Die Tote im Götakanal: Ein Kommissar-Beck-Roman - Maj Sjöwall - E-Book

Die Tote im Götakanal: Ein Kommissar-Beck-Roman E-Book

Maj Sjöwall

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Beschreibung

Band 1: Eine Tote, die niemand vermisst und keiner kennt Eine Leiche wird aus dem Götakanal geborgen. Sie kann nur wenige Tage im Schlamm des Schleusenbeckens gelegen haben – noch immer erkennt man, dass die junge Frau dunkelhaarig und hübsch war. Wie die Obduktion ergibt, wurde sie vor ihrem Tod misshandelt. Tatort: unbekannt. Die Kriminalbeamten stehen vor einem absoluten Rätsel, weil niemand die Frau zu vermissen scheint. Nicht einmal ihr Name kann ermittelt werden. Aber Kommissar Martin Beck gibt nicht auf. Und allmählich erwacht die Tote zum Leben…. Dies ist der erste Band der weltberühmten Serie um den schwedischen Kommissar Martin Beck. In neuer Übersetzung und mit einem Vorwort von Henning Mankell.

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Seitenzahl: 334

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Maj Sjöwall • Per Wahlöö

Die Tote im Götakanal

Ein Kommissar-Beck-Roman

 

 

Aus dem Schwedischen von Hedwig M. Binder

 

In neuer Übersetzung und mit einem Vorwort von Henning Mankell

Über dieses Buch

Eine Tote, die niemand vermisst und keiner kennt

 

Eine Leiche wird aus dem Götakanal geborgen. Sie kann nur wenige Tage im Schlamm des Schleusenbeckens gelegen haben – noch immer erkennt man, dass die junge Frau dunkelhaarig und hübsch war. Wie die Obduktion ergibt, wurde sie vor ihrem Tod misshandelt. Tatort: unbekannt. Die Kriminalbeamten stehen vor einem absoluten Rätsel, weil niemand die Frau zu vermissen scheint. Nicht einmal ihr Name kann ermittelt werden. Aber Kommissar Martin Beck gibt nicht auf. Und allmählich erwacht die Tote zum Leben …

Dies ist der erste Band der weltberühmten Serie um den schwedischen Kommissar Martin Beck. In neuer Übersetzung und mit einem Vorwort von Henning Mankell.

Vita

Das schwedische Autorenduo Maj Sjöwall und Per Wahlöö schrieb einen Zyklus von zehn Kriminalromanen um Kommissar Martin Beck, die zu einem einzigartigen Welterfolg wurden. Mit ihrer Mischung aus Gesellschaftskritik, Spannung und Unterhaltung haben Sjöwall/Wahlöö die Spannungsliteratur revolutioniert und eine ganze Generation von Krimiautoren geprägt. Sie gelten als Eltern des skandinavischen Kriminalromans und sind erklärte Vorbilder von Autoren wie Henning Mankell und Håkan Nesser. Die zehn Bände der Kommissar-Beck-Reihe sind in 35 Sprachen übersetzt worden und erreichten bisher eine Gesamtauflage von über 10 Millionen Exemplaren. Alle Romane wurden außerdem sehr erfolgreich fürs Fernsehen verfilmt.

 

Maj Sjöwall, 1935 in Stockholm geboren, studierte Graphik und Journalismus und arbeitete für verschiedene Zeitschriften. Mit ihrem Mann Per Wahlöö schrieb sie die erfolgreiche Krimiserie um Kommissar Martin Beck, die auch verfilmt wurde. 1996 erhielt Sjöwall für die erste Serienverfilmung von Kommissar Beck den Adolf-Grimme-Preis (zusammen mit Gösta Ekmann). Zuletzt arbeitete Maj Sjöwall als Übersetzerin in Stockholm, wo sie im April 2020 verstarb.

 

Per Wahlöö, 1926 im schwedischen Lund geboren, machte nach dem Studium der Geschichte als Journalist Karriere. In den Fünfzigerjahren ging er nach Spanien und wurde 1956 vom Franco-Regime ausgewiesen. Nach verschiedenen Reisen um die halbe Welt ließ er sich wieder in Schweden nieder und arbeitete dort als Schriftsteller. Per Wahlöö starb 1975 in seiner Heimatstadt.

Impressum

Die Originalausgabe erschien 1965 unter dem Titel «Roseanna» bei P. A. Norstedt & Söners Förlag, Stockholm.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, März 2025

Copyright © 1968, 2008 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

«Roseanna» Copyright © 1965 by Maj Sjöwall und Per Wahlöö

Redaktion Dagmar Lendt

Covergestaltung ZERO Werbeagentur, München, unter Verwendung eines Motivs von Adobe Photoshop KI

Coverabbildung Shutterstock

ISBN 978-3-644-02273-7

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

Vorwort

Henning Mankell

Ich habe Die Tote im Götakanal fast unmittelbar nach Erscheinen des Buches 1965 gelesen. Als ich es jetzt erneut lese, wird mir klar, dass das vierzig Jahre her ist und ich damals gerade mal siebzehn Jahre alt war. Im Augenblick erscheint mir das unfassbar. Wie viele Bücher habe ich seitdem gelesen? Wie kommt es, dass ich mich gerade an Die Tote im Götakanal so gut erinnere? Ich weiß noch ganz genau, dass ich das Buch damals als geradlinig und klar empfunden habe, als eine überzeugende Geschichte in nicht minder überzeugender Form. Und als ich sie jetzt erneut lese, wird mir klar, dass ich dies heute noch genauso empfinde wie damals. Das Buch ist kaum gealtert. Sogar die Sprache wirkt energisch und lebendig. Was sich verändert hat, sind die Realität und ich selbst. Damals rauchten die Leute bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit. Es gab keine Handys. Man war auf Telefonzellen angewiesen. Man aß in Imbissbars zu Mittag, niemand hatte kleine Tonbandgeräte in der Hosentasche, und von Computern hatte man kaum läuten hören. Darüber hinaus war Schweden eine Gesellschaft, der die Vergangenheit noch immer näherstand als die Zukunft. Die richtig großen Einwanderungswellen hatten gerade erst begonnen. Arbeiter kamen zu einigen unserer Großindustrien. Flüchtlingswellen aber gab es nicht. Und alle zeigten ihren Pass vor, selbst wenn sie nur nach Norwegen oder Dänemark reisen wollten. Per Wahlöö ist nun schon viele Jahre tot, Maj Sjöwall ist gleichermaßen gealtert wie ich und die Leserinnen und Leser, die sie vor einer Generation erreicht haben. Jetzt lese ich an einem Dezembertag den Roman Die Tote im Götakanal vierzig Jahre nach seiner Entstehung erneut. Vieles habe ich natürlich vergessen. Doch der Bau des Romans steht auf stabilen Beinen. Er ist gut durchdacht, gut unterbaut. Man merkt, dass Per Wahlöö und Maj Sjöwall sich auf ihren Plan, in fiktiver Form, aber auf der Realität basierend, zehn Bücher über die Reichsmordkommission zu schreiben, sorgfältig vorbereitet haben.

