Das Ja zum Leben und zum Menschen, Band 12 - Wolfgang Nein - E-Book

Das Ja zum Leben und zum Menschen, Band 12 E-Book

Wolfgang Nein

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Beschreibung

Wir stehen wieder am Anfang. Nach zweitausend Jahren Theologie müssen wir noch einmal von vorn anfangen mit unserem Nachdenken über all das, was uns über jenen Menschen überliefert ist, der den Titel "Christus" erhalten hat. Es geht nicht nur um eine zeitgemäße Sprache und nicht nur um zeitgemäße Formen für die Darbietung und Feier der Inhalte. Es geht um die Inhalte selbst. Es bleibt eine große Aufgabe, den Schatz der christlichen Theologie so zu formulieren und verständlich, nachvollziehbar und annehmbar zu machen, dass sie wieder einer zunehmenden Zahl von Menschen helfen kann, das Leben und den Menschen mit den jeweils schönen und schwierigen Seiten anzunehmen und das Leben so zu gestalten, dass daraus etwas Gutes für den Einzelnen, die Gesellschaft und das weltweite Miteinander wird. Die hier abgedruckten Predigten sind Teil einer Fortsetzungsreihe, die zurückgeht bis in die siebziger Jahre.

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Der Mensch mit der göttlichen Botschaft

2. Januar 1983

2. Sonntag nach dem Christfest

Johannes 7,14-18

Das göttliche Licht wird am Kreuz nicht verlöschen

23. Januar 1983

Letzter Sonntag nach Epiphanias

Johannes 12,34-36

Heilung und Heil

13. Februar 1983

Estomihi

(Sonntag vor der Passionszeit)

Lukas 18,31-43

Jeremia und Jesus – Verantwortung und Liebe

6. März 1983

Okuli

(3. Sonntag der Passionszeit)

Jeremia 20,7-11

Kritisch, aber mit Liebe betrachtet

27. März 1983

Palmarum

(6. Sonntag der Passionszeit)

Konfirmation

Johannes 3,16-17

Kraft zum Leben in den Bedrohungen des Todes

3. April 1983

Ostersonntag

Johannes 20,11-18

Petrus – gutwillig, schwach und stark gemacht

17. April 1983

Misericordias Domini

(2. Sonntag nach Ostern)

Johannes 21,15-19

Empfangen und geben

1. Mai 1983

Kantate

(4. Sonntag nach Ostern)

Konfirmation

1. Mose 12,2

Wir stehen gemeinsam vor einem schönen Geheimnis

15. Mai 1983

Exaudi

(6. Sonntag nach Ostern)

Ökumenische Gebetswoche

Kanzeltausch mit Ebenezer (ev.-meth.)

Johannes 1,1-5

Alles in einem: Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft

11. Juni 1983

Trinitatis

4. Mose 6,22-27

Den guten Kern freilegen

19. Juni 1983

3. Sonntag nach Trinitatis

Lukas 19,1-10

Menschliche Bindungen und Nachfolge Jesu

3. Juli 1983

5. Sonntag nach Trinitatis

Lukas 14,25-31

Gottes Volk ist die ganze Menschheit

10. Juli 1983

6. Sonntag nach Trinitatis

Jesaja 43,1-7

Sehen mit den Augen und dem Herzen

21. August 1983

12. Sonntag nach Trinitatis

Markus 8,22-26

Barmherzigkeit ist wichtiger

25. September 1983

17. Sonntag nach Trinitatis

Johannes 9,35-41

Barmherzigkeit - göttliche Gabe und Auftrag

9. Oktober 1983

19. Sonntag nach Trinitatis

Johannes 5,1-16

Christliche Orientierung für die Gesellschaft

16. Oktober 1983

20. Sonntag nach Trinitatis

Friedensgottesdienst

Markus 2,23-28

Menschenliebe gegen Negativerfahrungen

23. Oktober 1983

21. Sonntag nach Trinitatis

Johannes 15,9-12(13-17)

Risiko der Feindschaft – Risiko der Liebe

13. November 1983

Volkstrauertag

Friedensgottesdienst

Jeremia 8,4-7

Neues Kirchenjahr – neue Hoffnung

27. November 1983

1. Advent

Hebräer 10,19-25

Wie ernst ist es uns mit dem christlichen Glauben?

11. Dezember 1983

3. Advent

Offenbarung 3,1-6

Gott hat sich etwas einfallen lassen

24. Dezember 1983

Heiligabend

Lukas 2,10-14

Das Christkind – das uns allen geborene Kind

25. Dezember 1983

1. Weihnachtstag

Lukas 2,15-20

Unsere Lebenszeit ist geschenkte Zeit

31. Dezember 1983

Altjahrsabend

Hebräer 13,8-9b

Aufruf zum Durchhalten

15. Januar 1984

2. Sonntag nach Epiphanias

Hebräer 12,12-18.22-25a

Gnade ist kein Ruhekissen für den Bequemen

11. März 1984

Invokavit

(1. Sonntag in der Passionszeit)

Jakobus 1,12-18

Enttäuschten Christen Mut machen

18. März 1984

Reminiszere

(2. Sonntag der Passionszeit)

