Der Mann auf dem Balkon: Ein Kommissar-Beck-Roman - Maj Sjöwall - E-Book

Der Mann auf dem Balkon: Ein Kommissar-Beck-Roman E-Book

Maj Sjöwall

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Beschreibung

Band 3: Ein ganz unauffälliger Mädchen-Mörder Bereits zwei kleine Mädchen wurden in die Parkanlagen gelockt und ermordet. Die Stockholmer Polizei fahndet auf Hochtouren nach dem Sexualstraftäter – doch der Erfolg bleibt aus. Um dem Mörder auf die Spur zu kommen, müssen sich Kommissar Martin Beck und seine Kollegen auf die Hilfe eines Handtaschendiebs verlassen, der in der Nähe des Tatorts eine Frau überfallen und den Triebtäter möglicherweise gesehen hat. Tatsächlich liefert der Mann eine Beschreibung, aber die trifft auf Tausende von Stockholmer Bürgern zu... Dies ist der dritte Band der weltberühmten Serie um den schwedischen Kommissar Martin Beck. In neuer Übersetzung und mit einem Vorwort von Jo Nesbø.

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Seitenzahl: 282

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Maj Sjöwall • Per Wahlöö

Der Mann auf dem Balkon

Ein Kommissar-Beck-Roman

 

 

Aus dem Schwedischen von Paul Berf

 

In neuer Übersetzung und mit einem Vorwort von Jo Nesbø.

Über dieses Buch

Ein ganz unauffälliger Mädchen-Mörder

 

Bereits zwei kleine Mädchen wurden in die Parkanlagen gelockt und ermordet. Die Stockholmer Polizei fahndet auf Hochtouren nach dem Sexualstraftäter – doch der Erfolg bleibt aus. Um dem Mörder auf die Spur zu kommen, müssen sich Kommissar Martin Beck und seine Kollegen auf die Hilfe eines Handtaschendiebs verlassen, der in der Nähe des Tatorts eine Frau überfallen und den Triebtäter möglicherweise gesehen hat. Tatsächlich liefert der Mann eine Beschreibung, aber die trifft auf Tausende von Stockholmer Bürgern zu …

Dies ist der dritte Band der weltberühmten Serie um den schwedischen Kommissar Martin Beck. In neuer Übersetzung und mit einem Vorwort von Jo Nesbø.

Vita

Das schwedische Autorenduo Maj Sjöwall und Per Wahlöö schrieb einen Zyklus von zehn Kriminalromanen um Kommissar Martin Beck, die zu einem einzigartigen Welterfolg wurden. Mit ihrer Mischung aus Gesellschaftskritik, Spannung und Unterhaltung haben Sjöwall/Wahlöö die Spannungsliteratur revolutioniert und eine ganze Generation von Krimiautoren geprägt. Sie gelten als Eltern des skandinavischen Kriminalromans und sind erklärte Vorbilder von Autoren wie Henning Mankell und Håkan Nesser. Die zehn Bände der Kommissar-Beck-Reihe sind in 35 Sprachen übersetzt worden und erreichten bisher eine Gesamtauflage von über 10 Millionen Exemplaren. Alle Romane wurden außerdem sehr erfolgreich fürs Fernsehen verfilmt.

 

Maj Sjöwall, 1935 in Stockholm geboren, studierte Graphik und Journalismus und arbeitete für verschiedene Zeitschriften. Mit ihrem Mann Per Wahlöö schrieb sie die erfolgreiche Krimiserie um Kommissar Martin Beck, die auch verfilmt wurde. 1996 erhielt Sjöwall für die erste Serienverfilmung von Kommissar Beck den Adolf-Grimme-Preis (zusammen mit Gösta Ekmann). Zuletzt arbeitete Maj Sjöwall als Übersetzerin in Stockholm, wo sie im April 2020 verstarb.

 

Per Wahlöö, 1926 im schwedischen Lund geboren, machte nach dem Studium der Geschichte als Journalist Karriere. In den Fünfzigerjahren ging er nach Spanien und wurde 1956 vom Franco-Regime ausgewiesen. Nach verschiedenen Reisen um die halbe Welt ließ er sich wieder in Schweden nieder und arbeitete dort als Schriftsteller. Per Wahlöö starb 1975 in seiner Heimatstadt.

Impressum

Die Originalausgabe erschien 1967 unter dem Titel «Mannen på balkongen» bei P. A. Norstedt & Söners Förlag, Stockholm.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, März 2025

Copyright © 1970, 2008 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

«Mannen på balkongen» Copyright © 1967 by Maj Sjöwall und Per Wahlöö

Redaktion Dagmar Lendt

Covergestaltung ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung Shutterstock

ISBN 978-3-644-02275-1

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

Vorwort

Jo Nesbø

Künstler stehen immer auf den Schultern von Künstlern, die vor ihnen da gewesen sind. So ist es, ob sie es wollen oder nicht und ob sie es wissen oder nicht. Ob der Künstler nun tanzt, Fußball spielt oder Bücher schreibt, er oder sie erschafft etwas in der Nachfolge der Arbeit anderer. Aber manche Schultern sind breiter als andere, und wo sie sind, gelingt es keinem, sie zu überragen.