 

Der Auftakt ist bestimmt. Schon auf der ersten Seite des Romans wird zum Beispiel gründlich das Entscheidungsverfahren zwischen verschiedenen Behörden durchgenommen, als es darum geht, die Ausbaggerung eines verschlammten Bereichs im Götakanal zu organisieren. Dieser Wille zur Gründlichkeit wiederholt sich im Verlauf des Romans. Die Autoren sind eindeutig, sie gewinnen das Vertrauen der Leser durch minutiöse und damit glaubwürdige Beschreibungen verschiedener Institutionen und Strukturen der schwedischen Gesellschaft Mitte der sechziger Jahre. Ein Land, dessen Ministerpräsident Tage Erlander hieß und in dem der Rechtsverkehr noch nicht eingeführt war.

 

Auf der ersten Seite des Romans gibt es ein winziges Detail, das mich jetzt bei der neuerlichen Begegnung fasziniert. Die Einleitung ist auf Anfang Juli verlegt, das Datum genannt. In Borensberg in Östergötland ist ein Schwimmbagger eingetroffen. Die Autoren schreiben: «… dieses Wasserfahrzeug, von den Kindern der Gegend und einem vietnamesischen Touristen begafft». Ein vietnamesischer Tourist! 1965 in Schweden. Vielleicht ist das vereinzelte Male vorgekommen. Doch hier handelt es sich um ein Augenzwinkern der Autoren über das große Ereignis, gegen das sich nicht zuletzt die Generation, der ich angehöre, engagiert hat. Der Vietnamkrieg. Die Zeit in Schwedens Nachkriegsgeschichte, in der sich die Welt allmählich öffnete. Das verdient hervorgehoben zu werden, weil die Autoren mit ihren über die Mordkommission geplanten Büchern eine radikale Absicht verfolgten. Sie wollten das Verbrechen und die Verbrechensermittlung als Spiegel der schwedischen Gesellschaft – später auch unserer Umwelt – benutzen. Es war nie ihre Absicht, Kriminalliteratur zur Unterhaltung zu schreiben. Sie hatten sich von Ed McBain aus den USA beeinflussen und inspirieren lassen. Ihnen war bewusst geworden, dass es für Kriminalliteratur als Rahmen gesellschaftskritischen Erzählens ein riesiges, noch unerforschtes Terrain gab.

 

Wie oft ich schon gefragt wurde, was mir Per Wahlöös und Maj Sjöwalls Bücher bedeutet haben, weiß ich nicht mehr. Ich glaube kaum, dass irgendjemand, der oder die damit befasst ist, über Verbrechen als Spiegelbild des Sozialen zu schreiben, nicht irgendwie von dem inspiriert wurde, was die beiden geschrieben haben. Sie haben mit Büchern, wie sie früher gang und gäbe waren, gebrochen. In Schweden dominierte in den fünfziger Jahren Stieg Trenter den Markt. Dann waren da noch Maria Lang und H. K. Rönnblom. Sie schrieben Puzzlekrimis. Bei Stieg Trenter gab es eingehende Schilderungen von Straßen und Lokalen und Speisen. Aber das Milieu war nur Milieu, es gab keinen unmittelbaren lebendigen Zusammenhang mit der Realität, in der ein Verbrechen geschah. Bis Die Tote im Götakanal erschien, dominierte der angelsächsische Detektivroman. Per Wahlöö und Maj Sjöwall brachen nicht zuletzt mit der hoffnungslos stereotypen Menschenschilderung, der man in aller Regel begegnete. Sie zeigten Menschen, die sich vor den Augen des Lesers veränderten.

 

Vor 1965 hatte ich ein paar von Per Wahlöös Romanen gelesen. Nicht zuletzt «Das Lastauto», das im faschistischen Spanien spielte. Er schrieb gut, eine geradlinige und einfache Sprache, die der Geschichte Drive verlieh. Mir gefiel, was ich las. Doch das, was jetzt kam, war anders. Welche Bedeutung es hatte, dass Maj Sjöwall nun mitarbeitete, kann ich nicht entscheiden, nur, dass es eine große Inspiration gewesen sein musste. Ich erinnere mich, dass ich Die Tote im Götakanal schon nach ein paar Wochen erneut gelesen habe. Ich wüsste nicht, dass mir dergleichen jemals vorher passiert wäre.

 

Per Wahlöö und Maj Sjöwall haben selbst über den Einfluss aus den USA gesprochen. Ed McBain wurde bereits erwähnt. Aber ich erahne, dass sie wohl noch viel weiter zurück nach Inspiration gesucht haben, zumindest bis ins 19. Jahrhundert zu Edgar Allan Poe zurück. Manche Leute sind der Meinung, die Kriminalliteratur sei Mitte des 19. Jahrhunderts mit seinen Erzählungen geboren worden. Dieser Meinung bin ich nicht. Es mangelt seltsamerweise bis heute an Verständnis dafür, dass die Wurzeln der Kriminalliteratur sehr weit zurückreichen. Lest die klassischen griechischen Dramen! Wovon handeln sie denn? Von Mensch und Gesellschaft, in Konflikten verheddert, die zu Gewalt, Verbrechen und Strafe führen. Natürlich hat auch das, was Shakespeare schrieb, etwas vom Spiegel des Verbrechens. Allerdings gab es bei ihm keine Polizisten. Aber Ermittlungen, Analysen und Versuche, zu verstehen, wer und was hinter einem brutalen Verbrechen steckt. Wir stehen in diversen Traditionen, ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht.

