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Band 4: Letzte Station: Tod In Stockholm prallt ein Bus kurz vor der Endstation gegen einen Zaun. Doch der Busfahrer und seine acht Insassen waren schon vorher tot. Ihre Körper sind durch Maschinengewehrschüsse bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Nur bei einem Opfer kann die Identität sofort geklärt werden: Es ist der junge Kriminalbeamte Åke Stenström. War Stenström der Lösung eines alten, längst zu den Akten gelegten Falls zu nahe gekommen? Und wenn ja, um welchen Fall handelt es sich? Endstation für neun ist der vierte Band der weltberühmten Serie um den schwedischen Kommissar Martin Beck. Maj Sjöwall und Per Wahlöö gelingt es meisterhaft, einen fesselnden Kriminalfall mit einer intensiven Charakterstudie des Protagonisten zu verbinden. In neuer Übersetzung und mit einem Vorwort von Kjell Ola Dahl lädt dieser Klassiker der skandinavischen Kriminalliteratur zu einer spannenden Ermittlung in die Abgründe Stockholms ein.
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Seitenzahl: 346
Veröffentlichungsjahr: 2025
Maj Sjöwall • Per Wahlöö
Ein Kommissar-Beck-Roman
Mit einem Vorwort von Kjell Ola Dahl
In neuer Übersetzung von Paul Berf
Letzte Station: Tod
In Stockholm ist ein Bus kurz vor der Endstation gegen einen Zaun geprallt. Doch der Busfahrer und seine acht Insassen waren schon vorher tot. Ihre Körper sind durch die Schüsse eines Maschinengewehrs bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Nur bei einem Opfer kann die Identität sofort geklärt werden: Es ist der junge Kriminalbeamte Åke Stenström. War Stenström der Lösung eines alten, längst zu den Akten gelegten Falls zu nahe gekommen? Und wenn ja, um welchen Fall handelt es sich?
Dies ist der vierte Band der weltberühmten Serie um den schwedischen Kommissar Martin Beck. In neuer Übersetzung und mit einem Vorwort von Kjell Ola Dahl.
Das schwedische Autorenduo Maj Sjöwall und Per Wahlöö schrieb einen Zyklus von zehn Kriminalromanen um Kommissar Martin Beck, die zu einem einzigartigen Welterfolg wurden. Mit ihrer Mischung aus Gesellschaftskritik, Spannung und Unterhaltung haben Sjöwall/Wahlöö die Spannungsliteratur revolutioniert und eine ganze Generation von Krimiautoren geprägt. Sie gelten als Eltern des skandinavischen Kriminalromans und sind erklärte Vorbilder von Autoren wie Henning Mankell und Håkan Nesser. Die zehn Bände der Kommissar-Beck-Reihe sind in 35 Sprachen übersetzt worden und erreichten bisher eine Gesamtauflage von über 10 Millionen Exemplaren. Alle Romane wurden außerdem sehr erfolgreich fürs Fernsehen verfilmt.
Maj Sjöwall, 1935 in Stockholm geboren, studierte Graphik und Journalismus und arbeitete für verschiedene Zeitschriften. Mit ihrem Mann Per Wahlöö schrieb sie die erfolgreiche Krimiserie um Kommissar Martin Beck, die auch verfilmt wurde. 1996 erhielt Sjöwall für die erste Serienverfilmung von Kommissar Beck den Adolf-Grimme-Preis (zusammen mit Gösta Ekmann). Zuletzt arbeitete Maj Sjöwall als Übersetzerin in Stockholm, wo sie im April 2020 verstarb.
Per Wahlöö, 1926 im schwedischen Lund geboren, machte nach dem Studium der Geschichte als Journalist Karriere. In den Fünfzigerjahren ging er nach Spanien und wurde 1956 vom Franco-Regime ausgewiesen. Nach verschiedenen Reisen um die halbe Welt ließ er sich wieder in Schweden nieder und arbeitete dort als Schriftsteller. Per Wahlöö starb 1975 in seiner Heimatstadt.
Die Originalausgabe erschien 1968 unter dem Titel «Den skrattande polisen» bei P. A. Norstedt & Söners Förlag, Stockholm.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, März 2025
Copyright © 1971, 2008 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
«Den skrattande polisen» Copyright © 1968 by Maj Sjöwall und Per Wahlöö
Redaktion Dagmar Lendt
Covergestaltung ZERO Werbeagentur, München, unter Verwendung eines Motivs von Adobe Photoshop KI
Coverabbildung Shutterstock
ISBN 978-3-644-02276-8
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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www.rowohlt.de
Kjell Ola Dahl
Schriftsteller sind gute Lügner und noch bessere Diebe. Und wir haben alle unsere Vorbilder.
Ein gutes Buch entsteht niemals aus dem Nichts. Es wächst langsam und ist zu gleichen Teilen von Begeisterung und Protest gefärbt. Raymond Chandler hat einmal über Dashiell Hammett gesagt, er habe den Mord aus den Teesalons geholt und auf die Straße geworfen, wo er hingehört. Hammett veränderte das Genre des Kriminalromans, machte es realistischer als das versnobte britische Rätselmysterium für Menschen in einer anderen Zeit und Welt. Aber er bewahrte einzelne grundlegende Elemente: einen rätselhaften Mord, der die Handlung vorantreibt, Charaktere, an die sich der Leser auch nach Ende der Lektüre noch erinnert – und fügte von sich aus hinzu: eine harte und präzise Sprache, exotische Milieus, die dennoch immer so nah blieben, dass sie Seiten in der Wirklichkeit des Lesers spiegelten.
Ein guter Kriminalroman ist nicht wahr. Der Mord ist nicht geschehen. Aber er hätte geschehen können.
Als ich Endstation für neun zum ersten Mal las, erkannte ich sofort, dass ich ein Buch von zwei Autoren las, die das Genre erneut veränderten, die den Kriminalroman noch realistischer machten als die Monologe cooler amerikanischer Privatdetektive. Diese phantastische Geschichte spielte immerhin in Schweden, in Stockholm, Skandinavien. Es hätte also auch Oslo, Norwegen, sein können. In dem Bus, der an dem Häuserblock vorbeibrauste, in dem ich wohnte, hätten neun Menschen durch Schüsse getötet werden können – und Martin Becks Tochter hätte ein Mädchen in meiner eigenen Schulklasse sein können –, eine von denen, die in Mietshäusern wohnten und Eltern hatten, um deren Ehe es nicht zum Besten stand.
