Das Geheimnis des Gentleman - Julie Garwood - E-Book

Das Geheimnis des Gentleman E-Book

Julie Garwood

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Beschreibung

Ein Liebesroman voller Leidenschaft - und Rache.

England zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts. Sara und Nathan wurden als Kinder von König George vermählt, um Frieden zwischen ihren verfeindeten Familien zu stiften. Vierzehn Jahre später ist Sara zu einer blühenden Schönheit herangewachsen, während Nathan sein abenteuerliches Leben als Pirat hinter sich lassen will. Deshalb plant der junge Adlige, seine Braut schließlich zu sich zu holen, um Geld und Ländereien aus dem Ehevertrag zu erhalten. Doch das Wiedersehen läuft nicht wie geplant - und ihre Familien setzen alles daran, die Ehe zu zerstören ...

Dieser historische Liebesroman ist in einer früheren Ausgabe unter dem Titel "Geliebte Feindin" erschienen.

Der nächste Band der Reihe "Die königlichen Spione - Regency Romance": Das Versprechen des Duke.

eBooks von beHEARTBEAT - Herzklopfen garantiert.


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Seitenzahl: 475

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Inhalt

Cover

Titel der Autorin bei beHEARTBEAT

Über dieses Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Prolog

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

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Titel der Autorin bei beHEARTBEAT

Schottische Hochzeit – Die Braut-Reihe

Die stolze Braut des Highlanders

Die Hochzeit des Highlanders

Die königlichen Spione – Regency Romance

Der Schwur des Marquis

Das Geheimnis des Gentleman

Das Versprechen des Duke

Romane (Einzeltitel)

Geliebter Barbar

Die Braut des Normannen

Melodie der Leidenschaft

Weitere Titel in Planung.

Über dieses Buch

Ein Liebesroman voller Leidenschaft – und Rache.

England zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts. Sara und Nathan wurden als Kinder von König George vermählt, um Frieden zwischen ihren verfeindeten Familien zu stiften. Vierzehn Jahre später ist Sara zu einer blühenden Schönheit herangewachsen, während Nathan sein abenteuerliches Leben als Pirat hinter sich lassen will. Deshalb plant der junge Adlige, seine Braut schließlich zu sich zu holen, um Geld und Ländereien aus dem Ehevertrag zu erhalten. Doch das Wiedersehen läuft nicht wie geplant – und ihre Familien setzen alles daran, die Ehe zu zerstören ...

eBooks von beHEARTBEAT – Herzklopfen garantiert.

Über die Autorin

Julie Garwood (*1946 in Kansas City, Missouri) gilt als Grande Damen der historischen Liebesromane. Mit einer Gesamtauflage von über 40 Millionen Exemplaren weltweit und mehr als 15 New-York-Times-Bestsellern zählt sie zu den beliebtesten und erfolgreichsten Vertreterinnen ihres Genres.

Dabei kam sie erst nach einer Ausbildung als Krankenschwester zum Schreiben, als ihr jüngstes Kind eingeschult wurde. Seit Erscheinen ihres ersten Romans Mitte der Achtzigerjahre hat sie mehr als 30 Bücher veröffentlicht.

Garwoods Liebesgeschichten zeichnen sich durch sinnliche Leidenschaft aus, gepaart mit einem Augenzwinkern und historischer Detailtreue. Dabei ist sie im mittelalterlichen Schottland ebenso heimisch wie im England der Regentschaftszeit. Ihr Anspruch lautet: »Ich möchte meine Leserinnen zum Lachen und zum Weinen bringen und hoffe, dass sie sich verlieben.«

Die Autorin lebt in Leawood, Kansas. Sie ist verheiratet und hat drei Kinder.

Für weitere Informationen besuchen Sie Julie Garwoods Homepage unter: https://juliegarwood.com/.

Julie Garwood

Das Geheimnis des Gentleman

Aus dem amerikanischen Englisch von Ursula Walther

Digitale Erstausgabe

»be« – Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG

Für die Originalausgabe:

Copyright © 1991 by Julie Garwood

Titel der amerikanischen Originalausgabe: »The Gift«

Published by Arrangement with Julie Garwood.

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Für diese Ausgabe:

Copyright © 1991/2021 by Bastei Lübbe AG, Köln

Titel der deutschsprachigen Erstausgabe: »Geliebte Feindin«

Covergestaltung: Guter Punkt, München

unter Verwendung von Motiven © PeriodImages.com © WangAnQi/GettyImages ABO © jtlaytonhill/AdobeStock ABO © ba888/iStock ABO

eBook-Erstellung: 3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)

ISBN 978-3-7517-0333-8

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

Prolog

England, 1802

Es war nur eine Frage der Zeit, bis sich die Hochzeitsgäste gegenseitig umbrachten.

Baron Oliver Lawrence hatte natürlich alle Vorsichtsmaßnahmen getroffen – schließlich hatte König George angeordnet, dass die Zeremonie in seinem Schloss stattfinden sollte. Lawrence spielte bis zur Ankunft des Herrschers von England die Rolle des Gastgebers, aber diese Pflicht lastete auf seinen Schultern. Der König persönlich hatte ihn mit dieser Aufgabe betraut, und Lawrence, der ihm stets loyal und treu ergeben war, hatte ohne zu zögern gehorcht. Beide Familien – sowohl die Winchesters als auch die rebellischen St. James – hatten sich heftig gegen diese Verbindung gewehrt, aber all ihre Proteste hatten den König nicht umstimmen können – seine Entscheidung stand fest. Baron Lawrence wusste um die Gründe für diesen Beschluss. Unglücklicherweise war Lawrence der einzige Mann in ganz England, der noch zu beiden Familien Kontakt hatte.

Inzwischen war der Baron auf diese Stellung überhaupt nicht mehr stolz; im Gegenteil, er war sogar davon überzeugt, dass er deswegen auf dieser schönen Erde noch viele Schwierigkeiten zu erwarten hatte. Der König glaubte zwar, dass sich die Hochzeitsgäste anständig benehmen würden, weil die Zeremonie auf neutralem Boden stattfand, aber Lawrence wusste es besser.

Die Männer, die ihn umgaben, waren in Mordlaune. Ein Wort im falschen Tonfall oder die geringste Unhöflichkeit konnten ein Blutbad zur Folge haben. Ein Blick in ihre Gesichter genügte, um zu erkennen, wie begierig sie darauf waren, sich gegenseitig den Garaus zu machen.

Der in ein weißes Messgewand gekleidete Bischof saß auf einem hochlehnigen Stuhl zwischen den beiden verfeindeten Familien. Er sah weder nach links zu den Winchesters noch nach rechts, wo die kriegerischen St. James Aufstellung genommen hatten. Sein Blick war starr geradeaus gerichtet. Um die Zeit zu überbrücken, trommelte der sauertöpfische Kirchenmann mit den Fingerspitzen auf die hölzerne Armlehne seines Stuhls. Von Zeit zu Zeit ließ er ein abgrundtiefes Stöhnen, das den Baron an ein altersschwaches, krankes Pferd erinnerte, hören, ansonsten störte nichts die unheilvolle Stille in der großen Halle.

Lawrence schüttelte verzweifelt den Kopf. Er wusste, dass er vom Bischof keinerlei Hilfe erwarten konnte, wenn es wirklich Schwierigkeiten geben sollte. Braut und Bräutigam warteten ein Stockwerk höher in getrennten Zimmern auf die Ankunft des Königs – erst dann sollten sie in die Halle geführt oder geschleppt werden. Gott helfe den beiden, wenn in diesem Moment die Hölle losbrach!

Es war wirklich ein schrecklicher Tag. Lawrence musste sogar seine eigenen Wachmänner zwischen den königlichen Garden an den Wänden der Halle postieren, um die aufgebrachten Gäste im Zaum zu halten. Eine solche Maßnahme war für eine Hochzeit ebenso ungewöhnlich wie die Tatsache, dass die Gäste so schwer bewaffnet waren, als wäre diese Zeremonie eine Schlacht. Die Winchesters trugen so viele Waffen bei sich, dass sie sich kaum noch bewegen konnten. Ihre Überheblichkeit war geradezu beleidigend, und es war äußerst fragwürdig, ob sie dem König die Treue halten würden. Trotzdem konnte Lawrence die Männer nicht in Bausch und Bogen verdammen. Im Grunde fiel es ihm in letzter Zeit auch oft schwer, dem Monarchen immer seine Ehrerbietung entgegenzubringen, da seine Entscheidungen oft ausgesprochen töricht waren.

Jedermann in England wusste, dass George den Verstand verloren hatte, auch wenn es niemand wagte, das laut auszusprechen, da man schlimme Strafen befürchten musste. Die bevorstehende Hochzeit jedoch war Beweis genug, dass der Herrscher nicht mehr ganz bei sich war. Der König hatte Lawrence anvertraut, dass er entschlossen war, Einigkeit in seinem Reich herzustellen, und der Baron war entsetzt gewesen über diese kindische Hoffnung.