 

Die Tote im Götakanal ist in vielerlei Hinsicht ein merkwürdig faszinierendes Buch. Ich werde hier nicht auf die Handlung oder die Lösung eingehen. Ich möchte lediglich sagen, dass es wahrscheinlich einer der ersten Kriminalromane ist, in dem ganz selbstverständlich die Zeit eine Hauptrolle spielt. Es vergehen lange Zeitspannen, ohne dass etwas passiert. Die Ermittlung, wer Roseanna McGraw ermordet und in den Götakanal geworfen hat, tritt auf der Stelle, bewegt sich vielleicht mal ein paar Zentimeter und bleibt wieder stehen. Für Martin Beck und seine Kollegen besteht kein Zweifel, dass die Zeit, die darüber vergeht, sowohl frustrierend als auch ein notwendiges Übel ist. Mordermittler ohne Geduld sind waffenlos. Es dauert ein halbes Jahr, bis das Verbrechen aufgeklärt wird. Wir als Leser wissen aber bereits, dass die Polizisten auch dann nicht aufgegeben hätten, wenn darüber fünf Jahre vergangen wären. Das Buch erzählt von der grundlegenden Polizeitugend, die da Geduld heißt.

 

Ich habe nicht nachgezählt, wie oft Martin Beck in Die Tote im Götakanal übel ist. Jedenfalls oft. Er kann nicht frühstücken, weil ihm übel ist. Ihm wird von Zigaretten und vom Bahnfahren übel. Außerdem wird ihm von seinem Privatleben übel. In Die Tote im Götakanal treten ganz gewöhnliche Menschen als Mordermittler auf den Plan. Sie haben wahrlich keine heldenhafte Züge. Sie machen ihre Arbeit, und ihnen wird übel. Ich kann mich heute nicht mehr erinnern, wie ich damals vor vierzig Jahren reagiert habe. Aber ich glaube, es war eine Offenbarung, in Die Tote im Götakanal durch und durch reale Menschen als Polizisten zu erleben.

 

Das Buch hält durchaus immer noch seinen Standard. Es ist lebendig, stilistisch streng, und die Entwicklung des Plots ist geschickt angelegt.

 

Zweifelsohne ist es ein moderner Klassiker. Es war das erste in der Serie der zehn Bücher von Per Wahlöö und Maj Sjöwall. Sie haben von Anfang an den Bogen fest gespannt und genau gezielt.

Die Tote im Götakanal

1

Die Leiche wurde am 8. Juli herausgezogen, am Nachmittag kurz nach drei Uhr. Sie war einigermaßen unversehrt und konnte noch nicht lange im Wasser gelegen haben.

Dass man sie überhaupt fand, war Zufall. Dass man sie so schnell fand, war Glück und hätte die polizeilichen Ermittlungen eigentlich begünstigen müssen.

Unterhalb der Schleusentreppe in Borenshult ist eine Mole, die bei östlichen Winden die Einfahrt gegen den See schützt. Kaum war der Verkehr auf dem Kanal in diesem Frühjahr wiederaufgenommen worden, hatte sich die Einfahrt mit Schlamm zugesetzt. Die Schiffe konnten nur mühsam manövrieren, und ihre Antriebsschrauben wirbelten fette, gelbgraue Wolken aus dem Bodenschlamm auf. Es lag auf der Hand, dass etwas getan werden musste, und schon im Mai forderte die Kanalgesellschaft beim Amt für Wege- und Wasserbau einen Schwimmbagger an. Die Eingabe ging über die Schreibtische einer Reihe ratloser Beamter und wurde schließlich ans Schifffahrtsamt weitergereicht. Das Schifffahrtsamt war der Ansicht, die Arbeit müsse von einem Bagger des Amtes für Wege- und Wasserbau ausgeführt werden, während Wege- und Wasserbau meinte, als Betreiber der Schwimmbagger sei das Schifffahrtsamt zuständig. Aus lauter Verzweiflung versuchte irgendjemand, die Angelegenheit ans Hafenamt in Norrköping abzuschieben, von wo das Schreiben umgehend ans Schifffahrtsamt zurückgeschickt wurde, das es wiederum an Wege- und Wasserbau weitergab, woraufhin jemand nach einem Telefonhörer griff und die Nummer eines Ingenieurs wählte, der wirklich alles über Schwimm- und Greifbagger wusste. Seine Freunde nannten ihn Schlammsau. Er wusste beispielsweise, dass von den fünf vorhandenen Schwimmbaggern nur ein einziger die richtigen Ausmaße hatte, um die Schleusen passieren zu können. Dieser Schlammbagger, von allen nur Schlammkacker genannt, lag zufällig gerade im Fischereihafen von Gravarne. Am Morgen des 5. Juli machte dieses Wasserfahrzeug, von den Kindern der Gegend und einem vietnamesischen Touristen begafft, in Borenshult fest.

Eine Stunde später kam ein Vertreter der Kanalgesellschaft an Bord, um die anstehenden Arbeiten zu besprechen, was seine Zeit dauerte. Der nächste Tag war ein Samstag, und während die Besatzung übers Wochenende nach Hause fuhr, blieb der Bagger an der Mole liegen. Die Mannschaftsliste verzeichnete die für einen Schwimmbagger übliche Zusammensetzung: einen Baggermeister, zugleich Kapitän mit der Befugnis, das Fahrzeug auf See zu steuern, einen Baggerführer und einen Decksmann. Die beiden Letztgenannten waren aus Göteborg und stiegen in Motala in den Abendzug. Der Chef wohnte in Nacka und wurde von seiner Frau mit dem Auto abgeholt. Am Montagmorgen um sieben waren alle wieder an Bord, und eine Stunde später begannen sie zu baggern. Gegen elf war der Laderaum voll, und der Schwimmbagger fuhr zum Entleeren hinaus auf den See. Auf dem Rückweg musste er einem weißen Dampfer ausweichen, der den Borensee in westlicher Richtung passierte. An der Reling drängelten sich ausländische Touristen, die mit hysterischer Begeisterung den ernsten Männern auf dem Schwimmbagger zuwinkten. Das Passagierschiff stieg langsam die Schleusentreppe in Richtung Motala und Vätternsee hinauf, und als es Zeit war, Mittagspause zu machen, war der Topwimpel hinter dem letzten Schleusentor verschwunden. Um halb zwei wurden die Baggerarbeiten fortgesetzt.

Die Lage war wie folgt: Das Wetter war warm und schön mit schwachem, wechselhaftem Wind und gemächlich dahintreibenden Sommerwolken. Auf der Mole und an der Kanalböschung hielten sich etliche Leute auf. Die meisten sonnten sich, einige angelten, und zwei oder drei beobachteten den Schwimmbagger. Dessen Greifer hatte sich gerade wieder ein Maulvoll Bodenschlamm aus dem Boren einverleibt und war auf dem Weg zur Wasseroberfläche. Der Baggerführer in seiner Kabine führte mechanisch die gewohnten Handgriffe aus, der Baggermeister trank in der Kombüse eine Tasse Kaffee, und der Decksmann hatte die Ellbogen auf die verschmierte Reling gestützt und spuckte in die Wellen. Der Greifer befand sich noch unter Wasser.