Hebräer 11,8-10

Christlicher Glaube kurzgefasst

6. Mai 1984

Misericordias Domini

(2. Sonntag nach Ostern)

Konfirmation

2. Korinther 13,13

Loslassen und empfangen

27. Mai 1984

Rogate

(5. Sonntag nach Ostern)

2. Buch Mose 32,7-14

Nicht den leeren Horizont, sondern einander ansehen

31. Mai 1984

Himmelfahrt

Apostelgeschichte 1,9-11

Kirche im Sozialismus

17. Juni 1984

Trinitatis

Matthäus 28,19-20

Eigenverantwortung als Teil der Freiheit akzeptieren

8. Juli 1984

3. Sontag nach Trinitatis

Hesekiel 18,1-4.21-24.30-32

Paulus, Baumeister der Gemeinde

9. September 1984

12. Sonntag nach Trinitatis

1. Korinther 3,9-15

Verschiedene Kulturen und das gemeinsame Christliche

14. Oktober 1984

17. Sonntag nach Trinitatis

Epheser 4,1-6

Persönliche und unpersönliche Schuld

21. November 1984

Buß- und Bettag

Jesaja 1,10-17

Der Tod – Bedrohung und Chance für unser Leben

25. November 1984

Totensonntag / Ewigkeitssonntag

2. Petrus 3,8-10

Unscheinbar, und doch das Größte

24. Dezember 1984

Heiligabend

Lukas 2,6-16

Das Kind jüdischer Herkunft ist für alle geboren

30. Dezember 1984

Sonntag nach Weihnachten

Lukas 2,25-38

Bibelstellen

Vorwort

Wir stehen wieder am Anfang. Nach zweitausend Jahren Theologie müssen wir noch einmal von vorn anfangen mit unserem Nachdenken über all das, was uns über jenen Menschen überliefert ist, der den Titel „Christus“ erhalten hat. Es geht nicht nur um eine zeitgemäße Sprache und nicht nur um zeitgemäße Formen für die Darbietung und Feier der Inhalte. Es geht um die Inhalte selbst.

Für diejenigen, die mit Jesus ganz direkt und persönlich zu tun hatten, die Jünger insbesondere, war es schon nicht einfach, zu interpretieren, was Jesus sagte und tat und was sie mit ihm erlebten. Für diejenigen, die nur vom Hörensagen etwas über ihn erfuhren, war es noch schwieriger, sich ein Reim zu machen aus dem, was erzählt wurde. Die Evangelisten standen dann vor der Aufgabe, die unterschiedlichen Aussagen, Erzählungen und Aufzeichnungen für die Weitergabe an andere zu einem Konzept zusammenzustellen. Die jeweils subjektive Interpretation der einzelnen Evangelisten ist unübersehbar.

Paulus, der auch – wie die Evangelisten – weder Augennoch Ohrenzeuge Jesu war, hat seine Interpretation und sein Konzept in Briefen entfaltet, die er an die von ihm gegründeten Gemeinden – oft aus Anlass konkreter Probleme – schrieb.

Was Paulus, die Evangelisten und die anderen Autoren der Schriften des Neuen wie auch des Alten Testaments uns überliefert haben, sind für uns die Grundlage für unsere eigenen Glaubensüberzeugungen. Wir können zusätzlich noch die Überlegungen der vielen Theologen der vergangenen zweitausend Jahre mit zu Hilfe nehmen.

Es bleibt uns freilich nicht erspart, uns unsere eigenen Gedanken zu machen und ein eigenes Glaubenskonzept zu entwickeln.

Bisher konnten sich viele Menschen durch das leiten lassen, was ihnen durch ihre Erziehung im Elternhaus, die Fortbildung in der Schule und durch Traditionen und soziale Gepflogenheiten vorgegeben war, ohne sich selbst allzu viele Gedanken machen zu müssen. Die Zahl der Menschen, die durch diese Vorgaben geprägt waren und sind, nimmt altersbedingt ab, während gleichzeitig immer weniger junge Menschen mit solchen Vorgaben aufwachsen.

Hinzu kommt, dass das Angebot an biblischen und theologischen Informationen immer weniger wird. Das liegt nicht nur an äußeren Gegebenheiten wie z. B. die Reduzierung der Anzahl von Kirchen und Zusammenlegung von Gemeinden. Es liegt auch an der theologischen Unsicherheit derjenigen, die für die Weitergabe von Glaubensinhalten von Berufs wegen zuständig sind. Die Schöpfungstheologie, die Offenbarung, die Sühne- und Opfertheologie, die Auferstehung, das persönliche Gottesbild, der Umgang mit den biblischen Texten, das Verhältnis zu anderen Religionen – die Themen sind zahlreich, die eine grundsätzliche Besinnung erforderlich machen. Entsprechende Bemühungen gibt es. Ein Konzept, das sich viele Menschen heute zu Eigen machen und ihrer Lebensgestaltung zugrunde legen könnten, ist derzeit (noch) nicht erkennbar.

