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Band 2: Hinter dem Eisernen Vorhang Der schwedische Reporter Alf Matsson verschwindet auf einer Reise nach Ungarn spurlos. Gepäck und Pass hat er im Hotel zurückgelassen, doch von ihm fehlt jede Spur. Die ungarische Polizei tappt im Dunkeln. Kommissar Martin Beck von der Stockholmer Kriminalpolizei reist inoffiziell nach Budapest, um den rätselhaften Fall aufzuklären. Doch kaum angekommen, wird er von Unbekannten brutal zusammengeschlagen. Jemand versucht mit allen Mitteln zu verhindern, dass die Wahrheit ans Licht kommt... Dies ist der zweite Band der weltberühmten Krimiserie um den schwedischen Kommissar Martin Beck von Maj Sjöwall und Per Wahlöö. In neuer Übersetzung und mit einem Vorwort von Anders Roslund und Börge Hellström entführt Der Mann, der sich in Luft auflöste die Leser in die Welt des Kalten Krieges und hinter den Eisernen Vorhang. Ein spannender Kriminalroman voller Intrigen und Wendungen, der Einblicke in eine längst vergangene Epoche gewährt.
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Seitenzahl: 280
Veröffentlichungsjahr: 2025
Maj Sjöwall • Per Wahlöö
Ein Kommissar-Beck-Roman
In neuer Übersetzung und mit einem Vorwort von Anders Roslund und Börge Hellström.
Hinter dem Eisernen Vorhang
Der schwedische Reporter Alf Matsson verschwindet auf einer Reise nach Ungarn spurlos. Gepäck und Pass hat er im Hotel zurückgelassen. Die ungarische Polizei findet allerdings keine Leiche, und im Krankenhaus liegt auch kein bewusstloser Ausländer. Alle Anhaltspunkte verlaufen im Sand. Inoffiziell reist Martin Beck hinter den Eisernen Vorhang, um den Journalisten zu suchen. Doch kurz nach seiner Ankunft wird er von Unbekannten zusammengeschlagen. Jemand versucht mit allen Mitteln zu verhindern, dass Alf Matsson gefunden wird …
Dies ist der zweite Band der weltberühmten Serie um den schwedischen Kommissar Martin Beck. In neuer Übersetzung und mit einem Vorwort von Anders Roslund und Börge Hellström.
Das schwedische Autorenduo Maj Sjöwall und Per Wahlöö schrieb einen Zyklus von zehn Kriminalromanen um Kommissar Martin Beck, die zu einem einzigartigen Welterfolg wurden. Mit ihrer Mischung aus Gesellschaftskritik, Spannung und Unterhaltung haben Sjöwall/Wahlöö die Spannungsliteratur revolutioniert und eine ganze Generation von Krimiautoren geprägt. Sie gelten als Eltern des skandinavischen Kriminalromans und sind erklärte Vorbilder von Autoren wie Henning Mankell und Håkan Nesser. Die zehn Bände der Kommissar-Beck-Reihe sind in 35 Sprachen übersetzt worden und erreichten bisher eine Gesamtauflage von über 10 Millionen Exemplaren. Alle Romane wurden außerdem sehr erfolgreich fürs Fernsehen verfilmt.
Maj Sjöwall, 1935 in Stockholm geboren, studierte Graphik und Journalismus und arbeitete für verschiedene Zeitschriften. Mit ihrem Mann Per Wahlöö schrieb sie die erfolgreiche Krimiserie um Kommissar Martin Beck, die auch verfilmt wurde. 1996 erhielt Sjöwall für die erste Serienverfilmung von Kommissar Beck den Adolf-Grimme-Preis (zusammen mit Gösta Ekmann). Zuletzt arbeitete Maj Sjöwall als Übersetzerin in Stockholm, wo sie im April 2020 verstarb.
Per Wahlöö, 1926 im schwedischen Lund geboren, machte nach dem Studium der Geschichte als Journalist Karriere. In den Fünfzigerjahren ging er nach Spanien und wurde 1956 vom Franco-Regime ausgewiesen. Nach verschiedenen Reisen um die halbe Welt ließ er sich wieder in Schweden nieder und arbeitete dort als Schriftsteller. Per Wahlöö starb 1975 in seiner Heimatstadt.
Die Originalausgabe erschien 1966 unter dem Titel «Mannen som gick upp i rök» bei P. A. Norstedt & Söners Förlag, Stockholm.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, März 2025
Copyright © 1969, 2008 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
«Mannen som gick upp i rök» Copyright © 1966 by Maj Sjöwall und Per Wahlöö
Die Übersetzung wurde dankenswerterweise von der Kunststiftung NRW unterstützt.
Redaktion Dagmar Lendt
Covergestaltung ZERO Werbeagentur, München
Coverabbildung Shutterstock
ISBN 978-3-644-02274-4
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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Anders Roslund / Börge Hellström
Autoren verbreiten gern den Mythos – und sie kokettieren gar damit – vom einsamsten Beruf der Welt.
Bullshit.
Man schreibt nie allein.
Ein Autor beobachtet, nörgelt, lügt, lacht, liebt und streitet unentwegt mit anderen Menschen. Ein Buch ist nichts als gemeinsame Gedanken, die zusammenzutragen sich jemand die Zeit genommen hat.
Das haben sie schon vor langer Zeit begriffen, Maj Sjöwall und Per Wahlöö.