Als er die Wasseroberfläche durchbrach, stand am Rand des Kais ein Mann auf und machte ein paar Schritte auf das Baggerschiff zu. Er fuchtelte mit den Armen und rief etwas. Der Decksmann richtete sich auf, wie um besser zu hören.

«Da ist einer im Greifer! Stopp! Da steckt einer im Greifer!»

Verwirrt sah der Decksmann zuerst den Mann und dann den Greifer an, der langsam über den Laderaum schwenkte, um seinen Inhalt auszuspucken. Als der Baggerführer ihn über dem Laderaum anhielt, strömte schmutzig graues Wasser heraus. Da sah auch der Decksmann, was der Mann auf der Mole gesehen hatte: Zwischen den Greiferschaufeln ragte ein nackter weißer Arm heraus.

Die folgenden zehn Minuten waren lang und klar. Eine Reihe von Maßnahmen wurde ergriffen, und am Kai rief jemand immer wieder:

«Nichts unternehmen, nichts anfassen, einfach alles so lassen, wie es ist, bis die Polizei kommt …»

Der Baggerführer kam aus seiner Kabine, riss die Augen auf, kletterte zurück auf seinen relativ sicheren Platz hinter den Schalthebeln, schwenkte den Kran und öffnete den Greifer. Der Baggermeister und der Decksmann sowie ein besonders eifriger Angler fingen den Körper auf. Es war eine Frau.

Wenig später lag sie ganz am Ende der Mole auf einer zusammengelegten Persenning auf dem Rücken, und ein Haufen bestürzter Menschen stand um sie herum und starrte sie an. Es waren auch Kinder darunter, die nicht dorthin gehörten, aber niemand dachte daran, sie zu verscheuchen. Alle waren dabei, und keiner von ihnen würde den Anblick der Frau jemals wieder vergessen.

Der Decksmann hatte sie mit drei Eimern Wasser abgespült. Lange danach, als die polizeilichen Ermittlungen festgefahren waren, gab es Leute, die ihm das zum Vorwurf machten.

Die Frau war nackt und trug keinen Schmuck. An Brust und Unterleib war ihre Haut heller, so als hätte sie sich im Bikini gesonnt. Sie hatte ein breites Becken und kräftige Schenkel, und ihr Schamhaar war schwarz, nass und dicht. Ihre Brüste waren klein und schlaff und hatten große, dunkle Warzen. Von der Taille bis zum Hüftbein verlief eine weißrote Schramme. Ansonsten war ihre Haut glatt und frei von Flecken und Narben. Die Frau hatte kleine Hände und Füße mit unlackierten Nägeln. Das Gesicht war aufgedunsen, und es ließ sich schwer sagen, wie sie ursprünglich ausgesehen hatte. Die Augenbrauen waren dunkel und kräftig, der Mund wirkte breit. Das schwarze, halblange Haar klebte ihr am Kopf. Eine Strähne lag quer über dem Hals.

2

Motala ist eine mittelgroße schwedische Stadt. Sie liegt in Östergötland am nordöstlichen Ufer des Vätternsees und hat 27000 Einwohner. Oberster Chef der Polizeibehörde ist der Amtsanwalt der Stadt, der zugleich Ankläger ist. Ihm untersteht ein Kommissar, der sowohl die Schutz- als auch die Kriminalpolizei leitet. Darüber hinaus gibt es einen Ersten Kriminalassistenten mit der Gehaltsstufe 19, sechs einfache Kriminalbeamte und eine Polizistin. Einer der Beamten hat eine Fotografenausbildung, und mit den medizinischen Untersuchungen wird in der Regel ein städtischer Amtsarzt beauftragt.

Eine Stunde nach dem ersten Alarm hatte sich die Mehrzahl dieser Personen auf dem Pier in Borenshult versammelt, einige Meter vom Hafenfeuer entfernt. Um die Leiche herum herrschte ein ziemliches Gedränge, sodass die Männer auf dem Schwimmbagger das Geschehen nicht mehr verfolgen konnten. Sie waren immer noch an Bord, obwohl ihr Schiff mit dem Backbordbug zur Mole vertäut lag.

Außerhalb der polizeilichen Absperrung am Anleger hatte sich die Menschenmenge verzehnfacht. Auf der anderen Seite des Kanals stand eine Anzahl Autos, darunter vier Polizeiautos und ein weißer Krankenwagen mit rotem Kreuz auf den Hecktüren. Zwei Männer in weißen Overalls standen daneben und rauchten. Sie schienen die Einzigen zu sein, die sich nicht für die Gruppe am Leuchtfeuer interessierten.

Draußen auf der Mole packte der Arzt gerade seine Sachen zusammen. Dabei unterhielt er sich mit dem Kommissar, einem großen, grauhaarigen Mann namens Larsson.

«Ich kann jetzt noch nicht viel dazu sagen», erklärte der Arzt.

«Muss sie hier liegen bleiben?»

«Das sollte ich eher Sie fragen», erwiderte der Arzt.

«Hier ist wohl kaum der Tatort.»

«Okay, dann sorgen Sie dafür, dass sie ins Leichenschauhaus gebracht wird. Ich melde mich.» Er schnallte seine Tasche zu, erhob sich und ging.

«Ahlberg», sagte der Kommissar, «du hältst das Gelände abgesperrt.»

«Ja, schon gut.»

Draußen am Hafenfeuer hatte der Amtsanwalt nichts gesagt. In Vorermittlungen mischte er sich in aller Regel nicht ein. Auf dem Weg in die Stadt meinte er jedoch:

«Hässliche blaue Flecken.»

«Ja.»

«Halte mich auf dem Laufenden.»

Larsson machte sich nicht einmal die Mühe zu nicken.

«Du überlässt Ahlberg den Fall?»

«Ahlberg ist gut», sagte der Kommissar.

«Ja, sicher.»

Das Gespräch verstummte.

Am Ziel angekommen, stiegen sie aus und gingen in ihre Dienstzimmer.

Der Amtsanwalt rief den Provinzialoberstaatsanwalt in Linköping an.

«Ich warte erst mal ab», sagte der Oberstaatsanwalt.

Der Kommissar hatte ein kurzes Gespräch mit Ahlberg.

«Wir müssen herausfinden, wer sie ist.»

«Ja», sagte Ahlberg.

Er ging in sein Büro und forderte bei der Feuerwehr telefonisch zwei Froschmänner an. Dann las er einen Bericht über einen Einbruch im Hafen durch. Der würde bald aufgeklärt sein. Ahlberg stand auf und ging zum diensthabenden Beamten hinüber:

«Ist jemand als vermisst gemeldet?»