Aber trotz seiner Verrücktheit war George immer noch der König, und die Hochzeitsgäste sollten ihm, verdammt noch mal, zumindest ein wenig Respekt erweisen, dachte Lawrence. Ihr schändliches Verhalten konnte nicht geduldet werden. Warum streichelten zwei der älteren Winchester-Onkel die Griffe ihrer Schwerter so offensichtlich, als würden sie jeden Augenblick eine blutige Schlacht erwarten? Die St. James-Krieger registrierten die Geste und traten sofort einen Schritt vor. Die meisten der St. James hatten keine Schwerter bei sich, deshalb lächelten sie nur. Lawrence fand, dass diese Geste genug sagte.

Die Winchesters waren dem St. James-Clan sechs zu eins überlegen, dafür waren die St. James für ihre Skrupellosigkeit bekannt, und ihre üblen Taten waren schon zu Legenden geworden: Sie rissen einem Mann die Augen aus, nur weil er schielte; sie traten einem Gegner in den Schritt und genossen seine Schmerzensschreie; und Gott allein wusste, was sie ihren wahren Feinden antaten.

Geräusche, die vom Hof hereindrangen, erregten Lawrence’ Aufmerksamkeit. Kurz darauf stürmte der persönliche Adjutant des Königs, ein mürrischer Mann namens Sir Roland Hugo, die Treppe herauf. Er trug eine Galauniform, und die grellrote Hose und der weiße Waffenrock ließen seine ohnehin massige Gestalt noch mächtiger erscheinen. Lawrence fand, dass Hugo wie ein feister Gockel aussah, aber da er mit ihm befreundet war, behielt Lawrence seine wenig schmeichelhafte Meinung für sich.

Die beiden Männer umarmten sich kurz, dann trat Hugo einen Schritt zurück und flüsterte: »Ich bin vorausgeritten. Der König wird in ein paar Minuten eintreffen.«

«Dem Himmel sei Dank«, erwiderte Lawrence mit unverhohlener Erleichterung und wischte sich mit seinem Taschentuch die Schweißperlen von der Stirn.

Hugo spähte über Lawrence’ Schulter und schüttelte den Kopf. »Hier ist es still wie in einem Mausoleum«, raunte er. »Hast du die Gelegenheit nicht genutzt, um die Hochzeitsgäste zu amüsieren?«

Lawrence sah seinen Freund fassungslos an. »Amüsieren? Hugo, nur ein blutiges Menschenopfer könnte diesen Barbaren Vergnügen bereiten.«

»Offensichtlich hat dir dein Sinn für Humor geholfen, diese scheußliche Situation zu meistern.«

»Ich mache keine Witze«, versetzte der Baron, »und dir wird das Lachen auch noch vergehen, wenn du begreifst, wie explosiv die Stimmung ist. Die Winchesters sind nicht hergekommen, um Geschenke abzugeben – sie sind bewaffnet, als ob sie in den Krieg zögen.« Sein Freund schüttelte ungläubig den Kopf, aber Lawrence achtete nicht darauf und fuhr fort: »Ich wollte sie überreden, ihre Waffen abzulegen, aber ich hatte keinen Erfolg. Sie sind beileibe nicht in Festtagsstimmung.«

»Die königliche Eskorte wird sie in kürzester Zeit entwaffnen«, brummte Hugo und fügte nach einer Weile hinzu: »Ich will verdammt sein, wenn ich zulasse, dass unser König eine so feindselige Arena betritt. Dies ist eine Hochzeit und kein Schlachtfeld.«

Hugo stellte unter Beweis, wie wirksam seine Drohungen sein konnten. Die Winchesters legten ihre Waffen in einer Ecke der Halle ab, nachdem der erboste Adjutant den Befehl dazu gegeben und die königliche Garde einen engen Kreis um die Gäste geschlossen hatte. Sogar die wenigen St. James, die bewaffnet gewesen waren, kamen seiner Aufforderung nach – aber erst als die Gardisten auf Hugos Befehl Pfeile in ihre Bogen gelegt und sich schussbereit aufgestellt hatten. Diese Geschichte würde mir kein Mensch glauben, wenn ich sie erzähle, dachte Lawrence und war dankbar, dass König George keine Ahnung hatte, wie mühsam es war, für seine Sicherheit zu sorgen.

Als der König von England die große Halle betrat, ließen die Gardisten ihre Bogen sinken, aber sie hielten ihre Pfeile bereit, um, wenn nötig, sofort losschlagen zu können.

Der Bischof erhob sich von seinem Stuhl, machte eine förmliche Verbeugung vor seinem König und bot ihm mit einer Geste seinen Platz an.

Zwei königliche Anwälte, die mit Akten und Dokumenten überladen waren, folgten George auf den Fersen. Lawrence wartete, bis sich der Monarch niedergelassen hatte, kniete dann vor ihm nieder und bekräftigte seinen Treueeid mit lauter, donnernder Stimme. Er hoffte, dass seine Worte die Gäste dazu bringen würden, dem König in ähnlicher Weise Respekt zu zollen.

Der König beugte sich vor und stützte seine großen Hände auf die Knie. »Wir, Euer vom Volk geschätzter König, sind sehr zufrieden mit Euch, Baron Lawrence. Wir sind doch der vom Volk geschätzte König und Herrscher über alle Untertanen, oder nicht?«

Lawrence war auf diese Frage vorbereitet. Der König hatte sich schon häufig so bezeichnet und hörte liebend gern eine Bestätigung von seinen Untertanen.

»Ja, Mylord, Ihr seid der vom Volk geschätzte König und Herrscher über alle Untertanen.«

»Das ist ein guter Junge«, flüsterte der König und berührte Lawrence’ fast kahlen Schädel. Der Baron wurde rot vor Verlegenheit. Der König behandelte ihn wie einen unerfahrenen Knappen – schlimmer noch, der Baron fühlte sich wie ein unerfahrener Knappe.

»Erhebt Euch, Baron Lawrence, und helft mir, diese wichtige Angelegenheit zu beaufsichtigen«, befahl der König.

Lawrence tat sofort, was von ihm verlangt wurde, und als er George aus der Nähe betrachtete, musste er an sich halten, um seine Überraschung nicht zu zeigen. In früheren Jahren hatte der König relativ gut ausgesehen, aber die Zeit war nicht gerade gnädig mit ihm umgegangen. Seine Wangen waren voller geworden, und tiefe Falten durchzogen sein Gesicht. Dicke Tränensäcke, die seine Erschöpfung zeigten, hingen unter seinen Augen. Die makellos weiße Perücke mit den Löckchen an den Seiten betonte noch seinen unnatürlich blassen Teint.

Der König lächelte seinen Vasallen in unschuldiger Erwartung an, und Lawrence erwiderte das Lächeln, obwohl er über den unbedarften Ausdruck der Güte und Aufrichtigkeit erstaunt war. Viele Jahre lang, bevor ihn die Krankheit verwirrt hatte, war George ein überaus fähiger Herrscher gewesen, und er hatte seine Untertanen behandelt wie ein wohlwollender Vater.

Der Baron stellte sich an die Seite des Königs und musterte die Männer, die er für Abtrünnige hielt, und seine Stimme durchschnitt die Stille, als er befahl:

»Auf die Knie!«

Sie gehorchten.

Hugo starrte Lawrence verblüfft an. Bis jetzt war ihm noch nicht aufgefallen, wie entschlossen sein Freund sein konnte.

Der König war hocherfreut über die allgemeine Ehrerbietung, die ihm entgegengebracht wurde. »Baron«, sagte er und strahlte Lawrence an. »Holt die Braut und den Bräutigam. Die Zeit ist schon ziemlich fortgeschritten, und wir haben noch viel zu erledigen.«

Als sich Lawrence verbeugte, wandte sich der König Sir Hugo zu. »Wo sind die Ladies? Ich sehe keine einzige Dame, die der Zeremonie beiwohnt. Was hat das zu bedeuten, Sir Hugo?«

Hugo hatte keine Lust, dem König die Wahrheit zu sagen und ihm zu gestehen, dass die Männer ihre Frauen nicht mitgebracht hatten, weil sie einen Kampf und nicht eine Hochzeit erwarteten. In diesem Fall hätte Ehrlichkeit nur die Gefühle des Königs verletzt.

»Ja, hochgeschätzte Majestät«, antwortete Hugo rasch. »Ich habe auch schon bemerkt, dass keine Damen anwesend sind.«

»Aber weshalb?«, hakte der König nach.

Hugo hatte für diesen Umstand keine Erklärung parat und wandte sich in seiner Verzweiflung an seinen Freund, der in diesem Augenblick die Halle wieder betrat. »Lawrence, kennst du den Grund dafür?«

Der Baron bemerkte den erschreckten Blick seines Freundes und sagte: »Die Reise hierher war sicher zu beschwerlich für ... die zarten Damen.« Er wäre fast an diesen Worten erstickt. Die Lüge war wirklich schändlich und allzu offensichtlich, denn jeder, der die Winchester-Ladies auch nur einmal gesehen hatte, wusste, dass sie ungefähr so zart waren wie Schakale. Aber König Georges Gedächtnis war offenbar nicht mehr das allerbeste. Sein kurzes Nicken zeigte an, dass diese Erklärung seine Bedenken zerstreut hatte.

