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Band 7: Der Tote war Polizist. Ausbilder. Ein Schinder der übelsten Sorte. Martin Beck und seine Kollegen haben schon viele Tote gesehen, doch der Anblick des ermordeten Stig Nyman ist ein Schock: Der todkranke Kommissar wurde in seinem Krankenzimmer auf geradezu bestialische Weise abgeschlachtet. Wer hat den weithin geschätzten Kollegen so sehr gehasst? Und warum? Bei seinen Nachforschungen lernt Martin Beck den Verstorbenen von einer ganz anderen Seite kennen… Dies ist der siebte Band der weltberühmten Serie um den schwedischen Kommissar Martin Beck. In neuer Übersetzung und mit einem Vorwort von Unni Lindell.
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Seitenzahl: 288
Veröffentlichungsjahr: 2025
Maj Sjöwall • Per Wahlöö
Ein Kommissar-Beck-Roman
Mit einem Vorwort von Unni Lindell.
In neuer Übersetzung von Susanne Dahmann.
Der Tote war Polizist. Ausbilder. Ein Schinder der übelsten Sorte
Martin Beck und seine Kollegen haben schon viele Tote gesehen, doch der Anblick des ermordeten Stig Nyman ist ein Schock: Der todkranke Kommissar wurde in seinem Krankenzimmer auf geradezu bestialische Weise abgeschlachtet. Wer hat den weithin geschätzten Kollegen so sehr gehasst? Und warum? Bei seinen Nachforschungen lernt Martin Beck den Verstorbenen von einer ganz anderen Seite kennen …
Dies ist der siebte Band der weltberühmten Serie um den schwedischen Kommissar Martin Beck. In neuer Übersetzung und mit einem Vorwort von Unni Lindell.
Das schwedische Autorenduo Maj Sjöwall und Per Wahlöö schrieb einen Zyklus von zehn Kriminalromanen um Kommissar Martin Beck, die zu einem einzigartigen Welterfolg wurden. Mit ihrer Mischung aus Gesellschaftskritik, Spannung und Unterhaltung haben Sjöwall/Wahlöö die Spannungsliteratur revolutioniert und eine ganze Generation von Krimiautoren geprägt. Sie gelten als Eltern des skandinavischen Kriminalromans und sind erklärte Vorbilder von Autoren wie Henning Mankell und Håkan Nesser. Die zehn Bände der Kommissar-Beck-Reihe sind in 35 Sprachen übersetzt worden und erreichten bisher eine Gesamtauflage von über 10 Millionen Exemplaren. Alle Romane wurden außerdem sehr erfolgreich fürs Fernsehen verfilmt.
Maj Sjöwall, 1935 in Stockholm geboren, studierte Graphik und Journalismus und arbeitete für verschiedene Zeitschriften. Mit ihrem Mann Per Wahlöö schrieb sie die erfolgreiche Krimiserie um Kommissar Martin Beck, die auch verfilmt wurde. 1996 erhielt Sjöwall für die erste Serienverfilmung von Kommissar Beck den Adolf-Grimme-Preis (zusammen mit Gösta Ekmann). Zuletzt arbeitete Maj Sjöwall als Übersetzerin in Stockholm, wo sie im April 2020 verstarb.
Per Wahlöö, 1926 im schwedischen Lund geboren, machte nach dem Studium der Geschichte als Journalist Karriere. In den Fünfzigerjahren ging er nach Spanien und wurde 1956 vom Franco-Regime ausgewiesen. Nach verschiedenen Reisen um die halbe Welt ließ er sich wieder in Schweden nieder und arbeitete dort als Schriftsteller. Per Wahlöö starb 1975 in seiner Heimatstadt.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, März 2025
Copyright © 1973, 2008 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
«Den vedervärdige mannen från Säffle» Copyright © 1971 by Maj Sjöwall und Per Wahlöö
Die Originalausgabe erschien 1971 unter dem Titel «Den vedervärdige mannen från Säffle» bei P. A. Norstedt & Söners Förlag, Stockholm.
Covergestaltung ZERO Werbeagentur, München, unter Verwendung eines Motivs von Adobe Photoshop KI
Coverabbildung Shutterstock
ISBN 978-3-644-02290-4
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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www.rowohlt.de
von Unni Lindell
Vor einigen Jahren war ich zum vierzigsten Geburtstag eines befreundeten schwedischen Schriftstellers eingeladen. Die Wohnung war voller Menschen. Es war August. Am Ende landete ich zusammen mit einer älteren Dame an einem geöffneten Fenster. Sie war nett und sanft und freundlich, und sie fragte, was ich denn so mache. Ich erzählte, dass ich Kriminalromane schreibe.
«Das habe ich früher auch mal gemacht», erwiderte sie und lächelte zaghaft. Und dann stellte sie sich vor. Ich hätte fast mein Weinglas zu Boden fallen lassen – es war Maj Sjöwall.
In diesen Zeiten, in denen die Medienleute in Ost und West mit dem Begriff «Queen of Crime» um sich werfen, möchte ich behaupten, dass Sjöwall und Wahlöö das Traumkönigspaar des Krimis waren. Dieses Königspaar ist ein Begriff. Ihre Bücher sind Klassiker geworden, und sie sind eine Schule für uns, die wir danach gekommen sind. Ihre Bücher stellen wirklich eine Zeitenwende im Genre des Kriminalromans dar.