«Nein.»

«Eine Fahndung?»

«Keine, die passt.»

Er kehrte in sein Büro zurück.

Wartete.

Eine Viertelstunde später kam der Anruf.

«Wir müssen eine Obduktion beantragen», sagte der Arzt.

«Wurde sie erwürgt?»

«Glaube schon.»

«Vergewaltigt?»

«Glaube schon.»

Der Arzt machte eine kurze Pause. Dann sagte er:

«Und zwar ziemlich brutal.»

Ahlberg kaute an seinem Zeigefingernagel. Er dachte an seinen Urlaub, der am Freitag beginnen sollte, und daran, wie erfreut seine Frau sein würde. Der Arzt interpretierte sein Schweigen falsch.

«Erstaunt Sie das?»

«Nein», antwortete Ahlberg.

Er legte den Telefonhörer auf und ging zu Larsson hinüber. Zusammen suchten sie den Amtsanwalt auf.

Zehn Minuten später beantragte dieser eine gerichtsmedizinische Untersuchung bei der Provinzialregierung, die sich daraufhin mit dem staatlichen Institut für Rechtsmedizin in Verbindung setzte. Der Gerichtsmediziner war ein siebzigjähriger Professor. Er kam mit dem Nachtzug aus Stockholm, wirkte frisch und munter und obduzierte acht Stunden lang, fast ohne Pause.

Anschließend gab er einen vorläufigen Obduktionsbericht ab, in dem Folgendes stand: Tod durch Erwürgen in Zusammenhang mit brutaler sexueller Gewalt. Schwere innere Blutungen.

Zu diesem Zeitpunkt häuften sich auf Ahlbergs Schreibtisch bereits die Vernehmungsprotokolle und Berichte. Sie ließen sich in einem Satz zusammenfassen: Im Schleusenbecken von Borenshult hatte man eine tote Frau gefunden.

In der Stadt und in den umliegenden Polizeibezirken war keine Frau als vermisst gemeldet. Es wurde nach keiner Person gefahndet, auf die die Beschreibung passte.

3

Es war Viertel nach fünf am Morgen, und es regnete. Martin Beck putzte sich lange und sorgfältig die Zähne, um den Bleigeschmack im Mund loszuwerden, mit Erfolg, wie es schien.

Er knöpfte seinen Kragen zu, band sich die Krawatte um und betrachtete lustlos sein Gesicht im Spiegel. Er zuckte mit den Schultern, ging durch den Flur und weiter durchs Wohnzimmer, warf einen sehnsüchtigen Blick auf das halbfertige Modell des Schulschiffs Danmark, das ihn am Abend zuvor viel zu lange beschäftigt hatte, und betrat die Küche.

Die ganze Zeit bewegte er sich geschmeidig und auf leisen Sohlen, teils aus alter Gewohnheit, teils, um die Kinder nicht zu wecken.

Er setzte sich an den Küchentisch.

«Ist die Zeitung noch nicht da?», fragte er.

«Die kommt nie vor sechs», antwortete seine Frau.

Draußen war es schon hell, aber das Wetter war trübe, und in der Küche herrschte graue Dämmerung. Seine Frau hatte das Licht nicht angemacht. Sie nannte das sparen.

Er machte den Mund auf und gleich wieder zu, ohne etwas gesagt zu haben. Es gäbe doch nur Streit, und dafür war jetzt nicht der richtige Augenblick.

Stattdessen trommelte er mit den Fingern leicht auf die Tischplatte und betrachtete die leere Tasse mit dem blauen Rosenmuster. Sie hatte eine Kerbe am Rand und unter der Kerbe einen braunen Sprung. Diese Tasse begleitete sie schon fast ihre ganze Ehe lang. Mehr als zehn Jahre. Seine Frau machte selten etwas kaputt, jedenfalls nicht so, dass es sich nicht reparieren ließ. Komisch, die Kinder waren genauso.

Ob sich derartige Eigenschaften vererbten? Er wusste es nicht.

Sie nahm den Kaffeekessel vom Herd und schenkte ein. Er hörte mit seinem Getrommel auf.

«Möchtest du ein belegtes Brot?», fragte sie.

Er trank vorsichtig und schlückchenweise und saß mit leicht gekrümmtem Rücken am Tisch.

«Du solltest wirklich etwas essen», sagte sie.

«Du weißt, dass ich morgens nichts essen kann.»

«Das solltest du aber», beharrte sie. «Gerade du mit deinem Magen!»

Er strich sich mit den Fingern über die Wange und stieß auf ein paar winzige spitze Bartstoppeln, die er vergessen hatte. Trank einen Schluck.

«Ich könnte ein bisschen Brot toasten», sagte sie.

Fünf Minuten später stellte er geräuschlos seine Tasse auf die Untertasse, hob den Blick und betrachtete seine Frau.

Sie trug einen flauschigen roten Morgenrock über dem Nylonnachthemd, hatte die Ellbogen auf den Tisch und das Kinn in die Hände gestützt. Sie war blond, hatte einen hellen Teint und runde, etwas vorstehende Augen. Normalerweise ließ sie sich die Augenbrauen färben, aber im Laufe des Sommers waren sie ausgeblichen und jetzt fast so hell wie ihr Haar. Sie war ein paar Jahre älter als er, und obwohl sie in den vergangenen Jahren ziemlich zugenommen hatte, wurde die Haut an ihrem Hals allmählich schlaff.

Als ihre Tochter vor zwölf Jahren geboren wurde, hatte sie ihre Stelle in einem Architekturbüro aufgegeben. Seitdem hatte sie keine Anstalten gemacht, wieder arbeiten zu gehen. Als der Junge eingeschult wurde, hatte Martin Beck ihr vorgeschlagen, sich eine Halbtagsstelle zu suchen, aber sie hatte ihm vorgerechnet, dass sich das kaum lohnen würde. Außerdem war sie von Natur aus bequem und mit ihrem Hausfrauendasein zufrieden.

Na ja, dachte Martin Beck und stand auf. Leise schob er den blaugestrichenen Hocker unter den Tisch, stellte sich ans Fenster und schaute in den Nieselregen hinaus.

Unterhalb des Parkplatzes und der grasbewachsenen Böschung lag glänzend und leer die Autobahn. In den Hochhäusern auf dem Hügel hinter der U-Bahn-Station waren einige Fenster schwach erleuchtet. Ein paar Möwen kreisten unter dem tiefen grauen Himmel, ansonsten war kein lebendes Wesen zu sehen.