Der Baron funkelte die Winchesters, die ihn zu dieser Unaufrichtigkeit gezwungen hatten, wütend an, bevor er weitere Vorbereitungen für die Zeremonie traf.

Der Bräutigam wurde aufgefordert, seinen Platz einzunehmen, und sofort bildete die Menge eine Gasse, um ihn durchzulassen. Der junge Marquis St. James stürmte in den Saal wie ein entschlossener Krieger, der sich einer feindlichen Horde stellen musste. Er hatte kastanienbraunes Haar und klare grüne Augen. Sein Gesicht wirkte kantig und hager, und seine Nase war bei einem Kampf, den er zweifellos gewonnen hatte, gebrochen. Die kleine Unebenheit auf seinem Nasenrücken verlieh seiner Erscheinung etwas Verwegenes.

Nathan, wie ihn die engsten Familienmitglieder nannten, war einer der jüngsten Edelmänner im ganzen Königreich – er war kaum älter als vierzehn. Sein Vater, der mächtige Earl of Wakersfield, war in Regierungsangelegenheiten außer Landes und konnte deshalb seinem Sohn bei der Zeremonie nicht zur Seite stehen. Tatsächlich wusste der Earl überhaupt nicht, dass diese Hochzeit stattfand, und Lawrence befürchtete, dass er vor Wut außer sich sein würde, wenn er davon erfuhr. Der Earl war schon unter normalen Umständen ein unangenehmer Zeitgenosse, aber wenn man ihn herausforderte, konnte er rachsüchtig wie der Satan persönlich werden. Er war bekannt dafür, grausamer zu sein als die ganze übrige St. James-Sippe zusammen. Lawrence vermutete, dass ihn seine Verwandten gerade wegen dieser Eigenschaft in wichtigen Angelegenheiten um Rat fragten und als Anführer akzeptierten.

Obwohl er den Vater von Herzen verabscheute, mochte Lawrence den jungen Nathan, dem er schon des Öfteren begegnet war. Der Junge wirkte besonnen und reif, obwohl er erst vierzehn Jahre alt war. Lawrence respektierte ihn, aber gleichzeitig tat er ihm auch ein wenig leid, denn er hatte ihn noch nie lachen sehen.

Die entfernteren Verwandten sprachen den jungen Marquis nie mit seinem Namen an – sie nannten ihn schlicht »Junge«, so als ob er erst seinen Wert unter Beweis stellen müsste. Er musste erst einige Prüfungen bestehen, um als ganzer Mann zu gelten, aber niemand hegte auch nur den geringsten Zweifel, dass er sich bewähren würde. Man betrachtete ihn schon wegen seiner Körpergröße als potentiellen Anführer und hoffte, dass er sich zu einem entschlossenen Mann entwickeln würde, der den anderen Männern in der Sippe in nichts nachstand.

Der Marquis richtete seinen Blick direkt auf den König von England, als er die Halle durchquerte und vor ihm stehenblieb. Lawrence beobachtete den Jungen aufmerksam. Er wusste, dass die St. James den Marquis instruiert hatten, das Knie nicht vor dem König zu beugen, wenn man ihn nicht ausdrücklich dazu aufforderte.

Nathan jedoch ignorierte die Anweisungen, ließ sich auf die Knie nieder und beugte den Kopf, bevor er mit klarer Stimme den Treueeid leistete. Als der König ihn fragte, ob er der vom Volk geschätzte König und Herrscher über alle Untertanen sei, huschte ein Lächeln über das Gesicht des Jungen.

»Ja, Mylord, Ihr seid der geschätzte König des Volkes«, antwortete Nathan.

Der Baron empfand Bewunderung für den jungen Nathan, und George lächelte erfreut, während Nathans Verwandte finstere Mienen zur Schau stellten. Die Winchesters kicherten schadenfroh.

Plötzlich richtete sich Nathan in einer einzigen fließenden Bewegung auf und drehte sich um. Einen langen atemlosen Moment starrte er die Winchesters an. Sein eiskalter Blick schien die Unverschämtheiten der Männer im Keim zu ersticken, und der junge Marquis wandte sich dem König erst wieder zu, als alle Winchesters ihre Blicke gesenkt hatten. Trotz ihres Zorns murmelten die St. James anerkennend.

Der Junge schenkte seinen Verwandten keinerlei Aufmerksamkeit. Er stand mit gespreizten Beinen und auf dem Rücken verschränkten Händen da und blickte ins Leere. Seine Haltung drückte nichts als Langeweile aus.

Lawrence stellte sich direkt vor Nathan und nickte ihm zu, um ihn wissen zu lassen, wie sehr ihm sein Auftritt gefallen hatte.

Nathan antwortete ihm mit einer knappen Kopfbewegung, und Lawrence verbiss sich ein Lachen – das Selbstbewusstsein des Jungen war herzerfrischend. Er hatte sich gegen seine Verwandten aufgelehnt, ohne an die Konsequenzen zu denken, und der Situation entsprechend gehandelt. Lawrence fühlte sich wie ein stolzer Vater – eine seltsame Empfindung, da er weder verheiratet war noch Kinder hatte. Als er sich auf den Weg machte, um die Braut zu holen, fragte sich Lawrence, ob Nathan in der Lage war, seine gelangweilte Pose während der ganzen Zeremonie aufrechtzuerhalten.

Lawrence hörte das Weinen, das von einer barschen Männerstimme unterbrochen wurde, als er den ersten Stock erreichte. Er klopfte zweimal an die Tür, bevor ihm der Earl of Winchester, der Vater der Braut, öffnete. Das Gesicht des Earls war hochrot vor Zorn.

»Es wird aber auch Zeit«, bellte er.

»Der König hat sich verspätet«, erklärte der Baron.

Der Earl nickte kurz. »Kommt herein, Lawrence, und helft mir, dieses störrische kleine Ding die Treppe hinunterzuschaffen.«

Lawrence lächelte. »Ich glaube, dass viele Mädchen in diesem zarten Alter störrisch sind.«

»Davon habe ich noch nie etwas gehört«, brummte der Earl. »Offen gestanden bin ich zum ersten Mal in meinem Leben allein mit Sara. Ich bin nicht mal sicher, ob sie überhaupt weiß, wer ich bin. Ich habe ihr natürlich alles erklärt, aber wie Ihr seht, ist sie nicht in der Stimmung, jemandem zuzuhören. Ich hatte ja keine Ahnung, dass sie so schwierig ist.«

Lawrence konnte seine Überraschung über diese Bemerkung nicht verbergen. »Harold«, begann er und benutzte absichtlich die vertrauliche Anrede, »Ihr habt zwei andere Töchter, die älter als Sara sind. Ich kann gar nicht begreifen, dass Ihr ...«

»Ich habe nie etwas mit ihnen zu tun gehabt«, fiel ihm der Earl barsch ins Wort.

Dieses Eingeständnis erschütterte Lawrence. Er schüttelte den Kopf und folgte dem Earl in das Zimmer. Die Braut saß auf der Kante eines Sessels und starrte aus dem Fenster. Sobald sie den Neuankömmling sah, fing sie wieder an zu weinen. Sie war die bezauberndste Braut, die Lawrence je gesehen hatte. Eine Flut von goldenen Locken, auf denen ein Krönchen aus Frühlingsblumen saß, umrahmte ihr engelsgleiches Gesicht. Die Sommersprossen auf ihrer Nase wirkten vorwitzig, obwohl ihre Wangen tränenüberströmt waren. Sie trug ein langes weißes Kleid mit Spitzenbordüren an Saum und Ärmeln und eine bestickte Schärpe, die zu Boden fiel, als das Mädchen aufstand.

Ihr Vater fluchte laut, und sie wiederholte den Fluch.

»Es ist Zeit, hinunterzugehen, Sara«, verkündete der Earl mürrisch.

»Nein.«

Der Earl schnappte wütend nach Luft. »Wenn du wieder zu Hause bist, werde ich dafür sorgen, dass dir dein Ungehorsam leid tut, junge Lady. Bei Gott, ich werde dich übers Knie legen. Du wirst es erleben.«

Der Baron bezweifelte ernsthaft, ob der Earl mit seinen Drohungen etwas erreichte. Sara blitzte ihren Vater rebellisch an, gähnte und setzte sich wieder auf ihren Platz.

»Harold, mit Wutausbrüchen kommt Ihr auch nicht weiter«, warf der Baron ein.

»Dann muss ich eben zur Tat schreiten«, brummte der Earl und trat mit hocherhobener Hand auf seine Tochter zu.

Lawrence stellte sich ihm in den Weg. »Ihr werdet sie nicht schlagen«, sagte er ärgerlich.

»Sie ist meine Tochter«, brüllte der Earl. »Ich werde sie, verdammt noch mal, zwingen, mir zu gehorchen.«

»Ihr seid Gast in meinem Haus, Harold«, erwiderte Lawrence, und als er merkte, dass er auch die Stimme erhoben hatte, fuhr er ruhiger fort: »Lasst mich mit ihr sprechen.«

Lawrence wandte sich Sara zu, die offensichtlich vom Zorn ihres Vaters gänzlich unbeeindruckt war. Sie gähnte erneut.

