Das Ja zum Leben und zum Menschen, Band 5 - Wolfgang Nein - E-Book

Das Ja zum Leben und zum Menschen, Band 5 E-Book

Wolfgang Nein

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Beschreibung

Manchmal erscheint uns das Leben wie ein Irrgarten. Wir würden gern den Weg hinaus in die Freiheit finden. Das Leben kann für uns auch wie ein Labyrinth sein. Auf den verschlungenen Pfaden suchen wir den Weg in die Mitte, den Ort, wo wir zur Ruhe kommen können, wo sich für uns Wesentliches von Unwesentlichem unterscheidet, wo wir mit uns selbst und unserem Sein eins werden können. Die Predigten dieses Buches begleiten uns bei der Suche in beide Richtungen.

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Die Evangelisten im Gespräch miteinander

7. Januar 2001

1. Sonntag nach Epiphanias

Johannes 1,29-34

Reden in Bildern: Licht und Dunkelheit

4. Februar 2001

Letzter Sonntag nach Epiphanias

Johannes 12,34-36(37-41)

„Solange es die Kirche noch gibt“

18. Februar 2001

Sexagesimae

(2. Sonntag vor der Passionszeit)

Jesaja 55,6-11

Durchgeistigte Nahrung

25. März 2001

Laetare

(4. Sonntag der Passionszeit)

Johannes 6,47-51

Mit dem Herzen sehen

13. April 2001

Karfreitag

Matthäus 27,33-50

Jesus ist als Christus auferstanden

15. April 2001

Osterfrühgottesdienst

Markus 16,6

„Abel, steh auf!“

16. April 2001

Ostermontag

Johannes 3,17

Petrus – tief gefallen und hoch aufgerichtet

29. April 2001

Misericordias Domini

(2. Sonntag nach Ostern)

Johannes 21,15-19

Ein persönliches Verhältnis zum Dasein

20. Mai 2001

Rogate

(5. Sonntag nach Ostern)

Matthäus 6,7-13

Auf dem Weg zum mündigen Glauben

27. Mai 2001

Exaudi

(6. Sonntag nach Ostern)

Johannes 14,15-19

Wenn der Geist leibhaftig wird

4. Juni 2001

Pfingstmontag

Johannes 4,19-26

Segen für den Lebensweg

10. Juni 2001

Trinitatis

Goldene Konfirmation

4. Mose 6,22-27

„Lebensmittel“ umsonst anbieten

24. Juni 2001

2. Sonntag nach Trinitatis

Partnerschaft St. Markus – Uyole, Tansania

Jesaja 55,1-3b

Recht, Gesetz und Selbstgerechtigkeit

8. Juli 2001

4. Sonntag nach Trinitatis

Johannes 8,3-11

Wir brauchen den Halt

22. Juli 2001

6. Sonntag nach Trinitatis

Jesaja 43,1-7

Aus wenig kann sehr viel werden

29. Juli 2001

7. Sonntag nach Trinitatis

Lukas 9,10-17

„11. September 2001“

16. September 2001

14. Sonntag nach Trinitatis

Römer 12,21

Das Konzept unseres Lebens

7. Oktober 2001

17. Sonntag nach Trinitatis

Johannes 9,35-41

Ethik für den Frieden

14. Oktober 2001

18. Sonntag nach Trinitatis

2. Mose 20,1-17

„Es tut mir von Herzen leid!“

4. November 2001

Zum Reformationstag

Johannes 15,9-15

Einander die Tränen abwischen

25. November 2001

Totensonntag

Offenbarung 21,4

In jener Nacht, fast unbemerkt

24. Dezember 2001

Heiligabend

Lukas 2,7

Zwei Kalender

31. Dezember 2001

Altjahrsabend

Hebräer 13,8-9b

Hoffnung hilft

13. Januar 2002

1. Sonntag nach Epiphanias

Jesaja 42,1-4

Glaubwürdig den Glauben weitergeben

20. Januar 2002

Letzter Sonntag nach Epiphanias

2. Petrus 1,16-19(20-21)

Wir sind Sünder und Heilige zugleich

10. Februar 2002

Estomihi

(Sonntag vor der Passionszeit)

Jesaja 58,1-9a

Aus Gutem kann Böses werden

24. Februar 2002

Reminiscere

(2. Sonntag der Passionszeit)

Film „Intolerance“

Jesaja 2,4

Einladung – nicht nur für Freunde

28. März 2002

Gründonnerstag

Markus 14,17-24

Er hilft uns zu leben

31. März 2002

Osterfrühgottesdienst

Johannes 3,16

Nicht Rache, sondern Versöhnung

1. April 2002

Ostermontag

Apostelgeschichte 10,34a.36-43

Im Schmerz der Trennung nicht versinken

12. Mai 2002

Exaudi

(6. Sonntag nach Ostern)

Römer 8,26-30

Die reale Kraft des Geistes

20. Mai 2002

Pfingstmontag

Apostelgeschichte 2,22-23.32-33.36-39

Überfordert – Gott ist barmherzig

2. Juni 2002

1. Sonntag nach Trinitatis

5. Mose 6,4-9

Das Böse im Menschen

30. Juni 2002

5. Sonntag nach Trinitatis

2. Thessalonicher 3,1-5

Wie viel sind wir wert?