«Wohin fährst du?», fragte sie.

«Nach Motala.»

«Bleibst du lange weg?»

«Weiß nicht.»

«Geht es um diese junge Frau?»

«Ja.»

«Glaubst du denn, dass es lange dauern wird?»

«Ich weiß nicht mehr als du. Nur das, was in den Zeitungen stand.»

«Warum musst du den Zug nehmen?»

«Die anderen sind gestern schon gefahren. Ich sollte gar nicht mit.»

«Die machen wirklich mit dir, was sie wollen. Wie immer.»

Er atmete tief durch und starrte aus dem Fenster. Der Regen schien nachzulassen.

«Wo bist du untergebracht?»

«Im Stadthotel.»

«Wer ist noch dabei?»

«Kollberg und Melander. Sie sind gestern gefahren. Wie gesagt.»

«Mit dem Auto?»

«Ja.»

«Und du darfst mit dem Zug durch die Gegend juckeln.»

«Ja.»

Er hörte, wie sie hinter seinem Rücken die Tasse mit den blauen Rosen und der Kerbe am Rand abspülte.

«Ich muss diese Woche die Stromrechnung und die Reitstunden der Kleinen bezahlen.»

«Reicht das Geld nicht, das du bekommen hast?»

«Ich möchte nichts abheben, das weißt du doch.»

«Schon gut.»

Er zog die Brieftasche aus der Innentasche seines Jacketts und sah hinein. Nahm einen Fünfziger heraus, betrachtete ihn, legte ihn wieder zurück und steckte die Brieftasche ein.

«Ich hasse es, Geld abzuheben», sagte sie. «Wenn man erst mal damit anfängt, nimmt es kein Ende mehr.»

Er holte den Schein wieder heraus, faltete ihn, drehte sich um und legte ihn auf den Küchentisch.

«Ich habe deine Tasche gepackt», sagte sie.

«Danke.»

«Pass auf deinen Hals auf! Man kann sich leicht was wegholen in dieser Jahreszeit, besonders nachts. Außerdem regnet es.»

«Ja.»

«Nimmst du die grässliche Pistole mit?»

Nein, ja. Ene mene minke tinke, wade rade rollke tollke …, dachte Martin Beck.

«Was gibt es da zu lachen?», fragte sie.

«Nichts.»

Er ging ins Wohnzimmer, zog die Schublade des Sekretärs auf und nahm seine Pistole heraus, steckte sie in das verschließbare Fach seiner Tasche und ließ das Schloss zuschnappen.

Es war eine gewöhnliche 7,65-Millimeter-Walther, in Schweden in Lizenz hergestellt. Im Ernstfall kaum zu gebrauchen, und außerdem schoss er sehr schlecht.

Er ging in den Flur und zog seinen Trenchcoat an. Als er nach dem schwarzen Hut griff, plumpste die Zeitung durch den Briefschlitz auf den Fußboden.

«Willst du dich nicht von Rolf und der Kleinen verabschieden?»

«Es ist lächerlich, ein zwölfjähriges Mädchen noch Kleine zu nennen.»

«Ich finde das aber süß.»

«Es wäre ein Jammer, sie zu wecken. Außerdem wissen sie ja, dass ich wegfahre.»

Er setzte seinen Hut auf.

«Also dann. Ich melde mich.»

«Tschüs, und sei vorsichtig!»

Als er auf dem Bahnsteig stand und auf den Vorortzug wartete, dachte er, dass er trotz der halbfertigen Beplankung des Schulschiffs Danmark nichts dagegen hatte, von zu Hause wegzufahren.

Martin Beck war nicht der Chef der Mordkommission und hatte auch nicht den Ehrgeiz, es zu werden. Manchmal zweifelte er sogar daran, dass er jemals Kommissar werden würde, obwohl das eigentlich nur der Tod oder ein ernsthaftes Dienstvergehen verhindern konnte. Er war Erster Kriminalassistent bei der Staatspolizei und gehörte seit acht Jahren der Reichsmordkommission an. Es gab Leute, die ihn für den geschicktesten Vernehmer in ganz Schweden hielten.

Er war schon sein halbes Leben lang bei der Polizei. Mit einundzwanzig hatte er auf der Jakobswache angefangen, und nach sechs Jahren als Streifenpolizist in verschiedenen Bezirken der Stockholmer Innenstadt hatte er auf der staatlichen Polizeischule den Assistentenlehrgang durchlaufen. Er war einer der Besten seiner Klasse gewesen und nach Abschluss des Lehrgangs Kriminalassistent geworden. Damals war er achtundzwanzig.

In jenem Jahr starb sein Vater, und er gab sein möbliertes Zimmer in Klara auf und zog wieder nach Söder in sein Elternhaus, um sich um seine Mutter zu kümmern. Im Sommer desselben Jahres lernte er seine Frau kennen. Sie hatte mit einer Freundin ein Häuschen auf einer Schäreninsel gemietet, die er zufällig mit seinem Segelkanu anlief. Er verliebte sich bis über beide Ohren in sie, und als dann im Herbst ein Kind unterwegs war, heirateten sie standesamtlich, und er zog zu ihr in die kleine Wohnung auf Kungsholmen.

Ein Jahr nach der Geburt ihrer Tochter war von der fröhlichen und lebhaften jungen Frau, in die er sich verliebt hatte, nicht mehr viel übrig, und ihre Ehe glitt in die Tristesse ab.

Martin Beck saß auf der grünen Kunstlederbank des U-Bahn-Wagens und schaute aus dem regennassen Fenster. Apathisch dachte er an seine Ehe, aber als er merkte, dass er sich selbst leidtat, zog er die Zeitung aus der Tasche seines Trenchcoats und versuchte, sich auf den Leitartikel zu konzentrieren.

Er sah müde aus, und in dem grauen Tageslicht wirkte seine sonnengebräunte Haut fahl. Sein Gesicht war hager, mit breiter Stirn und kräftigem Kiefer. Unter einer kurzen, geraden Nase saß ein breiter Mund mit schmalen Lippen und zwei tiefen Furchen an den Mundwinkeln, und wenn er lachte, sah man gesunde weiße Zähne. Noch zeigte sich kein Grau in seinem dunklen, nach hinten gekämmten Haar mit dem geraden Haaransatz, und der Blick seiner graublauen Augen war klar und ruhig. Er war schlank, aber nicht besonders groß, und hielt sich ein wenig gebeugt. Es gab Frauen, die ihn attraktiv fanden, aber die meisten hätten sein Aussehen als durchschnittlich bezeichnet. Er kleidete sich niemals auffällig, eher ein bisschen zu dezent.