Ich weiß, dass viele gern darauf hinweisen, dass es sich doch um Polizeiromane und nicht um Kriminalromane handelt, aber ich nenne sie trotzdem Kriminalromane.
Kriminalromane zu schreiben bedeutet in äußerster Konsequenz, das Chaos zu lichten. In gewisser Hinsicht ist das, wie wenn man den Abwasch erledigt. Man fängt damit an, einen Teller nach dem anderen sauber zu machen. Spülen, bürsten, abtrocknen und dann übereinander im Schrank stapeln. Einen nach dem anderen, vorsichtig, damit sie nicht kaputtgehen. Und am Ende die Belohnung: die Antwort, des Rätsels Lösung, die erstaunlich angeordneten Motive.
Die Beck-Bücher waren, als sie herauskamen, reinstes Zuckerschlecken. Der Text war leicht und flüssig. Gedanken, Folgerungen und Dialoge ließen die Seiten schnell umblättern. Und das Finale war immer gleichermaßen spannend.
Ich erinnere mich, wie meine Schwester einmal, das war noch im vorigen Jahrtausend, während ich in dem karierten Sessel hockte und las, in einem offenen Streit ausspuckte, wer der Mörder in Das Ekel aus Säffle ist. Und das nur, weil ich völlig unabsichtlich ein kleines Loch in ihre geblümte Bluse gemacht hatte. Es war im Juli, und draußen regnete es. Die Wut stieg in mir hoch. Sie verriet, wer es war, obwohl ich das Buch erst halb gelesen hatte! Ich glaube nicht, dass ich ihr das je verzeihen werde. Bis heute kann ich die brennende Wut im Bauch spüren.
Ich liebe diese Polizeitypen, Martin und Gunvald und Kollberg. Und ich räume gern ein, dass die Fernsehbilder dazu beigetragen haben, diese charmante und unbeirrbare Männergang wirklich zu machen.
Sjöwall und Wahlöö haben sich durch die schwedischen Lande gegraben, um dann weiter in die Welt hinaus zu gelangen.
Für mich ist dieser Roman, das siebte Buch über Martin Beck, ganz auf der Linie der anderen. Das Ekel aus Säffle besitzt auch besondere weibliche Qualitäten, obwohl der Roman mit seiner Handlung in einem rauen Polizeimilieu außergewöhnlich maskulin ist. Sicherlich ist es nicht politisch korrekt, das zu sagen, aber ich habe es mir gut überlegt und meine es positiv. Das hat mit den Details zu tun, den Beschreibungen von Räumen, den Dialogen und den Farben. Ein hartes Polizeimilieu ist der äußere Rahmen, aber der politische Unterton ist deutlich. Denn man darf nicht vergessen, dass das Buch zu Beginn der siebziger Jahre geschrieben wurde. Sind Polizeileute nicht per Definition der Freund und Helfer, the good guys? Oder stimmt dieses Bild womöglich nicht mit der Wirklichkeit überein? Das war ein neues Thema.
Man kann in vielen modernen Kriminalromanen Ansätze aus den Martin-Beck-Romanen erkennen. Man liest etwas davon in den Polizeimilieus von Jan Guillou, beim Afrika-Hintergrund in Henning Mankells «Die fünfte Frau», in einigen der ersten Bücher von Anne Holt – und in Karin Fossums Universum ist ja der Ermittler Kollberg ein Hund. Die Spuren sind zahlreich!
Es gab eine Zeit, in der waren die Autoren von Kriminalromanen ein wenig schlechter angesehen als «richtige» Schriftsteller, sie waren wie eine andere Kategorie. Diese Sicht änderte sich auch erst mit Beginn der neunziger Jahre, als die Krimiautoren mit einem Mal wie Pilze aus dem Boden schossen. Und die Frauen in voller Fahrt dabei. Doch die Grundlagen dafür hatten Maj und Per gelegt. Ihre Bücher standen wie ein Puffer vor der alten Sichtweise, und plötzlich war die Zeit reif. Endlich wurden Kriminalromane von richtigen Kritikern besprochen und erhielten die Aufmerksamkeit, die sie verdienen.
Doch zurück zu meinem Zusammentreffen mit der kleinen Frau Maj Sjöwall an einem Fenster im August 2004.
«Wie schafft man es, gemeinsam zu schreiben?», fragte ich. «Ist das nicht wahnsinnig schwer?»
«Wie man sich bettet, so liegt man», antwortete Maj Sjöwall mit glitzernden Augen und hob das Weinglas zum Mund, während sich die letzten Strahlen der Augustsonne wie eine warmgelber Glorienschein über ihr graues Haar legten.
Kurz nach Mitternacht hörte er auf zu grübeln.
Zuvor hatte er etwas aufgeschrieben, aber jetzt lag der blaue Kugelschreiber auf der Zeitung vor ihm, genau neben der rechten äußeren Spalte des Kreuzworträtsels. Er saß in dem muffigen, kleinen Dachzimmer auf einem abgenutzten Holzstuhl vor einem niedrigen Tisch, mit geradem Rücken und völlig regungslos. Über seinem Kopf hing ein gelblicher runder Lampenschirm mit langen Fransen. Der Stoff war alt und ausgeblichen, und das trübe Licht der schwachen Glühbirne flackerte.
Im Haus war es still. Aber die Stille war relativ, denn es atmeten drei Menschen darin, und von draußen drang ein unbestimmbares Rauschen herein, pulsierend und kaum zu vernehmen. Wie vom Verkehr auf einer weit entfernten Autobahn oder von einem in der Ferne rauschenden Meer. Das Geräusch von einer Million Menschen, von einer großen Stadt in angespannter Ruhe.