28. Juli 2002

9. Sonntag nach Trinitatis

1. Petrus 4,7-11

Geschichte auslegen – in gegenseitigem Respekt

4. August 2002

10. Sonntag nach Trinitatis

Römer 11,25-32

Auch „nur“ ein Mensch!

11. August 2002

11. Sonntag nach Trinitatis

2. Samuel,1-10.13-15a

Schluss mit dem Sündenbock!

15. September 2002

16. Sonntag nach Trinitatis

Erinnerung an den 11. September

Hebräer 10,35-36(37-38)39

Christliche Lebensführung?!

29. September 2002

18. Sonntag nach Trinitatis

Epheser 5,15-21

„Lebendige Steine“

27. Oktober 2002

22. Sonntag nach Trinitatis

Dank an die Ehrenamtlichen

1. Petrus 2,5

Christ und Bürger

3. November 2002

23. Sonntag nach Trinitatis

Kandidaten für den Kirchenvorstand stellen sich vor

Matthäus 22,21b

Die Mitte der Nacht – Anfang eines neuen Tages

24. November 2002

Totensonntag

2. Petrus 3,8-13

Die Hölle – Vorhof des Himmels?

8. Dezember 2002

2. Advent

Lukas 21,25-33

Warten mit Hoffnung

15. Dezember 2002

3. Advent

Matthäus 11,2-6

Die Sehnsucht nach Frieden bleibt

24. Dezember 2002

Heiligabend, 18 Uhr

Lukas 2,14

Gute Vorsätze: Ehrlichkeit, Gelassenheit, Mut

31. Dezember 2002

Altjahrsabend

Lukas 12,35-40

Bibelstellen

Vorwort

Welche Überlegungen sind in der Gestaltung des Buchcovers dieser Reihe zum Ausdruck gebracht?

Den Hintergrund bildet der Himmel. Er dient als Bild für die

unermessliche Weite des Universums, für die Ewigkeit, für die Transzendenz, für das Göttliche, für das Theologische, auch für die Unbegreiflichkeit des menschlichen Seins. Die Wolken deuten zum einen Probleme an; es scheint nicht jeden Tag die Sonne. Sie geben zum anderen den Augen und den Gedanken und Gefühlen Halt. Sie stellen damit einen gewissen Schutz dar gegenüber dem Unendlichen und Unfassbaren.

Das Kirchengebäude steht für den irdischen Ort, an dem die Transzendenz, das Göttliche, das Theologische bedacht, besprochen, gefeiert wird.

Das Kirchengebäude – es handelt sich um St. Markus in Hamburg-Hoheluft - steht zugleich für die Kirchengemeinde, während das wechselnde Bild unten auf dem Cover einen Einblick in den Stadtteil gibt, der sich im Wesentlichen mit dem Gebiet der Kirchengemeinde deckt. Die Menschen, die in diese Kirche kommen, sind vor allem die Menschen, die in diesem Stadtteil wohnen.

Das Cover beinhaltet insofern auch eine kirchenpolitische Aussage. In einer Zeit, in der Kirchengemeinden aus wirtschaftlichen Gründen zu Regionen zusammengelegt und Kirchengebäude geschlossen, umgenutzt und abgerissen werden, hat St. Markus Wert darauf gelegt, die Kirche und die Gemeinde – als Einzelgemeinde - für den Stadtteil Hoheluft zu bleiben.

St. Markus ist als kirchliche Heimat für all die Menschen erhalten geblieben, die hier getauft, konfirmiert, getraut worden sind, die hier an Trauerfeiern teilgenommen haben, die hier als Kinder, als Jugendliche, als Erwachsene zusammengekommen sind, um hier zu spielen, zu lernen, zu feiern, sich zu besinnen, zu helfen und sich helfen zu lassen.

In einer Zeit der sich beschleunigenden Veränderungen hat St. Markus das gewisse Maß an Kontinuität bewahrt, das Menschen gerade an Kirche zu schätzen wissen. So reizvoll einerseits das Neue sein kann – mit all den Modernisierungen und all dem Fortschritt -, so wichtig ist andererseits das Bleibende, das Zeitlose, das Vertraute, das Verlässliche.

In einer Zeit, in der es zunehmend schwieriger wird, sich zu orientieren, ist ein Ort der Ruhe und Konzentration und Besinnung auf das Wesentliche unseres Lebens um so wichtiger.

Die technischen Entwicklungen haben manches erleichtert. Trotzdem ist vieles komplizierter und unübersichtlicher und unpersönlicher geworden.

Trotz technischer Orientierungshilfen erscheint uns das Leben selbst manchmal wie ein Irrgarten. Wir würden gern den Weg hinaus in die Freiheit finden und uns dort selbstbestimmt an sinnvollen Zielen orientieren. Das Leben kann für uns auch wie ein Labyrinth sein. Auf den verschlungenen Pfaden suchen wir den Weg in die Mitte, den Ort, wo wir zur Ruhe kommen können, wo sich für uns Wesentliches von Unwesentlichem unterscheidet, wo wir mit uns selbst und unserem Sein eins werden können. Die Predigten dieses Buches begleiten uns bei der Suche in beide Richtungen.

Es sind auch in dieser Ausgabe wieder alle Predigten, die ich in den zwei Jahren gehalten habe. Viel Freude beim Lesen!