Es bleibt also eine große Aufgabe, den Schatz der christlichen Theologie so formulieren und verständlich, nachvollziehbar und annehmbar zu machen, dass sie wieder einer zunehmenden Zahl von Menschen helfen kann, das Leben und den Menschen mit den jeweils schönen und schwierigen Seiten anzunehmen und das Leben so zu gestalten, dass daraus etwas Gutes für den Einzelnen, die Gesellschaft und das weltweite Miteinander wird.

Die hier abgedruckten Predigten – wie überhaupt die ganze Predigtserie – sind in diesem Sinne ein kleiner persönlicher Beitrag. Viel Freude beim Lesen.

Wolfgang Nein, März 2018

Der Mensch mit der göttlichen Botschaft

2. Januar 1983

2. Sonntag nach dem Christfest

Johannes 7,14-18

Ein neues Kalenderjahr hat begonnen. Die Zeit vergeht. Dazu möchte ich ein paar grundsätzliche Überlegungen anstellen. In diesen Tagen ist viel gefeiert worden. Kinder, Eltern, Großeltern, Enkelkinder, hier und da auch eine Urgroßmutter, sind zusammengekommen. Wenn mehrere Generationen beisammen sind, merken wir besonders deutlich, vielleicht mit Schrecken, in welcher Lebensphase wir uns gerade befinden. Auch der Jahreswechsel lässt uns diese banale Realität spüren: Wir sind älter geworden.

Die Zeit vergeht. Die Jahreswende erinnert uns wieder daran, dass unsere Lebenszeit bemessen ist. Kurz bemessen ist sie. Wir durchlaufen eine Reihe festgelegter Stationen vom Neugeborenen über das Kind, den Jugendlichen, den Erwachsenen hin zum alten Menschen. Wir machen eine Bewegung durch, die Anfang und Ende hat. Wir sind wie aufgezogen. Am Anfang bewegen wir uns noch ganz schnell und hektisch, dann werden wir ruhiger und schließlich wird die Bewegung stockend, bis sie ganz aufhört. Die Bewegung läuft aus eigenem, von uns unabhängigem Antrieb ab. Wir sind nur ihre Beobachter, sobald wir nach den ersten Lebensjahren das Bewusstsein entwickelt haben und solange wir es aus Altersschwäche noch nicht wieder verloren haben.

Es ist unser Bewusstsein, das uns gewahr werden lässt, dass unsere Lebenszeit begrenzt ist, dass wir aus unbekannten Ursprüngen herkommen und wieder in das Unbekannte hineingehen. Wenn der Jahreswechsel auch kein kirchliches Fest ist, so ist er doch ein Anlass von höchst theologischer Bedeutung. Er lässt uns innehalten und uns gewärtig werden, dass unser Leben von einem großen Geheimnis umgeben ist. Wir werden uns dessen gewahr, dass es dieses große Geheimnis gibt. Ergründen können wir es nicht. So ist das Leben wie eine uns von Gott gegebene Gelegenheit, einen Blick zu werfen in sein großes Schöpfungswerk.

Einige nehmen diese Gelegenheit begierig wahr und studieren und studieren und nutzen die Zeit, um das Geheimnis zu erforschen. Andere ergehen sich mehr in Beschaulichkeit und bestaunen schlicht die Wunder der Schöpfung. Es gibt auch andere, die tun so, als wären sie überhaupt die Herren der Welt, als hätten sie das alles geschaffen und als läge auch alles Weitere in ihren Händen. Respekt und Ehrfurcht, geschweige denn Demut, sind nicht ihre Sache. Und das Reden vom großen unergründlichen Geheimnis verletzt ihren Stolz.

Und dann sind da noch diejenigen, die das Leben nehmen, als wäre es die selbstverständlichste Sache der Welt, die die Früchte des Lebens mit Genuss verzehren und erstaunt sind, wenn der Nachschub in Stocken gerät, und erbost sind, wenn ihnen vorenthalten wird, womit sie gerechnet hatten. Unser Leben ist, so möchte ich es sagen, eine Zeit der Offenbarung. Allerdings wird uns die Erkenntnis nicht einfach in den Schoß gelegt. Wer mehr als nur das Oberflächliche wahrnehmen will, der muss schon seine Augen öffnen und die Ohren spitzen und mit Hingabe in dieses Leben eintauchen. Weder dem gleichgültigen noch dem distanzierten Betrachter wird sich das Geheimnis unseres Lebens offenbaren. Gleichgültig und distanziert kann eigentlich niemand bleiben, denn wir sind ja hineingerissen ins Leben und werden gefordert. Aber manche versuchen doch bewusst und gezielt, nicht hinzuschauen und nicht hinzuhören, nicht nachzudenken über das Leben, über die vielen Ungereimtheiten und Probleme des Lebens, sich nicht vereinnahmen zu lassen von den vielen Erscheinungen und sich nicht zu engagieren für die vielen Anforderungen, die an sie herantreten. Manche versuchen zu leben und sich gleichzeitig die Ansprüche des Lebens vom Leibe zu halten.