Der Mann im Dachzimmer trug einen beigefarbenen Lumberjack und graue Skihosen, einen maschinengestrickten schwarzen Rollkragenpullover und braune Winterschuhe. Der Schnurrbart war lang, aber gepflegt, und eine Idee heller als das glatt zurückgekämmte Haar. Das schmale Gesicht hatte ein klares Profil und feingemeißelte Konturen, und hinter der versteinerten Maske aus vorwurfsvoller Unzufriedenheit und unbelehrbarer Sturheit war ein fast kindlicher Zug zu erkennen, schwach, ratlos und flehend, aber trotzdem ein klein wenig berechnend.
Der Blick seiner klaren blauen Augen war fest, aber leer.
Er sah aus wie ein kleiner Junge, der mit einem Mal sehr alt geworden war.
Fast eine Stunde lang saß der Mann ganz still da, während die Handflächen auf den Oberschenkeln ruhten und der leere Blick denselben Punkt auf der verblichenen Blumentapete fixierte.
Dann stand er auf, durchquerte das Zimmer, öffnete die Tür zu einem Schrank, streckte den linken Arm aus und holte etwas von der Hutablage. Einen länglichen Gegenstand, in ein weißes Küchenhandtuch mit roten Borten eingewickelt.
Es handelte sich um einen Karabiner mit einem aufgepflanzten Bajonett.
Er zog es aus dem Gewehr und wischte sorgfältig das gelbe Waffenfett ab, ehe er das Blatt in die stahlblaue Scheide schob.
Obwohl er groß und sehr schwer war, bewegte er sich schnell, geschmeidig und ökonomisch, wobei die Hände ebenso sicher waren wie sein Blick fest.
Er schnallte den Gürtel auf und fädelte ihn in die Lederschlaufe an der Scheide. Dann zog er den Reißverschluss der Jacke hoch, nahm seine Handschuhe und die karierte Tweedmütze und verließ das Haus.
Die Holztreppe knackte unter seinem Gewicht, doch die Schritte selbst hörte man nicht.
Das kleine, alte Haus lag auf einem Hügel oberhalb der Landstraße. Die Nacht war kalt und sternenklar.
Der Mann mit der Tweedmütze bog um die Hausecke und bewegte sich mit schlafwandlerischer Sicherheit auf die hinter dem Haus gelegene Auffahrt zu.
Er öffnete die linke vordere Tür seines schwarzen Volkswagens, setzte sich hinter das Steuer und rückte das Bajonett zurecht, das an seiner rechten Hüfte lag.
Dann startete er den Motor, schaltete die Scheinwerfer ein, setzte rückwärts auf die Straße und fuhr nach Norden.
Das kleine schwarze Auto wurde durch die Nacht geschleudert, exakt und unaufhaltsam, als wäre es ein schwereloses Objekt im Weltraum.
Allmählich wurde die Bebauung dichter, und die Stadt unter ihrer Lichtglocke wuchs heran, groß, kalt und öde, allem beraubt, nur noch nackte, harte Flächen aus Metall, Glas und Beton.
Um diese Uhrzeit war sogar in den zentralen Stadtteilen, abgesehen von ein paar Taxis, zwei Krankenwagen und einer Polizeistreife, alles wie ausgestorben. Das schwarze Polizeiauto mit den weißen Kotflügeln raste mit seinem eigenen lärmenden Geräuschpegel dahin.
Die Ampeln schalteten in sinnloser mechanischer Monotonie von Rot auf Gelb auf Grün, dann erneut auf Gelb und wieder auf Rot.
Das schwarze Auto wurde unter strikter Einhaltung der Verkehrsregeln gelenkt, es überschritt nie die zulässige Höchstgeschwindigkeit, wurde an Kreuzungen langsamer und hielt an allen Stoppschildern.
Jetzt fuhr es die Vasagatan entlang, an dem neugebauten Sheraton Hotel und dem Hauptbahnhof vorbei, bog am Norra Bantorget nach links ab und fuhr dann die Torsgatan hinauf weiter nach Norden.
Auf dem Platz stand ein angestrahlter Baum, und an der Haltestelle wartete der Bus der Linie 591. Der zunehmende Mond stand über dem St. Eriksplan, und die blauen Neonzeiger an der Uhr vom Bonnier-Haus zeigten die Uhrzeit an. Zwanzig Minuten vor zwei.
Zu diesem Zeitpunkt war der Mann in dem Auto exakt sechsunddreißig Jahre alt.
Jetzt fuhr er ostwärts die Odengatan entlang, vorbei am menschenleeren Vasapark mit seinen kalten weißen Laternen und dem dichten, geäderten Schattenwerk aus Tausenden kahlen Ästen.
Das schwarze Auto bog wieder nach rechts ab, folgte der Dalagatan einhundertfünfundzwanzig Meter in südlicher Richtung, bremste und blieb stehen.
Der Mann in dem Lumberjack und mit der Tweedmütze parkte ausgesprochen nachlässig mit zwei Rädern auf dem Bürgersteig direkt vor der Eingangstreppe des Eastman-Instituts.
Er stieg hinaus in die Nacht und schlug die Tür hinter sich zu.
Es war der 3. April 1971, ein Samstag.
Der Tag war erst eine Stunde und vierzig Minuten alt, und es hatte noch nichts Besonderes geschehen können.