Wolfgang Nein, Oktober 2016

Die Evangelisten im Gespräch miteinander

7. Januar 2001

1. Sonntag nach Epiphanias

Johannes 1,29-34

Wenn der Evangelist Johannes hier heute bei uns im Gottesdienst wäre, dann würde er sich sicherlich freuen - darüber nämlich, dass immer noch aus seinem Evangelium vorgelesen wird - nach immerhin fast zweitausend Jahren. Johannes hatte ja durchaus vorgehabt, den nachfolgenden Generationen etwas weiterzusagen über denjenigen, der einige Jahrzehnte zuvor die Herzen etlicher Menschen so sehr bewegt hatte.

Johannes, wenn er denn jetzt hier bei uns wäre, würde sich vielleicht aber auch etwas verwundert fragen, was das wohl auf sich habe mit dem Stroh auf dem Boden - vielleicht haben Sie das bemerkt. Da liegen noch einige Reste von gestern herum, Stroh aus dem Stall von Bethlehem. Die mazedonisch-orthodoxen Christen haben hier gestern, am 6. Januar, ihren Heiligen Abend gefeiert.

Johannes würde sich über diese Strohreste wundern, weil ihm das gar nicht geläufig war mit dem Stall von Bethlehem. Um so mehr würde sich der Evangelist Lukas freuen, wenn denn auch er hier heute bei uns wäre. Lukas würde sich freuen, dass seine Weihnachtsgeschichte am 24. Dezember wieder bei uns gelesen und aufgeführt worden ist und dass sie auch gestern wieder zur Sprache und zur Darstellung gekommen ist.

Und es würde ihn sicherlich auch erfreuen, dass seine Weihnachtsgeschichte hier unten in dieser wunderbaren Weise aufgebaut worden ist. Er würde uns dann allerdings fragen: „Was sind denn das hier für drei Gestalten, diese würdevollen Herren?“ Und Johannes würde sich seiner erstaunten Frage anschließen: „Ja, wer sind die denn, diese drei?“

Das könnte den beiden dann wiederum der Evangelist Matthäus erklären, wenn er denn jetzt hier wäre. Der hätte seine wahre Freude an diesen drei so kunstvoll modellierten Gestalten. Ein wenig wundern würde er sich allerdings auch. Drei Weise, drei Sterndeuter hatte er in seiner Geschichte von der Geburt Jesu auftreten lassen. Und diese hier unten, die sehen ja fast aus wie Könige.

Und wenn jetzt noch einer aus dem Hintergrund rufen würde: „Und ich, wo komme ich denn vor - hier heute in dieser Kirche?“ Dann wäre dieser Vierte wohl der Evangelist Markus. Matthäus und Lukas würden ihn vielleicht zu sich rufen und ihm sagen: „Markus, nicht traurig sein. Du bist hier beständig gegenwärtig. Du hast dieser Kirche immerhin den Namen gegeben. Außerdem - vielleicht tröstet dich das - haben wir beide aus deinem Evangelium reichlich abgeschrieben. Nur was die Geburt Jesu anbetrifft, da haben wir bei dir nichts gefunden.

Wenn so alle vier Evangelisten hier versammelt wären und wir ihnen zuhören könnten, wie sie sich nun unterhalten würden über das, was hier zu sehen und zu hören ist, dann würden wir merken: Sie hätten untereinander einigen Klärungsbedarf, und sie würden sich wohl gegenseitig einige Fragen stellen.

„Was habt ihr euch da bloß alles ausgedacht?!“, würde vielleicht Markus den Lukas und den Matthäus fragen - mit Blick auf deren Geburtsgeschichten. Markus hat, wie gesagt, über die Geburt und die Kindheit Jesu gar nichts geschrieben.

„Das haben wir uns nicht ausgedacht“, würden Lukas und Matthäus wohl antworten. „Das ist uns erzählt worden.“ Die vier würden sich vielleicht gegenseitig berichten, wo sie welche Geschichten gehört und gelesen hatten und warum sie sie nun gerade so und nicht anders zusammengestellt haben.

In einem Punkt wären die vier sich wohl einig: Aufgeschrieben werden musste das damals. Denn dieser Jesu von Nazareth, der hatte viele Menschen bewegt. Der war kein gewöhnlicher Mensch gewesen. Der hatte etwas Göttliches an sich gehabt. Er war gut gewesen, sehr gut, eigentlich zu gut für diese Welt und zu gut, als dass er allein von dieser Welt hätte gewesen sein können.

Über ihn musste einfach weiterberichtet werden. Es hatten sich ja inzwischen Gemeinschaften gebildet, die im Geiste Jesu weitermachen wollten. Und da gab es immer wieder neue Interessierte. Was sollte man denen sagen und wie? Da musste einfach eine Grundlage der Information und der Lehre geschaffen werden.

Und eine solche Grundlage haben die vier Evangelisten - jeder auf seine Art - zu legen versucht. Markus als erster. Und das würden - vor allem Lukas und Matthäus - auch in aller Bescheidenheit zugeben: „Wir haben vieles von dir abgeschrieben. Aber was die Geburtsgeschichte angeht, da haben wir eigenes Material hinzugefügt.“

Und Lukas würde dann vielleicht darlegen, wie er auf diese schöne Weihnachtsgeschichte gestoßen ist, die wir hier in der Kirche zu Weihnachten lesen und aufführen, und warum er sie so aufgeschrieben hat, wie sie uns jetzt vorliegt.