»Sara, die ganze Sache dauert nicht länger als ein paar Minuten, dann hast du alles überstanden«, sagte der Baron und kniete sich vor sie hin. Er schenkte ihr ein beschwichtigendes Lächeln und half ihr beim Aufstehen. Während er beruhigende Worte flüsterte, legte er die Schärpe um ihre Taille und schob Sara zur Tür. Das Mädchen gähnte wieder.

Die Braut war so müde, dass sie sich nicht wehrte, als der Baron sie weiterzog, aber als sie die Tür erreicht hatten, löste sie sich plötzlich aus seinem Griff und lief zurück zu ihrem Sessel. Dort riss sie eine uralte Decke an sich und ging, indem sie einen weiten Bogen um ihren Vater machte, wieder zu Lawrence. Sie drapierte die Decke, die auf dem Boden schleifte, um ihre Schultern und reichte dem Baron ihre Hand.

Ihr Vater versuchte, ihr die Decke wegzunehmen, und Sara fing laut zu schreien an. Der Earl fluchte.

»Großer Gott, Harold, lasst ihr doch dieses Ding«, seufzte Lawrence matt.

»Das werde ich nicht tun«, schrie der Earl. »Ich kann doch nicht zulassen, dass sie diesen Fetzen mitnimmt!«

»Sie kann die Decke doch behalten, bis wir die Halle erreicht haben.«

Schließlich gab der Earl widerstrebend nach. Er warf seiner Tochter noch einen zornigen Blick zu, nahm seine Position an der Spitze der kleinen Prozession ein und ging die Treppe hinunter.

Lawrence wünschte sich, Sara wäre seine Tochter. Als sie vertrauensvoll zu ihm aufsah und ihn anlächelte, hätte er sie am liebsten in die Arme genommen und getröstet. Ihre Aufstellung geriet in Unordnung, als sie den Eingang zur Halle erreichten und der Earl versuchte, seiner Tochter die Decke zu entwenden.

Nathan drehte sich um, als er den Tumult hörte, und seine Augen weiteten sich vor Staunen. Er konnte kaum fassen, was er sah. In dem sicheren Glauben, dass sein Vater gleich nach seiner Rückkehr die Ehe annullieren lassen würde, hatte der junge Marquis überhaupt kein Interesse an seiner zukünftigen Frau gezeigt, ja nicht einmal einen einzigen Gedanken an sie verschwendet. Deshalb war er jetzt, als er sie zum ersten Mal sah, umso überraschter.

Seine Braut war eine kleine Range. Nathan hatte große Mühe, seine gelangweilte Pose beizubehalten. Der Earl schrie ebenso laut wie seine Tochter, die aber weitaus entschlossener wirkte. Sie hatte sich an die Beine ihres Vaters geklammert und war eifrig bemüht, auf sein Knie einzuschlagen.

Nathan lächelte, aber seine Verwandten waren weniger zurückhaltend. Ihr lautes Gelächter dröhnte in der Halle, während die Winchesters das Schauspiel mit Entsetzen verfolgten. Der Earl, ihr inoffizieller Anführer, hatte seine Tochter abgeschüttelt, und befand sich aber gleich darauf in einem Kampf um etwas, das wie eine alte Pferdedecke aussah – und er verlor die Schlacht.

Baron Lawrence riss der Geduldsfaden, er zog die holde Braut an sich und hob sie auf seine Arme, denn zerrte er dem Earl die Decke aus den Händen und marschierte auf Nathan zu. Ohne Umschweife schob er das Mädchen und die Decke in die Arme des Bräutigams.

Während sich Nathan klarzuwerden versuchte, was er von der Situation halten sollte, bemerkte Sara, dass ihr Vater auf sie zu humpelte. Blitzschnell schlang sie die Arme um Nathans Hals und legte die Decke um ihn. Sie spähte über seine Schulter, um festzustellen, ob ihr Vater sie einzufangen versuchte. Nachdem sie sich Gewissheit verschafft hatte, dass sie in Sicherheit war, schenkte sie dem Fremden, der sie in den Armen hielt, ihre volle Aufmerksamkeit. Sie starrte ihn lange an.

Der Bräutigam stand stocksteif da. Er fühlte ihren Blick auf seinem Gesicht, wagte aber nicht, ihn zu erwidern. Er hatte keine Ahnung, was er tun würde, wenn sie sich entschließen sollte, auf ihn einzuschlagen. Nach kurzer Überlegung kam er zu dem Schluss, dass er jede Verlegenheit, in die sie ihn bringen mochte, ertragen musste. Schließlich war er ein Mann und seine Braut noch ein Kind.

Nathan hielt seinen Blick auf den König gerichtet, bis Sara Nathans Wange berührte. Schließlich drehte er sich um und schaute sie an. Sie hatte die strahlendsten braunen Augen, die er je gesehen hatte. »Papa möchte mich verdreschen«, verkündete sie und zog eine Grimasse.

Nathan reagierte nicht auf die Bemerkung. Bald wurde Sara es müde, ihn anzusehen. Ihre Lider wurden schwer, und ihr Kopf sank auf seine Schulter. Er spürte, wie sie ihr Gesicht an seinen Hals presste.

»Lass nicht zu, dass mein Papa mich verhaut«, flüsterte sie.

»Natürlich werde ich das nicht zulassen.«

Von einer Sekunde zur andern war er zu ihrem Beschützer geworden.

Sara, die müde von der langen Reise und den vielen Aufregungen war, schlief in den Armen ihres Bräutigams ein.

Erst als der königliche Anwalt den Ehevertrag vorlas, erfuhr Nathan Saras Alter.

Seine Braut war vier Jahre alt.

1

London, England, 1816

Es schien eine saubere, unkomplizierte Entführung zu werden. Merkwürdigerweise hätte diese Entführung sogar von den Behörden als vollkommen legales Unternehmen gehalten werden können, wenn man einmal von dem Einbruch und davon, dass sich jemand gewaltsamen Zugang zu einem fremden Haus verschaffte, absah. Aber diese Einzelheiten waren im Augenblick nicht von Belang. Nathaniel Clayton Hawthorn Baker, der dritte Marquis of St. James, war darauf vorbereitet, wenn nötig auch drastische Maßnahmen zu ergreifen, um zum Ziel zu gelangen. Wenn das Glück auf seiner Seite war, dann schlief sein Opfer – andernfalls kannte er eine wirksame Methode, jeden Protest im Keim zu ersticken.

So oder so, legal oder kriminell, er würde seine Frau mitnehmen. Nathan, wie der Marquis von seinen wenigen guten Bekannten genannt wurde, benahm sich bei diesem Unterfangen nicht gerade wie ein Gentleman, und glücklicherweise war er von Natur aus ohnehin nicht zartbesaitet.

Vor sechs Wochen erst war Nathan die volle Tragweite des Ehevertrages, den er vor vierzehn Jahren unterschrieben hatte, klargeworden. Er hatte seine Braut seit der Hochzeit nicht mehr gesehen, aber ihr Bild hatte sich seltsam tief in sein Gedächtnis gegraben. Er machte sich keine Illusionen über das junge Ding – schließlich waren ihm schon genügend Winchester-Frauen begegnet, so dass er wusste, dass sie nicht unbedingt als Schönheiten zu bezeichnen waren. Die meisten von ihnen hatten eine birnenförmige Figur und derbe Knochen, außerdem weit ausladende Hüften und, wenn man den Geschichten, die man sich über sie erzählte, Glauben schenken konnte, einen schier unersättlichen Appetit.

Die Vorstellung, eine Frau an seiner Seite zu haben, war für Nathan ungefähr so verlockend wie die Aussicht auf ein mitternächtliches Wettschwimmen mit einer Horde von Haifischen. Trotzdem war er entschlossen, alle Unannehmlichkeiten zu ertragen. Vielleicht fand sich ja mit der Zeit eine Lösung für sein Problem, und möglicherweise gab es einen Weg für ihn, die Bedingungen des Vertrages zu erfüllen, ohne dass er Tag und Nacht mit seiner Frau verbringen musste.