Warum uns das Leben gegeben ist, diese Gelegenheit für einen Moment hineinzublicken in das Wunderwerk der Schöpfung Gottes, das wissen wir nicht und können es nicht wissen. Wir spüren nur: Es ist ein faszinierendes Angebot und allerdings auch eine wahrhaftig nicht leichte Aufgabe. Zu beidem haben uns die biblischen Texte viel zu sagen. Zum einen: An vielen Stellen in der Bibel wird der Schöpfungswerk Gottes gepriesen. Und wir werden dazu aufgefordert, mit Dankbarkeit in den Lobpreis einzustimmen. Und zum zweiten: Um der schwierigen Aufgabe willen ist uns das Evangelium von Jesus Christus gegeben. Denen, die sich mit dem Auftrag des Lebens überfordert fühlen, stärkt er das Rückgrat durch seinen Zuspruch und seine Zuwendung. Er heilt Kranke, er tröstet Trauernde, er vergibt Schuldigen, er gibt Verzweifelten Hoffnung, er befreit die Gefangenen und bringt allen die frohe Botschaft.

Diejenigen, die die Gelegenheit des Lebens missverstehen und missbrauchen, mahnt er und weist sie zurecht. Er legt die zehn Gebote neu aus und zeigt so Richtlinien für ein sinnvolles und heilsames Leben auf. Für viele Menschen ist Jesus Christus zu einer zweiten Offenbarung geworden. Nachdem sie sich zunächst dessen bewusst geworden waren, dass ihnen eine begrenzte Lebenszeit gegeben und diese von einem großen Geheimnis umgeben ist, haben sie in Jesus Christus denjenigen erkannt, der ihnen hilft, die Chance des Lebens sinnvoll wahrzunehmen und die schwierige Aufgabe zum eigenen und zum gemeinsamen Wohl und zum Lobpreis Gottes frohgemut und zuversichtlich zu bewältigen.

Es ist immer wieder gefragt worden: „Warum gerade Jesus Christus? Woher können wir die Gewissheit nehmen, dass er einen göttlichen Auftrag erfüllt und uns an das Geheimnis Gottes heranführt?“ Nun, wer sich dem offenen Herzens aussetzt, was Jesus Christus gesagt und getan hat, der wird das Göttliche an ihm spüren. Für viele ist es zu einer Gewissheit geworden, dass er wie kein anderer uns hilft, dieses Leben zu bestehen, es wertzuschätzen als eine besondere Gabe und den Schöpfer mit Dank zu ehren und in der Gemeinschaft von Schwachen und Starken die Last der schweren Aufgabe zu tragen. Es ist deshalb eine schöne Aufgabe, diesen Jesus Christus immer wieder zu verkündigen und dazu aufzurufen, jeden Tag in seinem Geist zu leben.

Wie das im Einzelnen konkret aussehen kann, darüber mögen wir alle unterschiedliche Vorstellungen haben.

Hinsichtlich der großen gesellschaftlichen Probleme unserer Zeit könnten wir Gott, den Schöpfer und Herrn unserer Geschichte, zum Beispiel dadurch die Ehre zu geben versuchen, dass wir uns in dem nun beginnenden Jahr noch bewusster und gezielter bemühen, mit der uns anvertrauten Schöpfung verantwortungsvoll umzugehen, Luft und Wasser und Boden rein zu halten, mit Energie und Chemikalien sparsam umzugehen. Wir könnten mit den uns gegebenen Mitteln versuchen, den Prozess der Versöhnung zwischen den Völkern zu fördern, aber auch im Kleinen Frieden zu üben. Wir könnten uns bemühen, stets auf der Seite des Schwachen zu stehen, für seine Rechte auf Leben und Gesundheit, Brot und Obdach, Recht und Respekt einzutreten, wie es dem Geist und Auftrag Jesu Christi entspricht. Wir werden vielleicht nicht die Welt verbessern. Wenn es einmal so kommen sollte, wäre es ein Geschenk des Himmels. Aber wir haben einen Auftrag. Ihn ernst zu nehmen und anzunehmen, kann unser Dank sein für das Geschenk des Lebens, für das Gute, das Gott bis auf diesen Tag an uns getan hat.

Das göttliche Licht wird am Kreuz nicht verlöschen

23. Januar 1983

Letzter Sonntag nach Epiphanias

Johannes 12,34-36

Wir haben heute den letzten Sonntag nach Epiphanias. Der kommende Sonntag ist der 3. Sonntag vor der Passionszeit. Vom Ablauf des Kirchenjahres her befinden wir uns in einer Übergangszeit. Epiphanias, das Fest der Erscheinung Gottes, beginnend mit dem 6. Januar, und die Passionszeit, die Zeit des Leidens Jesu Christi. Das sind vom Charakter her zwei gegensätzliche Abschnitte des Kirchenjahres.

In der Epiphaniaszeit erstrahlt der göttliche Glanz über die Erde. Gott ist Mensch geworden. Der Himmel hat sich zur Erde geneigt. Licht erhellt das Dunkel der Welt. Die liturgische Farbe ist weiß. Mit der göttlichen Menschengestalt Jesus Christus wachsen Freude, Hoffnung, Liebe, Frieden.