Diese höllische Kraft, die man nur hat, wenn man nicht glaubt, allein zu sein.
So kam es denn auch, wie es kam – das Beste, was das Krimigenre je gesehen hat.
Es ist bemerkenswert. Wie manchmal jemand vorangeht. Öffnet und damit verändert, es ist sozusagen nichts mehr, wie es einmal war. Und dergleichen geschieht immer, ohne dass wir anderen es wirklich verstehen.
Doch hinterher führt, Gott bewahre, kein Weg zurück.
Sjöwall-Wahlöö haben mit ihren zehn Bänden «Roman über ein Verbrechen» für alle Zeiten das verändert, was man Polizeiroman nennt oder Kriminalroman, oder Detektivroman, oder … ach, nennen wir es doch einfach den «Roman über ein Verbrechen», als Genreetikett ist das zehnmal besser.
Die Tote im Götakanal war der erste, der Durchbruch.
Endstation für neun der vierte, ausgezeichnet mit dem amerikanischen Edgar Award.
Das Ekel aus Säffle der siebte Band, Grundlage für den größten Thriller der schwedischen Filmgeschichte (Der Mann auf dem Dach).
Der wichtigste aber ist natürlich der hier: Der Mann, der sich in Luft auflöste.
Geh zu hundert Verlagen. Sprich mit tausend Verlegern. Sie sagen alle dasselbe. Ein Buch ist nur ein Buch. Alle tragen eine Geschichte mit sich herum. Die wirkliche Hölle eines jeden Autors und jeden Verlegers kommt, so oder so, beim nächsten Mal, es ist «das schwierige zweite Buch».
Der Mann, der sich in Luft auflöste ist alle genannten Bücher auf einmal – es hat den Durchbruch wiederholt, das Fundament zu einer der höchsten literarischen Auszeichnungen der Welt gelegt, die Charaktere entwickelt, die dann auch noch schnurstracks die Leinwand erobern sollten. Der Mann, der sich in Luft auflöste erklärt, unterstreicht und beweist, dass Sjöwall-Wahlöös «Roman über ein Verbrechen» nicht nur eine Geschichte war, sondern viel mehr als ein gelungener Zufall, etwas, das zusammengehörte. Mit ihm wurde es eine Serie, etwas Wiederkehrendes, das wir allerdings nie zuvor gesehen hatten, etwas, das gerade deshalb für alle Zeit etwas verändern sollte.
Es ist eine andere Zeit.
Martin Beck raucht im Bett, Ermittlungen werden in Lochkartenregistern aufbewahrt, Stromrechnungen kosten achtundzwanzig Kronen und vierzig Öre.
Sie, Maj Sjöwall und Per Wahlöö, taten Folgendes: Sie nahmen uns an die Hand, der Verbrechensermittlung ein Stück voraus, mitten in einer Gesellschaft, die gerade geformt wurde, in den brennenden sechziger Jahren.
In Der Mann, der sich in Luft auflöste wird aus dem Hals über Kopf abgebrochenen ersten Urlaubstag des künftigen Kriminalkommissars Martin Beck deshalb eine Reise aus den ruderbootmüden Schären in die Zweite Welt hinter dem Eisernen Vorhang, nach Budapest in Ungarn, in ein geteiltes Europa, und das im Schatten der zumindest in Schweden noch so genannten Wallenberg-Affäre, eines bis heute unaufgeklärten Rätsels, in dem ein schwedischer Diplomat am Ende des Zweiten Weltkriegs spurlos in jener Stadt verschwand, in der Beck sich nun bewegt.
Selbstverständlich haben wir, Anders Roslund und Börge Hellström, sie gelesen, die zehn Bände. Nicht sofort, denn wir waren noch vollauf mit dem Heranwachsen beschäftigt, aber ziemlich bald, als die sechziger und siebziger Jahre noch ganz nah waren. Wir kennen die Milieus, wir waren schließlich da, wir lebten in dieser, wie wir heute begreifen, messerscharfen literarischen Beschreibung unserer Zeit. Wir waren damals auf den Plot aus, auf die Verbrechensermittlung, wir wollten wissen, ob und wie Beck, Kollberg, Larsson, Rönn den Fall lösten. Jetzt, sehr viel später, sehen wir beim erneuten Lesen deutlich andere Dinge, Dinge, die im Nachhinein leichter zu sehen sind.
Vierzig Jahre. Ein anderes Schweden, ein anderes Europa. Na und, die Charaktere leben, die Bücher leben, damals, heute.
«In dem Zimmer befanden sich ein Ofen, sechs Möbelstücke und ein Bild. Vor dem Ofen standen ein Pappkarton mit Asche und ein verbeulter Kaffeekessel aus Aluminium. Das Bett zeigte mit dem Fußende zum Ofen, und die Matratze bestand aus einer dicken Schicht alter Tageszeitungen. Darauf lagen eine verschlissene Steppdecke und ein gestreiftes Kissen. Das Bild stellte eine nackte blonde Frau an einer Marmorbalustrade dar, es hing rechts vom Ofen, sodass derjenige, der im Bett lag, es vor dem Einschlafen und gleich beim Aufwachen sehen konnte. Irgendjemand hatte mit einem Bleistift die Brustwarzen und das Geschlecht der Frau vergrößert.»
Der Mann, der sich in Luft auflöste, erste Seite, zweiter Absatz.
Schon dort.