„Gott ist in den Schwachen mächtig“, würde vielleicht Lukas sagen. Und er würde erklären, was er meint: „Gott ist allmächtig, wird immer gesagt. Das ist ja richtig, das sieht man an all dem Großartigen, das er geschaffen hat. Gott begegnet uns aber auch in der schwachen Kreatur, auch in der armseligen, kranken, geschundenen, abgewiesenen, unansehnlichen Kreatur. Der römische Kaiser z. B. war zwar mächtig und er konnte auf seine Art mit seinen Soldaten in seinem großen Reich für Frieden sorgen“, würde Lukas hinzufügen. „Ich wollte aber klar machen, dass von einem Kind armer Eltern aus der Provinz eine noch viel größere Macht ausgehen kann - eine Macht ohne Soldaten und ein anderer Frieden, nämlich der im Herzen und von da aus dann vielleicht auch der in der Welt.“

Ich will das jetzt nicht weiterspinnen. Aber es wäre mal interessant, die vier Evangelisten in einem Gespräch miteinander zu erleben. Das müssten wir eigentlich mal inszenieren. Da könnte nämlich sehr anschaulich werden, dass wir mit den vier Evangelien, die natürlich eine gemeinsame Basis haben - dass wir mit den vier Evangelien zugleich vier durchaus unterschiedliche Interpretationen dessen vorliegen haben, wer und was und wie jener Jesus von Nazareth eigentlich war und was er uns zu geben hat.

Und das Neue Testament bietet uns noch mehr Ausleger mit weiteren Konzepten. Wir haben vorhin noch einen Text von Paulus gehört. Der hatte auch noch seine eigene Interpretation.

Es ist schon ganz gut, gerade jetzt, wo wir kirchenjahreszeitlich wieder am Beginn des Auftretens Jesu stehen, uns noch einmal ein paar grundsätzliche Gedanken zu machen. Gestern - am 6. Januar - hatten wir das Fest des Erscheinung, „Epiphanias“. „Wie hat es mit Jesus angefangen?“, ist die Frage. „Wie ist es weitergegangen, was ist daraus geworden?“

Weitergegangen ist es jedenfalls bis heute, inzwischen also 2000 Jahre, das ist schon erstaunlich. Da muss doch etwas Wichtiges und Grundlegendes durch diese Person Jesus von Nazareth geschehen sein. Das haben etliche Menschen damals so empfunden, und darum haben einige sich ja auch die Mühe gemacht, darüber einiges aufzuschreiben.

Aber deren Texte sind manchmal gar nicht so leicht zu verstehen, denn ihre Sprache, ihre Bilder stammen aus einer anderen Zeit und Kultur. Wenn wir den Predigttext von heute, von Johannes z. B. nehmen: Da sagt Johannes mit Blick auf Jesus: „Siehe, das ist Gottes Lamm, das die Sünde der Welt trägt.“ Und er sagt über Jesus weiter: „Dieser ist Gottes Sohn.“

Hinter diesen formelhaften Kurzbeschreibungen dessen, wer und was Jesus ist, steckt bereits sehr viel Geschichte des Volkes Israel. Das kann uns das Verständnis erschweren. Es steckt hinter diesen formelhaften Beschreibungen aber auch allgemein Menschliches, was uns ganz nah und gegenwärtig ist.

„Dieser ist Gottes Sohn“ - mit dieser Formel wurden im Alten Israel Könige eingesetzt. Ihnen wurde damit eine hohe Würde und Autorität verliehen. Auch Jesus haben Menschen wie einen König empfunden, allerdings nicht als einen politischen König, sondern als einen König des Herzens. Sie waren bereit, ihn hier drinnen regieren zu lassen. Die Evangelisten haben die Bilder des Alten Testaments übernommen, um auch Jesus als König einzusetzen und so seine göttliche Würde und Autorität zum Ausdruck zu bringen. Diese Einsetzung Jesu als königlicher „Sohn Gottes“ erfolgt im Neuen Testament in der Taufe.

Es ist schon erstaunlich, was da geschrieben ist. Johannes und die anderen Evangelisten verfassten ihre Texte ja, nachdem Jesus schon längst den Kreuzestod gestorben war - allerdings auch zu einem Zeitpunkt, als schon klar war, dass die Sache Jesu durch den Tod am Kreuz nicht hatte zunichte gemacht werden können. Jesus lebte für sie auf andere Weise weiter und übte einen großen Einfluss auf sie aus. Für sie galt das Wort Jesu mehr als das Wort des politischen Königs.

Für sie war Jesus der größere König - trotz des schmählichen Todes am Kreuz. Von daher hielten es die Evangelisten für angemessen, Jesus in der Taufe wie einen alttestamentlichen König als „Sohn Gottes“ einzusetzen. Zum Zeitpunkt seiner Taufe durch Johannes war Jesus bereits ein ausgewachsener Mann. Er stand unmittelbar am Beginn seines Wirkens.