So haben Maj Sjöwall und Per Wahlöö Schultern, auf denen Platz für alle Krimiautoren von heute ist. Selbst Krimiautoren, die nie ein Buch von Sjöwall und Wahlöö gelesen haben und sich folglich gänzlich unbeeinflusst wähnen, stehen dort. Weil Sjöwall und Wahlöö wie Raymond Chandler, Dashiell Hammett und Georges Simenon vor ihnen das Genre und die Erwartungen der Leser daran geformt haben, was ein Kriminalroman sein soll, und damit den Ausgangspunkt, den Ground Zero, an dem jeder Autor mit dem Genreversprechen «Kriminalroman» auf dem Cover seine Kommunikation mit dem Leser beginnt. Wohin man von diesem Punkt aus geht, bleibt natürlich jedem Einzelnen überlassen. Und man kann natürlich auch etwas völlig Neues erschaffen. Wie Maj Sjöwall und Per Wahlöö dies getan haben.

 

Mit Der Mann auf dem Balkon gelang dem schwedischen Autorenduo 1967 der große Durchbruch. Im Sommer 1963 waren in Stockholm zwei kleine Mädchen ermordet und sexuell missbraucht worden, nachdem der Täter sie von dem Spielplatz weggelockt hatte, auf dem sie spielten, und dieser Fall aus der Realität bildete den Ausgangspunkt für den Roman.

Das ist es auch, was einem als Erstes auffällt, wenn man die ersten Seiten des Buches liest: Diese Geschichte ist real. Die Anfangsszene ist eine nüchterne Schilderung und enthält, isoliert betrachtet, weder Dramatik noch eine spannungsvolle Atmosphäre. Sie beschreibt eine erwachende Stadt, die alltäglichen Abläufe einer Gesellschaft, die einzelnen Personen, die Rädchen in diesen alltäglichen Abläufen sind, das Mosaik aus kleinen trivialen Geschehnissen, die man in einer gut organisierten, sozialdemokratischen skandinavischen Stadt von einem Balkon aus beobachten kann. Warum liegt in dieser Anfangssequenz dann trotzdem solch eine seltsam unheilvolle Stimmung in der Luft?

Ich glaube, dafür gibt es zumindest zwei ganz simple Gründe.

Erstens steht auf dem Buchumschlag das Wort «Kriminalroman», und wenn wir dann gleich zu Beginn mit einer Person Bekanntschaft schließen, die völlig anonym bleibt, werden all unsere Genreerwartungen geweckt und schreien – noch bevor ein Verbrechen enthüllt worden ist –, dass wir uns hier möglicherweise bereits mit dem Antagonisten der Geschichte konfrontiert sehen. Zweitens ist da der Titel des Buches. Er erzählt uns, dass dieser Ort und diese Person von zentraler Bedeutung sein müssen. Andererseits ist diese Person auch Zeuge anderer Männer auf anderen Balkonen, weshalb die Unsicherheit – und die Spannung – auch darin liegt, welchen Blickwinkel die Autoren angelegt haben. Dieses Zusammenspiel zwischen Anfang und Titel macht nicht nur den Mann auf dem Balkon zu einem der besten Titel in der Kriminalliteratur überhaupt, sondern führt auch dazu, dass die Aufmerksamkeit des Lesers vom ersten Satz an hochgeschaltet wird. Und sie wird nie mehr heruntergeschaltet.

 

Auch wenn die Personengalerie der Polizisten eingeführt wird, ist das Gefühl von Realität greifbar. Sie sind ganz normale Menschen mit ganz normalen Schicksalen, normalen Gedanken, Problemen und Freuden, Menschen, die nicht «larger than life» sind, aber auch nicht kleiner. Sie sind aus dem gleichen Stoff wie die Realität, ganz gleich, ob es nun um den durchschnittlich heldenhaften Martin Beck oder den durchschnittlich unerträglichen Gunvald Larsson geht, der in diesem Buch zum ersten Mal auftritt. Der nüchterne, fast strenge Realismus wird durch die Art, in der die Geschichte erzählt wird, und den Verlauf der Handlung verstärkt. Die Darstellung folgt einer strengen Chronologie, der Fokus liegt fast ausschließlich auf dem Mord, und die Sprache vermeidet jedes überflüssige Wort. Ein Beispiel hierfür ist die Vernehmung, bei der nur der eigentliche Dialog wiedergegeben wird und die Personen zu einem einzelnen Buchstaben vor den Repliken reduziert sind. Es ist, als dürften die Leser Polizisten sein, denen ein Tonband vorgespielt wird. Sie müssen selber deuten und darauf horchen, was nicht gesagt wird.

Und das ist weiß Gott kein Zufall, denn Der Mann auf dem Balkon ist ein wahrer Polizeiroman.

Nach dem einleitenden flüchtigen Blick vom Balkon wechselt die Perspektive zwar zwischen mehreren Personen, bleibt jedoch stets die der Polizei. Und die Erzählung wird mit trivialen und gerade deshalb umso realistischeren Details aus der schwedischen Polizeiarbeit in den sechziger Jahren koloriert.

 

Aber wenn man sagen könnte, dass die Polizeibürokratie und das Warten auf die Ergebnisse kriminaltechnischer Untersuchungen die gedeckten Farbtöne der Geschichte sind, kommen die gelben, roten und grünen Farbtupfer von Stockholms Häusern, Straßen, Parks und vom skandinavischen Sommer.