Die meiste Zeit seines Lebens war Nathan auf sich allein gestellt gewesen, und er hatte sich niemals auf die Ratschläge anderer verlassen. Es gab nur einen Menschen, dem er wirklich vertraute, und das war sein Freund Colin. Aber jetzt stand so viel auf dem Spiel, dass Nathan gezwungen war, seine Frau zu sich zu holen. Wenn er – so stand es in dem Vertrag – ein Jahr mit Sara zusammenlebte und einen Erben zeugte, erhielt er eine stattliche Geldsumme, und Nathan war wild entschlossen, dafür alle Unannehmlichkeiten, die ihm das Eheleben bescheren würde, auf sich zu nehmen. Mit dem Vermögen, das ihm die Krone auszahlen musste, wenn er seine Pflicht erfüllt hatte, konnte er die Gesellschaft, die Colin und er im letzten Sommer gegründet hatten, sanieren. Die Emerald Shipping Company war das erste legale Geschäft, das die beiden Männer in Angriff nahmen, und sie hatten den Ehrgeiz, es zu einem Erfolg zu machen. Der Grund für diesen Ehrgeiz war simpel: Weder Colin noch Nathan hatten Lust, ihr Leben weiterhin am Rande der Gesellschaft zu verbringen. Sie waren nach einer Auseinandersetzung mit ihrem ehemaligen Vorgesetzten durch Zufall mit Freibeutern zusammengekommen und hatten einige Zeit mit ihnen die Weltmeere besegelt. Aber vor kurzem waren sie zu der Überzeugung gelangt, dass das Risiko, das sie bei der Piraterie eingingen, zu groß war. Nathan hatte sich als der skrupellose Pirat, der sich Pagan nannte, einen Namen und zahllose Feinde gemacht. Auf seinen Kopf war eine derart hohe Belohnung ausgesetzt, dass selbst ein Heiliger der Versuchung, ihn auszuliefern, nicht hätte widerstehen können. Außerdem war es mit der Zeit immer schwieriger geworden, seine wahre Identität geheim zu halten, und Colin hatte seinen Freund bekniet, das gefährliche Leben aufzugeben, bevor er gefangengenommen wurde. Schließlich hatte Nathan eingewilligt, sesshaft zu werden. Genau eine Woche nach ihrer Ankunft in London hatten sie die Emerald Shipping Company gegründet. Das Büro, das sich direkt am Hafen befand, war nur spärlich möbliert. Die zwei Schreibtische, vier Stühle und den Aktenschrank, dessen Holz von einem früheren Brand Blasen warf, hatte der vorherige Besitzer des Büros zurückgelassen. Wenn die beiden Freunde zu Geld kamen, wollten sie sich als erstes – neben Schiffen für ihre Flotte – neue Möbel kaufen.

Sowohl Colin als auch Nathan verstanden etwas vom Geschäft, sie hatten beide, ohne damals schon Kontakt miteinander gehabt zu haben, in Oxford ihren Abschluss gemacht. Erst als sie sich auf das tödliche Spiel des englischen Geheimdienstes eingelassen hatten, waren sie sich nähergekommen. Es dauerte eine Weile, bis Nathan, der während seiner gesamten Studienzeit keine Freundschaften gepflegt hatte, Vertrauen zu Colin fasste. Aber dann setzten sie gemeinsam ihr Leben aufs Spiel, um ihrem geliebten Vaterland zu dienen. Zu guter Letzt waren sie jedoch von ihrem unmittelbaren Vorgesetzten verraten worden. Colin war fassungslos, als er herausfand, wie übel man ihnen mitgespielt hatte, aber für Nathan war dieser Verrat keine Überraschung. Er erwartete immer das Schlimmste von seinen Mitmenschen und war demzufolge nie enttäuscht, wenn ihm jemand Schaden zufügte. Er war ein Zyniker und ging selten einer Auseinandersetzung aus dem Weg.

Colins älterer Bruder Caine, der Earl of Cainewood, hatte vor etwa einem Jahr Nathans jüngere Schwester Jade geheiratet, und seither war die Freundschaft zwischen Nathan und Colin noch enger geworden. Beide wurden, da sie dem Adel angehörten, zu den wichtigsten gesellschaftlichen Ereignissen eingeladen. Colin sagte stets freudig zu, knüpfte bei diesen Gelegenheiten Kontakte und versuchte bei all den Vergnügungen, die er besuchte, Klienten für ihre Company anzuwerben. Nathan begleitete ihn nie, und Colin vermutete, dass sein Freund genau aus diesem Grund immer wieder eingeladen wurde. Nathan war bei der höheren Gesellschaft nicht unbedingt beliebt, aber das scherte ihn nicht – er hielt sich ohnehin lieber in den kleinen Tavernen am Hafen auf.

Die beiden Freunde erschienen auf den ersten Blick wirklich grundverschieden. Colin war, wie Nathan des Öfteren bemerkte, wenn er Colin ärgern wollte, der hübschere der beiden Partner. Und in der Tat sah Colin bemerkenswert gut aus. Er hatte haselnussbraune Augen und ein gutgeschnittenes aristokratisches Gesicht. Sein dunkelbraunes Haar trug er seit seinen Piratentagen ebenso wie Nathan lang, aber das störte beileibe nicht den positiven Eindruck, den sein hübsches Gesicht auf die Damen der Gesellschaft machte. Die beiden Freunde waren fast gleich groß, aber Colin war schmaler gebaut – dafür konnte er, wenn es die Situation erforderte, mindestens genauso arrogant auftreten wie Nathan. Die Tatsache, dass Colin infolge eines Unfalls ein wenig hinkte, schien seine Anziehungskraft nur zu verstärken.

Im Vergleich zu Colin war Nathan von der Natur weniger begünstigt worden. Er glich eher einem finsteren Ritter aus vergangenen Tagen als einem Adonis. Er band sein langes kastanienbraunes Haar nie im Nacken zusammen, wie Colin es zu tun pflegte, sondern ließ es auf seine mächtigen, muskulösen Schultern fallen. In seinen lebhaften grünen Augen lag meistens ein so düsterer Ausdruck, dass die Frauen ihm ängstlich aus dem Weg gingen, wenn er sie ansah.

Für Außenseiter verkörperte Colin das Gute, während sie Nathan für einen Schurken hielten, aber in Wahrheit ähnelten sie sich in ihrem Wesen sehr. Beide waren, wenn es um ihre innersten Empfindungen ging, ziemlich verschlossen. Nathan bevorzugte die Einsamkeit und schützte sich durch sein mürrisches Auftreten vor Auseinandersetzungen und unangenehmen Erlebnissen, und Colin gab sich aus dem gleichen Grund oberflächlich.

Colins freundliches Lächeln war ebenso eine Maske wie Nathans düsterer Gesichtsausdruck. Der Verrat, den sie erlebt hatten, hatte sie beide gleichermaßen geprägt, und sie hatten den Glauben an die hübschen Märchen von der reinen Liebe oder vom glücklichen Leben verloren. Nur Gecken und Narren glaubten an solche Hirngespinste.

Als Nathan mit seinem üblichen finsteren Blick das Büro betrat, fand er Colin auf einem der hochlehnigen Stühle sitzend vor.

»Jimbo hat zwei Pferde besorgt, Colin«, verkündete Nathan. »Habt ihr beide noch etwas zu erledigen?«

»Du weißt genau, wofür wir die Pferde brauchen. Wir, das heißt du und ich, werden zum Anwesen der Winchesters reiten und einen Blick auf Lady Sara werfen. Heute Nachmittag gibt die junge Lady eine Gartengesellschaft, und es herrscht sicher ein solcher Betrieb, dass uns niemand bemerkt, wenn wir uns bei den Bäumen auf dem Hügel aufhalten.«

Nathan sah aus dem Fenster. »Nein«, entgegnete er barsch.

»Jimbo hat ein Auge auf das Büro, während wir weg sind.«

»Colin, es ist nicht nötig, dass ich sie vor heute Abend sehe.«

»Verdammt, du solltest sie dir wirklich vorher anschauen.«

»Warum?«, fragte Nathan erstaunt.

Colin schüttelte den Kopf. »Damit du dich auf alles vorbereiten kannst.«

»Aber ich brauche keine weiteren Vorbereitungen«, wehrte Nathan ab. »Alles, was getan werden musste, ist bereits erledigt. Ich weiß, welches Fenster zu ihrem Schlafzimmer gehört, und der Baum, der direkt davorsteht, hält mein Gewicht – das habe ich selbst ausprobiert. Außerdem bin ich sicher, dass mich niemand bei dieser Aktion beobachten kann, und das Schiff ist längst abfahrbereit.«

»Du hast also an alles gedacht, wie?«

Nathan nickte. »Natürlich.«

»So?« Colin grinste. »Und was ist, wenn sie nicht durch das Fenster passt? Hast du diese Möglichkeit auch schon in Erwägung gezogen?«

Die Frage hatte genau die Wirkung, die Colin sich erhofft hatte. Nathan starrte ihn verwirrt an und schüttelte nach einer Weile den Kopf. »Es ist ein breites Fenster, Colin.«

»Vielleicht ist Sara noch breiter.«

Nathan war nicht anzusehen, ob ihn diese Möglichkeit abschreckte. »Wenn das der Fall sein sollte, dann werde ich sie die Treppe hinunterrollen«, erwiderte er gedehnt.