Die Luft in dem Wagen war dumpf und stickig, und Martin Beck verspürte eine leichte Übelkeit, wie so oft in der U-Bahn. Bei der Einfahrt in den Hauptbahnhof stand er mit seiner Tasche in der Hand schon an der Tür. U-Bahn-Fahren war ihm zuwider, aber Autos mochte er noch weniger, und die Traumwohnung in der Stadt war nach wie vor nur ein Traum, deshalb war er auf dieses Transportmittel angewiesen.

Der Schnellzug nach Göteborg fuhr um halb acht vom Hauptbahnhof ab. Martin Beck blätterte seine Zeitung durch, fand aber keine Zeile über den Mord. Er kehrte zur Kulturseite zurück und begann, einen Artikel über den Anthroposophen Rudolf Steiner zu lesen, schlief aber bereits darüber ein, als der Zug durch den Vorort Stuvsta fuhr.

Er erwachte rechtzeitig zum Umsteigen in Hallsberg. Wieder hatte er diesen Bleigeschmack im Mund, der auch nach drei Bechern Wasser nicht verschwinden wollte.

Um halb elf kam er in Motala an. Es regnete nicht mehr. Da er zum ersten Mal dort war, erkundigte er sich am Bahnhofskiosk nach dem Weg zum Stadthotel, dann kaufte er eine Schachtel Zigaretten Marke Floridaund die Lokalzeitung Motala Tidning.

Das Hotel lag am Stora Torget, nur ein paar Häuserblocks vom Bahnhof entfernt, und der kurze Spaziergang tat ihm gut. Auf seinem Zimmer wusch er sich die Hände, packte aus und trank eine Flasche Mineralwasser, die er beim Portier gekauft hatte. Er stand eine Weile am Fenster und schaute auf den Platz mit der Statue, die, wie er vermutete, Baltzar von Platen darstellte. Dann verließ er das Zimmer, um zum Polizeipräsidium zu gehen. Da er wusste, dass es gleich gegenüber auf der anderen Straßenseite lag, verzichtete er auf seinen Trenchcoat.

Er sagte dem Pförtner, wer er war, und wurde sofort zu einem Zimmer im ersten Stock geschickt. An der Tür stand «Ahlberg».

Der Mann hinter dem Schreibtisch war breit und untersetzt und fast glatzköpfig. Er hatte sein Jackett über den Stuhlrücken gehängt und trank Kaffee aus einem Pappbecher. Auf dem Rand eines Aschenbechers, der bereits voller Kippen war, qualmte eine Zigarette vor sich hin.

Martin Beck hatte eine Art, zur Tür hereinzuschlüpfen, die manche Leute irritierte. Irgendjemand hatte mal gesagt, er beherrsche die Kunst, im selben Augenblick, in dem er anklopfe, schon im Zimmer zu stehen und die Tür hinter sich geschlossen zu haben.

Der Mann hinter dem Schreibtisch wirkte leicht überrumpelt. Er setzte den Becher ab und erhob sich.

«Ich heiße Ahlberg», sagte er.

In seiner Haltung lag etwas Abwartendes. Martin Beck kannte das schon und wusste, worauf das beruhte: Er war der Experte aus Stockholm und der Mann hinter dem Schreibtisch der Provinzpolizist, der mit einer Ermittlung nicht mehr weiterkam. Die nächsten zwei Minuten würden für ihre Zusammenarbeit ausschlaggebend sein.

«Und mit Vornamen?», fragte Martin Beck.

«Gunnar.»

«Was machen Kollberg und Melander?»

«Keine Ahnung. Irgendwas, was ich vergessen habe, nehme ich an.»

«Hat es ausgesehen wie Das-erledigen-wir-doch-im-Handumdrehen?»

Der andere fuhr sich durch sein schütteres blondes Haar und kratzte sich am Kopf. Dann lächelte er schief und setzte sich wieder auf seinen Drehstuhl.

«So ungefähr», antwortete er.

Martin Beck nahm ihm gegenüber Platz, holte seine Schachtel Floridaheraus und legte sie an den Tischrand.

«Du siehst müde aus», sagte er.

«Mein Urlaub ist im Eimer.»

Ahlberg leerte seinen Kaffeebecher, zerknüllte ihn und warf ihn unter den Tisch in Richtung Papierkorb.

Auf dem Schreibtisch herrschte eine auffallende Unordnung. Martin Beck dachte an seinen eigenen in Kristineberg. Darauf sah es normalerweise ganz anders aus.

«Und», sagte er, «wie kommt ihr voran?»

«Überhaupt nicht», erwiderte Ahlberg. «Nach über einer Woche wissen wir nicht mehr als das, was uns die Ärzte gesagt haben.»

Aus alter Gewohnheit verfiel er in einen amtlichen Ton.

«Tod durch Erwürgen im Zusammenhang mit sexueller Gewalt. Brutaler Täter mit Anzeichen perverser Neigungen.»

Martin Beck lächelte. Der andere sah ihn fragend an.

«Du hörst dich an wie ein Obduktionsprotokoll. Passiert mir auch manchmal. Wir haben einfach zu viele Berichte geschrieben.»

«Ja, ist das nicht schrecklich?»

Ahlberg seufzte und kratzte sich am Kopf.

«Wir haben sie vor acht Tagen aus dem Wasser gezogen», sagte er. «Mehr wissen wir nicht. Wir wissen nicht, wer sie ist, wir haben keinen Tatort und keine Verdächtigen. Wir haben nicht den geringsten Anhaltspunkt, der in irgendeinem sinnvollen Zusammenhang mit ihr stehen könnte.»

4

Tod durch Erwürgen, dachte Martin Beck.

Er blätterte einen Stapel Fotos durch, die Ahlberg aus dem Durcheinander auf seinem Schreibtisch hervorgekramt hatte. Die Bilder zeigten das Schleusenbecken, den Schwimmbagger, den Baggergreifer in Nahaufnahme, die Leiche auf der Persenning sowie auf einem Tisch im Leichenschauhaus.

Martin Beck legte das Foto, das er in der Hand hatte, vor Ahlberg hin und sagte:

«Das Bild hier, auf dem sie zurechtgemacht ist, können wir zuschneiden und retuschieren lassen. Und dann können wir mit der Haustürbefragung anfangen. Falls sie von hier ist, müsste doch irgendjemand sie wiedererkennen. Wie viele Leute kannst du dafür abstellen?»