Kann man sich in eine Stadt verlieben, in der man noch nie gewesen ist? Aber sicher, dafür haben wir ja die Literatur. Ich wuchs in den siebziger Jahren auf und entwickelte wie viele andere Skandinavier eine tiefe und innige Liebe zu Stockholm durch Ulf Lundells Entwicklungsroman Jack, der Stockholm nach Kräften ausnutzt. Aber es war der vorsichtige, fast schüchterne Gebrauch der Kulissen dieser Stadt in Der Mann auf dem Balkon, der als Erstes meine Liebe erwachen ließ. Doch wenn ich den Roman heute wieder lese, kann ich unmöglich sagen, wo sie das tun, wann sie Stockholm erschaffen, wie sie das Gefühl einer spezifischen Zeit und eines bestimmten Ortes heraufbeschwören. Wenn etwa der Science-Fiction-Autor Ray Bradbury den Mars für den Leser Wirklichkeit werden lässt, zeichnet und schreibt er mit breitem Pinsel und großer Leinwand. Maj Sjöwall und Per Wahlöö erzielen den gleichen Effekt mit einem Straßennamen, der über Funk durchgegeben wird. Wie das möglich ist, weiß ich nicht, ich weiß nur, nach der Lektüre eines relativ kurzen Romans mit wenigen Landschaftsschilderungen und Morden, Ermittlungen und dem Leben einer Handvoll Polizisten im Mittelpunkt, bin ich auf eine wirklichere und intimere Art in Stockholm gewesen als bei einer Reise dorthin. Ich weiß, wovon ich spreche, weil ich dort war und mich die meiste Zeit in dieser Stadt in zwei verwirrenden Ebenen verlief und vergeblich gegenständliche und menschliche Fassaden anstarrte, ohne dass es mir jemals gelungen wäre, sie zu durchdringen. Vielleicht auch, weil es leichter ist zu sehen, wenn man auf den Schultern von jemandem steht, der groß ist.

 

Warum ist Der Mann auf dem Balkon so spannend? Ich denke, weil das Buch glaubwürdig ist. Man glaubt ihm, weil der Roman die Auswüchse, die Normalität und die Sinnlosigkeit enthält, die man auch in der Realität findet. Die meisten Geschichtenerzähler scheuen einen solchen Realismus, weil er ihnen etwas von ihrer Macht als Architekt und Baumeister der Erzählung nimmt. In Der Mann auf dem Balkon beschleicht einen das Gefühl, dass die Dinge nicht auf Kommando des Erzählers, sondern der Wirklichkeit geschehen. Die Handlung wird nicht von der Schwerkraft der Dramatik, der Publikumstauglichkeit des Plots oder der moralischen Wahl des Protagonisten bestimmt, die eine größere, allgemeingültigere Geschichte erzählen sollen. In Der Mann auf dem Balkon ist die Bearbeitung unsichtbar und der Verlauf scheinbar von etwas bestimmt, das eine andere Stimme jener Zeit, Bob Dylan, «a simple twist of fate» nannte. Mit ihren zurückhaltenden Schilderungen und kleinen dramaturgischen Synkopen erzeugen sie eine faszinierende Unvorhersehbarkeit, ein Gefühl von Willkür, sodass wir keine Garantie für eine Aufklärung des Verbrechens oder eine plausible Erklärung für die Tat haben. Also glaubt man. Und das ist nicht schlecht für ein Buch, auf dessen Umschlag «Kriminalroman» steht. Man könnte fast meinen, es ist Kunst.

Der Mann auf dem Balkon

1

Um Viertel vor drei ging die Sonne auf.

Anderthalb Stunden zuvor war der Verkehr dünner geworden und verebbt. Gleichzeitig waren die Gesprächsfetzen der letzten Nachtschwärmer verstummt. Die Kehrmaschinen waren vorbeigekommen und hatten an manchen Stellen dunkle, feuchte Streifen auf dem Asphalt hinterlassen. Ein Krankenwagen war die lange, schnurgerade Straße hinuntergeheult. Ein schwarzes Auto mit weißen Kotflügeln, einer Funkantenne auf dem Dach und dem Wort POLIZEI in weißer Blockschrift auf den Seitentüren war langsam und leise vorbeigerollt. Fünf Minuten später hatte man ein sprödes Klirren gehört, als jemand mit behandschuhter Faust eine Schaufensterscheibe einschlug, dicht gefolgt vom Geräusch hastig davoneilender Schritte und dem Kavalierstart eines Autos in einer Seitenstraße.

Der Mann auf dem Balkon hatte das alles beobachtet. Es war ein ganz gewöhnlicher Balkon mit Eisenrohrgeländer und Wellblechverkleidung. Der Mann hatte sich mit den Unterarmen auf das Geländer gestützt, und die Glut seiner Zigarette war in der Dunkelheit als kleiner, dunkelroter Punkt sichtbar gewesen. In regelmäßigen Abständen hatte er eine Zigarette ausgedrückt, vorsichtig die knapp zentimeterlange Kippe aus dem Holzmundstück gezupft und sie neben die anderen gelegt. Zehn solcher Zigarettenstummel lagen bereits säuberlich aufgereiht am Rand einer Untertasse auf dem kleinen Gartentisch.

Es war jetzt still, so still, wie es in einer lauen Frühsommernacht in einer ziemlich großen Stadt nur werden kann. Zwei Stunden würden noch vergehen, bis sich die Zeitungsboten mit ihren konvertierten Kinderwagen auf den Weg machten und die erste Putzfrau zur Arbeit ging.

Das graukalte Zwielicht der Dämmerung löste sich allmählich auf; die ersten zögerlichen Sonnenstrahlen schafften es über die fünf- und sechsstöckigen Häuser und wurden von Fernsehantennen und runden Schornsteinrohren auf den Dächern der anderen Straßenseite reflektiert. Dann fiel das Licht auf die Blechdächer selbst, wanderte rasch abwärts und tastete sich über die Dachtraufen und die verputzten Backsteinwände mit den Reihen blinder Fenster, die in der Mehrzahl von herabgezogenen Rollos oder heruntergelassenen Jalousien abgeschirmt wurden.