Die Evangelisten Lukas und Matthäus verlegen die feierliche Verleihung der göttlichen Würde an Jesus schon weit nach vorn, schon bis in die Zeit vor der Geburt. Bei Lukas lässt der Engel Maria verkünden: „Du wirst einen Sohn gebären. Und der wird Gottes Sohn genannt werden.“

Wenn wir heutzutage taufen, eben auch Kleinkinder taufen, dann bringen wir auch damit zum Ausdruck: Auch dieses Kind ist ein Kind Gottes, ein Sohn Gottes oder eine Tochter Gottes. Die Taufe bringt zum Ausdruck, dass jedes Kind eine göttliche Würde besitzt. In jedem Kind - und in der Folge in jedem erwachsenen Menschen - begegnet uns Gott selbst und spricht uns an - nicht als der Allmächtige, sondern als derjenige, der auch in den Schwachen mächtig ist, in der zarten, gefährdeten, zerbrechlichen Kreatur.

Mit dem Neuen Testament ist unser Gottesbild erweitert um eine außerordentlich bedeutsame Variante. „Gott als allmächtiger Herrscher“ zum einen und „Gott als Kind“ zum anderen - diese beiden Bilder lassen sich nicht auf einen Nenner bringen. Aber sie sind zwei - zugegebenermaßen menschliche - Versuche, etwas von der unfassbaren Größe Gottes, und das heißt von dem unfassbaren Geheimnis unseres Daseins in Worte und Bilder zu fassen.

Das Geheimnis Gottes wird für uns wohl unergründlich bleiben. Mögen die Bilder der biblischen Autoren uns dennoch helfen, unser wundersames Dasein hier auf Erden mit Dankbarkeit und Freude anzunehmen und in Respekt und Würde zu gestalten.

Reden in Bildern: Licht und Dunkelheit

4. Februar 2001

Letzter Sonntag nach Epiphanias

Johannes 12,34-36(37-41)

Die biblischen Texte sprechen in Bildern. Der Evangelist Johannes verwendet gern die Bilder „Licht“ und „Dunkelheit“.

Licht und Dunkelheit sind starke Mächte. Uns wird das im täglichen Leben heute nicht mehr so sehr bewusst wie den Menschen früherer Zeiten. Wenn es dunkel wird, drücken wir auf einen Knopf, und es ist wieder hell. Das war in früheren Zeiten, und ganz gewiss zur Zeit Jesu, anders. Das Leben spielte sich im Wesentlichen zwischen der Morgendämmerung und der Abenddämmerung ab. In der Nacht war nicht mehr viel auszurichten. Denn das Licht einer kleinen Öllampe oder Kerze oder das Licht des Feuers gab nur einen sehr begrenzten Schein.

Um handeln zu können, brauchen wir Licht. Ohne Licht können wir uns nicht orientieren. Ein wenig davon spüren wir trotz aller technischen Hilfsmittel noch heute, besonders z. B. wenn sich irgendwo wieder eine Katastrophe ereignet hat, wie z. B. das Erdbeben in Indien. Mit Einbruch der Dunkelheit mussten die Rettungsmannschaften ihre Suche aufgeben. Das Licht des Tages war Voraussetzung für die Lebensrettung. Die hellen Stunden des Tages mussten genutzt werden. Die Zeit der Rettung war begrenzt. Die Mahnung aus dem Predigttext können wir in diesem Zusammenhang wörtlich nehmen: Handelt, solange ihr noch Licht habt. In der Finsternis seht ihr nicht mehr, wo es langgeht.

In unserem Predigtabschnitt vergleicht sich Jesus mit dem Licht. Er hat an anderer Stelle einmal direkt gesagt: „Ich bin das Licht.“ Und er sagt hier: Ich bin nur eine begrenzte Zeit bei euch. Das Licht, womit er also sich selbst meint, ist nur noch eine kurze Zeit bei euch. Darum nutzt die Zeit, bevor ich wieder davon bin, bevor es wieder dunkel wird, sonst werdet ihr bald wieder ohne Orientierung sein.

Auch hierfür könnten wir Beispiele aus unserem heutigen Leben finden: dass ein Mensch wie Licht ist, das uns erkennen lässt, wo es langgeht. Der betreffende Mensch müsste übrigens gar keine große Leuchte sein, und der müsste auch niemand sein, der einem den Weg vorschreibt. Es könnte ein ganz schlichter und einfacher Mensch sein, dem wir aber in Liebe verbunden sind. Ich sage das jetzt mal etwas salopp und schmalzig: Als er sie kennenlernte, wusste er, wo es langgeht. Da bekam sein Leben Ordnung und eine Richtung und ein Ziel. Er wusste, wozu er da ist, wo er hingehört, was er zu tun hat. Die Jahre der Orientierungslosigkeit waren vorbei, die Zeit des vagabundierenden Umherirrens hatte ein Ende.

Ein Mensch kann in diesem Sinne zum Licht für uns werden. Und wenn dieser Mensch dann nicht mehr da ist, kann das wie der Einbruch der Dunkelheit sein; die Orientierungslosigkeit kann neu einsetzen. Wir werden bewegungsunfähig, weil wir nichts mehr sehen. Alles erscheint dunkel um uns herum.