Um Viertel vor zwei hörte das Morphium auf zu wirken.
Die letzte Injektion hatte er kurz vor zehn bekommen, und die Betäubung wirkte demnach weniger als vier Stunden.
Der Schmerz kam punktuell zurück, zuerst auf der linken Seite im Oberbauch, wenige Minuten später auch rechts. Dann strahlte er in den Rücken aus und breitete sich schnell und ruckartig im Körper aus, grimmig und stechend, als würden ausgehungerte Geier seine Eingeweide verschlingen.
Er lag auf dem Rücken in dem hohen, schmalen Metallbett und starrte an die weißgekalkte Decke, wo der schwache Widerschein der Nachtlampe und die Reflexionen von draußen ein eckiges, statisches Schattenmuster bildeten, das keiner deuten konnte und das ebenso kalt und abstoßend war wie der gesamte Raum.
Die Decke war nicht eben, sondern bestand aus zwei flachen Bogen und schien weit entfernt zu sein. Sie war hoch, sicherlich vier Meter, und wie alles andere in diesem Gebäude altmodisch. Das Bett stand auf dem gekachelten Fußboden mitten im Zimmer, außer ihm gab es nur zwei weitere Möbelstücke: den Nachttisch und einen Holzstuhl mit gerader Rückenlehne.
Die Gardinen waren nicht ganz zugezogen, und das Fenster war angelehnt. Durch den fünf Zentimeter breiten Spalt drang von draußen die kühle und frische Luft der Spätwinternacht herein. Dennoch nahm er mit quälendem Unbehagen den fauligen Gestank wahr, den die Blumen auf dem Tisch und sein eigener entkräfteter Körper verströmten.
Er hatte nicht geschlafen, sondern ganz still wachgelegen und daran gedacht, dass die Betäubung bald aufhören würde.
Vor ungefähr einer Stunde hatte er die Nachtschwester auf dem Flur in ihren Holzschuhen an der doppelten Tür vorbeigehen hören. Seitdem hatte er nichts anderes mehr gehört als das Keuchen seines eigenen Atems und vielleicht das Rauschen seines Blutes, das schwer und uneben durch den Organismus pulsierte. Aber das waren keine bestimmten Laute, sondern eher Phantasiegebilde, Begleiter der Qual, die sich bald einstellen würde, und der besinnungslosen Angst zu sterben.
Der Kranke war immer ein harter Mann gewesen, der Fehler und Schwächen bei anderen nur ungern tolerierte und sich nie hätte eingestehen wollen, dass er selbst einmal schwach sein könnte, weder körperlich noch mental.
Jetzt hatte er Angst, und er hatte Schmerzen, fühlte sich hintergangen und im Stich gelassen. Die Wochen im Krankenhaus hatten seine Sinne geschärft, er reagierte unnatürlich empfindlich auf alle Formen physischen Schmerzes. Ihm graute sogar vor den Injektionsnadeln und dem Stich in die Armbeuge, wenn die Krankenschwestern die täglichen Blutproben nahmen. Außerdem fürchtete er sich in der Dunkelheit und ertrug es nicht, allein zu sein. Er hatte gelernt, Geräusche wahrzunehmen, die er noch nie zuvor bemerkt hatte.
Durch die Untersuchungen, von den Ärzten scherzhaft Ermittlungen genannt, baute er nur noch mehr ab, und es ging ihm immer schlechter. Je kränker er sich fühlte, desto größer wurde die Todesangst, bis sie sein ganzes Denken bestimmte und ihn völlig entblößt in einen Zustand seelischer Nacktheit und eines fast obszönen Egoismus versetzte.
Draußen vor dem Fenster raschelte etwas. Sicherlich ein Tier, das durch die Beete mit verwelkten Rosen huschte. Eine Wühlmaus oder ein Igel, vielleicht eine Katze. Aber hielten Igel nicht Winterschlaf?
Es muss ein Tier sein, dachte er und hob, ohne sein Handeln kontrollieren zu können, die linke Hand zu der elektrischen Klingel, die, einmal um das Bettgitter geschlungen, in bequemer Reichweite hing.
Doch als seine Finger das kalte Metallrohr streiften, fuhr ein Schauer durch seine Hand, ein unfreiwilliges Zucken, und er zitterte so, dass das Kabel wegrutschte und der Klingelknopf mit einem schwachen scheppernden Knall zu Boden fiel.
Das Geräusch brachte ihn dazu, sich zu besinnen.
Wenn er die Klingel hätte packen können und den weißen Knopf gedrückt hätte, wäre über seiner Tür draußen im Flur eine rote Signallampe angegangen, und schon bald wäre die Nachtschwester mit klappernden Holzschuhen aus ihrem Zimmer anmarschiert gekommen.
Da er nicht nur Angst hatte, sondern auch eitel war, war es ihm nun ganz recht, dass er nicht hatte klingeln können.
Dann wäre die Nachtschwester ins Zimmer gekommen, hätte das Deckenlicht eingeschaltet und ihn fragend angestarrt, ihn, der elend und erbärmlich in seinem Bett lag.
Er bewegte sich eine Weile nicht und spürte, wie der Schmerz in blitzschnellem Wechsel kam und ging, als wäre er ein orientierungsloser Schnellzug mit einem wahnsinnigen Lokführer.
Dann machte sich ein neues Bedürfnis bemerkbar. Er musste pinkeln.