Der Mann auf dem Balkon lehnte sich über die Brüstung und schaute die Straße hinunter. Sie verlief von Norden nach Süden und war lang und gerade, weshalb er eine Strecke von mehr als zweitausend Metern überblicken konnte. Früher war sie eine Prachtstraße gewesen, ein Stolz und eine Zierde, doch das war, als sie gebaut wurde, und seither waren vierzig Jahre vergangen. Die Straße war ungefähr so alt wie der Mann auf dem Balkon.

Als er genauer hinsah, konnte er in relativ großer Entfernung eine einsame Gestalt ausmachen. Möglicherweise ein Polizist. Zum ersten Mal seit Stunden ging er zurück in die Wohnung, durchquerte das Zimmer und betrat die Küche. Es war so hell, dass er kein Licht machen musste. Tatsächlich schaltete er es auch im Winter nur äußerst selten an. Er öffnete den Küchenschrank, holte eine emaillierte Kanne heraus, gab anderthalb Tassen Wasser und zwei Löffel grob gemahlenes Kaffeepulver hinein. Er stellte die Kaffeekanne auf den Herd, riss ein Streichholz an und entzündete die Gasflamme. Er betastete prüfend den Streichholzkopf, um sich zu vergewissern, dass er abgekühlt war, öffnete anschließend die Schranktür der Spüle und warf das abgebrannte Streichholz in den Müllbeutel. Er blieb am Herd stehen, bis der Kaffee aufkochte, schaltete das Gas ab, ging auf die Toilette und urinierte, während er darauf wartete, dass der Kaffeesatz absank. Er betätigte die Spülung nicht, um die Nachbarn nicht zu stören, kehrte in die Küche zurück, goss den Kaffee vorsichtig in die Tasse, nahm ein Stück Zucker aus der halbleeren Schachtel auf der Spüle und einen Löffel aus der Schublade. Anschließend trug er die Tasse auf den Balkon, stellte sie auf den lackierten Holztisch und setzte sich auf den Klappstuhl. Die Sonne stand bereits relativ hoch und beschien die Häuserfassaden auf der anderen Straßenseite bis zu den beiden unteren Etagen. Er holte eine vernickelte Kautabakdose aus der Hosentasche, zerbröselte die Zigarettenkippen eine nach der anderen, ließ die Tabakkrümel zwischen den Fingern in die runde Blechdose rieseln, zerknüllte das Papier zu erbsengroßen Kügelchen und legte sie auf den angestoßenen Porzellanteller. Er rührte in der Tasse und trank äußerst langsam seinen Kaffee. Erneut waren in der Ferne Sirenen zu hören. Er stand auf und folgte dem Krankenwagen mit den Augen, während das Geheul anschwoll und dann wieder schwächer wurde. Eine Minute später war der Wagen nur noch ein kleines weißes Rechteck, das am nördlichen Ende der Straße links abbog und aus dem Blickfeld verschwand. Er setzte sich wieder auf den Klappstuhl und rührte gedankenverloren in dem Kaffee, der längst kalt geworden war. Er saß ganz still und hörte, wie zögernd und ein wenig widerwillig die Stadt um ihn herum erwachte.

Der Mann auf dem Balkon war mittelgroß und von normaler Statur. Er hatte ein Allerweltsgesicht und trug ein weißes Hemd ohne Krawatte, eine ungebügelte braune Gabardinehose, graue Strümpfe und schwarze Halbschuhe. Er hatte dünne, zurückgekämmte Haare, eine kräftige Nase und graublaue Augen.

Es war halb sechs am Morgen des 2. Juni 1967. Die Stadt hieß Stockholm.

Der Mann auf dem Balkon fühlte sich nicht beobachtet. Er fühlte ganz generell nichts Besonderes. Er überlegte, dass er sich etwas später eine Hafergrütze kochen würde.

Die Straße füllte sich allmählich mit Leben. Der Strom der Kraftfahrzeuge wurde dichter, und jedes Mal, wenn die Ampel an der Kreuzung auf Rot umsprang, wurde die Schlange wartender Autos länger. Ein Brotlieferwagen hupte wütend einen Radfahrer an, der, ohne zu gucken, auf die Straße gebogen war. Zwei nachfolgende Autos mussten scharf bremsen.

Der Mann stand auf, stützte die Arme auf das Balkongeländer und blickte auf die Straße hinunter. Der Radfahrer wich ängstlich an den Bürgersteigrand aus und tat, als hörte er die Beschimpfungen nicht, die ihm der Fahrer des Brotlieferwagens an den Kopf warf.

Auf den Gehwegen hasteten vereinzelt Fußgänger vorbei. Zwei Frauen in hellen Sommerkleidern unterhielten sich an der Tankstelle unter dem Balkon, und an einem Baum etwas weiter entfernt sah man einen Mann stehen, der seinen Hund ausführte. Er zerrte ungeduldig an der Leine, während der Dackel unbeeindruckt um den Baumstamm schnüffelte.