Das war 1972. Ich war vierzehn. Endstation für neun war meine erste Begegnung mit Martin Beck und seinen Kollegen von der Stockholmer Polizei. Ich fand das Buch im Bücherregal meines Vaters. Als Krimileser schwärmte ich damals für Romane amerikanischer Spielart: Chandler, Hammett, Ross MacDonald, Jim Thompson, James M. Cain und Len Deighton. Deshalb war mir dieses Buch entgangen. Zum einen machte es einen etwas seltsamen Eindruck, dass ein Roman von zwei Personen geschrieben wurde. Außerdem waren sie Schweden. Wie man sich irren kann. Aber man weiß eben nie, wo sich der Schatz verbirgt, bevor man die Kiste öffnet.
Nachdem ich das Buch gelesen hatte, durchforstete ich unverzüglich die Regale auf der Suche nach weiteren Büchern von Sjöwall und Wahlöö. Die Lektüre wurde zu einer Reise in ein einzigartiges literarisches Universum mit Mysterien, Spannung, einmaligen und unvergesslichen Charakteren wie Martin, Gunvald und Lennart – und nicht zuletzt einer soliden Portion Humor. Und etwas von der Freude daran, Endstation für neun zu lesen, lag in diesem Wiedererkennen – der Einführung in das «Polizeikollektiv», also die Bekanntschaft mit mehreren Charakteren mit ganz verschiedenen und spannenden Charakterzügen.
Maj Sjöwall und Per Wahlöö schrieben zehn Bücher über Martin Beck und die Männer der Stockholmer Polizei. Aber Endstation für neun ist in meinen Augen etwas ganz Besonderes. Das Buch berührte Leser in aller Welt, und zwar so stark, dass die Autoren 1971 für den Roman The Edgar Award bekamen – die Auszeichnung für den besten in den USA veröffentlichten Kriminalroman! Zwei Jahre später spielte Walter Matthau die Rolle des Sergeant Martin in dem Hollywoodfilm Massenmord in San Francisco. Nun, der Erfolg des Buchs ist eine Sache. Eine andere ist die Rolle der Autoren als Pioniere. Maj Sjöwall und Per Wahlöö eroberten mit diesem Roman ein Feld, auf dem man Autoren aus kleinen Ländern und Sprachen bis dahin nicht wahrgenommen hatte. Endstation für neun war der erste wirklich große Kriminalroman aus Skandinavien. Mit diesem Buch eroberten Sjöwall und Wahlöö die Welt, während sie gleichzeitig neue Generationen von Autoren – wie mich selbst – inspirierten und die Grundlage für sie schufen.
Für mich geht es bei Literatur immer um das persönliche Erlebnis – es ist entweder gut oder nicht so gut. Damit reduziert sich alles auf die Frage, was für das Erlebnis entscheidend ist. Was macht Endstation für neun also zu einem Buch, das ich noch heute, mehr als dreißig Jahre nachdem ich es zum ersten Mal gelesen habe, mit Vergnügen wiederlesen kann? Die Antwort findet sich zu einem großen Teil in der Intimität, die zwischen den Charakteren der Polizisten und dem Leser entsteht. Das Wort Antiheld bekommt mit Maj Sjöwalls und Per Wahlöös Büchern eine neue Färbung. Wenn Martin Beck endlich auf der Couch im Wohnzimmer einschläft, ärgert sich der Leser immer noch über Becks Frau Inga. Wir regen uns über Gunvald Larssons Bulldozergebaren auf. Aber in Endstation für neun steht vor allem Lennart Kollberg im Mittelpunkt. In dieser Geschichte entpuppt er sich als Erotiker und Hedonist im Körper eines Ermittlers. Die Sicht des Romans auf Sexualität und insbesondere die weibliche Sexualität klingt wie ein charmantes Echo aus den freizügigen sechziger Jahren, vor allem die Szene, in der Lennart heim zu seiner Frau geht, um sich gegen Åsa Torell impfen zu lassen.
Die Handlung folgt klassischen Mustern, beispielsweise, wenn etwas aus der Vergangenheit auftaucht und Bedeutung für die Ermittlungen in der Gegenwart bekommt, oder der Trick, dass sich eine Person unter den Opfern im Bus nicht sofort identifizieren lässt. Gerade auf diesem Feld brillieren Sjöwall und Wahlöö. Sie bedienen sich klassischer Tricks – aber am Ende haben sie ihren eigenen selbständigen und spannenden Thriller verfasst. Besonders elegant ist der Kunstgriff, mit dem das Verhältnis zwischen Polizei und Handlung etabliert wird. Vordergründig steht für Martin Beck und die anderen nur wenig auf dem Spiel. So ist das im Polizeiroman. Der Polizist ist die offiziell autorisierte Hauptperson, die von außen kommt und dafür bezahlt wird, dass sie ihren Job macht, das Rätsel löst. Aber unter den Ermordeten in diesem Stockholmer Bus befindet sich Åke Stenström – ein Polizist. Damit ist die Polizei in den Fall verstrickt; einer aus den eigenen Reihen ist von einem unbekannten Täter brutal erschossen worden. Folglich steht viel auf dem Spiel – und gleichzeitig werden der Handlung mehrere Rätsel hinzugefügt.
Verglichen mit anderen Büchern der Autoren, liegt eine Stärke von Endstation für neun darin begründet, dass so viele verschiedene Polizisten an der Aufklärung beteiligt sind. Unter den Büchern Maj Sjöwalls und Per Wahlöös ist dies der wahre Kollektivroman. Zwar stehen auch hier Beck, Kollberg und Larsson im Mittelpunkt, aber auch Nebenfiguren wie Rönn, Melander, Månsson und Nordin bekommen reichlich Raum, um sich zu entfalten. Sie gehen dem Leser unter die Haut, und wir gönnen es Rönn und Månsson von ganzem Herzen, mit ihren Initiativen Erfolg zu haben. Damit wird der Leser am gesamten Register der Ermittlungen beteiligt, von der Interpretation von Tonbandaufnahmen und dem Anzweifeln der Beobachtungsgabe eines Zeugen bis zur Ergreifung des Täters.
Endstation für neun ist ein Klassiker, nicht nur der schwedischen, sondern auch der internationalen Kriminalliteratur. Der Grund dafür ist schlicht, dass er das Beste von den Besten enthält, während er gleichzeitig auf seine Art Neuland betritt. Der Massenmord im Bus ist eine brutale, aber zugleich glaubwürdige Szene aus einem modernen und komplexen Skandinavien – das in den sechziger und siebziger Jahren, nach wachsender Industrialisierung und dem Zustrom von Arbeitssuchenden, plötzlich zu einem integrierten Teil einer unvorhersehbaren und gewalttätigen Welt geworden war.
Das gleiche Exemplar, das ich als Vierzehnjähriger gelesen habe, steht noch heute in meinem Regal. Es ist so zerlesen, dass es fast auseinanderfällt – wie gute Krimis eben aussehen, wenn sie einige Jahre auf dem Buckel haben.