Auch in diesem Zusammenhang gilt die Mahnung: Nutzt die Zeit. Die Zeit, in der wir einen Menschen haben, der für uns wie das Licht ist, mit dem wir also in Zuneigung und Liebe verbunden sind, durch den wir Sinn und Richtung und Ziel unseres Lebens erfahren - diese Zeit ist nicht endlos, sie ist begrenzt, wenn wir die Grenze auch nicht kennen. Jeden Tag nutzen, keinen Tag des Glücks, keinen Augenblick als Selbstverständlichkeit hinnehmen.

Und noch eines ist hier im Zusammenhang mit unserem Predigttext zu sagen: Dass uns ein Mensch zum Licht wird, das ist keine Frage des Argumentierens, des Beweisens, das ist vielmehr eine Frage der Beziehung. Da ist viel Unverfügbares im Spiel. Es hängt aber auch viel davon ab, wie sehr ich mich auf den anderen einzulassen bereit bin, wie sehr ich ihm zubillige, eine Rolle in meinem Leben zu spielen, wie sehr ich ihm vertraue, mich ihm anvertraue, ihn ernst nehme, ihm glaube und an ihn glaube. „Glaubt an das Licht, solange ihr es habt“, sagt Jesus und meint die Beziehung seiner Gesprächspartner zu ihm selbst. Auf unsere zwischenmenschlichen Beziehungen bezogen heißt das doch - ich sage es noch einmal: Schenken wir einander Vertrauen, nehmen wir einander an, lassen wir uns gegenseitig etwas sagen und schenken, dann können wir wie Licht füreinander sein.

Jesus Christus war wie ein Lichtblick in der menschlichen Geschichte. Gewiss hatten damals manche mehr von ihm erhofft. Die Zeiten waren nicht gut. Es gab viel politische Unruhe, Unterdrückung der Bevölkerung in Israel durch die Römer und zuvor schon durch viele andere Völker. Die Hoffnung war, dass einer kommen würde, der Ruhe und Frieden brächte im politischen Sinne - und das auf Dauer. Manche hatten solche Hoffnung in Jesus gesetzt. Aber in dieser Hinsicht musste er sie enttäuschen. Das konnte er nicht leisten. Das war nicht sein Auftrag. So verstand er seine Aufgabe nicht.

Er brachte Frieden und Menschlichkeit auf andere Weise - nicht durch Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse, sondern durch die Art seiner Person. Er sah sich nicht dazu berufen - ich sag das mal etwas bildlich -, wie ein Elektriker die Welt mit hellen Lampen zu versehen, also überall Leuchten zu installieren, damit es in unserer dunklen Welt heller würde. Nein, nicht Elektroinstallateur wollte er sein. Er wollte selbst das Licht sein, in seiner Person, durch seine Art des mitmenschlichen Umgangs, durch seine Zuwendung zu den Hilfsbedürftigen, durch seine Worte, durch seine Vergebung, durch seine Liebe zu den Menschen.

Man könnte sagen: Das ist ja wenig. Ein Mensch, sei er noch so gut - was bringt das für die menschliche Geschichte, für die ganze Weltgemeinschaft?! Es hat etwas gebracht - das sehen wir schon daran, dass wir heute hier versammelt sind in seinem Namen - nach 2000 Jahren. Licht - ich nehme das jetzt mal wörtlich - ist eine Energie von enormer Kraft, mit unvorstellbarer Geschwindigkeit - und dabei gar nicht greifbar, nicht anfassbar, eigentlich etwas Unglaubliches, sichtbar nur durch seine Wirkung.

Dieser Mensch damals, dieser Jesus Christus, hatte in der Tat etwas mit dem Licht gemein. Er trug diese enorme Kraft in sich, die seine Umgebung erhellen konnte und die über alle Grenzen von Zeit und Raum hinweg ihre Wirkung entfaltet hat.

Er selbst - das ist wahr, das hat er ja gesagt, und wir haben es erlebt - war als Jesus von Nazareth nur eine begrenzte Zeit gegenwärtig. Aber seine Energie ist nicht verloren gegangen. Sein Licht hat weiter geleuchtet und leuchtet weiter. In Menschen um ihn herum hat er ein Licht angezündet, und von ihnen aus ist der Funke weiter auf andere übergesprungen. So hat sich das Licht in alle Welt und über die Zeiten ausgebreitet.

Jesus Christus war nicht nur ein einmaliger Lichtblick in der menschlichen Geschichte. Er hat viele, unendlich viele weitere Lichtblicke ausgelöst. Wir können uns ganz persönlich fragen: Wo gibt es in unserem Leben solche Erfahrungen, solche Momente, von denen wir sagen können: Das war ein Lichtblick im trüben Alltag!? Wenn wir solche Momente entdecken, handelt es sich dabei dann nicht vielleicht auch um Erfahrungen der Menschlichkeit, der Freundlichkeit, der Geduld, des Verzeihens, der tätigen Hilfe, der Liebe?

Wir haben heute den letzten Sonntag nach Epiphanias, den letzten Sonntag nach der Erscheinung Jesu Christi. Damit wird der Weihnachtskreis abgeschlossen, der Zeitabschnitt im Verlaufe des Kirchenjahres also, der im Zeichen der Geburt Jesu Christi steht, oder anders gesagt: im Zeichen der Erscheinung Gottes in dieser menschlichen Gestalt. Die nächsten Sonntage werden schon gezählt als Sonntage vor der Passionszeit. Während wir also heute noch zurückblicken auf die Geburt Jesu, blicken wir dann schon voraus auf das Ende, auf die Zeit seines Leidens und seines Todes. Geburt und Tod, Licht und Dunkelheit, Freud und Leid, Gesundheit und Krankheit, Frieden und Unfrieden, Liebe und Hass liegen nahe beieinander.