«Bestenfalls drei», antwortete Ahlberg. «Wir sind gerade knapp besetzt. Drei Kollegen haben Urlaub, und einer liegt mit gebrochenem Bein im Krankenhaus. Außer dem Amtsanwalt, Larsson und mir sind lediglich acht Mann im Dienst.»

Er zählte an den Fingern ab.

«Ja, darunter eine Frau. Und irgendwer muss auch noch die andere Arbeit erledigen.»

«Schlimmstenfalls müssen wir selbst einspringen. Die Sache wird verdammt viel Zeit kosten. Wie sieht es bei dir mit Sexualstraftätern aus?»

Ahlberg klopfte sich nachdenklich mit einem Stift an die Vorderzähne. Dann tauchte er in eine Schreibtischschublade ab und kramte ein Blatt Papier hervor.

«Wir hatten einen zum Verhör. Aus Västra Ny. Einen Vergewaltiger. Er wurde vorgestern in Linköping gefasst, hatte aber für die ganze Woche ein Alibi. Laut diesem Bericht von Blomgren. Er hat sich die Anstalten vorgenommen.»

Er legte das Blatt in einen grünen Aktendeckel, der auf dem Schreibtisch lag.

Sie schwiegen eine Weile. Martin Beck spürte ein Ziehen in der Magengegend und dachte an seine Frau und ihre ständigen Vorhaltungen über regelmäßige Mahlzeiten. Er hatte seit vierundzwanzig Stunden nichts gegessen.

Die Luft in dem Zimmer war völlig verqualmt. Ahlberg stand auf und öffnete das Fenster. Aus einem Radio in der Nähe war das Zeitzeichen zu hören.

«Ein Uhr», sagte er. «Wenn du Hunger hast, kann ich uns was bringen lassen. Ich habe mächtig Kohldampf.»

Martin Beck nickte, und Ahlberg griff nach dem Telefonhörer. Wenig später klopfte es, und eine junge Frau in blauem Kittel und roter Schürze kam mit einem Korb herein.

Nachdem Martin Beck ein Schinkenbrot gegessen und ein paar Schluck Kaffee getrunken hatte, fragte er:

«Was meinst du, wie ist sie dort hingekommen?»

«Ich weiß nicht. Tagsüber sind immer Leute an den Schleusen, da kann es also kaum passiert sein. Vielleicht hat der Täter sie vom Kai oder vom Pier aus ins Wasser geworfen, und der Sog der Schiffe hat sie weiter hinausgetrieben. Oder er hat die Leiche von einem Boot aus versenkt.»

«Was für Schiffe fahren eigentlich durch die Schleusen? Motorboote und Freizeitsegler?»

«Zum Teil. Nicht sehr viele. Das meiste ist Frachtverkehr. Lastkähne. Und dann natürlich die Kanalschiffe. Die Diana, die Juno und die Wilhelm Tham.»

«Können wir mal hinfahren und uns das ansehen?», fragte Martin Beck.

Ahlberg erhob sich, nahm das Foto, das Martin Beck ausgewählt hatte, und sagte:

«Von mir aus sofort. Das Bild gebe ich unterwegs im Labor ab.»

Es war fast drei Uhr, als sie aus Borenshult zurückkehrten. In den Schleusen herrschte Hochbetrieb, und Martin Beck wäre am liebsten bei den Urlaubern und Anglern auf dem Kai geblieben, um den Schiffen zuzuschauen.

Er hatte mit der Besatzung des Schwimmbaggers gesprochen, war auf dem Pier gewesen und hatte sich das Schleusenbecken angesehen. Weit draußen auf dem Boren hatte er in der frischen Brise ein Segelkanu kreuzen sehen und Sehnsucht nach seinem eigenen Boot bekommen, das er vor einigen Jahren verkauft hatte. Auf der Rückfahrt in die Stadt hing er der Erinnerung an seine Segeltörns in den Schären nach, die er früher immer im Sommer unternommen hatte.

Auf Ahlbergs Tisch lagen acht frische Abzüge aus dem Fotolabor. Der Beamte, der auch Fotograf war, hatte das Bild retuschiert, und jetzt wirkte das Gesicht der jungen Frau fast lebendig.

Ahlberg sah den Stapel durch, legte vier Abzüge in den grünen Aktendeckel und sagte:

«Gut, dann verteile ich das jetzt an die Jungs, damit sie gleich loslegen können.»

Als er nach ein paar Minuten zurückkam, stand Martin Beck neben dem Schreibtisch und rieb sich die Nasenwurzel.

«Ich müsste ein paar Telefonate erledigen», sagte er.

«Nimm das Zimmer am Ende des Flurs.»

Der Raum war größer als Ahlbergs Büro und hatte nach zwei Seiten hin Fenster. Möbliert war er mit zwei Schreibtischen, fünf Stühlen, Aktenschränken und einem Schreibmaschinentisch mit einer ramponierten alten Remington.

Martin Beck setzte sich, legte Zigaretten und Streichhölzer auf den Tisch, schlug die grüne Akte auf und ging die Berichte durch. Sie verrieten ihm nicht viel mehr als das, was er schon von Ahlberg wusste.

Anderthalb Stunden später war die Zigarettenschachtel leer. Er hatte ein paar ergebnislose Telefonate geführt und den Amtsanwalt der Stadt sowie Kommissar Larsson erreicht, der müde und gehetzt wirkte. Gerade als er die leere Schachtel zerknüllte, rief Kollberg an.

Zehn Minuten später trafen sie sich im Hotel.

«Na, du ziehst ja vielleicht ein Gesicht!», sagte Kollberg. «Wie wär’s mit Kaffee?»

«Nein danke. Was hast du getrieben?»

«Ich habe mit einem Typ von der Motala Tidning geredet. Er ist Lokalredakteur in Borensberg und dachte, er hätte was ganz Schlaues entdeckt. Ein Mädchen aus Linköping sollte vor zehn Tagen eine Stelle in Borensberg antreten, ist aber nie gekommen. Anscheinend ist sie einen Tag vorher in Linköping losgefahren, und seitdem hat keiner mehr was von ihr gehört. Es hat auch keiner für nötig gehalten, herauszufinden, wo sie geblieben ist, sie war wohl insgesamt eher unzuverlässig. Dieser Zeitungsfritze kennt ihren Arbeitgeber und hat eigene Nachforschungen angestellt, aber nie daran gedacht, sich ein Bild von ihr zu besorgen. Das habe ich nachgeholt, aber sie ist es nicht. Die Kleine aus Linköping ist dick und blond. Und nach wie vor verschwunden. Die Sache hat mich den ganzen Tag gekostet.»