Wie andere skandinavische Krimiautoren bin ich Maj Sjöwall und Per Wahlöö zu Dank verpflichtet. Als ich das Buch zum ersten Mal las, erhielt ich den Beweis für zwei Dinge: Gute Krimis sind gute Literatur. Außerdem war es möglich, gute Krimis in Schweden zu schreiben. Und Letzteres ließ mich glauben, dass sich so etwas auch in Norwegen bewerkstelligen lassen würde.
Am Abend des 13. November regnete es Bindfäden in Stockholm. Martin Beck und Kollberg saßen, in eine Schachpartie vertieft, in Kollbergs Wohnung unweit der U-Bahn-Station Skärmarbrink am südlichen Stadtrand. Beide hatten gewissermaßen frei, da sich in den letzten Tagen nichts Nennenswertes ereignet hatte.
Martin Beck war ein lausiger Schachspieler, spielte aber trotzdem. Kollberg hatte eine Tochter, die etwas mehr als zwei Monate alt war. An diesem Abend musste er den Babysitter spielen, und Martin Beck verspürte seinerseits keine große Lust, früher nach Hause zu gehen als unbedingt nötig. Das Wetter war grauenhaft. Regenvorhänge trieben heran, wischten über die Häuserdächer und klatschten gegen die Fenster. Die Straßen lagen im Großen und Ganzen verwaist, abgesehen von einigen wenigen Menschen, die schwerwiegende Gründe zu haben meinten, sich draußen aufzuhalten.
Vor der Botschaft der Vereinigten Staaten am Strandvägen und auf den Zufahrtsstraßen allerdings prügelten sich vierhundertzwölf Polizisten mit ungefähr doppelt so vielen Demonstranten. Die Polizisten waren mit Tränengas, Pistolen, Peitschen, Schlagstöcken, Autos, Motorrädern, Kurzwellenfunk, batteriebetriebenen Megaphonen, Hunden und hysterischen Pferden ausgerüstet. Die Demonstranten waren mit einem Brief und Pappschildern bewaffnet, die immer stärker dazu tendierten, sich im strömenden Regen aufzulösen. Es fiel schwer, sie als einheitliche Gruppe zu betrachten, da alle möglichen Arten von Menschen zu ihnen gehörten, von dreizehnjährigen Schulmädchen in Jeans und Dufflecoats und bierernsten, politisch aktiven Studenten bis hin zu Provokateuren, professionellen Krawallmachern und mindestens einer fünfundachtzigjährigen Künstlerin mit Baskenmütze und blauem Seidenregenschirm. Eine starke gemeinsame Triebfeder hatte sie befähigt, nicht nur dem Regen zu trotzen, sondern auch allem, was sonst noch auf sie zukommen mochte. Aber auch die Polizisten gehörten wahrlich nicht zu den Elitekräften der Polizei. Sie waren aus allen möglichen Revieren der Stadt zusammengezogen worden, und jeder Polizist, der einen Arzt kannte oder die Kunst beherrschte, sich eine plausible Ausrede auszudenken, hatte es geschafft, sich diesem abstoßenden Kommando zu entziehen. Übrig blieben Beamte, die wussten, was sie taten, und Gefallen daran fanden, und all jene, die im Polizeijargon Grünschnäbel genannt wurden und viel zu jung und unerfahren waren, um sich zu drücken, und die außerdem nicht die geringste Ahnung hatten, was sie da eigentlich machten, geschweige denn, warum. Die Pferde bäumten sich auf und kauten auf ihren Trensen, und die Polizisten fingerten an ihren Pistolenholstern und gingen mit den Schlagstöcken ein ums andere Mal zum Angriff über. Ein junges Mädchen trug ein Schild mit der denkwürdigen Aufschrift: TUT EURE PFLICHT! VÖGELT MEHR POLIZISTEN! Drei Polizisten à fünfundachtzig Kilo warfen sich auf die Kleine, zerrissen das Plakat und schleiften sie in einen Einsatzwagen, wo sie ihr die Arme umdrehten und ihr an die Brüste griffen. Sie war an diesem Tag dreizehn geworden und hatte noch gar keine.
Alles in allem wurden mehr als fünfzig Personen verhaftet. Viele von ihnen waren blutverschmiert. Einige waren sogenannte Prominente, die sich womöglich an die Zeitungen wenden oder in Funk und Fernsehen beschweren würden. Bei ihrem Anblick liefen den diensthabenden Polizeiassistenten in den Revieren eiskalte Schauer über den Rücken, und sie geleiteten die Betroffenen entschuldigend lächelnd und gemessen dienernd zur Tür hinaus. Für andere gestalteten sich die obligatorischen Vernehmungen nicht ganz so angenehm. Ein berittener Polizist hatte eine leere Flasche an den Kopf bekommen, und irgendwer musste sie geworfen haben. Die ganze Operation wurde von einem ranghohen Polizeibeamten mit militärischer Grundausbildung geleitet. Er stand in dem Ruf, Experte für Fragen der öffentlichen Ordnung zu sein, und betrachtete selbstzufrieden das totale Chaos, das er angerichtet hatte.
In der Wohnung am Skärmarbrink sammelte Kollberg die Schachfiguren ein, warf sie in die Holzkiste und knallte den Klappdeckel zu. Seine Frau war von ihrem Abendkurs heimgekehrt und sofort zu Bett gegangen.
«Du lernst es nie», sagte Kollberg vorwurfsvoll.
«Offenbar muss man eine besondere Art von Begabung dafür haben», erwiderte Martin Beck finster. «Schachverstand nennt man das wohl.»
Kollberg wechselte das Thema.
«Auf dem Strandvägen ist heute Abend bestimmt ganz schön was los.»
«Anzunehmen. Worum geht es eigentlich?»
«Sie wollen dem Botschafter einen Brief überreichen», sagte Kollberg. «Einen Brief. Warum schicken sie ihn nicht per Post?»
«Das würde nicht so viel Aufmerksamkeit erregen.»
«Nein. Trotzdem, es ist so dämlich, dass man sich schämt.»
«Ja», sagte Martin Beck.
Er hatte Hut und Mantel angezogen und wollte gehen. Kollberg stand hastig auf.
«Ich komme noch ein Stück mit», sagte er.
«Was willst du denn da draußen?»
«Ach, nur ein bisschen herumlaufen.»
«Bei dem Wetter?»
«Ich mag es, wenn es regnet», antwortete Kollberg und zog seinen dunkelblauen Popelinemantel über.
«Reicht es nicht, dass ich erkältet bin?», fragte Martin Beck.
Martin Beck und Kollberg waren Polizisten und gehörten zur Reichsmordkommission. Im Moment lag nichts Besonderes vor, weshalb sie mit relativ gutem Gewissen von sich behaupten konnten, freizuhaben.