1966 oder 2008, Gegenwärtigkeit hat kein Alter.
Vielleicht ist es so, dass wir nicht genauso oft solche Briefe verschicken – handgeschriebene, ausgetragene Post –, wie Beck sie bei der Ermittlung zur Kenntnis nimmt, wir können vielleicht auch nicht mehr so wie er bei einer Vernehmung die Spule eines Tonbandgeräts rotieren sehen, und wir sind vermutlich auch nicht mehr der Auffassung, dass Jahreseinkünfte von 40 000 Kronen, die einer der Verdächtigen kassiert, eine ansehnliche Summe sind.
Wären Sjöwall-Wahlöö dabei stehengeblieben – mit geschickt eingesetzten Markierungen, mit Gefühl und Geruch, Dingen also, aus denen kraftvolle Romane gebaut sind –, hätten wir diese Zeilen nicht geschrieben, und du hättest es nicht gelesen, zwei Generationen später.
Es war so viel mehr, wurde so viel größer.
Kriminalrätsel.
Gesellschaftskritik.
Zeitbetrachter.
Eine Ganzheit, die Schule gemacht hat, ein klassisches Werk, auf zehn Bände verteilt und innerhalb von zehn Jahren erschienen: Martin Beck und seine Mitarbeiter haben alle schwedischen Autoren und Autorinnen beeinflusst, die Romane über Verbrechen schreiben. Henning Mankells Wallander oder Håkan Nessers Van Veeteren oder Anne Holts Wilhelmsen sind alle ein Teil dessen, was damals geboren wurde. Unser eigener Kriminalkommissar Ewert Grens ist vielleicht sogar noch einen Schritt weiter gegangen, er lebt und arbeitet ja in derselben Stadt, jenem Stockholm, das Beck einst verlassen hat, in einem Polizeipräsidium im selben Viertel, wahrscheinlich sitzt er sogar im selben Büro, in unserer Welt ist das so, vierzig Jahre später, gealterte Wände, eine andere Zeit.
Wir haben sogar die Arbeitsweise geklaut.
Roslund-Hellström sind zwei Autoren, die zusammenarbeiten.
Bei Maj Sjöwall und Per Wahlöö haben zwei Seelen, zwei Gehirne, zwei Autoren gearbeitet. Zu zweit arbeiten – das ist wie eine kleine Redaktion. Gleicher Prozess, gleicher Gewinn aus der Zusammenarbeit, gleiche Kraft, die gebraucht wird, um Kompromisse zu schließen. Deine Idee muss so gut sein, dass sie nicht nur dich selbst, sondern auch einen anderen Menschen überzeugt. Sie muss auf dem ganzen Weg von irgendwo aus der Bauchgegend bis in die Tasten der Maschine begründet und seziert werden können. Du kannst die Grenzen testen – «Beschreiben wir das Verbrechen zu deutlich, zeigen wir zu viel?» Du begegnest deinem ersten Leser schon, bevor du dem Verlag etwas lieferst – «Versteht man das, nutzen wir diesen Charakter ausreichend?» Du bist nie allein, wenn du eine Geschichte baust – «Das trägt nicht, das sollte nochmal bearbeitet werden.»
Es kann ein grauenhafter Prozess sein.
Aber der Text wird genau so, und nur so, weil ihn genau diese zwei Menschen zusammen steuern.
In anderer Weise geschrieben, hätte dieses Buch, hätten alle Sjöwall-Wahlöö-Romane und damit das gesamte Erbe, von dem wir Krimiautoren ein Teil sind, nicht so ausgesehen, sie wären nicht so gut gewesen, hätten vielleicht gar keine Funktion gehabt.
Gleich.
Die ersten Seiten des zweiten Teils der Serie.
Wir beneiden dich.
Das Zimmer war klein und schäbig. Am Fenster hingen keine Gardinen, und draußen sah man einen grauen Brandgiebel mit rostigen Armierungseisen und einer verblassten Margarinereklame. In der linken Fensterhälfte fehlte die mittlere Scheibe, sie war durch ein ungleichmäßig zugeschnittenes Stück Karton ersetzt worden. Die geblümte Tapete war so von Ruß und Feuchtigkeitsflecken verfärbt, dass ihr Muster kaum noch zu erkennen war. Da und dort hatte sie sich vom bröckelnden Wandputz gelöst, und an einigen Stellen hatte jemand versucht, sie mit Klebestreifen und Packpapier auszubessern.
In dem Zimmer befanden sich ein Ofen, sechs Möbelstücke und ein Bild. Vor dem Ofen standen ein Pappkarton mit Asche und ein verbeulter Kaffeekessel aus Aluminium. Das Bett zeigte mit dem Fußende zum Ofen, und die Matratze bestand aus einer dicken Schicht alter Tageszeitungen. Darauf lagen eine verschlissene Steppdecke und ein gestreiftes Kissen. Das Bild stellte eine nackte blonde Frau an einer Marmorbalustrade dar, es hing rechts vom Ofen, sodass derjenige, der im Bett lag, es vor dem Einschlafen und gleich beim Aufwachen sehen konnte. Irgendjemand hatte mit einem Bleistift die Brustwarzen und das Geschlecht der Frau vergrößert.