Der Mann auf dem Balkon streckte sich, strich über die schütteren Haare auf seinem Scheitel und schob die Hände in die Taschen. Mittlerweile war es zwanzig vor acht, und die Sonne stand bereits hoch. Er blickte zum Himmel, wo ein Düsenflugzeug einen wollig weißen Streifen in einem Bogen über die Hausdächer zeichnete. Anschließend sah er wieder auf die Straße hinab und beobachtete eine ältere weißhaarige Dame in einem hellblauen Mantel, die vor der Bäckerei im Haus gegenüber stand. Sie suchte lange in ihrer Tasche, holte schließlich einen Schlüssel heraus und öffnete die Tür. Er sah, wie sie den Schlüssel abzog, ihn auf der Innenseite wieder ins Schloss steckte und anschließend hineinging und die Tür hinter sich zumachte. Hinter der Glasscheibe der Tür war ein weißes Rollo herabgelassen, auf dem GESCHLOSSEN stand.

Als die Tür zuging, öffnete sich im selben Moment die Tür neben der Bäckerei, und ein kleines Mädchen trat in den Sonnenschein hinaus. Der Mann auf dem Balkon wich einen Schritt zurück, nahm die Hände aus den Taschen und stand vollkommen still. Er ließ das Mädchen auf der Straße nicht aus den Augen.

Die Kleine mochte acht oder neun sein und trug einen rotkarierten Schulranzen. Sie war mit einem kurzen roten Rock, einem gestreiften Pullover und einer roten Strickjacke mit zu kurzen Ärmeln bekleidet. Die Füße steckten in schwarzen Clogs, die ihre langen, dünnen Beine noch länger und dünner wirken ließen. Auf dem Bürgersteig wandte sie sich nach links und ging langsam, mit gesenktem Kopf, die Straße hinunter.

Der Mann auf dem Balkon folgte ihr mit den Augen. Als sie etwa zwanzig Meter gegangen war, blieb sie stehen, hob die Hand an die Brust und stand so einen Moment da. Dann öffnete sie den Ranzen und wühlte darin, während sie sich umdrehte und zurückging. Plötzlich lief sie los und rannte ins Haus, ohne den Ranzen zu schließen.

Regungslos beobachtete der Mann auf dem Balkon, wie die Tür hinter der Kleinen zufiel. Es dauerte ein paar Minuten, dann öffnete sie sich wieder, und das Mädchen kam heraus. Jetzt hatte sie den Ranzen geschlossen und ging schneller. Die blonden Haare waren zu einem Pferdeschwanz gebunden und wippten auf ihrem Rücken. Als sie das Ende des Häuserblocks erreichte, bog sie um die Ecke und verschwand.

Es war drei vor acht. Der Mann drehte sich um, ging in die Wohnung und in die Küche. Dort trank er ein Glas Wasser, spülte das Glas aus, stellte es auf den Abtropfständer und kehrte auf den Balkon zurück.

Er setzte sich auf den Klappstuhl und legte den linken Arm auf das Balkongeländer. Er zündete sich eine Zigarette an und sah auf die Straße hinunter, während er rauchte.

2

Auf der elektrischen Wanduhr war es fünf vor elf und dem Kalender auf Gunvald Larssons Schreibtisch zufolge Freitag, der 2. Juni 1967.

Martin Beck hielt sich rein zufällig im Zimmer auf. Er war eben erst hereingekommen, hatte seine Tasche hinter der Tür auf dem Fußboden abgestellt, guten Morgen gesagt, seinen Hut neben die Karaffe auf dem Aktenschrank gelegt, ein Glas vom Tablett genommen und es mit Wasser gefüllt; jetzt stützte er sich mit dem Ellbogen auf den Schrank und hob das Glas an den Mund. Der Mann hinter dem Schreibtisch sah ihn missmutig an und sagte:

«Haben sie dich jetzt auch hergeschickt? Was haben wir denn nun schon wieder falsch gemacht?»

Martin Beck trank einen Schluck Wasser. Er sagte:

«Nichts, nehme ich an. Keine Sorge, ich bin nur kurz hochgekommen, um mit Melander zu reden. Ich hatte ihn um einen Gefallen gebeten. Wo ist er?»

«Auf dem Klo, wie üblich.»

Der Witz über Melanders eigentümliche Fähigkeit, sich ständig auf der Toilette aufzuhalten, war alt und abgedroschen. Obwohl er vielleicht mehr als nur ein Körnchen Wahrheit enthielt, reagierte Martin Beck aus irgendeinem Grund gereizt.

Seinen Ärger behielt er allerdings wie fast immer für sich. Er betrachtete den Mann am Tisch ruhig und forschend und sagte:

«Was verdirbt dir die Laune?»

«Na, was wohl? Diese Raubüberfälle natürlich. Gestern Abend war wieder einer im Vanadislunden.»

«Hab’s schon gehört.»

«Ein Rentner, der mit seinem Hund unterwegs war. Einfach so von hinten niedergeschlagen. Hundertvierzig Kronen im Portemonnaie. Gehirnerschütterung. Liegt noch im Krankenhaus Sabbatsberg. Hat nichts gehört und nichts gesehen.»

Martin Beck sagte nichts.

«Es war der achte Überfall in vierzehn Tagen. Es kommt noch so weit, dass der Typ jemanden erschlägt.»

Martin Beck leerte sein Glas und stellte es ab.

«Wenn ihn nicht bald einer schnappt», sagte Gunvald Larsson.

«Wen meinst du mit ‹einer›?»

«Die Polizei, verdammt nochmal. Uns. Wen auch immer. Eine Zivilstreife vom neunten Revier war eine Viertelstunde vorher noch dort.»

«Und als es passiert ist? Wo war sie da?»