In der Innenstadt waren keine Polizisten auf den Straßen. Die alte Dame vor dem Hauptbahnhof wartete vergeblich darauf, dass ein Polizist zu ihr kommen, höflich grüßen und ihr lächelnd über die Straße helfen würde. Eine Person, die gerade mit einem Ziegelstein das Glas eines Schaufensters mitten in der City eingeschlagen hatte, musste nicht befürchten, dass die Sirene eines Streifenwagens ihrem Vorhaben ein plötzliches Ende setzen würde.
Die Polizei war beschäftigt.
Eine Woche zuvor hatte der Reichspolizeichef öffentlich erklärt, viele reguläre Aufgaben der Polizei müssten vernachlässigt werden, da man gezwungen sei, die amerikanische Botschaft vor Briefen und anderem zu schützen, was von Leuten kam, die etwas gegen Lyndon B. Johnson und den Krieg in Vietnam hatten.
Auch der Erste Kriminalassistent Lennart Kollberg hatte etwas gegen Lyndon B. Johnson und den Krieg in Vietnam, hielt aber viel davon, bei Regen durch die Stadt zu schlendern.
Um elf Uhr abends regnete es immer noch, und die Demonstration konnte als aufgelöst betrachtet werden.
Zur selben Zeit wurden in Stockholm acht Morde und ein Mordversuch begangen.
Regen, dachte er und blickte missmutig aus dem Fenster. Novemberdunkelheit und kalter, strömender Regen. Vorboten des nahenden Winters. Bald würde es schneien.
Nichts in der Stadt war im Moment sonderlich attraktiv, erst recht nicht diese Straße mit ihren kahlen Bäumen und den großen, vom Alter gezeichneten Mietshäusern. Eine trostlose Paradestraße, die schon zum Zeitpunkt ihrer Erbauung fehlgerichtet und falsch geplant war. Sie führte im Grunde nirgendwohin und hatte es auch nie getan, lag nur da als triste Erinnerung an eine vor langer Zeit mit hochfliegendem Ehrgeiz begonnene, jedoch niemals umgesetzte Städteplanung. Es gab keine hellerleuchteten Schaufenster und keine Menschen auf den Bürgersteigen. Nur große, kahle Bäume und Straßenlaternen, deren kaltes weißes Licht von Pfützen und regenglänzenden Autodächern reflektiert wurde.
Er war so lange durch den Regen gestiefelt, dass seine Haare und die Hosenbeine mittlerweile klatschnass waren, und nun spürte er die Feuchtigkeit kalt an den Schienbeinen, im Nacken, am Hals und zwischen den Schulterblättern hinuntersickern.
Er öffnete die beiden oberen Knöpfe seines Mantels, steckte die rechte Hand unter das Jackett und ließ die Finger leicht über den Kolben der Pistole gleiten. Auch der fühlte sich kalt und feucht an.
Bei der Berührung durchfuhr den Mann in dem dunkelblauen Popelinemantel ein unwillkürlicher Schauer, und er versuchte, an etwas anderes zu denken. Zum Beispiel an die Hotelterrasse in Andraitx, wo er vor fünf Monaten Urlaub gemacht hatte. An die schwere, stehende Hitze und den klaren Sonnenschein über dem Kai, an die Fischerboote und den scheinbar zum Greifen nahen, tiefblauen Himmel über dem Bergkamm auf der anderen Seite der Bucht.
Dann dachte er, dass es dort um diese Jahreszeit vermutlich auch regnete und es in den Häusern keine Heizung gab, nur offene Kamine.
Und dass er sich nicht mehr auf derselben Straße wie vorhin befand und bald wieder in den Regen hinausmusste.
Hinter sich hörte er jemanden auf der Treppe, und er wusste, dass es die Person war, die zwölf Haltestellen zuvor beim Kaufhaus Åhléns in der Klarabergsgatan eingestiegen war.
Regen, dachte er. Ich kann ihn nicht leiden. Genau genommen hasse ich ihn. Ich frage mich, wann ich befördert werde. Was habe ich hier eigentlich zu suchen, warum liege ich nicht zu Hause bei …
Und das war sein letzter Gedanke.
Der Bus war ein roter Doppeldecker mit cremefarbenem Oberdeck, in England gebaut, aber für den zwei Monate vorher in Schweden eingeführten Rechtsverkehr konstruiert. An diesem Abend war er auf der Linie 47 in Stockholm in Betrieb, von Bellmansro auf Djurgården bis Karlberg und zurück. In diesem Moment fuhr er in nordwestliche Richtung und näherte sich der Endstation an der Norra Stationsgatan, die nur wenige Meter von der Stadtgrenze zwischen Stockholm und Solna entfernt lag.
Solna ist ein Vorort Stockholms mit eigenständiger kommunaler Verwaltung, auch wenn sich die Grenze zwischen den beiden Städten nur als gestrichelte Linie auf dem Stadtplan bemerkbar macht.
Er war groß, der rote Bus, mehr als elf Meter lang und fast viereinhalb Meter hoch. Außerdem wog er mehr als fünfzehn Tonnen. Die Scheinwerfer waren eingeschaltet, und mit seinen beschlagenen Fenstern sah er warm und gemütlich aus, als er zwischen den entlaubten Baumreihen den verlassenen Karlbergsvägen entlangbrummte. Dann bog er rechts auf die Norrbackagatan, und das Motorengeräusch wurde auf dem langen Hang zur Norra Stationsgatan hinunter gedämpft. Der Platzregen prasselte auf das Dach und gegen die Fensterscheiben, und die Räder wirbelten schäumende Wasserkaskaden auf, während der Bus schwer und unerschütterlich bergab rollte.
Wo die Straße endete, war auch der Fuß des Hangs erreicht. Der Bus würde in einem Winkel von dreißig Grad auf die Norra Stationsgatan biegen und anschließend nur noch dreihundert Meter bis zur Endstation zurücklegen müssen.
Der einzige Mensch, der das Fahrzeug in diesem Moment beobachtete, war ein Mann, der hundertfünfzig Meter die Norrbackagatan hinauf an eine Hauswand gepresst stand. Besagter Mann war Einbrecher und beabsichtigte, im nächsten Moment eine Fensterscheibe einzuschlagen. Er beobachtete den Bus, weil er ihn aus dem Weg haben und abwarten wollte, bis er vorbeigefahren war.
Er sah ihn auch erwartungsgemäß an der Kreuzung bremsen und blinkend rechts abbiegen. Dann war er außer Sichtweite. Der Regen prasselte ohrenbetäubender denn je herab. Der Mann hob die Hand und zerschmetterte die Scheibe.
Was er jedoch nicht sah, war, dass dieses Abbiegemanöver niemals beendet wurde.