Im anderen Teil des Zimmers, unmittelbar am Fenster, standen ein runder Tisch und zwei Sprossenstühle, einer davon ohne Rückenlehne. Auf dem Tisch befanden sich unter anderem drei geleerte Wermutflaschen, eine Limonadenflasche und zwei Kaffeetassen. Der Aschenbecher war umgestülpt, und zwischen Zigarettenkippen, Flaschenverschlüssen und abgebrannten Streichhölzern lagen ein paar schmutzige Zuckerstückchen, ein kleines Taschenmesser mit aufgeklappter Klinge und ein Stück Wurst. Eine dritte Kaffeetasse war auf den Boden gefallen und zersprungen. Auf dem abgetretenen Linoleum zwischen Tisch und Bett lag, mit dem Gesicht nach unten, eine Leiche.
Aller Wahrscheinlichkeit nach handelte es sich um dieselbe Person, die das Bild verschönert und die Tapete mit Klebestreifen und Packpapier ausgebessert hatte. Es war ein Mann; er hatte die Beine geschlossen, die Ellbogen an die Rippen gepresst und die Hände über den Kopf gelegt, als versuchte er sich zu schützen. Bekleidet war er mit einem Trikotunterhemd und einer ausgefransten Hose. Seine Füße steckten in löchrigen Wollsocken. Ein großer Buffetschrank war umgekippt und bedeckte den Kopf und den halben Oberkörper des Mannes. Neben dem Toten lag ein dritter Stuhl. Dessen Sitz war blutig, und auf der Rückenlehne zeichneten sich deutlich Handabdrücke ab. Der Fußboden war mit Glasscherben übersät. Ein Teil davon stammte aus den Türen des Schranks, der andere von einer halb zerschlagenen Weinflasche, die auf einem Haufen schmutziger Unterwäsche an der Wand lag. Dieser Flaschenrest war mit eingetrocknetem Blut bedeckt. Jemand hatte einen weißen Kreis darum gezogen.
Das Bild war auf seine Art nahezu perfekt, aufgenommen mit dem besten Weitwinkelobjektiv der Polizei und bei künstlichem Licht, das jedes Detail gestochen scharf hervortreten ließ.
Martin Beck legte Foto und Vergrößerungsglas beiseite, erhob sich und trat ans Fenster. Draußen herrschte schwedischer Sommer. Ja, mehr als das: Es war heiß. Auf dem Rasen im Kristinebergspark sonnten sich ein paar Mädchen im Bikini. Sie lagen flach auf dem Rücken, hatten die Beine gespreizt und die Arme von sich gestreckt. Sie waren jung und mager, schlank hieß das wohl, und konnten sich mit einer gewissen Grazie so hinlegen. Als er genauer hinsah, erkannte er sie sogar: Es waren zwei Stenotypistinnen aus seiner Abteilung. Also musste es schon nach zwölf sein. Morgens zogen sie ihr Badezeug an, schlüpften in Kleid und Sandalen und gingen zur Arbeit. In der Mittagspause zogen sie das Kleid aus und legten sich in den Park. Sehr praktisch.
Missmutig dachte Martin Beck daran, dass er dies alles bald verlassen und ins Polizeipräsidium Süd an der lauten Västberga allé umziehen musste.
Er hörte, wie hinter ihm jemand die Tür aufriss und ins Zimmer trat. Er brauchte sich nicht umzudrehen, um zu wissen, wer es war: Stenström. Stenström war nach wie vor der Jüngste in der Abteilung, und nach ihm würde vermutlich eine ganze Generation von Kriminalassistenten kommen, die nicht anklopfte, dachte Martin Beck.
«Wie läuft es?», fragte er.
«Nicht besonders», antwortete Stenström. «Als ich vor einer Viertelstunde bei ihm war, stritt er noch alles glatt ab.»
Martin Beck drehte sich um, ging zum Tisch zurück und betrachtete noch einmal das Tatortfoto. An der Zimmerdecke über dem Bett mit den Zeitungen, der verschlissenen Steppdecke und dem gestreiften Kissen zeichneten sich die Konturen eines alten Stockflecks ab, der einem Seepferdchen glich. Mit etwas gutem Willen konnte es auch eine Meerjungfrau sein. Er fragte sich, ob der Mann auf dem Fußboden so viel Phantasie besessen hatte.
«Aber das macht nichts», erklärte Stenström eifrig. «Die Indizien reichen aus, um ihn einzusperren.»
Martin Beck reagierte nicht darauf. Er zeigte stattdessen auf den Papierstapel, den Stenström ihm auf den Tisch gelegt hatte, und fragte:
«Was ist das?»
«Die Vernehmungsprotokolle aus Sundbyberg.»
«Weg mit dem Krempel. Ich habe ab morgen Urlaub. Bring sie Kollberg. Oder sonst wem.»
Martin Beck nahm das Foto und ging ein Stockwerk höher, öffnete eine Tür und stand bei Kollberg und Melander im Zimmer.
Hier war es viel wärmer als in seinem Büro, vermutlich weil die Fenster geschlossen und die Gardinen zugezogen waren. Kollberg und der Verdächtige saßen sich stumm am Tisch gegenüber. Der hochgewachsene Melander stand mit verschränkten Armen am Fenster, die Pfeife im Mund. Er ließ den Verdächtigen nicht aus den Augen. Auf einem Stuhl an der Tür saß ein Gefängniswärter in Uniformhose und hellblauem Hemd. Er balancierte seine Mütze auf dem rechten Knie. Niemand sagte etwas, und das Einzige, was sich bewegte, war die Spule des Tonbandgeräts. Martin Beck stellte sich schräg hinter Kollberg und schloss sich dem allgemeinen Schweigen an. Hinter den Gardinen flog eine Wespe gegen die Fensterscheibe, wieder und wieder. Kollberg hatte sein Sakko abgelegt und den Kragen geöffnet, und trotzdem war sein Hemd zwischen den massigen Schulterblättern durchgeschwitzt. Der nasse Fleck veränderte langsam seine Form und dehnte sich in einem Streifen am Rückgrat entlang nach unten aus.