«Kaffeepause machen auf der Wache. Es ist immer das Gleiche. Wenn im Vanadislunden hinter jedem Strauch ein Polizist hockt, schlägt er im Vasapark zu, und wenn sowohl im Vanadislunden als auch im Vasapark hinter jedem Strauch ein Polizist hockt, taucht er bei Ugglevikskällan auf.»

«Und wenn dort auch ein Polizist hinter jedem Strauch hockt?»

«Dann schlagen die Demonstranten das US Trade Center kurz und klein und stecken die amerikanische Botschaft in Brand. Damit macht man keine Witze», sagte Gunvald Larsson steif.

Ohne ihn aus den Augen zu lassen, erwiderte Martin Beck:

«Ich mache keine Witze. Ich frage nur.»

«Der Mann weiß jedenfalls, was er tut. Es kommt einem fast so vor, als hätte er Radar. Wenn er zuschlägt, ist nie ein Polizist in der Nähe.»

Martin Beck rieb sich die Nasenwurzel mit Daumen und Zeigefinger.

«Schick doch …», sagte er und wurde von dem anderen Mann sofort unterbrochen.

«Schicken? Wen denn? Was denn? Die Spürhunde? Damit diese dreckigen Köter die Zivilstreife totbeißen? Der alte Knacker gestern hatte übrigens einen Hund. Und? Hat ihm das was genützt?»

«Welche Rasse?»

«Woher soll ich das denn wissen? Soll ich den Hund etwa verhören? Soll ich den Hund hierher holen und aufs Klo schicken, damit Melander ihn verhören kann?»

Gunvald Larsson sagte dies mit großem Ernst. Er hämmerte mit der flachen Hand auf den Tisch und erklärte mit Nachdruck:

«Ein Irrer läuft in den Parks herum und schlägt Leute nieder, und du kommst hier an und faselst was von Hunden!»

«Also genau genommen war nicht ich es, der …»

Und Gunvald Larsson unterbrach ihn gleich wieder.

«Im Übrigen habe ich gesagt, dass der Mann weiß, was er tut. Er stürzt sich nur auf Wehrlose, auf alte Knacker und Frauen und Milchbubis. Und immer von hinten. Wie hat es letzte Woche einer ausgedrückt? Ja, genau: Er kam wie ein Panther aus dem Gebüsch.»

«Es gibt nur eine Möglichkeit», meinte Martin Beck sanft.

«Welche?»

«Du wirst selbst losziehen müssen. Als wehrlose Person verkleidet.»

Der Mann am Tisch drehte den Kopf und starrte ihn an.

Gunvald Larsson war eins zweiundneunzig groß und wog 98 Kilo. Er hatte Schultern wie ein Profischwergewichtsboxer und riesige Pranken, die mit dichten Zottelhaaren bewachsen waren. Darüber hinaus hatte er blonde, zurückgekämmte Haare und missmutige, strahlend blaue Augen.

Kollberg pflegte diese Personenbeschreibung mit den Worten abzurunden, er habe einen Gesichtsausdruck wie ein Mopedfahrer.

Im Moment war der strahlend blaue Blick auf Martin Beck gerichtet und noch missbilligender als sonst.

Martin Beck zuckte mit den Schultern und sagte:

«Ehrlich gesagt …»

Und Gunvald Larsson unterbrach ihn sofort wieder.

«Ehrlich gesagt, kann ich die Sache überhaupt nicht komisch finden. Ich sitze mitten in einer der schlimmsten Serien von Raubüberfällen, die mir jemals untergekommen ist, und dann kommst du mit einer Menge geistreicher Bemerkungen über Hunde und ich weiß nicht was noch alles.»

Martin Beck stellte fest, dass dem anderen Mann in diesem Augenblick – vermutlich völlig unbeabsichtigt – beinahe etwas gelang, was bis jetzt nur wenige geschafft hatten. Nämlich ihn derart zu reizen, dass er die Beherrschung verlor. Und obwohl er die Situation klar durchschaute, konnte er nicht anders, als den Arm vom Aktenschrank zu nehmen und zu sagen:

«Jetzt reicht’s!»

Und genau in diesem Moment kam glücklicherweise Melander aus dem Nebenzimmer. Er trug kein Jackett, hatte seine Pfeife im Mund und hielt ein aufgeschlagenes Telefonbuch in den Händen.

«Hallo», sagte er.

«Hallo», erwiderte Martin Beck.

«Mir ist der Name in der Sekunde eingefallen, als du aufgelegt hast», sagte Melander. «Arvid Larsson. Ich habe ihn auch im Telefonbuch gefunden. Allerdings hat es keinen Sinn, ihn anzurufen. Er ist im April gestorben. Gehirnblutung. Aber er war bis zuletzt in der gleichen Branche tätig. Hatte einen Trödelladen auf Söder. Der ist jetzt zu.»

Martin Beck griff nach dem Telefonbuch, sah hinein und nickte. Melander kramte eine Streichholzschachtel aus seiner Hosentasche und zündete umständlich seine Pfeife an. Martin Beck machte zwei Schritte in den Raum hinein und legte das Telefonbuch auf dem Schreibtisch ab. Anschließend zog er sich wieder zum Aktenschrank zurück.

«Was treibt ihr da?», fragte Gunvald Larsson misstrauisch.

«Nichts Besonderes», erwiderte Melander. «Martin hatte den Namen eines Hehlers vergessen, den wir vor zwölf Jahren hochnehmen wollten.»

«Und, habt ihr ihn überführt?»

«Nein», sagte Melander.

«Du hast dich trotzdem an ihn erinnert?»

«Ja.»