Passionszeit, da tut sich wieder der Abgrund menschlicher Schuld auf. Finsternis bedeckt das Erdreich. Die liturgische Farbe ist violett. Die Macht des Bösen greift nach dem Göttlichen und sucht es zu vernichten. Karfreitag erreicht diese Zeit ihren Höhepunkt. Christus wird am Kreuz zu Tode gebracht.

Um diesen Gegensatz geht es in unserem Predigttext. Und wie wir sehen: Für die jüdische Volksmenge, die sich in Jerusalem zum Fest versammelt hat, handelt es sich nicht nur um einen Gegensatz, sondern um einen Widerspruch: „Wie kann das Göttliche vom Menschlichen vernichtet werden?“ Eine Frage, die in ähnlicher Form von Skeptikern auch heute immer wieder aufgeworfen wird: „Wenn es Gott gibt, wie kann er dann das Böse zulassen? Wenn Gott gegenwärtig ist, warum lässt er dann so viel Leid zu?“ Gott und das Leiden – das beides konnte auch die jüdische Volksmenge nicht zusammenbringen.

Jesus hatte sich selbst als Messias, als Christus bezeichnet, als den gottgesandten Erlöser. Er hatte zugleich angedeutet, dass er den Tod am Kreuz sterben würde. Das passte für seine jüdischen Zuhörer nicht zusammen. Auch wenn Jesus seine Kreuzigung als Erlösung bezeichnete. Für sie war die Kreuzigung eine Erniedrigung. Das konnte sich nicht vertragen mit dem göttlichen Auftrag des Messias, auf den das jüdische Volk schon so lange wartete. Der Messias, der Christus, auf den sie warteten, würde nicht elendig wieder zugrunde gehen, sondern würde das Leiden des jüdischen Volkes endgültig besiegen, der würde ewig bleiben, der würde dauerhaften Frieden bringen. So hatten sie es aus ihrer religiösen Tradition gelernt. Und da stand nun ein Mann vor ihnen, der sich selbst als den Christus ausgab, auf den sie schon so lange warteten, und der dennoch meinte, er würde den Tod am Kreuz sterben.

Jesus begegnet ihrem Unverständnis gleichnishaft. Er spricht in Bildern. Er spricht davon, dass das Licht noch eine kleine Weile bei ihnen bleiben werde. Seine Hörer wissen, und wir wissen, dass er mit dem Licht sich selbst meint. Denn er ist das Licht Gottes, das das Dunkel der Welt erhellt, Epiphanias. Noch eine kleine Weile wird er bei ihnen sein. Wir wissen, dass er damit auf seinen Tod hinweist.

Jesus ruft seine Hörer auf, diesem göttlichen Licht zu folgen, das heißt, ihm nachzugehen, ihn anzuhören, sich ihm anzuvertrauen, an ihn zu glauben. Und er warnt vor dem Irrweg: „Wer im Finstern geht, weiß nicht, wo er hingeht.“

Jesus beantwortet eigentlich nicht ihre Frage, die ja auf eine Klärung des Widerspruchs drängt, auf eine Klärung des Widerspruchs zwischen seinem Anspruch, der Christus, der Erlöser zu sein, und seinem schon in Aussicht genommenen Tod am Kreuz. Er gibt sich ihnen gegenüber so, als wenn dies schon alles seine Richtigkeit habe. Sie möchten sich doch bitte nur darauf einlassen.

Jesus ist in der Tat nicht derjenige, der sich auf Diskussionen einlässt. Wir erleben es an keiner Stelle, dass er sich auf intellektuelle Spielereien einließe. Diskussionen, wie wir sie zu führen gewohnt sind, die einen Gegenstand hin und her wenden, von allen Seiten beleuchten und den Gegenstand dann wieder fallen lassen, wenn die Diskussion beendet ist.

So lässt Jesus nicht mit sich umgehen und nicht mit den Dingen, die ihn betreffen, und nicht mit seinem Auftrag. Er macht sich und seinen Auftrag nicht zum Gegenstand der Diskussion. Er setzt seine göttliche Autorität voraus und hält sie seinem skeptischen Gegenüber einfach vor und fordert ihn zum Glauben auf. Er weiß, dass er mit Beweisen, mit Zeichen wenig ausrichten kann. Der diskutierfreudige Skeptiker wird immer ein Gegenargument finden. Jesus fordert dazu auf, sich auf ihn einzulassen, ihn als den Christus, den Erlöser anzunehmen, sich auf den Widerspruch einzulassen, dass uns in ihm Gott gegenübertritt und er dennoch eines erbärmlichen Todes sterben muss.

Manchmal hilft Diskutieren wirklich nicht, und gerade dann nicht, wenn es um die Frage geht, was ein Mensch uns zu geben hat. Wenn wir in Worte fassen könnten, was uns die Begegnung mit einem Menschen bedeutet, wäre Reden hilfreich. Wenn wir auflisten könnten, was ein Mensch uns zu geben hat, dann könnten wir Erwartung und Erfüllung miteinander vergleichen, und wir könnten am grünen Tisch ein Urteil über ihn fällen.