Colin lachte, als er sich die Szene vorstellte. »Bist du denn kein bisschen neugierig, wie sie aussieht?«

»Nein.«

»Aber ich bin neugierig«, gestand Colin. »Wenn ich euch schon bei euren Flitterwochen Gesellschaft leisten soll, ist es nur recht und billig, dass ich vorher erfahre, was auf mich zukommt.«

»Du weißt genau, dass diese Reise nichts mit Flitterwochen zu tun hat«, versetzte Nathan. »Hör auf, mir auf die Nerven zu gehen, Colin. Sara ist eine Winchester, verdammt noch mal, und der einzige Grund für dieses Unterfangen ist, sie von ihren Verwandten wegzuholen und die Klauseln des Ehevertrags zu erfüllen.«

»Ich frage mich wirklich, ob du diese Sache durchstehst«, sagte Colin. Sein breites Lächeln war einem ernsten, nachdenklichen Ausdruck gewichen. »Gütiger Himmel, Nathan, du musst das Bett mit ihr teilen und einen Erben zeugen, wenn du jemals wieder nach England zurückkehren willst.«

Bevor Nathan etwas darauf erwidern konnte, fuhr Colin fort: »Du bist nicht verpflichtet, diese Last auf dich zu nehmen, das weißt du. Die Company kommt auch ohne das Geld, das dir der König in Aussicht gestellt hat, auf die Beine. Außerdem hat der König die Regierungsgeschäfte offiziell niedergelegt, und ich bin sicher, dass der Prinzregent nicht auf der Erfüllung des Vertrages besteht. Die Winchesters haben sich auch schon heftig darum bemüht, ihn für ungültig erklären zu lassen. Wenn du dich jetzt auch noch dagegen aussprichst, bleibt dem Prinzregenten gar nichts anderes übrig, als der Bitte nachzukommen.«

»Nein«, protestierte Nathan vehement. »Ich habe meine Unterschrift unter diesen Vertrag gesetzt, und ein St. James bricht niemals sein Wort.«

Colin schnaubte verächtlich. »Du machst wohl Witze? Gerade die St. James sind dafür bekannt, dass sie ständig ihr Wort brechen und je nach Laune eine Abmachung einhalten oder nicht.«

Nathan konnte dem beim besten Willen nicht widersprechen und gab widerstrebend zu: »Du hast recht. Aber trotzdem werde ich mich nicht drücken – genauso wenig wie du dich bereit erklärst, von deinem Bruder Geld anzunehmen. Es ist eine Ehrensache ... Ach, zur Hölle, darüber haben wir doch schon so oft gesprochen, und du kennst meine Einstellung.« Er lehnte sich an den Fensterrahmen und seufzte. »Du lässt mich nicht eher in Frieden, bis ich mit dir zu den Winchesters reite, stimmt’s?«

»Du hast den Nagel auf den Kopf getroffen«, lautete Colins Antwort. »Du hast, wenn du mitkommst, immerhin die Gelegenheit, herauszufinden, mit wie vielen Winchester-Onkeln du es zu tun hast, wenn heute Abend etwas schiefgeht.«

Das war ein schlagendes Argument, das wussten beide. Trotzdem meinte Nathan: »Es wird nichts schiefgehen, und niemand kann mich aufhalten.«

Colin lachte wieder. »Ich kenne deine speziellen Talente sehr gut, mein Freund. Ich bete nur zu Gott, dass du dir den Weg nicht freikämpfen musst.«

»Warum?«

»Ich würde mich ärgern, weil ich den Spaß versäumen müsste.«

»Du kannst ja mitkommen.«

»Leider nein«, sagte Colin. »Eine Hand wäscht die andere, das weißt du doch. Ich habe der Herzogin als Gegenleistung dafür, dass sie Saras Fest heute Nachmittag möglich macht, versprochen, sie zum Liederabend ihrer Tochter zu begleiten. Der Himmel möge mich schützen, wenn sie auf dem Fest der Winchesters ist und mich entdeckt!«

»Sie ist ganz bestimmt nicht dort«, behauptete Nathan fest. »Dieser Winchester-Bastard hat sie sicher nicht eingeladen.«

»Sara gibt das Fest, und der Earl of Winchester würde es bestimmt nicht wagen, die Herzogin zu brüskieren. Schließlich hat sie diese Gesellschaft initiiert.«

»Warum hat sie das eigentlich getan?«

»Ich habe nicht die geringste Ahnung, Nathan«, erwiderte Colin. »Wir verschwenden hier nur unsere Zeit.«

»Verdammt«, fluchte Nathan und stieß sich vom Fensterrahmen ab. »Also gut, bringen wir’s hinter uns.«

Colin war glücklich über seinen Sieg und stürmte aus dem Büro, bevor es sich sein Freund anders überlegen konnte.

Auf dem Weg durch die Stadt fragte er Nathan: »Hast du dir schon Gedanken darüber gemacht, woran wir Sara erkennen können?«

»Ich bin sicher, dass du dir selbst schon etwas ausgedacht hast«, lautete die trockene Antwort.

»Darauf kannst du dich verlassen«, bestätigte Colin fröhlich. »Meine Schwester Rebecca hat versprochen, sich den ganzen Nachmittag in Saras Nähe aufzuhalten, und wenn sie aus irgendeinem Grund verhindert sein sollte, mir zu zeigen, wer Sara ist, wende ich mich an meine anderen Schwestern ...Weißt du, alter Junge, du könntest wirklich etwas mehr Enthusiasmus zeigen.«

»Wozu? Das ganze Unternehmen ist ohnehin nur Zeitverschwendung.«

Colin war anderer Meinung, aber er behielt sie für sich. Beide schwiegen, bis sie die Anhöhe über dem Park der Winchesters erreicht hatten und ihre Pferde zügelten. Das Laub der drei Bäume schirmte sie vollkommen ab, dennoch hatten sie einen vorzüglichen Ausblick auf die Menschen, die sich im Park vergnügten.

»Zur Hölle, Colin, ich komme mir vor wie ein Schuljunge.«

Colin lachte und betrachtete die Menschenmenge, die sich auf einer Terrasse versammelte.

»Ich bleibe nur noch zehn Minuten, Colin.«

»Einverstanden«, beschwichtigte Colin seinen Freund, dessen Blick in diesem Moment besonders finster wirkte. »Möglicherweise kommt Sara ja doch noch freiwillig mit, Nathan, wenn du ...«

»Willst du damit sagen, dass ich ihr noch einmal schreiben soll?«, brauste Nathan auf. Er zog eine Augenbraue in die Höhe, um auszudrücken, wie absurd er diesen Vorschlag fand. »Du erinnerst dich doch sicher noch daran, was geschah, als ich das letzte Mal deinem Ratschlag folgte, oder?«

»Natürlich weiß ich das, aber die Dinge könnten sich inzwischen geändert haben, oder es könnte ein Missverständnis gegeben haben. Saras Vater ...«

»Ein Missverständnis?«, polterte Nathan. »Ich habe ihnen am Donnerstag geschrieben und mich bestimmt nicht missverständlich ausgedrückt.«

»Natürlich«, erwiderte Colin. »Du hast ihnen mitgeteilt, dass du deine Braut am Montag abholen würdest.«

»Du glaubst doch nicht etwa, dass ich ihr mehr Zeit zum Packen hätte lassen müssen?«

Colin lächelte breit. »Natürlich, und das habe ich dir auch gesagt. Trotzdem muss ich gestehen, dass ich ziemlich erstaunt war, als sie davongelaufen ist. Sie war ziemlich schnell, nicht?«

»Ja, das war sie«, antwortete Nathan belustigt.

»Du hättest sie einholen können.«

»Warum? Meine Männer sind ihr gefolgt, und ich wusste, wo sie sich aufhielt. Ich hatte mich aber entschlossen, sie noch eine Weile allein zu lassen.«

»Du hast ihr eine Galgenfrist gegönnt, stimmt’s?«

Nathan lachte. »Sie ist nur eine Frau, Colin, aber du hast recht – ich wollte ihr noch ein wenig Aufschub gewähren.«

»Es war mehr als das. Du wusstest genau, dass sie in Gefahr schweben würde, wenn du deinen Anspruch auf sie so ohne weiteres geltend machst. Das wolltest du nicht zulassen, und du hast sie dadurch, dass du sie in Ruhe gelassen hast, vor Schaden bewahrt. Das war deine Art, sie zu beschützen, oder steckt ein anderer Grund dahinter?«

»Warum fragst du, wenn du ohnehin schon alles weißt?«

»Gott helfe euch beiden, das nächste Jahr wird die Hölle – ihr habt die ganze Welt und besonders die Winchesters gegen euch.«

Nathan zuckte mit den Schultern. »Ich werde gut auf sie aufpassen.«

»Daran zweifle ich nicht.«

Nathan schüttelte den Kopf. »Dieses verrückte Mädchen hat doch tatsächlich eine Passage auf einem meiner Schiffe gebucht, um vor mir zu fliehen. Das ärgert mich noch immer.«

»Das verstehe ich nicht«, erwiderte Colin. »Sie konnte unmöglich wissen, dass du der Eigner des Schiffes bist. Du hast ja selbst darauf bestanden, dass niemand etwas von deiner Beteiligung an der Company erfährt, hast du das vergessen?«

»Wenn ich das nicht getan hätte, hätten wir überhaupt keine Klienten. Du weißt verdammt gut, dass der Name St. James in der feinen Gesellschaft nicht gerade einen guten Klang hat. Meine Familie scheint immer noch so raubeinig zu sein wie früher.« Sein Grinsen zeigte seinem Freund, dass er diesen Charakterzug nicht unbedingt verurteilte.

»Etwas kommt mir seltsam vor«, sagte Colin, um das Thema zu wechseln. »Deine Männer sind Lady Sara gefolgt, um sie im Auge zu behalten, aber du hast sie nie gefragt, wie sie aussieht.«

»Dich hat das bis jetzt auch nicht interessiert; du hättest dich ja auch bei Leuten, die sie kennen, danach erkundigen können«, konterte Nathan.

