich mit ihr umging. Meistens erntete sie Mitleid.
»Mein Fußgelenk scheint verstaucht zu sein«, erklärte sie und zog den Fuß etwas an. »Ich bin ausgerutscht und hab mir dabei den Fuß verdreht.«
»Darf ich?«, fragte der Mann.
Lilian nickte. Sogleich spürte sie seine warme trockene Hand an ihrem nackten Knöchel. Mit sanftem Druck befühlte er die Haut.
»Ich glaube nicht, dass etwas gebrochen ist«, meinte er.
Lilian lachte. »Sind Sie Arzt?«
Der Mann schnaufte amüsiert.
»Eine Zeit lang habe ich mit meiner Oma Arztserien im Fernsehen schauen müssen.«
Daraufhin musste Lilian wieder lachen. Der Mann war ihr auf Anhieb sympathisch.
»Können Sie mich vielleicht auf dem Rückweg stützen? Allein schaff ich es net hinunter ins Dorf.«
»Ich habe eine bessere Idee«, entgegnete er.
»Okay«, sagte sie gedehnt. »Ich bin für jede Schandtat bereit.«
»Umso besser.« Der Mann stand auf. »Wann wurden Sie zuletzt huckepack getragen?«
»Was?« Lilian lachte unwillkürlich auf bei der Vorstellung.
Sie hatte gehofft, dass sie von jemandem gefunden würde, der ihr helfen konnte. Dass sich ihr Unfall nun zu einem lustigen Ereignis entwickelte, hatte sie nicht geahnt.
»Können Sie in die Hocke gehen, ohne den Fuß zu sehr zu belasten?«, fragte er.
Ida trippelte auf ihren Pfoten, als wäre sie aufgeregt wegen des neuen Gefährten an ihrer Seite. In ihrem Kopf stellte sich Lilian manchmal vor, was die Hündin sagen würde, könnte sie reden.
In diesem Moment würde sie vermutlich so etwas äußern wie: »Ist das nicht ein toller Typ, den ich uns ausgesucht habe?«
»Ich denke schon«, antwortete sie und stellte vorsichtig den gesunden Fuß und schließlich den verletzten auf, wobei sie darauf achtete, das Gewicht auf dem unversehrten zu verlagern. »Alles klar«, gab sie dem Mann zum Zeichen.
»Ich geh jetzt direkt vor ihnen in die Hocke. Legen Sie Ihre Arme einfach um meine Schultern, dann zieh ich Sie hoch.«
»Sie wissen aber schon, dass das noch ein bisserl weiter ins Dorf ist, gell?« Aber während sie sprach, tasteten ihre Hände bereits nach seinem Körper, bis sie auf etwas Merkwürdiges stieß. »Soll ich mich auf oder in den Rucksack setzen?«
»Oh«, machte der Mann und löste seine Arme sofort aus den Trageriemen. »Den müssen Sie nun nehmen.«
Es dauerte ein wenig, bis Lilian auf seinem Rücken war. Zunächst fühlte es sich merkwürdig an, ihre Arme um den Hals eines fremden Mannes geschlungen zu haben. Zumal sich die Schultern so angenehm und muskulös anfühlten. Aber seine lockere Art erstickte jedes Unbehagen, bevor es sich in ihr ausbreiten konnte.
»Hat Ihnen schon mal jemand gesagt, dass Sie ganz schön schwer für jemanden mit Ihrer Statur sind?«, ächzte er irgendwann.
An den Verkehrsgeräuschen nahm Lilian wahr, dass sie sich der Straße näherten.
»Da täuschen Sie sich«, entgegnete sie. »Das Gewicht muss von Ihrem Rucksack kommen.«
»Wie konnte ich das nur vergessen.«
Der Mann ging in einem gleichmäßigen Schritt. Nur wenige Autos fuhren an ihnen vorbei. Irgendwann blieb eines stehen.
»Servus«, rief eine Frau. »Brauchen Sie Hilfe?«
»Vielen Dank, aber meine Frau überschätzt sich manchmal beim Wandern. Kaum sind wir losgegangen, ist sie schon wieder aus der Puste.«
Lilian verpasste ihrem Retter einen Tritt ans Bein.
»Mei, das könnte mein Mann sein.« Die Frau lachte und verabschiedete sich.
»Ihre Frau, ja?«, wiederholte Lilian amüsiert seine Worte.
»Ich bin Pragmatiker. Wenn ich Sie jetzt noch das letzte Stück trage, kann ich mir ohne schlechtes Gewissen ein deftiges Frühstück gönnen«, antwortete er und ging weiter.
Lilian schüttelte den Kopf.