Das jüdische Volk hatte gemäß der religiösen Tradition konkrete Vorstellungen davon, wie der Messias, der Christus, der göttliche Retter des Volkes, der Heiland, der Erlöser beschaffen sein sollte. Jesus passte nicht in dieses vorgegebene Konzept.

Es ist ein schon von vornherein unangemessenes Unterfangen, einen anderen Menschen mit unseren eigenen Maßstäben messen zu wollen. Um ein Wievielfaches mehr ist es dann unangebracht, gerade Jesus in ein vorgegebenes Konzept einordnen zu wollen?! Ein Mensch ist eine so komplexe Einheit, dass er immer anders ist, als wir denken.

Ein Mensch ist immer eine Überraschung – es kann eine liebsame oder auch eine unliebsame Überraschung sein. Dies erfahren wir aber erst in der lebendigen Begegnung mit dem Menschen. Wir können dies nicht durch Diskussionen herausfinden. Wenn manche Ehen auch wieder in die Brüche gehen, dann liegt dies eben daran, dass sich nicht von vornherein hat klären lassen, wer der andere eigentlich ist. Manches zunächst einleuchtende Merkmal wird uns im Nachhinein rätselhaft, und manches Rätsel löst ich erst im Nachhinein auf.

Wir werden deshalb verstehen, dass Jesus sich auf eine Diskussion über seine Person nicht einlässt. Auf seine Person selbst muss man sich schon einlassen. Dazu fordert er auf. Und das heißt, ihm im Vorwege vertrauen, ihn mit einem großen Vertrauensvorschuss begegnen, das Wagnis eingehen, das eigene Leben nach ihm auszurichten.

Es ist zwar einerseits verständlich, dass es die jüdische Volksmenge als widersinnig ansah, auf einen Verlierer zu setzen. Jemandem zu folgen, der von vornherein zugab, dass er am Kreuz enden würde, musste geradezu selbstmörderisch erscheinen. Wenn derjenige, der sich als Retter ausgab, von den Mächten des Bösen vernichtet werden würde, dann würden seine Anhänger doch mit gleicher Sicherheit in den Untergang hineingerissen!

Wir wissen, dass die Dinge nicht so gradlinig gelaufen sind, wie die Skeptiker sich das vorgestellt hatten. Jesus Christus ist am Kreuz gestorben. Aber es war ein Tod für uns. Es war ein Tod aus Liebe zu den Menschen. Wenn er auch am Kreuz erniedrigt werden sollte, ist der Kreuzestod in Wirklichkeit doch zu einem Triumph über das Böse geworden. Denn das Böse hat die Liebe Gottes zu den Menschen nicht beenden können.

Dass Jesus am Kreuz sagen konnte: „Herr, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“, und dass er später beim letzten Abschied seinen Jüngern zusagte: „Ich bleibe bei euch allezeit bis an der Welt Ende“, dass er mit göttlicher Kraft an uns Menschen festgehalten hat und festhält allen widerstrebenden Kräften zum Trotz: Damit hat er sich als ein ganz anderer Christus erwiesen, als die jüdische Volksmenge es erwartet hatte. Das Göttliche und das Leiden sind in seiner Person eine heilsame Verbindung eingegangen, eine Verbindung zu unserem Heil.

Heilung und Heil

13. Februar 1983

Estomihi

(Sonntag vor der Passionszeit)

Lukas 18,31-43

Mich hat zuerst gewundert, dass der Predigttext zwei so ganz verschiedene Situationen zusammenfasst: Das eine Ereignis trägt sich bei Jerusalem zu, das andere bei Jericho. Es ist nicht nur die räumliche Entfernung, die beide Schilderungen voneinander trennt. Auch was da berichtet wird, scheint auf den ersten Blick gar nicht so recht zusammenzupassen. Nicht wenige Prediger konzentrieren sich deshalb auf jeweils nur den einen Teil des Textes und lassen den anderen weg. Mir scheint aber bei weiterem Nachdenken gerade die Kombination beider besonders aussagekräftig.

Zunächst noch einmal die beiden Situationen. Die eine spielt auf dem Weg nach Jerusalem. Jesus nimmt seine Jünger beiseite und teilt ihnen gewissermaßen vertraulich mit, was nun im Folgenden geschehen werde: dass sich nämlich in Jerusalem die Weissagungen der alttestamentlichen Propheten über den Menschensohn erfüllen würden, dass der Menschensohn den Heiden überantwortet würde, dass er verspottet, geschmäht, gegeißelt und schließlich getötet würde – und dass er am dritten Tage auferstehen würde.