Colin zuckte nur mit den Achseln und wandte seine Aufmerksamkeit wieder der Menschenmenge im Park zu. »Ich dachte, dass du keine Lust hast, nur wegen dieses Vertrages so ein großes Opfer zu bringen. Nach allem, was Sara ...« Er brach mitten im Satz ab, als er seine Schwester und eine andere Frau, die knapp hinter ihr ging, auf sich zukommen sah. Sie blieben in einiger Entfernung stehen. »Da ist Becca«, sagte er. »Wenn diese dumme Gans doch nur einen Schritt beiseite gehen würde ...« Plötzlich schnappte Colin nach Luft. »Jesus ... kann das Lady Sara sein?«

Nathan gab keine Antwort. Wahrscheinlich hätte er ohnehin kein Wort herausgebracht, da er so sehr damit beschäftigt war, die Erscheinung, die dort auf dem Rasen stand, in sich aufzunehmen.

Dieses Mädchen war bezaubernd. Nathan schüttelte den Kopf. Nein, sagte er sich, das konnte nicht seine Braut sein. Diese junge Lady, die Rebecca so scheu anlächelte, war einfach zu schön, zu weiblich und zu schlank, um zum Winchester-Clan zu gehören.

In diesem Augenblick drang die Erinnerung an das unmögliche kleine Mädchen, das er vor vierzehn Jahren in den Armen gehalten hatte, wieder in sein Bewusstsein, und irgendetwas, was er selbst nicht benennen konnte, sagte ihm, dass diese Frau tatsächlich Lady Sara war.

Sie hatte nicht mehr dieselbe honigfarbene Lockenflut wie früher. Ihr Haar war jetzt ein wenig dunkler und schulterlang. Ihr Teint sah aus der Entfernung rein und klar aus, und Nathan fragte sich, ob sie immer noch Sommersprossen auf der Nase hatte. Sie war nicht besonders groß – etwa einen halben Kopf kleiner als Colins Schwester –‍, aber ihre Figur war wohlproportioniert.

»Sieh dir nur die ganzen Stutzer an«, bemerkte Colin. »Sie schwirren herum wie Haie, die ihre Beute einkreisen wollen. Offenbar ist deine Braut ihr Opfer, Nathan. Du liebe Güte, sie sollten einer verheirateten Frau nicht so unverhohlen nachstellen. Aber wenn ich’s recht bedenke, dann kann man ihnen das nicht übelnehmen. Nathan, sie ist umwerfend.«

Nathan beobachtete die Männer, die eifrig Jagd auf seine Braut machten, mit Argusaugen und verspürte den Drang, jeden einzelnen von ihnen zu verprügeln. Wie konnten sie es wagen, sich für etwas zu interessieren, was ihm gehörte? Er schüttelte den Kopf über die merkwürdigen Empfindungen, die ihn in diesem Augenblick befielen.

»Dort kommt dein charmanter Schwiegervater«, verkündete Colin. »Mir ist noch nie aufgefallen, dass er solche Säbelbeine hat ... Schau nur, wie er sie beobachtet. Er scheint sie keinen Moment aus den Augen zu lassen.«

Nathan holte tief Luft. »Lass uns von hier verschwinden, Colin. Ich habe genug gesehen«, sagte er mit vollkommen ausdrucksloser Stimme.

Colin drehte sich zu ihm um. »Also?«

»Also was?«

»Verdammt, Nathan, sag mir, was du denkst!«

»Worüber?«

»Lady Sara«, beharrte Colin. »Was hältst du von ihr?«

»Willst du die Wahrheit hören?«

Colin nickte eifrig.

Ein Lächeln breitete sich über Nathans Gesicht aus. »Ich glaube, sie passt durchs Fenster.«

2

Die Zeit verstrich unaufhaltsam.

Sara bereitete sich darauf vor, England zu verlassen, und vermutlich würde jedermann wieder argwöhnen, dass sie vor ihrem Bräutigam davonlief. Man hielt sie bestimmt für einen Feigling, dachte sie, und der Klatsch würde kein Ende nehmen. Trotzdem war sie fest entschlossen, ihre Pläne auszuführen – genaugenommen hatte sie gar keine andere Wahl. Sie hatte zweimal an den Marquis of St. James geschrieben und ihn um seinen Beistand gebeten, aber der Mann, mit dem sie vor dem Gesetz verheiratet war, hatte es nicht für nötig befunden, ihre Briefe zu beantworten. Danach hatte sie nicht mehr den Mut gehabt, sich noch einmal an ihn zu wenden, und für weitere Aktivitäten hatte sie keine Zeit mehr gehabt. Das Wohl und Wehe ihrer Tante Nora stand auf dem Spiel, und Sara war die einzige Person, die sie aus ihrer Zwangslage befreien konnte – oder wollte.

Wenn die Londoner Gesellschaft glaubte, dass sie nur dem Eheleben aus dem Weg gehen wollte, konnte sie auch nichts daran ändern. Schon bei ihrer letzten Reise hatte das Gerücht die Runde gemacht, dass sie auf der Flucht vor ihrem Bräutigam sei.

Als ihre Mutter sie vor einigen Monaten gebeten hatte, zu Nora zu reisen, hatte Sara sofort zugestimmt. Ihre Mutter hatte seit vier Monaten keine Nachricht mehr von ihrer Schwester Nora erhalten, und sie hatte Angst gehabt, dass ihr etwas passiert sein könnte. Saras Mutter war fast krank vor Sorge gewesen, und Sara war über ihren Zustand ebenso beunruhigt gewesen wie über die Tatsache, dass ihre Tante so lange nichts von sich hatte hören lassen. Irgendetwas musste geschehen sein – es war einfach nicht Tante Noras Art, kein Lebenszeichen von sich zu geben.

Sara und ihre Mutter waren übereingekommen, den wahren Grund für Saras plötzliche Abreise geheim zu halten. Sie hatten behauptet, dass Sara ihrer älteren Schwester Lillian, die mit ihrem Mann und einem kleinen Sohn in den Kolonien in Amerika lebte, einen Besuch abstatten wollte.

Ursprünglich hatte Sara ihrem Vater die Wahrheit anvertrauen wollen, aber dann hatte sie sich doch dagegen entschieden. Auch wenn er vernünftiger war als seine Verwandten, so war er doch durch und durch ein Winchester, und er verabscheute Tante Nora ebenso sehr wie seine Brüder, auch wenn er es seiner Frau zuliebe nicht laut aussprach.

Die Winchesters hatten Nora ausgestoßen, weil sie durch ihre Heirat Schande über die Familie gebracht hatte, und obwohl die Eheschließung schon vor vielen Jahren stattgefunden hatte, konnten die Winchesters die Schmach, dass sie einen Mann gewählt hatte, der weit unter ihrem Stand war, nicht vergessen. Die Winchesters waren sehr rachsüchtig und handelten stets nach dem Motto »Auge um Auge«. Sie vergaben niemandem, der sie beleidigt oder in der Öffentlichkeit lächerlich gemacht hatte, und betrachteten jeden, der ihre Ehre kränkte, für immer als ihren Feind.

Sara wusste schon lange, dass ihre Tante in Ungnade gefallen war, da es Nora streng verboten war, sie in London zu besuchen. Aber sie hatte gehofft, dass ihre Onkel mit der Zeit etwas nachgiebiger werden würden. Zu ihrem Leidwesen war jedoch genau das Gegenteil der Fall. Sie hatten sogar Saras Mutter verboten, mit ihrer Schwester zu sprechen.

Sara hatte ihre Tante überreden können, sie nach London zu begleiten, und sie waren vor zwei Wochen im Hafen angekommen. Seither war Nora spurlos verschwunden.

Sara wurde fast verrückt vor Angst. Der Zeitpunkt, an dem sie ihren Plan in die Tat umsetzen musste, rückte immer näher, und ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Bis jetzt hatte Sara ein wohlbehütetes Leben geführt, und es hatte immer jemanden gegeben, der sich um sie gekümmert hatte, aber bei diesem Unternehmen war sie ganz auf sich allein gestellt. Sie betete zu Gott, dass sie der Aufgabe gewachsen sein möge – schließlich stand Noras Leben auf dem Spiel.

Schreckensvisionen hatten die letzten zwei Wochen in einen Alptraum verwandelt. Jedes Mal, wenn die Türglocke anschlug, war Sara darauf gefasst gewesen, dass die Polizei die Nachricht überbrachte, dass Noras Leiche irgendwo gefunden worden war. Schließlich, als sie schon glaubte, die Anspannung nicht mehr ertragen zu können, hatte Nicholas, Saras treu ergebener Diener, bei seinen Nachforschungen Erfolg gehabt. Er hatte herausgefunden, dass die Winchester-Brüder Nora auf dem Dachboden in Onkel Henrys Stadthaus gefangen hielten, bis sie alle Vorkehrungen, die nötig waren, um Nora in ein Irrenhaus einweisen lassen zu können, getroffen hatten. Noras beträchtliches Vermögen wollten die Brüder unter sich aufteilen.