Gunvald Larsson zog das Telefonbuch zu sich heran, blätterte darin und sagte:

«Ich frage mich, wie zum Teufel man sich zwölf Jahre lang den Namen eines Menschen merken kann, der Larsson heißt.»

«Das ist keine Kunst», erwiderte Melander ernst.

Das Telefon klingelte.

«Dezernat 1, diensthabender Beamter. – Verzeihung, was haben Sie gesagt? – Was? – Ob ich Detektiv bin? Hier spricht der diensthabende Beamte im Dezernat 1, Erster Kriminalassistent Larsson. – Entschuldigung, wie war Ihr Name?»

Gunvald Larsson zog den Kugelschreiber aus der Brusttasche, kritzelte ein Wort und verharrte mit erhobenem Stift.

«Und worum geht es? – Verzeihung, ich habe Sie nicht verstanden. – Wie? Ein Was? – Ein Hahn? – Ein Hahn auf dem Balkon? – Was? Ein Mann? – Auf Ihrem Balkon steht ein Mann?»

Gunvald Larsson schob das Telefonbuch beiseite, griff nach einem Notizblock, setzte den Stift aufs Papier, schrieb ein paar Worte.

«Ja, ich verstehe. Was sagten Sie, wie er aussieht? – Ja, ich höre. Dünne, zurückgekämmte Haare. Kräftige Nase. Aha. Weißes Hemd. Mittelgroß, ja. Braune Hose. Weit offen. Wie bitte? Ach so, das Hemd. Blaugraue Augen. – Einen Augenblick, meine Dame. Wir sollten versuchen, hier ein wenig Klarheit zu schaffen. Er steht also auf seinem eigenen Balkon?»

Gunvald Larsson sah von Melander zu Martin Beck und zuckte mit den Schultern. Er hörte weiter zu und stocherte mit dem Stift in seinem Ohr herum.

«Entschuldigen Sie bitte, habe ich Sie richtig verstanden? Dieser Mann steht also auf seinem eigenen Balkon? Hat er Sie belästigt? – Also nicht. Was? Auf der anderen Straßenseite? Auf seinem eigenen Balkon? – Wie können Sie dann sehen, dass er blaugraue Augen hat? Das muss ja eine ungewöhnlich schmale Straße sein. – Was? Sie tun was? – Jetzt mal langsam, gute Frau. Das Einzige, was dieser Mann getan hat, ist also, dass er auf seinem eigenen Balkon steht. Was tut er denn noch? – Er schaut auf die Straße hinunter? Was passiert denn auf der Straße? – Nichts? Was haben Sie gesagt? Autos? Spielende Kinder? – Auch nachts? Die Kinder spielen auch nachts? – Ach so, nicht. Aber er steht dort nachts? Was stellen Sie sich denn vor, was ich jetzt tun soll? Spürhunde schicken? – Es gibt nun wirklich kein Gesetz, das den Leuten verbietet, auf ihren Balkonen zu stehen, meine Dame. – Sie wollten eine Beobachtung melden, sagen Sie? Großer Gott, wenn alle solche Beobachtungen melden würden, bräuchte man drei Polizisten für jeden Einwohner. – Dankbar? Wir sollten dankbar sein? – Unverschämt? Ich bin unverschämt gewesen? Nein, jetzt hören Sie aber mal, meine Dame …»

Gunvald Larsson verstummte und saß wie erstarrt da, den Hörer zehn Zentimeter vom Ohr entfernt.

«Sie hat aufgelegt», sagte er verblüfft.

Drei Sekunden später knallte er den Hörer auf die Gabel und sagte:

«Dann fahr doch zur Hölle, alte Hexe!»

Er riss das Blatt ab, auf dem er sich Notizen gemacht hatte, und wischte damit sorgfältig das Ohrenschmalz von seinem Kugelschreiber.

«Die Leute spinnen», erklärte er. «Kein Wunder, dass man zu nichts kommt. Wieso wimmelt die Zentrale solche Anrufe nicht ab? Wir sollten eine Standleitung zum Irrenhaus haben.»

«An so was wirst du dich gewöhnen müssen», sagte Melander.

Er nahm ungerührt sein Telefonbuch, schlug es zu und ging in das andere Zimmer.

Gunvald Larsson hatte die Säuberung seines Stifts beendet, knüllte das Blatt zusammen und schmiss es in den Papierkorb. Er warf einen säuerlichen Blick auf die Tasche an der Tür und sagte:

«Willst du verreisen?»

«Nur ein paar Tage nach Motala», erwiderte Martin Beck. «Ich möchte mir da was ansehen.»

«Aha.»

«Ich bin höchstens eine Woche weg. Aber Kollberg kommt heute nach Hause. Er ist ab morgen wieder im Dienst. Du brauchst dir also keine Sorgen zu machen.»

«Ich mache mir keine Sorgen.»

«Was diese Raubüberfälle betrifft …»

«Ja?»

«Ach nichts, schon gut.»

«Zieht er das noch zweimal durch, schnappen wir ihn», rief Melander aus dem Nebenzimmer.

«Ja, genau», sagte Martin Beck. «Tschüs.»

«Tschüs», sagte Gunvald Larsson.

3

Martin Beck erreichte den Hauptbahnhof neunzehn Minuten vor Abfahrt seines Zuges und nutzte die Wartezeit für zwei Telefonate.

Das erste nach Hause.

«Bist du noch nicht weg?», sagte seine Frau.

Er ignorierte die rhetorische Frage und beschränkte sich darauf, zu sagen:

«Ich werde in einem Hotel namens Palace wohnen. Ich dachte nur, das solltest du wissen.»