Der Mann auf der anderen Seite des Tisches war klein und hatte eine beginnende Glatze. Er war nachlässig gekleidet, und seine Finger, die sich um die Armlehnen klammerten, waren ungepflegt, die Nägel abgekaut und mit Trauerrändern. Sein hageres Gesicht war käsig, er hatte einen weichen, fliehenden Zug um den Mund, und das Kinn zitterte ein wenig. Seine Augen wirkten trüb und feucht. Der Mann schluchzte auf, zwei Tränen kullerten ihm über die Wangen.
«Aha», sagte Kollberg finster. «Du hast ihm also so lange mit der Flasche auf den Kopf geschlagen, bis sie zerbrach.»
Der Mann nickte.
«Und als er dann am Boden lag, hast du mit dem Stuhl weiter auf ihn eingeschlagen. Wie oft?»
«Weiß nicht. Nicht sehr oft. Aber wohl ziemlich oft.»
«Das will ich meinen. Dann hast du den Schrank auf ihn gekippt und bist abgehauen. Und was hat der Dritte von euch währenddessen gemacht? Dieser Ragnar Larsson? Hat er nicht versucht, einzugreifen, ich meine, dich zurückzuhalten?»
«Nein, er hat gar nichts gemacht. Er war einfach nur da.»
«Fang nicht wieder an zu lügen!»
«Er hat geschlafen. Er war am breitesten.»
«Ein bisschen lauter, wenn ich bitten darf!»
«Er hat auf dem Bett gelegen und geschlafen, hat gar nichts mitgekriegt.»
«Aha, und nach dem Aufwachen ist er gleich zur Polizei gegangen. Okay, so weit wäre die Sache klar. Da ist nur noch eins, was ich immer noch nicht ganz verstehe: Warum ist das überhaupt alles passiert? Ihr kanntet euch doch gar nicht, bevor ihr euch in dieser Bierhalle begegnet seid.»
«Er hat mich ein Nazischwein genannt.»
«Jeder Polizist wird mehrmals in der Woche Nazi genannt. Zu mir haben schon Hunderte von Leuten Nazi und Gestapoknecht und Schlimmeres gesagt, aber ich habe deswegen noch nie einen erschlagen.»
«Er hat es immer wieder gesagt: Nazischwein, Nazischwein, Nazischwein, oink, oink. Nichts anderes. Und dann hat er gesungen.»
«Gesungen?»
«Ja, um mich zu ärgern. Mich aufzuziehen. Wegen Hitler.»
«Aha. Hast du ihm denn einen Anlass dazu gegeben?»
«Ich habe nur erzählt, dass meine Mutter Deutsche war. Vorher schon.»
«Bevor ihr zu saufen angefangen habt?»
«Ja. Da hat er bloß gesagt, dass es keine Rolle spielt, was man für eine Mutter hat.»
«Und als er dann in die Küche gehen wollte, da hast du die Flasche genommen und ihm von hinten eins übergebraten?»
«Ja.»
«Ist er hingefallen?»
«Er ist in die Knie gegangen. Und hat angefangen zu bluten. Und dann hat er gesagt: ‹Du verdammte kleine Nazisau, dir werd ich’s geben!›»
«Und da hast du weiter zugeschlagen?»
«Ich hab … Angst gekriegt. Er war größer als ich und … Sie wissen ja gar nicht, wie das ist … Alles dreht sich nur noch … Ich habe rot gesehen und irgendwie nicht mehr gewusst, was ich tue.»
Die Schultern des Mannes bebten heftig.
«Das reicht», sagte Kollberg und schaltete das Tonbandgerät ab. «Gebt ihm was zu essen und fragt den Arzt, ob er ein Schlafmittel für ihn hat.»
Der Gefängniswärter an der Tür erhob sich, setzte seine Mütze auf und führte den Totschläger mit lockerem Griff um den Arm hinaus.
«Wiedersehen, bis morgen», sagte Kollberg geistesabwesend.
Gleichzeitig schrieb er mechanisch auf das Blatt Papier vor sich: Geständnis unter Tränen.
«Eine reizende Gestalt», sagte er.
«Schon fünfmal wegen schwerer Körperverletzung verurteilt», ergänzte Melander. «Und jedes Mal hat er die Tat geleugnet. Ich erinnere mich sehr gut an ihn.»
«Sprach das lebende Lochkartenregister», brummte Kollberg.
Er erhob sich schwerfällig und starrte Martin Beck an.
«Was machst du denn noch hier?», fragte er. «Fahr gefälligst in deinen Urlaub und überlass die Verbrechen der unteren sozialen Schichten uns! Wohin fährst du eigentlich? In die Schären?»
Martin Beck nickte.
«Klug», sagte Kollberg. «Unsereins ist zuerst nach Mamaia gefahren und wurde gebraten. Dann kommt man nach Hause und wird gekocht. Spitze! Und du hast da draußen kein Telefon?»