Der rote Doppeldeckerbus schien für einen Moment mitten im Abbiegen innezuhalten. Dann rollte er quer über die Straße, weiter über den Bürgersteig und bohrte sich halb durch den Stahldrahtzaun, der die Norra Stationsgatan von dem verlassenen Gelände des Güterbahnhofs auf der anderen Seite trennte.
Dort blieb er stehen.
Der Motor ging aus, nicht aber die Scheinwerfer und auch die Innenbeleuchtung nicht.
Die beschlagenen Fenster schimmerten noch immer unvermindert gemütlich durch Dunkelheit und Kälte.
Und der Regen peitschte auf das Blechdach.
Es war drei Minuten nach elf am Abend des 13. November 1967.
In Stockholm.
Kristiansson und Kvant waren Streifenpolizisten in Solna.
Im Laufe ihrer wenig abwechslungsreichen Laufbahn hatten sie Tausende von Betrunkenen sowie zahlreiche Diebe festgenommen und einmal höchstwahrscheinlich einem kleinen sechsjährigen Mädchen das Leben gerettet, indem sie einen berüchtigten Sexualmörder schnappten, der gerade im Begriff stand, die Kleine zu überfallen. Das war vor weniger als fünf Monaten gewesen und hatte sich, gelinde gesagt, eher zufällig ergeben, aber es war nichtsdestotrotz ein Eingreifen gewesen, das einer Heldentat gleichkam, auf deren Lorbeeren sie sich noch lange auszuruhen gedachten.
An diesem speziellen Abend hatten sie sich niemanden geschnappt, abgesehen von zwei Flaschen Bier, was möglicherweise gegen die Vorschriften verstieß und folglich nicht weiter beachtet werden sollte.
Kurz vor halb elf wurden sie über Funk zu einer Adresse in der Kapellgatan im Stadtteil Huvudsta geschickt, wo jemand eine leblose Person auf seiner Eingangstreppe gefunden hatte. Sie benötigten nur drei Minuten, um dorthin zu gelangen.
Quer vor dem Hauseingang lag tatsächlich ein menschliches Wesen in einer ausgefransten schwarzen Hose, ausgetretenen Schuhen und einem schäbigen, graumelierten Ulster. Im hellerleuchteten Treppenhaus hinter der Tür stand eine ältere Frau in Pantoffeln und Morgenrock. Offensichtlich war sie es gewesen, die sich beschwert hatte. Sie gestikulierte durch die Fensterscheibe, schob dann die Haustür ein kleines Stück auf, streckte den Arm durch den Türspalt und zeigte auffordernd auf die reglose Gestalt.
«Also, was geht hier vor?», fragte Kristiansson.
Kvant bückte sich und schnupperte.
«Weggetreten», sagte er mit tiefem und inbrünstigem Abscheu. «Pack mal mit an, Kalle.»
«Moment noch», sagte Kristiansson.
«Was?»
«Kennen Sie den Mann, gnädige Frau?», erkundigte sich Kristiansson recht höflich.
«O ja, das will ich meinen.»
«Wo wohnt er?»
Die Frau zeigte auf eine Tür drei Meter den Flur hinab.
«Da», sagte sie. «Er ist eingeschlafen, als er versucht hat aufzuschließen.»
«Ja, er hat die Schlüssel noch in der Hand», stellte Kristiansson fest und kratzte sich am Kopf. «Wohnt er allein?»
«Wer würde schon mit so einem dreckigen alten Kerl zusammenleben wollen», erwiderte die Frau.
«Was hast du vor?», fragte Kvant misstrauisch.
Kristiansson antwortete nicht. Er bückte sich und nahm die Schlüssel aus der Hand des Schlafenden. Anschließend zog er den Betrunkenen mit einem Griff, der von langjähriger Übung zeugte, auf die Beine, schob die Haustür mit dem Knie auf und schleppte den Mann zu seiner Wohnung. Die Frau zog sich ein wenig zurück, und Kvant blieb auf der Eingangstreppe stehen. Beide betrachteten die Szene mit passiver Unzufriedenheit.
Kristiansson schloss auf, machte Licht und zog dem Mann den nassen Mantel aus. Der Betrunkene machte einen taumelnden Schritt, sank aufs Bett und sagte:
«Danke, kleines Fräulein.»
Dann kippte er zur Seite und schlief ein. Kristiansson legte den Schlüsselbund auf einen Holzstuhl neben dem Bett, löschte das Licht, schloss die Tür und kehrte zum Auto zurück.
«Gute Nacht, gnädige Frau», sagte er.
Die Frau starrte ihn mit verkniffener Miene an, legte den Kopf schief und entfernte sich.
Kristiansson handelte nicht aus Menschenliebe so, sondern weil er faul war.
Keiner wusste das besser als Kvant. Als sie noch gewöhnliche Streifenpolizisten in Malmö gewesen waren, hatte er viele Male miterlebt, wie Kristiansson Betrunkene über Straßen und sogar Brücken brachte, um sie so in die Zuständigkeit des nächsten Polizeireviers abzuschieben.
Kvant setzte sich ans Steuer. Er ließ den Motor an und sagte säuerlich:
«Siv behauptet immer, ich wäre faul. Sie sollte dich mal sehen.»
Siv war Kvants Frau und darüber hinaus sein liebstes und oft auch einziges Gesprächsthema.
«Warum soll man sich unnötig vollkotzen lassen», erwiderte Kristiansson stoisch.
Kristiansson und Kvant hatten die gleiche Statur und sahen sich sehr ähnlich. Beide waren eins sechsundachtzig groß, blond, breitschultrig und blauäugig. Aber sie hatten ein sehr unterschiedliches Temperament und waren in zahlreichen Fragen verschiedener Meinung. So wie jetzt.
Kvant war unerbittlich. Wenn es um Dinge ging, die er sah, ließ er sich grundsätzlich nie auf einen Kompromiss ein, andererseits verstand er es meisterhaft, möglichst wenig zu sehen.
Von Huvudsta aus fuhr er langsam und verbissen schweigend eine Schleife, vorbei an der Staatlichen Polizeihochschule, danach durch eine Schrebergartenkolonie, dann am Eisenbahnmuseum, dem Staatlichen Labor für Bakteriologie und der Blindenschule vorbei und anschließend im Zickzack durch den gesamten weitläufigen Hochschuldistrikt mit seinen verschiedenen Instituten, um schließlich bei den Verwaltungsgebäuden der Staatlichen Eisenbahn auf den Tomtebodavägen zu gelangen.
Es war eine meisterhaft abgesteckte Route, die durch praktisch hundertprozentig menschenleere Gebiete führte. Auf dem ganzen Weg begegneten sie denn auch keinem einzigen Auto und sahen nur zwei Lebewesen, erst eine Katze und dann noch eine.