«Wie lange bleibst du weg?»

«Eine Woche.»

«Woher weißt du das so genau?»

Das war eine gute Frage. Dumm war sie jedenfalls nicht, dachte Martin Beck und sagte:

«Grüß die Kinder.»

Er dachte kurz nach und ergänzte:

«Und pass auf dich auf.»

«Danke», erwiderte sie kühl.

Er hängte ein und kramte ein neues Fünfundzwanzigörestück aus der Hosentasche. Vor den Münztelefonen hatte sich eine Schlange gebildet, und die Vordersten schielten ärgerlich und argwöhnisch zu ihm herüber, als er das Geldstück in den Münzschacht steckte und die Nummer des Polizeipräsidiums Süd wählte. Es dauerte etwa eine Minute, bis er Kollberg erreichte.

«Hallo. Ich wollte nur kurz hören, ob du zurück bist.»

«Sehr fürsorglich», sagte Kollberg. «Bist du noch nicht weg?»

«Wie geht es Gun?»

«Gut. Sie sieht natürlich aus wie eine Telefonzelle.»

Gun war Kollbergs Frau und erwartete ein Kind, das irgendwann Ende August, Anfang September geboren werden sollte.

«Ich bin in einer Woche zurück.»

«Das habe ich schon gehört. Und im Übrigen bin ich dann nicht mehr hier.»

Es wurde kurz still. Dann fragte Kollberg:

«Was treibt dich nach Motala?»

«Dieser Typ …»

«Welcher Typ?»

«Ein Schrotthändler, der vorletzte Nacht verbrannt ist. Hast du das nicht …»

«Ich habe es in der Zeitung gelesen. Und?»

«Ich will mir die Sache mal ansehen.»

«Sollten die da unten nicht in der Lage sein, mit einer stinknormalen Brandsache allein fertig zu werden?»

«Sie haben jedenfalls um Hilfe gebeten und …»

«Moment», sagte Kollberg. «Das kannst du vielleicht deiner Frau erzählen, aber mich legst du nicht so leicht rein. Im Übrigen weiß ich sehr wohl, worum sie gebeten haben und von wem das ausging. Wer ist noch gleich der Leiter der Ermittlungen in Motala?»

«Ahlberg, aber …»

«Ja, genau, und außerdem weiß ich, dass du nächste Woche fünf Tage Überstunden abfeierst. Mit anderen Worten, du fährst nach Motala, um mit Ahlberg im Stadthotel zu saufen. Habe ich recht?»

«Na ja, aber …»

«Viel Spaß», sagte Kollberg jovial. «Pass auf dich auf.»

«Danke.»

Er hängte den Hörer ein, und der hinter ihm stehende Mann zwängte sich unter Ellbogeneinsatz an ihm vorbei. Martin Beck zuckte mit den Schultern und ging in die Bahnhofshalle.

Kollberg hatte nicht ganz unrecht, was an sich keine Rolle spielte, aber es war trotzdem ärgerlich, so leicht durchschaut zu werden. Kollberg und er hatten Ahlberg vor drei Jahren im Sommer bei der Arbeit an einem Mordfall kennengelernt. Die Ermittlungen waren langwierig und kompliziert gewesen, und sie waren in dieser Zeit gute Freunde geworden. Wäre es nicht so, hätte Ahlberg jetzt höchstwahrscheinlich nicht beim Reichspolizeiamt um Unterstützung gebeten, und er selbst hätte nicht einmal einen halben Arbeitstag für den Fall geopfert.

Die Bahnhofsuhr zeigte, dass er für die beiden Telefonate exakt vier Minuten benötigt hatte, weshalb ihm bis zur Abfahrt seines Zugs noch eine Viertelstunde blieb. Im Hauptbahnhof wimmelte es wie üblich von Menschen, unzähligen Leuten aller Art.

Er stand mit seiner Reisetasche in der Hand herum und fühlte sich grundlos deprimiert, ein großer Mann mit hagerem Gesicht, breiter Stirn und kräftigem Kiefer. Die meisten, die ihn sahen, hielten ihn vermutlich für ein verwirrtes Landei, das es soeben in den Großstadtdschungel verschlagen hatte.

«He, Alter», sagte jemand heiser und leise hinter ihm.

Er drehte sich um und betrachtete die Person, die ihn angesprochen hatte. Ein etwa vierzehnjähriges Mädchen mit hellen, strähnigen Haaren in einem kurzen Batikkleid. Sie war barfuß und ziemlich schmutzig, etwas jünger als seine Tochter und ungefähr gleich weit entwickelt. In der rechten hohlen Hand hielt sie einen Streifen mit vier Fotografien, auf die sie ihn einen flüchtigen Blick werfen ließ.

Es war nicht weiter schwierig, sich die Herkunft der Bilder zu erschließen. Das Mädchen war in eine der Fotokabinen auf dem oberen U-Bahnsteig gegangen, hatte sich auf den Hocker gekniet, das Kleid bis zu den Achselhöhlen hochgezogen und den Münzschlitz mit Einkronenstücken gefüttert.

Man hatte die Vorhänge dieser Fotokabinen auf Kniehöhe gekürzt, aber das schien nicht viel zu nützen. Er sah die Bilder und dachte, dass die Kinder heute schneller erwachsen wurden als früher. Außerdem hielten sie nichts davon, Unterwäsche zu tragen. Davon abgesehen war das fototechnische Resultat nicht sonderlich gelungen.

«Fünfundzwanzig Mäuse», sagte das Kind hoffnungsvoll.



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