Wir wissen, dass Jesus hier sein eigenes, ihm nun bevorstehendes Schicksal beschreibt. Die Jünger verstehen zu diesem Zeitpunkt noch nicht, wovon er redet. Wir können den Jüngern die Schwierigkeit des Verstehens wohl nachempfinden. Denn Ausführungen über die Zukunft, auch wenn sie mit einer solchen Sicherheit vorgetragen werden wie hier durch Jesus, sind immer schwer eingänglich, weil die Anschauung fehlt. Und wenn die Schilderung der künftigen Ereignisse noch dazu negativ ist, wird unser Vorstellungsvermögen zusätzlich behindert; denn die Bedrohungen der Zukunft nehmen wir nicht gern wahr. Wir neigen eher dazu, uns die Zukunft angenehmer vorzustellen, als sie es dann wirklich ist. Selbst wenn die Jünger geahnt haben mögen, dass nun Schlimmes auf ihren Jesus zukommen würde – und damit ja auch auf sie selbst, werden sie diesen Gedanken schnell wieder verdrängt haben.

Die Schwierigkeit zu verstehen, hat aber noch einen anderen Grund. Sie besteht nicht nur darin, dass Jesus von zukünftigen Ereignissen redet, die sich noch keiner so recht vorstellen kann und will. Wenn das das einzige Problem gewesen wäre, dann müssten wir im Nachherein ja verstehen. Wir wissen ja nun, wie es weitergegangen ist. Wir blicken auf die Ereignisse zurück.

Nein, es kommt als zusätzliche Schwierigkeit für das Verstehen hinzu, dass der Sinn der geschilderten Ereignisse gar nicht so leicht zu begreifen ist. Jesus muss leiden, verspottet, gequält, gekreuzigt und schließlich auferweckt werden. Was hat das alles zu bedeuten?

Die Jünger hatten mit Jesus ganz andere Vorstellungen verbunden. Sofern sie in ihm schon den in der religiösen Tradition des Volkes Israel angekündigten Messias, den Christus, den Erlöser sahen, verbanden sie damit konkrete, innerweltliche, politische Vorstellungen: dass er nämlich das Elend ihrer konkreten Lebensumstände beenden würde. Leiden, Kreuzigung und Auferstehung passten nicht zu ihren Erwartungen. Aber auch von diesen Erwartungen abgesehen, bleibt Jesus für sie schwer verständlich – und für uns ebenso.

Es handelt sich hierbei um die Schwierigkeit, ein theologisches Konzept zu verstehen. Um Leiden, Sterben und Auferstehen Jesu begreifen zu können, müssen wir uns einen Begriff davon machen, warum dieser Jesus überhaupt gekommen ist, was er will, warum er so handelt und nicht anders, wie er die Menschen sieht, mit denen er zu tun hat, und welches der Plan Gottes ist, in den Jesus immer wieder sein Tun und Reden einordnet.

Das ist schon alles hohe Theologie. Das ist nicht so leicht zu begreifen. Mir tun die Jünger geradezu leid, denen Jesus auf dem Weg nach Jerusalem so schwere theologische Brocken zu schlucken gibt. Dass sie die nicht verdauen können, ist doch sehr verständlich.

Es ist deshalb geradezu eine Erlösung, dass auf die Episode auf dem Weg nach Jerusalem noch eine andere folgt: die vom Blinden bei Jericho. Denn hier wird es konkret. Hier kann man was erleben, miterleben. Hier kann man was anschauen, beobachten.

Da sitzt ein blinder Mann am Weg und bettelt. Er hört, dass eine Menge Menschen vorbeigehen. Er erkundigt sich, was los ist, hört, dass Jesus von Nazareth da ist. Offenbar hat der blinde Mann von diesem Jesus schon vieles, viel Gutes nämlich, gehört. Er ruft laut hinter ihm her: „Jesus, du Sohn Davids, erbarme dich meiner!“ Einige der Begleiter Jesu fühlen sich durch diesen Zuruf offenbar belästigt. Vielleicht meinten sie auch, sie müssten solche Belästigungen von Jesus fernhalten. Vielleicht meinten sie, er hätte Wichtigeres zu tun: zu reden und zu predigen, statt sich um einen Blinden zu kümmern.

Sie haben sich in Jesus getäuscht. Denn als der Blinde ein zweites Mal ruft, bleibt Jesus stehen und lässt den Blinden zu sich führen. Er fragt ihn, was er von ihm erwarte. Der Blinde sagt: „Herr, dass ich wieder sehen möge.“ Jesus daraufhin zu ihm: „Sei sehend, dein Glaube hat dir geholfen.“ Und tatsächlich wurde der Blinde sehend. Er wurde zu einem Anhänger Jesu. Er pries Gott, und Gleiches tat das Volk, das dies alles miterlebt hatte.

Ich sagte vorhin, dass diese zweite Episode dem Verständnis viel leichter eingänglich sei als die erste, weil sie so anschaulich ist. Dem mag einer entgegenhalten, dass die Wunderheilung auch ein schwerer Brocken und überhaupt nicht leicht verständlich sei. Aber bei dem Thema brauchen wir uns nicht lange aufzuhalten. Wenn uns einer erzählt, er habe eine kleine weiße Pille genommen und davon seien seine Kopfschmerzen innerhalb einer halbe Stunde verschwunden, fragen wir ihn auch nicht, wieso ein so kleines weißes Ding so furchtbar unangenehme Beschwerden im Nu aus der Welt schaffen kann, obwohl das ja eigentlich ein großes Wunder ist.