In dem gelben Abfallkorb auf der Rückseite des Nachttischs steckte eine Flasche in Reichweite. Aber er wollte sie nicht benutzen. Wenn er wollte, durfte er aufstehen. Einer der Ärzte hatte sogar gesagt, es sei gut, wenn er sich ein wenig bewegte.
Jetzt wollte er aufstehen, die doppelte Tür aufmachen und zur Toilette gehen, die genau gegenüber auf der anderen Seite des Flures war. Das würde ihn zerstreuen, eine praktische Verrichtung, etwas, das sein Denken für eine kurze Zeit in andere Bahnen lenken konnte.
Er schob die Decke und das Betttuch weg, hievte sich in eine sitzende Stellung und saß einige Momente mit baumelnden Beinen auf der Bettkante. Während er das weiße Nachthemd zurechtzog, hörte er, wie dabei die Plastikunterlage auf der Matratze raschelte.
Dann ließ er sich vorsichtig hinuntergleiten und spürte den kalten Steinfußboden unter seinen feuchten Fußsohlen. Obwohl die breiten Pflasterstreifen im Schritt und um die Oberschenkel spannten, versuchte er sich aufzurichten und schaffte es auch. Er hatte nach wie vor den Druckverband aus Schaumstoff an den Leisten von der Aortographie am Tag zuvor.
Die Hausschuhe standen vor dem Nachttisch. Er schob die Füße hinein und ging vorsichtig schlurfend zur Doppeltür, öffnete die erste Tür nach innen, die andere nach außen. Dann ging er quer über den schummrigen Flur zur Toilette.
Als er gepinkelt und sich die Hände mit kaltem Wasser gewaschen hatte, blieb er auf dem Weg zurück in sein Zimmer im Gang stehen und lauschte. Von ganz weit hinten hörte man die gedämpften Laute aus dem Radio der Nachtschwester. Jetzt hatte er wieder Schmerzen, die Angst kam zurück und er dachte, er könnte doch zu ihr gehen und um ein paar Schmerztabletten bitten. Die würden zwar keine große Wirkung haben, aber dann wäre sie gezwungen, den Medizinschrank aufzuschließen, die Dose herauszunehmen und ihm etwas Saft zu geben, und auf diese Weise würde sich wenigstens irgendjemand eine Weile mit ihm beschäftigen müssen.
Die Entfernung zum Schwesternzimmer betrug ungefähr zwanzig Meter, und er nahm sich dafür viel Zeit. Ging langsam und schleppend, und das verschwitzte Hemd schlabberte ihm um die Waden.
Das Licht im Schwesternzimmer war an, aber es war kein Mensch dort. Nur das Transistorradio stand zwischen zwei halbleeren Kaffeetassen und dudelte vor sich hin.
Die Nachtschwester und die Pflegerin waren natürlich irgendwo anders auf der Station beschäftigt.
Ihm wurde schwarz vor Augen, und er musste sich am Türrahmen festhalten. Nach etwa einer Minute wurde es ein wenig besser, und er ging den dunklen Flur entlang langsam zu seinem Zimmer zurück.
Die Türen standen wie vorher, als er das Zimmer verlassen hatte, einen Spalt offen. Er schloss sie sorgfältig, ging die wenigen Schritte zum Bett und stieg aus den Hausschuhen. Dann legte er sich auf den Rücken und zog mit einem Schaudern die Decke bis zum Kinn. Mit weit geöffneten Augen lag er ganz still da und spürte den Schnellzug durch den Körper rasen.
Etwas war anders. Das Muster an der Decke war ein klein wenig verschoben.
Das fiel ihm fast sofort auf.
Aber wie hatten die Schatten und Reflexionen ihre Position ändern können?
Er ließ den Blick über die kahlen Wände gleiten, drehte den Kopf nach rechts und sah zum Fenster.
Als er das Zimmer verlassen hatte, hatte das Fenster offen gestanden, da war er sich ganz sicher.
Jetzt war es zu.
Sofort überwältigte ihn die Angst, und er hob die Hand zur Klingel. Aber die war nicht mehr da. Er hatte vergessen, das Kabel mit dem Klingelknopf vom Fußboden aufzuheben.
Er hielt die Finger fest um das Eisenrohr geschlossen, wo sich eigentlich die Klingel befinden sollte, und starrte zum Fenster.
Der Spalt zwischen den dicken Gardinen war immer noch ungefähr fünf Zentimeter breit, aber sie hingen nicht mehr genau so wie vorher, und das Fenster war geschlossen.
Konnte jemand vom Personal im Zimmer gewesen sein?
Das schien ihm nicht wahrscheinlich.
Er spürte den Schweiß aus allen Poren dringen und das Hemd, kalt und klebrig, an der empfindlichen Haut.
Hilflos seinem eigenen Denken ausgeliefert und ohne den Blick vom Fenster wenden zu können, begann er, sich im Bett aufzurichten.
Die Gardinen bewegten sich nicht, dennoch war er sicher, dass jemand dahinter stand.
Wer?, dachte er.
Wer konnte das sein?
Und dann mit einem letzten Rest von Vernunft: Das muss eine Halluzination sein.
Der Kranke stand jetzt zitternd und mit den Füßen auf dem Steinfußboden neben dem Bett. Er machte zwei unsichere Schritte zum Fenster hin und blieb stehen, leicht zusammengesunken, mit zuckenden Lippen.