Als sie das Ende des Tomtebodavägen erreicht hatten und der Kühler noch einen Meter von der Stockholmer Stadtgrenze entfernt war, hielt Kvant an und überlegte bei laufendem Motor, wie sie ihre restliche Schicht gestalten sollten.
Ich bin gespannt, ob du so dreist bist, den gleichen Weg zurückzufahren, dachte Kristiansson. Laut sagte er:
«Kannst du mir einen Zehner leihen?»
Kvant nickte, holte sein Portemonnaie aus der Innentasche und überreichte den Geldschein, ohne seinen Kollegen auch nur eines Blickes zu würdigen. Gleichzeitig traf er eine schnelle Entscheidung. Wenn er die Stadtgrenze überquerte und der Norra Stationsgatan fünfhundert Meter in nordöstlicher Richtung folgte, würden sie sich nur für zwei Minuten in Stockholm aufhalten müssen. Anschließend konnte er auf den Eugeniavägen abbiegen, das Krankenhausgelände durchqueren und durch den Hagapark und am Nordfriedhof vorbeifahren, um schließlich das Polizeipräsidium zu erreichen. Danach würde ihr Dienst beendet sein, und die Chance, unterwegs etwas zu sehen, durfte als minimal betrachtet werden.
Der Wagen fuhr auf Stockholmer Stadtgebiet und bog links in die Norra Stationsgatan.
Kristiansson steckte den Zehner ein und gähnte. Dann blinzelte er in den strömenden Regen hinaus und sagte:
«Da kommt angerannt irgendein alter Knacker.»
Kristiansson und Kvant stammten aus Schonen, und ihr Sinn für Wortstellung ließ einiges zu wünschen übrig.
«Einen Hund hat er auch», sagte Kristiansson. «Er winkt uns zu.»
«Das geht mich nichts an», erwiderte Kvant.
Der Mann mit dem Hund, übrigens ein lächerlich kleiner Hund, den er praktisch durch die Pfützen hinter sich herschleifte, lief auf die Straße und ihnen direkt vors Auto.
«Verdammt», fluchte Kvant und machte eine Vollbremsung.
Er kurbelte das Seitenfenster herunter und brüllte:
«Was soll das, einfach so auf die Straße zu laufen?»
«Da … dahinten steht ein Bus», sagte der Mann außer Atem und zeigte die Straße hinab.
«Na und?», erwiderte Kvant unhöflich. «Und wie können Sie nur den Hund so behandeln? Ein unschuldiges Tier!»
«Es … es ist ein Unfall passiert.»
«Ja, schon gut, wir sehen uns die Sache mal an», sagte Kvant ungeduldig. «Gehen Sie aus dem Weg.»
Er ließ den Wagen weiterrollen.
«Und machen Sie so etwas nie wieder», rief er über die Schulter zurück.
Kristiansson spähte in den Regen hinaus.
«Ja», sagte er resigniert. «Da ist ein Bus von der Straße abgekommen. So einer mit zwei Etagen.»
«Das Licht ist an», meinte Kvant. «Und die vordere Tür steht offen. Steig aus und sieh mal nach, Kalle.»
Er hielt schräg hinter dem Bus. Kristiansson öffnete die Beifahrertür, rückte unwillkürlich das Koppel zurecht und murmelte vor sich hin:
«Also, was geht hier vor?»
Wie Kvant trug er Stiefel und eine Lederjacke mit glänzenden Knöpfen und hatte Schlagstock und Pistole am Gürtel.
Kvant blieb im Auto sitzen und beobachtete Kristiansson, der sich gemächlich zur offenen Vordertür des Busses bewegte.
Kvant sah, wie er das Geländer packte und sich lustlos auf die Treppenstufe hievte, um in den Bus schauen zu können. Dann zuckte er plötzlich zusammen und ging in die Hocke, während seine rechte Hand blitzartig zum Pistolenholster griff.
Kvant reagierte schnell. Er benötigte nur eine Sekunde, um die roten Lichter, den Suchscheinwerfer und das orangefarbene Blinklicht am Wagen einzuschalten.
Kristiansson stand immer noch geduckt neben dem Bus, als Kvant die Autotür aufwarf und in den Platzregen hinausrannte. Er hatte bereits seine 7,65-Millimeter-Walther gezogen und entsichert und sogar noch die Zeit gefunden, einen Blick auf die Uhr zu werfen.
Es war exakt dreizehn Minuten nach elf.
Der erste Polizeibeamte höheren Ranges, der in die Norra Stationsgatan kam, war Gunvald Larsson.
Er hatte an seinem Schreibtisch im Polizeipräsidium auf Kungsholmen gesessen und äußerst lustlos und sicher schon zum zehnten Mal einen schwerverdaulichen Bericht überflogen, während er sich fragte, wann die Leute eigentlich nach Hause zu gehen gedachten.
Unter dem Begriff Leute summierte er unter anderem den Reichspolizeichef, einen stellvertretenden Polizeipräsidenten sowie diverse Polizeidirektoren und Kommissare, die aus Anlass der glücklich beendeten Krawalle auf Treppen und in Korridoren herumrannten. Sobald diese Personen es für angebracht hielten, ihren Arbeitstag zu beenden und sich zurückzuziehen, würde er selbst das Gleiche tun, und zwar möglichst schnell.
Das Telefon klingelte. Er brummte und riss den Hörer an sich.
«Larsson.»
«Einsatzzentrale. Ein Streifenwagen aus Solna hat auf der Norra Stationsgatan einen Bus voller Leichen gefunden.»
Gunvald Larsson warf einen Blick zur elektrischen Wanduhr, auf der es achtzehn Minuten nach elf war, und sagte:
«Wie kann ein Streifenwagen aus Solna in Stockholm einen Bus voller Leichen finden?»
Gunvald Larsson war Erster Kriminalassistent beim Dezernat für Gewaltdelikte der Stockholmer Polizei. Er hatte eine rigide Art an sich und gehörte nicht unbedingt zu den beliebtesten Kollegen bei der Polizei.
Aber er war schnell von Begriff und folglich als Erster vor Ort.
Er parkte den Wagen, schlug den Mantelkragen hoch und begab sich in den strömenden Regen hinaus. Er sah einen roten Doppeldeckerbus, der quer auf dem Bürgersteig stand und dessen vordere Hälfte einen hohen Stahldrahtzaun halb niedergewalzt, halb durchstoßen hatte. Er sah darüber hinaus einen schwarzen Plymouth mit weißen Kotflügeln und dem Wort POLIZEI in weißen Blockbuchstaben auf den Türen. Das Blaulicht war eingeschaltet, und im Lichtkegel des Suchscheinwerfers standen zwei uniformierte Beamte mit Pistolen in den Händen. Beide wirkten unnatürlich blass. Der eine hatte sich auf seine Lederjacke erbrochen und wischte sich verlegen mit einem durchnässten Taschentuch ab.