Nein, uns interessiert das Ergebnis. Da war einer blind, und Jesus hat ihn sehend gemacht. Da hat ein Mensch gelitten und hat Jesus um Hilfe angerufen, und Jesus hat sich seiner erbarmt und hat ihn gesundgemacht. Das ist eine handfeste Sache. Da war einer behindert. Und nun ist er wieder in Ordnung. Und das hat Jesus zustande gebracht. So etwas kann man begreifen. Da hat man gesehen, was war, was geschah und was daraus geworden ist. Die Begeisterung der Menge ist folgerichtig.

Ich könnte deshalb, nebenbei gesagt, etwas neidvoll auf die Ärzte blicken. Denn der Sinn und Zweck ihrer Arbeit ist nachprüfbar. Sie können feststellbare Ergebnisse vorweisen. Wenn einer krank war und durch ärztliche Hilfe gesund geworden ist, dann sieht man, was der Arzt getan hat. Das ist bei einem Pastor nicht so. Die Verkündigung, die wir betreiben, führt kaum zu messbaren Erfolgen. Wenn einer versuchen wollte, die Ergebnisse der Verkündigung zu messen, z. B. durch Besucherzahlen bei Gottesdiensten, durch Meinungsumfragen usw., erschiene das eher unangemessen.

Wenn Außenstehende gefragt werden: „Wozu ist die Kirche gut?“, nennen sie gern die sozialen Aufgaben, die die Kirche wahrnimmt. Da wird etwas Handfestes getan. Wenn die Kirche ein Blindenheim unterhält, findet das die Anerkennung der Bevölkerung. Solche generelle Anerkennung ist für Gottesdienste z. B. nicht festzustellen. Würde die Kirche aber nur soziale Aufgaben wahrnehmen, wäre sie am Ende nicht mehr Kirche. Deshalb unterscheiden wir auch ausdrücklich Sozialarbeit und Diakonie. Diakonie ist nicht nur die Sozialarbeit der Kirche. Diakonie ist Sozialarbeit plus christliche Verkündigung. Dieser Zusammenhang wird durch den heutigen Predigttext hergestellt.

Das, was wir in der zweiten Episode erleben, ist, so könnten wir auf den ersten Blick sagen, ein Stück Sozialarbeit (wenn wir einmal von der Wunderheilung absehen). Aber damit ist noch nicht alles gesagt. Denn wir wissen ja, wer Jesus ist: dass er sein mitmenschliches Handeln in einem größeren Zusammenhang gesehen hat. Er hat sich dem Mitmenschen aus einer großen göttlichen Liebe heraus zugewandt.

Für Jesus sind wir als Menschen erbarmungswürdige Geschöpfe. Nicht nur in der Hinsicht, dass einige von uns im körperlichen Sinne auf beiden Augen blind sind. Es gibt viele Formen der Blindheit. Sie können z. B. mit unserer Eigensucht und Eitelkeit und Selbstgerechtigkeit zu tun haben. Auch um solcher Blindheit willen ist Jesus gekommen. Nicht nur Heilung will er uns bringen, Heilung von einer Krankheit, wie sie in unserer zweiten Episode geschildert ist. Er bringt uns auch das Heil, das Heil für unser ganzes Sein als Menschen und für unser Sein als ganzer Mensch.

Um uns dieses Heil zu bringen, ist der Weg vonnöten, den Jesus im ersten Abschnitt ankündigt: das Mitleiden, das Sterben für uns und sein Auferstehen in die immerwährende Gegenwart seiner Liebe.

Davon dürfen wir nicht ablassen: dass in unserer kirchlichen Diakonie beides stets ineinander verwoben bleibt: die Sorge um die einzelnen ganz konkreten Nöte der Menschen – die Heilung, und die Hinwendung zum ganzen Menschen, das Heil. Für beides ist Jesus Christus gekommen.

Jeremia und Jesus – Verantwortung und Liebe

6. März 1983

Okuli

(3. Sonntag der Passionszeit)

Jeremia 20,7-11

Jeremia war ein einsamer Mann. Er sah ein furchtbares Schicksal auf sein Volk zukommen. Er mahnte und warnte. Doch niemand wollte auf ihn hören. Spott und Hohn musste er stattdessen ertragen. Seine besten Freunde wandten sich von ihm ab. Und Jeremia wurde verbittert. Er verfluchte den Tag seiner Geburt: „Wäre ich doch im Mutterleib gestorben, dann müsste ich nicht solche Tage der Schmach erleben.“ Und er geht hart ins Gericht mit Gott, der ihn in früher Jugend zum Propheten berufen hatte: „Vergewaltigt hast du mich! Aufgezwungen hast du mir eine Aufgabe, die ich nicht wollte, eine Last, die ich nicht tragen kann!“

Jeremia sieht sich aufgerieben zwischen dem Auftrag Gottes und dem Gespött und den Nachstellungen der Öffentlichkeit und seiner Freunde. Beides will er nicht mehr. Er kann den Druck nicht mehr ertragen. Er möchte sich von seiner Berufung lösen, sein Prophetenamt vergessen, nichts mehr hören und sehen und nicht mehr reden müssen.