«Nein.»
«Ausgezeichnet. Ich gehe jetzt jedenfalls duschen. Also los. Nun hau schon ab!»
Martin Beck überlegte. Der Vorschlag hatte was für sich. Er könnte zum Beispiel einen Tag früher fahren. Er zuckte mit den Schultern.
«Okay, überredet. Also macht’s gut, Jungs. Bis in einem Monat!»
Für die meisten war der Urlaub bereits zu Ende, und die augustheißen Straßen Stockholms füllten sich allmählich mit Menschen, die ein paar regnerische Juliwochen in Zelten, Wohnwagen und Sommerpensionen verbracht hatten. In den vergangenen Tagen war die U-Bahn wieder gedrängt voll gewesen, aber jetzt, mitten in der Arbeitszeit, saß Martin Beck fast allein im Wagen. Er sah das staubige Grün draußen und freute sich, dass endlich sein langersehnter Urlaub begonnen hatte.
Seine Familie war schon seit einem Monat in den Schären. In diesem Sommer hatten sie das Glück gehabt, von einem entfernten Verwandten seiner Frau ein Häuschen mieten zu können, das ganz allein auf einer kleinen Insel im mittleren Schärengürtel lag. Der Verwandte war ins Ausland gefahren, und das Häuschen gehörte ihnen, bis die Kinder wieder zur Schule mussten.
Martin Beck kam in seine leere Wohnung, ging schnurstracks in die Küche und holte sich ein Bier aus dem Kühlschrank. An der Spüle trank er ein paar Schluck im Stehen und nahm die Flasche dann mit ins Schlafzimmer. Er zog sich aus und ging, nur mit Unterhosen bekleidet, auf den Balkon. Die Füße auf dem Geländer, saß er eine Weile in der Sonne, während er das restliche Bier trank. Die Hitze draußen war fast unerträglich, und als die Flasche leer war, stand er auf und kehrte in die relative Kühle der Wohnung zurück.
Er schaute auf die Uhr. Sein Schiff ging in zwei Stunden. Die Insel lag in einem Bereich der Schären, zu dem die Verbindung mit der Stadt von einem der wenigen übriggebliebenen alten Dampfschiffe aufrechterhalten wurde. Das war für Martin Beck fast das Beste an ihrem günstigen Sommerurlaub.
Er ging in die Küche und stellte die leere Flasche in der Speisekammer auf den Fußboden. Alles Verderbliche war bereits entsorgt, aber er kontrollierte sicherheitshalber noch einmal, ob er nichts vergessen hatte. Dann zog er den Stecker des Kühlschranks aus der Steckdose, stellte die Eiswürfelschalen in den Ausguss und sah sich noch einmal um, bevor er die Küchentür schloss und ins Schlafzimmer ging, um zu packen.
Das meiste, was er für sich brauchte, hatte er bereits bei einem Wochenendbesuch mit auf die Insel genommen. Seine Frau hatte ihm eine Liste der Dinge gegeben, die sie und die Kinder noch haben wollten, und als er alles beisammenhatte, waren zwei Taschen voll. Weil er außerdem noch einen Karton mit Lebensmitteln im Selbstbedienungsladen holen sollte, beschloss er, mit dem Taxi zum Schiff zu fahren.
An Bord war reichlich Platz, und als Martin Beck seine Taschen und den Karton abgestellt hatte, setzte er sich an Deck.
Die Hitze flimmerte über der Stadt, und es war nahezu windstill. Das Grün auf dem Karl XII.s torg hatte seine Frische verloren, und die Fahnen des Grand Hôtels hingen schlaff herab. Martin Beck schaute auf die Uhr und wartete ungeduldig darauf, dass die Männer da unten endlich die Gangway einzogen.
Als er die ersten Vibrationen der Maschine spürte, erhob er sich und ging nach achtern. Während das Schiff vom Kai zurücksetzte, lehnte er sich über die Reling und sah zu, wie die Schiffsschrauben das Wasser zu grünweißem Schaum schlugen. Die Dampfpfeife blies durchdringend, und als das Schiff mit bebendem Rumpf den Steven in Richtung Saltsjön wendete, stand Martin Beck an der Reling und hielt das Gesicht in die frische Brise. Er fühlte sich plötzlich frei und sorgenlos, und für einen kurzen Augenblick war ihm wieder so zumute wie damals als Junge am ersten Tag der Sommerferien.
Er aß im Speisesaal zu Abend und setzte sich dann wieder an Deck.
Bevor das Schiff zu dem Anlegesteg beidrehte, wo er aussteigen musste, passierte es die Insel, und er sah das Häuschen, ein paar farbenfrohe Liegestühle und unten am Strand seine Frau. Sie kauerte am Rand des Wassers, und er vermutete, dass sie Kartoffeln schrubbte. Sie stand auf und winkte, aber er war sich nicht sicher, ob sie ihn auf diese Entfernung und gegen die Nachmittagssonne überhaupt sehen konnte.
Die Kinder holten ihn mit dem Ruderboot ab. Martin Beck ruderte gern, und trotz der Proteste seines Sohnes legte er sich selbst in die Riemen und steuerte das Boot durch die Bucht zur Insel. Seine Tochter Ingrid, immer noch «die Kleine» genannt, obwohl sie in wenigen Tagen fünfzehn wurde, saß auf der Achterducht und erzählte von einem Tanz auf der Tenne. Rolf, der elf war und Mädchen blöd fand, berichtete von einem Hecht, den er aus dem Wasser gezogen hatte. Martin Beck hörte nur mit halbem Ohr hin und genoss das Rudern.