Wir können das Gute nicht auf ewig festhalten. Aber wir können es immerhin wahrnehmen und würdigen und mit Dankbarkeit annehmen und das Unsre tun, damit es weiterwirke. „Es ist das Licht noch eine kleine Zeit bei euch“, sagt Jesus von sich. „Glaubt an das Licht, solange ihr’s habt, auf dass ihr Kinder des Lichts werdet.“

Da ist ein Auftrag an uns formuliert. Auch wir sollen - ich sage das noch einmal mit einem Bild - nicht Elektroinstallateure werden, die irgendwo irgendwelche Leuchtkörper aufhängen, damit es heller werde in unserer oft so trüben Welt. Nein, auch wir sollen selbst leuchten, Kinder des Lichts sollen wir werden. Wir sollen selbst Menschlichkeit ausstrahlen, Geborgenheit, Freundlichkeit und Frieden, Ermutigung und Hoffnung. Große Leuchten werden wir vielleicht alle nicht sein können, aber auch viele kleine Lichter können die Welt erhellen.

Gott sei’s gedankt, dass er uns Jesus Christus geschenkt hat als das Licht der Welt. Sein Licht möge weiterleuchten durch alle, die an ihn glauben.

„Solange es die Kirche noch gibt“

18. Februar 2001

Sexagesimae

(2. Sonntag vor der Passionszeit)

Jesaja 55,6-11

„Sucht Gott, solange er zu finden ist; ruft ihn an, solange er nahe ist.“ Ich könnte hinzufügen: „Geht in die Kirche, solange noch eine in eurer Nähe steht.“

Dieses „Solange“ klingt ziemlich dramatisch, fast wie eine Drohung. „Es könnte sein“, so hört sich das an, „dass Gott irgendwann mal nicht mehr zu finden ist, dass da keine Texte mehr sind, in denen wir etwas über Gott lesen können, dass da keiner mehr ist, der uns etwas über Gott erzählen kann, dass da kein Gebäude mehr ist, in dem Gott gefeiert wird ... Und dann wird’s schwierig!“

Man muss sich das mal vorstellen, wie das wohl wäre: Wenn es das Reden von Gott nicht mehr gäbe, wenn alles Reden von Gott für ein paar Generationen nicht mehr stattfinden würde, wenn alle religiösen Traditionen, Zeichen, Rituale, alles Religiöse beseitigt würde und nichts mehr daran erinnern würde - wenn der Bereich des Religiösen nur noch sozusagen ein leeres Blatt wäre. Wenn wir dann also wieder bei Null anfangen müssten.

Da könnte einer sagen: „Macht nichts. Mit dem Religiösen habe ich bisher sowieso nichts zu tun gehabt.“ Und ein anderer könnte sagen: „Wir hätten dann immer noch den weiten Sternenhimmel über uns und die überwältigende Natur.“ Das ist wohl wahr. Aber wir hätten dann nichts, um unsere religiöse Urerfahrung und unsere religiösen Empfindungen in Worte zu fassen. Wir hätten keine Struktur, in die wir unsere religiösen Erfahrungen und Empfindungen einordnen könnten. So etwas brauchen wir aber. Das brauchen wir als einzelne Menschen und als ganze menschliche Gemeinschaft. Denn aus dem Religiösen leiten wir den Sinn unseres Lebens ab und die Werte, nach denen wir unser Leben gestalten.

Es ist ein ganz großes Glück – verzeihen Sie, wenn ich das so behaupte -, es ist ein ganz großes Glück, dass wir dieses Buch haben, dass wir dieses Gebäude haben und dass wir eine Einrichtung haben, in der gewährleistet ist, dass diese Inhalte, die in diesem Buch stehen, bekannt werden und weitergetragen werden.

Wenn das alles nicht wäre, was würden wir dann mit unseren Gefühlen anfangen, die uns befallen, wenn wir den gewaltigen Sternenhimmel über uns sehen, oder wenn wir durch die Natur spazieren gehen oder wenn ein Kind geboren wird, oder wenn ein Mensch stirbt, oder wenn uns eine Krankheit befällt oder uns ein großes Unglück trifft, oder wenn einer den anderen betrügt oder gar umbringt, oder wenn wir selbst uns etwas zuschulden kommen lassen, oder wenn wir in eine Sinnkrise geraten?

Mit unseren Erfahrungen und Gefühlen müssen wir ja irgendwie umgehen, wir müssen sie sortieren, einordnen, und zwar so, dass wir mit ihnen weiterleben können, und zwar am besten so, dass es uns damit dann auch gut ergeht.

Unsere jüdisch-christliche Tradition gibt uns Muster an die Hand, die textmäßig hier in diesem Buch formuliert sind und in vielen anderen Texten, die sich mit diesem Buch befassen, Interpretationsmunster, die organisiert sind in der Kirche und die beständig vergegenwärtigt werden - z. B. in Gesprächen und in Gebäuden wie diesem - in Predigten und Feiern. Wir brauchen nicht bei Null anzufangen.