Der Mann in der Fensternische schlug mit der rechten Hand die Gardine beiseite und zog gleichzeitig mit der linken das Bajonett.
Lichtreflexe blitzten auf dem langen, breiten Blatt.
Der Mann in dem Lumberjack und mit der karierten Tweedmütze trat zwei rasche Schritte nach vorn und blieb breitbeinig stehen, groß, mit geradem Rücken und der Waffe auf Schulterhöhe.
Der Kranke erkannte ihn sofort und wollte den Mund öffnen, um zu schreien.
Das schwere Heft des Bajonetts traf ihn über dem Mund, und er spürte, wie seine Lippen zerfetzt wurden und das Gebiss zersplitterte.
Und das war das Letzte, was er spürte.
Der Rest ging zu schnell. Die Zeit raste ihm davon.
Der erste Schlag traf ihn auf der rechten Seite in den Bauch, direkt unterhalb der Rippen, und das Bajonett drang bis zum Heft ein.
Der Kranke stand nach wie vor aufrecht da, den Kopf nach hinten geworfen, als der Mann in dem Lumberjack die Waffe zum dritten Mal erhob und ihm vom linken bis zum rechten Ohr den Hals aufschlitzte.
Aus der geöffneten Luftröhre kam ein blubbernder, schwach zischender Laut.
Mehr nicht.
Es war Freitagabend, und die Lokale in Stockholm hätten eigentlich voller fröhlicher Menschen sein müssen, die das Ende einer anstrengenden Arbeitswoche feierten. Aber das war nicht der Fall, und es war nicht schwer, sich auszurechnen, warum. In den letzten fünf Jahren hatten sich die Preise in den Restaurants fast verdoppelt, und es gab nicht viele einfache Arbeitnehmer, die sich auch nur einen einzigen Restaurantbesuch im Monat leisten konnten. Die Wirte klagten und redeten von einer Krise, und diejenigen, die ihre Lokale noch nicht in Pubs oder Diskotheken verwandelt hatten, um die zahlungskräftigen jungen Leute anzulocken, hielten sich dank der wachsenden Zahl von Geschäftsleuten mit Kreditkarten und Spesenkonten über Wasser, die es vorzogen, ihre Verhandlungen am Restauranttisch zu führen.
Der Gyldene Freden in Gamla stan, der Altstadt, machte da keine Ausnahme. Zwar war es spät, der Freitag war schon in den Samstag übergegangen, doch in den vergangenen Stunden hatten im ganzen Speisesaal nur zwei Gäste gesessen. Ein Mann und eine Frau. Sie hatten Tatar gegessen und tranken jetzt Kaffee und Punsch, während sie über den Tisch hinweg leise miteinander sprachen.
Zwei Bedienungen saßen an einem kleinen Tisch direkt gegenüber den Eingangstüren und falteten Servietten. Die jüngere, die rothaarig war und müde aussah, stand auf und warf einen Blick auf die Uhr über der Kasse. Sie gähnte, nahm eine Serviette und ging zu den Gästen in der Fensternische.
«Möchten Sie noch etwas bestellen, ehe ich die Kasse schließe?», fragte sie und wischte mit der Serviette ein paar Tabakkrümel von der Tischdecke. «Vielleicht noch etwas mehr Kaffee für den Herrn Kommissar?»
Martin Beck merkte zu seinem eigenen Erstaunen, dass er sich geschmeichelt fühlte, weil sie wusste, wer er war. Normalerweise ärgerte es ihn, wenn er daran erinnert wurde, dass er als Chef der Reichsmordkommission mehr oder weniger eine öffentliche Person war. Doch inzwischen war es lange her, seit sein Foto das letzte Mal in den Zeitungen erschienen oder er im Fernsehen aufgetreten war. Daher nahm er die Tatsache, dass die Bedienung ihn wiedererkannte, eher als ein Zeichen dafür, dass man ihn langsam als Stammgast im Freden betrachtete. Und das übrigens ganz zu Recht, denn seit zwei Jahren wohnte er nicht weit von dem Lokal entfernt, und wenn er mal ausging, dann meist ins Freden. Dass er Gesellschaft hatte, wie heute Abend, war allerdings eher ungewöhnlich.
Das Mädchen ihm gegenüber war seine Tochter. Sie hieß Ingrid, war neunzehn Jahre alt, und wenn man davon absah, dass sie sehr blonde Haare hatte und er sehr dunkle, sahen sie sich trotzdem erstaunlich ähnlich.
«Möchtest du noch Kaffee?», fragte Martin Beck.
Ingrid schüttelte den Kopf, und die Bedienung entfernte sich, um die Rechnung fertig zu machen. Martin Beck nahm die kleine Punschflasche aus dem Eisbehälter und schenkte den Rest in die beiden Gläser. Ingrid nippte an ihrem.
«Das sollten wir öfter tun», sagte sie.
«Punsch trinken?»
«Hm, das schmeckt gut. Nein, uns treffen, meinte ich. Nächstes Mal lade ich dich zum Abendessen ein. Zu Hause im Klostervägen. Du hast meine Wohnung immer noch nicht gesehen.»