Nachdem er sich umgezogen hatte, schwamm er beim Badefelsen eine Runde und zog dann eine blaue Arbeitshose und einen Pulli an. Nach dem Essen saß er mit seiner Frau vor dem Häuschen, plauderte mit ihr und beobachtete, wie hinter den Inseln auf der anderen Seite der spiegelblanken Bucht die Sonne unterging. Er warf mit seinem Sohn noch ein paar Netze aus und ging dann früh zu Bett. Zum ersten Mal seit langer, langer Zeit schlief er sofort ein.
Als er erwachte, stand die Sonne noch tief. Tau lag auf dem Gras, als er nach draußen schlich und sich vor dem Häuschen auf einen kleinen Felsen setzte. Der Tag versprach genauso schön zu werden wie der vorherige, aber die Sonne wärmte noch nicht, und er fror in seinem Pyjama. Nach einer Weile ging er wieder hinein und setzte sich mit einer Tasse Kaffee auf die Veranda. Um halb sieben zog er sich an und weckte seinen Sohn, der nur widerwillig aufstand. Sie ruderten hinaus und holten die Netze ein, die nichts als jede Menge Seegras und Tang enthielten. Als sie zurückkehrten, waren auch die anderen auf, und das Frühstück stand auf dem Tisch.
Nach dem Frühstück ging Martin Beck zum Bootsschuppen und begann, die Netze aufzuhängen und zu säubern. Diese Arbeit war eine Geduldsprobe, und er nahm sich vor, die Versorgung der Familie mit Fisch in Zukunft seinem Sohn zu überlassen.
Er war mit dem letzten Netz fast fertig, als er hinter sich einen Motor knattern hörte. Ein kleines Fischerboot kam um die Landzunge und steuerte direkt auf ihn zu. Martin Beck erkannte den Mann im Boot sofort: Er hieß Nygren, besaß eine kleine Bootswerft auf der Insel nebenan und war ihr nächster Nachbar. Weil es auf ihrer Insel kein Trinkwasser gab, holten sie es bei ihm. Er hatte auch ein Telefon.
Nygren stellte den Motor ab und rief:
«Da war ein Anruf für Sie. Sie sollen so bald wie möglich zurückrufen. Ich habe die Nummer auf einen Zettel geschrieben, er liegt unter dem Telefon.»
«Hat der Anrufer nicht gesagt, wer er ist?», fragte Martin Beck, obwohl er es eigentlich schon wusste.
«Das habe ich auch aufgeschrieben. Ich muss jetzt nach Skärholmen. Elsa sammelt Erdbeeren, aber die Küchentür steht offen.»
Nygren warf den Motor wieder an und steuerte im Heck stehend in die Bucht hinaus. Bevor er hinter der Landzunge verschwand, hob er die Hand zum Gruß.
Martin Beck sah ihm eine Weile nach. Dann ging er zum Steg hinunter und machte das Ruderboot los. Während er zu Nygrens Bootshaus hinüberruderte, dachte er: So ein Mist! Dieser verdammte Kollberg, wo ich doch gerade so gut wie vergessen habe, dass es ihn gibt.
Auf dem Block, den er in Nygrens Küche unter dem Wandtelefon fand, stand in beinahe unleserlicher Schrift: Hammar 54 10 60.
Martin Beck wählte die Nummer, und während er von der Zentrale durchgestellt wurde, begann er Ungutes zu ahnen.
«Hammar.»
«Beck. Was ist passiert?»
«Es tut mir wirklich leid, Martin, aber ich muss dich bitten, so schnell wie möglich zu kommen. Du musst vielleicht den Rest deines Urlaubs opfern, also, ihn aufschieben, meine ich.»
Hammar schwieg ein paar Sekunden. Dann sagte er:
«Wenn du willst.»
«Den Rest meines Urlaubs? Ich hatte ja noch nicht einmal einen einzigen Tag.»
«Es tut mir schrecklich leid, Martin, aber ich würde dich nicht bitten, wenn es nicht nötig wäre. Könntest du noch heute kommen?»
«Noch heute? Was ist denn passiert?»
«Es wäre gut, wenn du noch heute kommen könntest. Es ist wirklich wichtig. Alles Weitere erfährst du dann hier.»
«In einer Stunde geht ein Schiff», sagte Martin Beck und schaute aus dem von Fliegen beschmutzten Fenster über die sonnenglänzende Bucht. «Was ist denn so wichtig? Kann nicht Kollberg oder Melander …»
«Nein. Diese Sache musst du übernehmen. Wie es scheint, ist jemand verschwunden.»
Als Martin Beck die Tür zum Büro seines Chefs öffnete, war es zehn vor eins. Er hatte exakt vierundzwanzig Stunden Urlaub gehabt.
Kommissar Hammar war ein kräftig gebauter Mann mit Stiernacken und dichtem grauem Haar. Er saß regungslos auf seinem Drehstuhl, hatte die Unterarme auf die Tischplatte gestützt und war vollkommen beansprucht von dem, was böse Zungen als seine Lieblingsbeschäftigung bezeichneten, nämlich dem Nichtstun.