»Diese Blutsauger«, zischte Sara. Ihre Hand bebte, als sie den Riemen, der ihre Reisetasche hielt, festzog. Sie versuchte sich selbst einzureden, dass sie vor Wut und nicht aus Angst zitterte. Jedes Mal, wenn sie an die schrecklichen Dinge dachte, die ihre Tante durchmachen musste, wurde sie zornig und verfluchte ihre Verwandtschaft.

Sie holte tief Luft, um sich zu beruhigen, trug die Tasche zum Fenster und warf sie hinaus.

»Das ist die letzte, Nicholas. Beeil dich, die Familie kommt bald zurück. Viel Glück, mein Freund«, rief sie.

Der Diener hob die Tasche auf und lief zu der wartenden Droschke. Sara schloss das Fenster, löschte die Kerze und legte sich angezogen ins Bett.

Meistens kamen ihre Eltern gegen Mitternacht von den Abendgesellschaften zurück. Als Sara Schritte auf dem Korridor hörte, drehte sie sich auf den Bauch und stellte sich schlafend. Nur eine Sekunde später vernahm sie das leise Quietschen ihrer Schlafzimmertür. Sie wusste, dass ihr Vater in der Tür stand, um sich zu vergewissern, dass seine Tochter dort war, wo sie sein sollte. Sara kam es so vor, als würde er sie eine Ewigkeit anschauen, aber dann wurde die Tür geschlossen.

Sara wartete noch eine halbe Stunde, bis sie sicher war, dass sich alle zur Ruhe begeben hatten, dann stand sie auf und sammelte ihre Sachen zusammen, die sie unter dem Bett verstaut hatte. Bei ihrem Vorhaben musste sie möglichst unauffällig bleiben, und deshalb trug sie ein dunkelblaues Reisekleid. Es war am Hals ein wenig zu weit ausgeschnitten, aber Sara hatte keine Zeit gehabt, sich um dieses Problem zu kümmern. Ihr Mantel würde das Dekolleté ohnehin verdecken. Sie war zu nervös, um sich ordentlich zu frisieren, deshalb band sie ihr Haar im Nacken zusammen, damit es ihr wenigstens nicht ins Gesicht fiel.

Nachdem sie den Brief, den sie ihrer Mutter hinterlassen wollte, auf den Frisiertisch gelegt hatte, wickelte sie ihren Regenschirm, ihre weißen Handschuhe und ihr Retikül in den Mantel und warf das lose Bündel aus dem Fenster. Dann kletterte sie auf den Sims.

Der Ast, den sie erreichen wollte, war nur einen halben Meter von der Hauswand entfernt, aber gut anderthalb Meter unter dem Fenster, Sara sandte ein Stoßgebet zum Himmel, als sie an die Kante des Fensterbretts rutschte. Dann stieß sie sich mit einem leisen Angstschrei, den sie nicht unterdrücken konnte, vom Sims ab.

Nathan traute seinen Augen nicht. Gerade als er auf den großen Baum klettern wollte, öffnete sich das Fenster, und einige Gegenstände, die offensichtlich einer Frau gehörten, segelten durch die Luft. Der Regenschirm traf ihn an der Schulter. Der Mond spendete genügend Licht, so dass Nathan sehen konnte, wie Sara aus dem Fenster kletterte. Bevor er ihr eine Warnung, dass sie sich den Hals brechen könnte, zurufen konnte, sprang sie, und Nathan machte einen Satz nach vorn, um sie aufzufangen.

Sara bekam jedoch einen dicken Ast zu fassen und klammerte sich fest. Wieder bat sie alle Heiligen um Beistand und wartete, bis sie nicht mehr so heftig hin und her schwang, dann setzte sie ihren gefährlichen Weg fort.

»Großer Gott«, flüsterte sie immer wieder, während sie den Baum hinunterkletterte. Ihr Kleid verfing sich in einem Zweig, der Saum blieb hängen, und der hochgeschlagene Rock nahm ihr die Sicht, aber glücklicherweise berührten ihre Füße nur eine Sekunde später festen Boden. Sara ordnete ihre Kleidung und seufzte erleichtert. »Das wäre geschafft. Eigentlich war es gar nicht so schlimm.«

Guter Gott, dachte sie einen Augenblick später, jetzt belüge ich mich schon selbst. Sie bückte sich, um ihre Sachen zusammenzusuchen, und verschwendete wertvolle Minuten, indem sie ihre weißen Handschuhe überstreifte, den Staub aus ihren Kleidern klopfte und den Mantel anzog. Schließlich klemmte sie den Schirm unter den Arm und ging zur Vorderseite des Hauses.

Plötzlich hörte sie ein Geräusch hinter sich und blieb abrupt stehen. Als sie herumwirbelte, konnte sie aber nichts anderes als Bäume und Schatten entdecken. Offensichtlich hatte ihr ihre Fantasie einen Streich gespielt – vielleicht hatte sie ja auch nur ihr eigenes Herzklopfen gehört, dachte sie.

»Wo bleibt Nicholas?«, murmelte sie halblaut und sah sich um. Der Diener sollte im Schatten des Nachbarhauses auf sie warten, und er hatte versprochen, sie zum Haus ihres Onkels Henry zu begleiten. Irgendetwas musste ihn zurückgehalten haben.

Sara wartete volle zehn Minuten, aber zu guter Letzt musste sie einsehen, dass Nicholas nicht mehr kommen würde. Sie wagte nicht, sich länger in der Nähe des Hauses aufzuhalten; das Risiko, entdeckt zu werden, war zu groß. Seit sie vor zwei Wochen nach London zurückgekehrt war, sah ihr Vater in regelmäßigen Abständen nach ihr – auch nachts. Die Hölle würde losbrechen, wenn er merkte, dass sie nicht in ihrem Zimmer war. Sara schauderte bei dem Gedanken daran, was ihr blühte, wenn man sie hier vorfand.

Ihr Herz hämmerte wild, als sie sich plötzlich bewusst wurde, dass sie vollkommen allein war und auf eigene Faust handeln musste. Trotzig straffte sie die Schultern und machte sich entschlossen auf den Weg. Das Stadthaus ihres Onkels befand sich nur drei Straßenzüge weit entfernt, und sie brauchte bestimmt nicht allzu lange, um dorthin zu gelangen. Es war mitten in der Nacht, und die Straßen waren sicherlich menschenleer. Sara hoffte inständig, dass auch die Schurken und Bösewichte nachts schliefen – wenn nicht, dann hatte sie ja immer noch ihren Regenschirm, den sie als Waffe benutzen konnte ... Sie wäre sogar bis ans Ende der Welt gelaufen, wenn sie dadurch ihre Tante vor einer weiteren Nacht unter dem Dach ihres gewalttätigen Onkels hätte bewahren können.

Sara legte das erste Stück des Weges im Laufschritt zurück, bis sie Seitenstechen bekam und gezwungen war, langsamer zu gehen. Sie atmete auf, als sie merkte, dass sich niemand auf der Straße aufhielt.

Nathan blieb ihr auf den Fersen. Er wollte zuerst erfahren, was seine Braut vorhatte, ehe er sie fing, über seine Schulter warf und zum Hafen schleppte. Er argwöhnte, dass sie wieder vor ihm auf der Flucht war, und der Gedanke irritierte ihn. Als ihm einfiel, dass sie unmöglich wissen konnte, dass er geplant hatte, sie heute zu entführen, schalt er sich selbst einen Narren.

Wohin ging sie, und was hatte sie vor? Diese Fragen beschäftigten ihn unablässig, während er ihr folgte.

Sie hatte wirklich Mut. Nathan hatte ihren leisen Angstschrei gehört, als sie vom Fenstersims gesprungen war, und er hatte auch gehört, dass sie bei der Kletterpartie gebetet hatte. Ihre ängstliche Stimme hatte ihm ein Lächeln entlockt, und als er einen Blick auf ihre wohlgeformten blassen Beine geworfen hatte, während sie in ziemlich undamenhafter Pose auf dem Boden gelandet war, hätte er beinahe laut gelacht.

Glücklicherweise hatte sie seine Anwesenheit bis jetzt noch nicht bemerkt, aber sie achtete auch gar nicht auf ihre Umgebung. Nathan war erstaunt über ihr Gottvertrauen. Sie schaute nicht ein einziges Mal zurück, sonst hätte sie ihn sicherlich entdeckt. Sie wurde nicht einmal vorsichtiger, als sie um eine Ecke bog und durch eine düstere Allee auf einen Platz zuging.

Natürlich blieb sie nicht unbemerkt. Zwei kräftige Männer mit Schwertern krochen wie Schlangen aus der Finsternis und schlichen ihr nach. Nathan war mit einem Satz hinter ihnen und wartete, bis sie sich zu ihm umgedreht hatten, bevor er beide am Kragen packte und ihre Köpfe zusammenschlug. Nathan zerrte die beiden Schurken unter einen Baum, ohne Sara dabei aus den Augen zu lassen. Saras anmutiger Gang gehörte wirklich verboten, dachte er. Der Schwung ihrer Hüften war bezaubernd ... Gerade in dem Moment, in dem Nathan diesen Gedanken hatte, gewahrte er eine Bewegung im Schatten, und er stürzte sich auf den Angreifer. Sara bog um eine Ecke, als Nathans Faust den Kiefer des Mannes traf.