Ingrid war drei Monate bevor sich ihre Eltern getrennt hatten, von zu Hause ausgezogen. Martin Beck fragte sich manchmal, ob er es überhaupt geschafft hätte, aus seiner stagnierenden Ehe mit Inga auszubrechen, wenn Ingrid ihn nicht dazu ermuntert hätte. Sie selbst hatte sich zu Hause nicht mehr wohl gefühlt und war, noch ehe sie das Gymnasium abgeschlossen hatte, mit einer Freundin zusammengezogen. Inzwischen studierte sie an der Universität Soziologie und war kürzlich in eine Einzimmerwohnung in Stocksund gezogen, zunächst als Untermieterin, es bestand jedoch die Aussicht, dass sie den Mietvertrag würde übernehmen können.
«Mama und Rolf waren vorgestern bei mir», sagte sie. «Ich hatte gehofft, dass du auch kommen würdest, aber ich habe dich nicht erreicht.»
«Ja, ich war ein paar Tage in Örebro. Wie geht es den beiden?»
«Gut. Mama hatte einen ganzen Koffer mit Zeugs dabei. Handtücher, Servietten und das blaue Kaffeeservice und ich weiß nicht was sonst noch alles. Übrigens haben wir über Rolfs Geburtstag gesprochen. Mama will, dass wir kommen und mit ihnen zu Abend essen. Wenn du kannst.»
Rolf war drei Jahre jünger als Ingrid. Obwohl die beiden so unterschiedlich waren, wie Geschwister nur sein konnten, hatten sie sich immer gut verstanden.
Die Rothaarige kam mit der Rechnung. Martin Beck bezahlte und leerte sein Glas. Er sah auf seine Armbanduhr. Es war ein paar Minuten vor eins.
«Dann brechen wir mal auf», meinte Ingrid und beeilte sich mit dem letzten Schluck Punsch.
Sie gingen langsam die Österlånggatan nach Norden. Der Himmel war sternenklar, und es war sehr kalt. Ein paar betrunkene junge Männer, die aus der Drakens Gränd kamen, schrien und johlten so laut, dass ihr Gegröle zwischen den alten Hauswänden widerhallte.
Ingrid hakte sich bei ihrem Vater unter und passte sich seinem Schritt an. Sie hatte lange Beine und war schlank, fast zu schmal, fand Martin Beck, doch sie selbst behauptete immer, dringend abnehmen zu müssen.
«Kommst du noch mit rauf?», fragte er, als sie den Hügel zum Köpmantorget hinaufgingen.
«Ja, aber nur, um mir ein Taxi zu rufen. Es ist spät, und du musst schlafen.»
Martin Beck gähnte.
«Stimmt, ich bin ziemlich müde», sagte er.
Am Sockel des Standbilds vom heiligen Georg mit dem Drachen hockte ein Mann und schien mit der Stirn auf den Knien zu schlafen.
Als Ingrid und Martin Beck vorbeikamen, hob er den Kopf und lallte mit lauter Stimme etwas Unverständliches, streckte darauf die Beine vor sich aus und schlief mit dem Kinn auf der Brust wieder ein.
«Sollte er seinen Rausch nicht lieber auf der Nicolaiwache ausschlafen?», fragte Ingrid. «Hier draußen ist doch viel zu kalt.»
«Früher oder später wird er schon dort landen», beruhigte Martin Beck sie. «Wenn Platz ist. Übrigens ist es lange her, dass ich mich um Betrunkene kümmern musste.»
Schweigend gingen sie weiter die Köpmangatan hinunter.
Martin Beck dachte an den Sommer vor zweiundzwanzig Jahren, in dem er als Polizist im Nicolai-Bezirk Streife gegangen war. Damals hatte Stockholm anders ausgesehen. Die Altstadt war das reinste Kleinstadtidyll gewesen, natürlich mit mehr Säufern, Armut und Elend, bis man die Häuser saniert und restauriert und die Mieten derart erhöht hatte, dass die alten Mieter es sich nicht mehr leisten konnten, dort zu wohnen. Es war schick geworden, hier zu wohnen, und inzwischen gehörte er selbst zu den Privilegierten.
Sie fuhren mit dem Fahrstuhl, der bei der Renovierung eingebaut worden war und immer noch zu den wenigen seiner Art in Gamla stan gehörte, in den obersten Stock. Die Wohnung war gründlich modernisiert und bestand aus einem Flur, einer kleinen Küche, dem Badezimmer und zwei nebeneinanderliegenden Zimmern, deren Fenster auf einen großen offenen Hof nach Osten wiesen. Die Räume waren gemütlich und besaßen mit den tiefen Fensternischen und der niedrigen Decke eine asymmetrische Form. Im vorderen Zimmer, das mit bequemen Sesseln und einem niedrigen Tisch möbliert war, gab es einen offenen Kamin. Im hinteren stand ein breites Bett, das von tiefen, an der Wand angebrachten Regalen und Schränken eingerahmt war, und am Fenster stand ein großer Schreibtisch mit Unterschränken.
Ohne den Mantel abzulegen, ging Ingrid hinein und setzte sich an den Schreibtisch, nahm den Hörer ab und wählte die Nummer der Taxizentrale.
«Willst du nicht noch ein wenig bleiben?», rief Martin Beck aus der Küche.
«Nein, ich muss nach Hause und schlafen. Ich bin todmüde. Und du übrigens auch.»
Martin Beck machte keine Einwände. Er fühlte sich plötzlich gar nicht mehr schläfrig. Den ganzen Abend über hatte er gegähnt, und im Kino, wo sie Truffauts «Sie küssten und sie schlugen ihn» gesehen hatten, war er mehrmals fast eingeschlafen.
Nachdem Ingrid ein Taxi bestellt hatte, kam sie in die Küche und küsste Martin Beck auf die Wange.