«Da bist du ja endlich!», sagte er mürrisch. «Du kommst auf den letzten Drücker. In einer halben Stunde musst du im Außenministerium sein.»
«Im Außenministerium?»
«Ganz genau. Du sollst dich mit diesem Mann treffen.»
Hammar hielt eine Visitenkarte mit Daumen und Zeigefinger an einer Ecke, als wäre sie ein Salatblatt, auf dem eine Kohlraupe sitzt. Martin Beck warf einen Blick auf den Namen. Er sagte ihm nichts.
«Ein hohes Tier», erklärte Hammar. «Meint, dem Minister nahezustehen.»
Er machte eine kurze Pause. Dann sagte er:
«Hab noch nie was von dem Kerl gehört.»
Hammar war neunundfünfzig Jahre alt und seit 1927 Polizist. Er mochte Politiker nicht.
«Du siehst gar nicht so verärgert aus, wie ich erwartet habe», stellte Hammar fest.
Martin Beck hatte einen Augenblick daran zu knabbern. Er war viel zu verblüfft, um sauer zu sein.
«Worum geht es eigentlich?»
«Darüber reden wir später. Wenn du bei diesem Typen gewesen bist.»
«Du hast was davon gesagt, dass jemand verschwunden ist.»
Hammar starrte gequält aus dem Fenster, dann zuckte er mit den Schultern und sagte:
«Das ist alles absolut idiotisch. Um die Wahrheit zu sagen, habe ich … Anweisung erhalten, dir keine näheren Informationen zu geben, bevor du im Außenministerium gewesen bist.»
«Erhalten wir jetzt auch schon von dort Befehle?»
«Es gibt bekanntlich mehrere Ministerien», sagte Hammar geistesabwesend. Sein Blick verlor sich irgendwo im Sommergrün. Er fuhr fort:
«Seit ich hier arbeite, hatten wir schon eine ganze Kolonne von Sozial- und Innenministern. Die überwältigende Mehrheit von denen wusste über die Polizei genauso viel wie ich über die Rote Floridaschildlaus. Nämlich, dass es sie gibt.»
Und dann sagte er unvermittelt: «Tschüs.»
«Tschüs», erwiderte Martin Beck.
Als er bereits an der Tür war, kehrte Hammar ins Hier und Jetzt zurück und sagte:
«Martin.»
«Ja?»
«Eines kann ich dir aber doch sagen. Du musst die Sache nicht übernehmen, wenn du nicht willst.»
Der Mann, der dem Minister nahestand, war groß, vierschrötig und rothaarig. Er starrte Martin Beck aus wässrigen blauen Augen an, erhob sich schnell und ausladend und stürzte mit ausgestrecktem Arm um den Schreibtisch.
«Ausgezeichnet», sagte er. «Ausgezeichnet, dass Sie kommen konnten.»
Sie schüttelten sich stürmisch die Hand. Martin Beck sagte nichts.
Der Mann kehrte zu seinem Drehstuhl zurück, schnappte sich eine erloschene Pfeife und biss mit großen gelben Pferdezähnen auf das Mundstück. Dann lehnte er sich schwungvoll zurück, stopfte mit dem Daumen Tabak in den Pfeifenkopf, zündete ein Streichholz an und fixierte seinen Besucher kalt und abschätzend durch die Rauchwolken.
«Wir duzen uns wohl am besten», sagte er. «Ich beginne ein ernstes Gespräch immer auf diese Weise. Wenn man per Du ist, geht es gewissermaßen leichter. Ich heiße Martin.»
«Ich auch», sagte Martin Beck finster.
Einen Moment später fügte er hinzu:
«Leider. Das kompliziert die Sache womöglich.»
Das schien den Mann zu verwirren. Er sah Martin Beck scharf an, so als schwante ihm ein übler Hinterhalt. Dann lachte er lautstark.
«Ja, natürlich. Ja, das ist lustig. Hahaha!»
Er verstummte abrupt, stürzte sich auf die Sprechanlage und drückte nervös auf den Knöpfen herum, während er murmelte:
«Ja, ja, so richtig lustig.»
In seiner Stimme lag nicht ein Fünkchen Humor.
«Ich brauche die Akte Alf Matsson», rief er.
Eine Dame mittleren Alters kam mit einer Akte herein und legte sie vor ihm auf den Tisch. Er würdigte die Frau keines Blickes. Nachdem sie die Tür wieder geschlossen hatte, sah er Martin Beck aus kalten, unpersönlichen Fischaugen an und schlug dabei langsam die Akte auf. Sie enthielt ein einziges Blatt Papier, das mit krakeligen Bleistiftnotizen übersät war.
«Das ist eine heikle und verdammt unangenehme Geschichte», erklärte er.
«Aha», erwiderte Martin Beck. «Wieso?»
«Ist dir Alf Matsson ein Begriff?»
Martin Beck schüttelte den Kopf.
«Nein? Er ist eigentlich ziemlich bekannt. Ein Journalist. Arbeitet hauptsächlich für Illustrierte. Auch Fernsehen und Film. Ein tüchtiger Schreiber. Hier.»
Er zog eine Schublade auf und wühlte darin herum, dann nahm er sich noch eine andere vor, hob schließlich die Schreibunterlage an und fand das gesuchte Objekt.
«Ich hasse Schlamperei», sagte er und warf einen giftigen Blick in Richtung Tür.