«Was ist hier los?», fragte Gunvald Larsson.
«Da … da drinnen liegen jede Menge Leichen», antwortete einer der Polizisten.
«Ja», sagte der andere. «Genau. Das stimmt. Und massenhaft Patronenhülsen.»
«Und jemand, der noch Lebenszeichen von sich gibt.»
«Und ein Polizist.»
«Ein Polizist?», fragte Gunvald Larsson gedehnt.
«Ja. Einer von der Kripo.»
«Wir haben ihn erkannt. Er arbeitet in Västberga. Bei der Mordkommission.»
«Aber wir wissen nicht, wie er heißt. Er trägt einen blauen Mantel. Und er ist tot.»
Die beiden Streifenpolizisten sprachen unsicher und leise und fielen sich gegenseitig ins Wort.
Sie waren alles andere als klein, aber neben Gunvald Larsson wirkten sie nicht sonderlich eindrucksvoll.
Gunvald Larsson war eins zweiundneunzig groß und wog neunundneunzig Kilo. Er hatte so breite Schultern wie ein professioneller Schwergewichtsboxer und riesige, dichtbehaarte Hände. Seine zurückgekämmten blonden Haare waren bereits triefend nass.
Das Aufheulen zahlreicher Sirenen durchschnitt das Rauschen des Regens. Sie schienen von allen Seiten zu kommen. Gunvald Larsson horchte und sagte:
«Ist das hier schon Solna?»
«Liegt direkt an der Stadtgrenze», antwortete Kvant listig.
Gunvald Larsson warf einen ausdruckslosen, strahlend blauen Blick von Kristiansson zu Kvant. Anschließend ging er mit langen Schritten zu dem Bus.
«Da drinnen sieht es … wie in einem Schlachthaus aus», sagte Kristiansson.
Gunvald Larsson berührte den Bus nicht. Er steckte den Kopf zur offenen Vordertür hinein und schaute sich um.
«Ja», sagte er ruhig. «Das tut es wirklich.»
Martin Beck blieb auf der Schwelle zu seiner Wohnung in Bagarmossen stehen. Er zog Hut und Mantel aus und schüttelte das Wasser ab, ehe er beide Kleidungsstücke an die Garderobe hängte und die Tür schloss.
Es war dunkel im Flur, aber er machte sich nicht die Mühe, das Licht einzuschalten. Unter der Tür zum Zimmer seiner Tochter war ein schmaler Lichtstreifen zu sehen, und er hörte, dass der Plattenspieler oder das Radio lief. Er klopfte an und trat ein.
Seine Tochter hieß Ingrid und war sechzehn. In letzter Zeit wirkte sie viel reifer, und Martin Beck hatte immer besseren Kontakt zu ihr bekommen. Sie war ruhig, sachlich und ziemlich intelligent, und er unterhielt sich gerne mit ihr. Sie ging in die letzte Klasse der neunjährigen Grundschule und kam im Unterricht gut mit, ohne deshalb zu der Kategorie von Schülern zu gehören, die man zu seiner Zeit Streber genannt hatte.
Im Moment lag sie auf dem Rücken im Bett und las. Auf dem Nachttisch drehte sich der Plattenspieler. Keine Popmusik, sondern etwas Klassisches, Beethoven, vermutete er.
«Na?», fragte er. «Schläfst du noch nicht?»
Er verstummte abrupt, nahezu gelähmt von der völligen Sinnlosigkeit seiner Worte, und sann einen Moment über all die Belanglosigkeiten nach, die in diesen Wänden im Laufe des letzten Jahrzehnts geäußert worden waren.
Ingrid legte das Buch beiseite und schaltete den Plattenspieler ab.
«Hallo, Papa. Was hast du gesagt?»
Er schüttelte den Kopf.
«Mensch, hast du nasse Beine», sagte das Mädchen. «Regnet es so schlimm?»
«Und wie. Schlafen Mama und Rolf?»
«Ich denke ja. Mama hat Rolf schon heute Nachmittag ins Bett gesteckt. Sie hat gesagt, er ist erkältet.»
Martin Beck setzte sich auf die Bettkante.
«Und, ist er das nicht?»
«Ich fand jedenfalls, dass er völlig gesund aussah. Aber er ist brav abgedackelt und hat sich hingelegt. Wahrscheinlich, damit er morgen nicht in die Schule muss.»
«Du scheinst jedenfalls fleißig zu sein. Was lernst du?»
«Französisch. Wir schreiben morgen eine Arbeit. Willst du mich abhören?»
«Das würde nicht viel bringen. Französisch ist nicht meine Stärke. Schlaf jetzt lieber.»
Er stand auf, seine Tochter rutschte gehorsam unter die Decke und kuschelte sich ein. Er deckte sie ordentlich zu, und ehe er die Tür hinter sich schloss, hörte er sie flüstern:
«Drück mir morgen die Daumen.»
«Gute Nacht.»
Er ging im Dunkeln in die Küche und blieb eine Weile am Fenster stehen. Es schien nicht mehr ganz so heftig zu regnen, was allerdings auch daran liegen mochte, dass das Küchenfenster im Windschatten lag. Martin Beck fragte sich, was bei der Demonstration vor der amerikanischen Botschaft passiert war und ob die Zeitungen von morgen das Vorgehen der Polizei als kopflos und ungeschickt oder als brutal und provokativ bezeichnen würden. So oder so würde das Urteil kritisch ausfallen. Da er der Polizei gegenüber loyal war, und das, solange er denken konnte, gestand Martin Beck nur sich selbst ein, dass die Kritik oft ihre Berechtigung hatte, auch wenn sie undifferenziert war und es ihr an Verständnis mangelte. Er dachte daran, was Ingrid eines Abends vor ein paar Wochen erzählt hatte. Viele ihrer Schulkameraden waren politisch aktiv, nahmen an Versammlungen und Demonstrationen teil und hatten fast durchweg eine ausgesprochen schlechte Meinung von der Polizei. Als Kind, hatte sie erklärt, habe sie damit angeben und darauf stolz sein können, dass ihr Vater Polizist war, aber jetzt behalte sie es am liebsten für sich. Nicht, weil sie sich schämte, aber sie wurde oft in Diskussionen verwickelt, bei denen die anderen von ihr erwarteten, dass sie sich für den gesamten Polizeiapparat rechtfertigte. Das war natürlich idiotisch, aber so war es nun einmal.