«Danke für den Abend. Falls wir uns vorher nicht mehr sehen, dann bis zu Rolfs Geburtstag. Schlaf gut.»
Martin Beck brachte sie zum Fahrstuhl, flüsterte gute Nacht, bevor er zurückging, die Tür schloss und in seine Wohnung ging.
Er goss sich das Bier, das er aus dem Kühlschrank geholt hatte, in ein großes Glas und stellte es auf den Schreibtisch. Dann ging er zum Plattenspieler, der neben dem Kamin stand, wählte unter den Schallplatten das «Siebte Brandenburgische Konzert» von Bach aus und legte es auf. Das Haus war gut schallisoliert, und er wusste, dass er ziemlich laut Musik machen konnte, ohne die Nachbarn zu stören. Er setzte sich an den Schreibtisch und trank von seinem Bier, das frisch und kalt war und den klebrig süßen Geschmack des Punsches wegspülte. Er drückte den Pappfilter einer Florida zusammen, steckte sich die Zigarette in den Mund und zündete ein Streichholz an. Dann stützte er das Kinn in die Hände und starrte aus dem Fenster.
Der Frühlingshimmel wölbte sich tiefblau und sternenklar über das mondbeleuchtete Dach auf der anderen Seite des Hofs. Martin Beck lauschte der Musik und ließ die Gedanken schweifen. Er fühlte sich vollkommen entspannt und zufrieden.
Nachdem er die Platte umgedreht hatte, ging er zum Regal über dem Bett und hob ein halb fertiges Modell des Klippers Flying Cloud herunter. Fast eine Stunde lang arbeitete er an Masten und Rahen, ehe er das Modell wieder ins Regal zurückstellte.
Während er sich auszog, betrachtete er nicht ohne Stolz die beiden fertiggebauten Modelle der Cutty Sark und des Schulschiffs Danmark. Bald würde an der Flying Cloud nur noch das Rigg fehlen, die schwierigste Arbeit, die am meisten Geduld verlangte.
Nackt ging er in die Küche und stellte Aschenbecher und Bierglas auf die Spüle. Dann machte er alle Lampen außer der über dem Bett aus, ließ das Schlafzimmerfenster einen Spalt weit offen und legte sich hin. Er zog die Uhr auf, die fünf vor halb drei anzeigte, und kontrollierte, ob der Alarm auch aus war. Er hatte hoffentlich einen freien Tag vor sich, an dem er so lange schlafen konnte, wie er wollte.
Auf dem Nachttisch lag «Mit dem Schärendampfer ins Sommervergnügen» von Kurt Bergengren. Er blätterte ein wenig darin herum, sah sich die Bilder an, die er schon oft eingehend betrachtet hatte, und las hier und da einige Sätze, wobei ihm ganz nostalgisch wurde. Das Buch war groß und schwer und deshalb als Bettlektüre nicht sonderlich geeignet, und seine Arme wurden schnell müde. Er legte es weg und streckte die Hand aus, um die Nachttischlampe auszumachen.
In diesem Moment klingelte das Telefon.
Einar Rönn war wirklich todmüde.
Er hatte mehr als siebzehn Stunden am Stück gearbeitet. Jetzt stand er auf der Wache der Kriminalpolizei im Polizeipräsidium an der Kungsholmsgatan und betrachtete einen weinenden Mann, der sich an einem Mitmenschen vergriffen hatte.
Eigentlich war «Mann» etwas zu viel gesagt, der Festgenommene war eigentlich noch ein Kind. Ein achtzehnjähriger Junge mit schulterlangem blondem Haar, knallroten Jeans und einer Fransenjacke aus braunem Wildleder, auf deren Rücken das Wort «Love» aufgemalt war. Um die Buchstaben herum rankten sich hübsch verschnörkelte Blumen in Rosa, Hellblau und Violett. Auf den Stiefelschäften waren ebenfalls Blumen und Schriftzeichen zu sehen, genauer gesagt die Worte «Peace» und «Maggie». Und sinnigerweise waren an den Ärmeln lange Strähnen aus weichem, gewelltem Menschenhaar festgenäht.
Man musste sich fast fragen, ob jemand dafür skalpiert worden war.
Rönn hatte selbst nicht übel Lust zu weinen. Zum Teil aus Erschöpfung, aber vor allem deshalb, weil ihm neuerdings die Täter oft mehr leidtaten als die Opfer.
Der Jüngling mit dem schönen Haar hatte versucht, einen Drogendealer zu erschlagen. Das war ihm zwar nicht sonderlich gut gelungen, doch es reichte aus, ihn des versuchten Totschlags anzuklagen.
Seit fünf Uhr nachmittags war Rönn hinter ihm her gewesen, was bedeutete, dass er gezwungen gewesen war, insgesamt achtzehn Drogenumschlagplätze in seiner schönen Stadt aufzusuchen und durchzukämmen.
Und all das nur, weil ein Verbrecher, der den Schulkindern auf dem Mariatorget mit Opium vermischtes Hasch verkaufte, nun eine Beule am Kopf hatte. Zugegeben, die rührte von einer Eisenstange her und aus dem einzigen Grund, dass der Täter pleite gewesen war. Aber trotzdem, fand Rönn.
Außerdem hatte er neun Überstunden, die, bis er zu Hause in Vällingby war, auf zehn angewachsen sein würden.
Doch man musste immer auch das Positive sehen. Immerhin bekam er dafür einen Lohn.