Martin Beck ging ins Wohnzimmer, lauschte an der Tür zum Schlafzimmer seiner Frau und hörte ihr leichtes Schnarchen. Vorsichtig zog er die Bettcouch aus, schaltete die Wandlampe an und zog die Vorhänge zu. Er hatte die Couch erst kürzlich gekauft und war unter dem Vorwand aus dem gemeinsamen Schlafzimmer ausgezogen, seine Frau nicht stören zu wollen, wenn er spätnachts nach Hause kam. Sie hatte protestiert und darauf hingewiesen, dass er manchmal die ganze Nacht arbeitete und folglich tagsüber schlafen musste und sie nicht wollte, dass er im Wohnzimmer herumhing. Er hatte ihr versprochen, bei diesen Gelegenheiten im Schlafzimmer herumzuhängen, wo sie sich tagsüber ohnehin nur selten aufhielt. Mittlerweile schlief er seit einem Monat im Wohnzimmer und fühlte sich sehr wohl dabei.
Seine Frau hieß Inga.
Im Laufe der Jahre war ihre Beziehung kontinuierlich schlechter geworden, und er empfand Erleichterung darüber, nicht mehr das Bett mit ihr teilen zu müssen. Dass er so fühlte, verursachte ihm zuweilen Gewissensbisse, aber nach siebzehn Jahren Ehe schien sich daran kaum noch etwas ändern zu lassen, und er hatte längst aufgehört, darüber nachzugrübeln, wessen Schuld dies sein mochte.
Martin Beck unterdrückte einen Hustenanfall, zog die nasse Hose aus und hängte sie über einen Stuhl am Heizkörper. Während er auf der Couchkante saß und seine Strümpfe auszog, ging ihm durch den Kopf, ob der Grund für Kollbergs nächtliche Spaziergänge im Regen darin liegen könnte, dass auch seine Ehe dabei war, in Überdruss und Routine abzugleiten.
Schon? Kollberg hatte erst vor anderthalb Jahren geheiratet.
Doch noch ehe der erste Strumpf ausgezogen war, verwarf er den Gedanken auch schon wieder. Lennart und Gun waren glücklich zusammen, daran gab es keinen Zweifel. Ging ihn das im Übrigen etwas an?
Er stand auf, ging nackt quer durchs Zimmer zum Bücherregal und suchte lange, bis er sich entschied. Das Buch, verfasst von dem alten englischen Diplomaten Sir Eugen Millington-Drake, handelte von der Admiral Graf Spee und der Schlacht am Rio de la Plata. Er hatte es vor einem Jahr in einem Antiquariat gekauft, aber noch nicht die Zeit gefunden, es zu lesen. Er legte sich ins Bett, hustete schuldbewusst, schlug das Buch auf und entdeckte, dass er keine Zigaretten hatte. Es gehörte zu den Vorzügen seiner Bettcouch, jetzt ohne Komplikationen im Bett rauchen zu können.
Er stand wieder auf, holte eine feuchte und plattgedrückte Schachtel Florida aus der Manteltasche, reihte die Zigaretten zum Trocknen auf dem Nachttisch auf und zündete sich die an, die noch den funktionstüchtigsten Eindruck machte. Er hatte die Zigarette zwischen den Zähnen und schon ein Bein im Bett, als das Telefon klingelte.
Der Apparat stand im Flur. Vor einem halben Jahr hatte er die Installation einer zusätzlichen Anschlussbuchse im Wohnzimmer bestellt, aber bei dem üblichen Arbeitstempo des Fernmeldeamts konnte er sich vermutlich glücklich schätzen, wenn er nicht noch ein halbes Jahr warten musste, bis der Auftrag endlich ausgeführt wurde.
Er ging mit schnellen, langen Schritten in den Flur und hob ab, noch ehe das zweite Klingeln verklungen war.
«Beck.»
«Kommissar Beck?»
Er kannte die Stimme nicht.
«Ja, am Apparat.»
«Hier ist die Einsatzzentrale. In einem Bus der Linie 47 sind in der Nähe der Endstation in der Norra Stationsgatan mehrere Fahrgäste erschossen aufgefunden worden. Sie werden gebeten, unverzüglich dorthin zu kommen.»
Martin Becks erster Gedanke war, dass sich jemand einen schlechten Scherz mit ihm erlaubte oder einer seiner Gegner versuchte, ihn in den Regen hinauszulocken, nur um ihn zu ärgern.
«Von wem stammt diese Mitteilung?», fragte er.
«Hansson, fünftes Revier. Polizeidirektor Hammar ist bereits informiert.»
«Wie viele Tote?»
«Das ist noch nicht ganz klar. Mindestens sechs.»
«Ist jemand festgenommen worden?»
«Nicht dass ich wüsste.»
Martin Beck dachte: Ich hole Kollberg unterwegs ab. Hoffentlich bekomme ich ein Taxi.
«Okay. Ich fahre sofort los», sagte er dann.
«Noch etwas, Herr Kommissar.»
«Ja?»
«Einer der Toten … Er scheint einer Ihrer Männer zu sein.»
Martin Beck packte den Hörer fester.
«Wer?»
«Ich weiß es nicht. Es wurde kein Name genannt.»
Martin Beck knallte den Hörer auf die Gabel und lehnte die Stirn gegen die Wand. Lennart! Das konnte nur Lennart sein. Was zum Teufel hatte er da draußen im Regen zu suchen? Was zum Teufel hatte er im 47er Bus zu suchen? Nein, nicht Kollberg, das musste ein Irrtum sein.
Er hob den Hörer ab und wählte Kollbergs Nummer. Es klingelte einmal. Zwei. Drei. Vier. Fünfmal.
«Kollberg.»
Das war Guns verschlafene Stimme. Martin Beck versuchte ruhig und natürlich zu klingen.
«Martin hier. Ist Lennart da?»
Er meinte das Bett knacken zu hören, als sie sich aufsetzte, und es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis sie antwortete.
«Nein, im Bett ist er jedenfalls nicht. Ich dachte, er wäre mit dir zusammen. Oder besser gesagt, du wärst noch hier.»
«Er ist mit mir zusammen losgegangen, um noch einen Spaziergang zu machen. Bist du sicher, dass er nicht zu Hause ist?»
«Vielleicht ist er in der Küche. Warte, ich schau mal nach.»
Es dauerte erneut eine halbe Ewigkeit, bis sie zurückkam.
«Nein, Martin, er ist nicht zu Hause.»
Jetzt klang ihre Stimme besorgt.
«Was glaubst du, wo er ist?», fragte sie. «Bei dem Wetter?»
«Er ist sicher nur ein bisschen frische Luft schnappen. Ich bin eben erst nach Hause gekommen, er kann also noch nicht lange unterwegs sein. Mach dir keine Sorgen.»
«Soll er dich anrufen, wenn er kommt?»
Sie klang jetzt ruhiger.
«Nein, es war nicht so wichtig. Schlaf gut. Tschüs.»