Und was sagt uns unsere jüdisch-christliche Tradition? Angesichts des großen Sternenhimmels und der überwältigenden Natur legt sie uns zum Beispiel nahe, diese als Werke eines persönlich verstandenen Schöpfers anzunehmen, als Geschenk und als Aufgabe. Unsere jüdisch-christliche Tradition lehrt uns, den Urgrund unseres Daseins als einen geheimnisvollen Schöpfer zu loben und preisen, ihm zu danken für die Wunder der Schöpfung und ihm gegenüber zu verantworten, wie wir mit dem umgehen, was wir von ihm empfangen haben als Raum zum Leben und als Gaben des Lebens.

Lobpreis, Dankbarkeit, Respekt vor der Schöpfung, Verantwortung - mit diesen Begriffen werden unsere Erfahrungen und Gefühle in Worte gefasst, wird ihnen Richtung gegeben für unser Leben, für unser Verhalten. Wenn diese Worte in unser Herz dringen, dann kann es schon so kommen, wie wenn Regen aufs Land fällt. Dann wächst da was, dann wächst da eine Lebenseinstellung, mit der wir leben können, eine Lebenseinstellung, die uns selbst, unserer menschlichen Gemeinschaft und der ganzen Schöpfung zuträglich ist.

Und wie formuliert unsere jüdisch-christliche Tradition unsere Erfahrungen mit dem Menschen, mit dem Verlauf der Menschheitsgeschichte, unsere Erfahrungen mit dem Mitmenschen, mit uns selbst, und unsere Empfindungen, die wir haben gegenüber diesem besonderen und sonderbaren Wesen „Mensch“?

Da gibt uns unsere religiöse Tradition Begriffe an die Hand wie „Barmherzigkeit gegenüber den Schwachen und Hilfsbedürftigen“, „Nachsicht gegenüber den Schwächen und Fehlern des Menschen“, „Sünde, Schuld, Reue, Vergebung, Geduld, Friedfertigkeit, Versöhnungsbereitschaft, Hoffnung, Liebe ...“. Ich könnte noch eine ganze Reihe schöner Begriffe nennen, die die Einstellung unserer jüdisch-christlichen Tradition zum Menschen beschreiben. Hinter diesen Begriffen stehen ganze Konzepte, die alle auf das Eine hinauslaufen: auf ein liebevolles „Ja zum Menschen“ trotz seiner offensichtlichen Schwachheit und Fehlerhaftigkeit.

Wenn wir dieses Konzept von der Würde des Menschen auch in seiner Niedrigkeit nicht hätten, wir hätten reichlich zu tun, uns das wieder zu erarbeiten - als menschliche Gemeinschaft. Es würde ja wenig nützen, wenn sich ein Einzelner etwas ausdächte, das müsste ja im großen Stile geschehen - und das würde viele Generationen dauern - hat es ja auch gedauert. Wir können diesen Prozess nacherleben in diesem Buch: Hier sind die Versuche vieler Generationen niedergelegt, die Versuche, dieses Dasein und den Menschen darin auszulegen, Erklärungsmuster zu finden, ein Wertesystem zu entwickeln und Handlungsmuster. Das ist ein unglaublich komplizierter, schwieriger, langwieriger Prozess. Eltern können das vielleicht ein wenig nachempfinden, wenn sie ein Kind bekommen oder mehrere und dann vor der Frage der Erziehung stehen, sich dann also selbst überlegen müssen: Wie wollen wir unsere Kinder in diese Welt hineinführen, was wollen wir ihnen anempfehlen, wovon ihnen abraten, wie sollen sie sich die Dinge des Lebens erklären und zurechtlegen, auf welche Ziele sollen sie zugehen? Da suchen Eltern dann auch schon mal gern nach Anknüpfungspunkten, nach Vorgaben.

Ich behaupte jetzt wieder ganz kühn und ungeniert: Da bietet dieses Buch sehr hilfreiche Konzepte, natürlich keine fertigen Rezepte. Das möchte ich auch einmal klar sagen. Dies ist keine Bauanleitung für ein gelingendes Leben. Man kann dieses Buch auch nicht so lesen wie eine Regieanweisung. Hierin sind einfach die Erfahrungen, Empfindungen, Gedanken, Entscheidungen vieler Generationen enthalten - durchzogen von einem roten Faden. Den muss sich allerdings jeder, der sich mit diesem Buch befasst, selbst erarbeiten und muss dann auch für sich selbst die Konsequenzen für den Alltag ziehen, der ja in manchem anders ist als der Alltag der Menschen von damals.

Ich kann den roten Faden dieses Buches am besten zusammenfassen, indem ich sage - und das wiederhole ich wieder und wieder: Hierin ist ein sehr liebevolles, hoffnungsvolles „Ja zum Leben und zum Menschen“ enthalten. Dies für sich selbst zu nutzen, danach das Leben zu gestalten und es an andere weiterzugeben, darin sehe ich unser aller Aufgabe - und meine berufliche Aufgabe insbesondere.

Es ist wirklich so: Wenn diese Worte in unser Herz treffen, wenn es denn ein noch nicht gänzlich verhärtetes Herz ist, dann wächst da was - so wie da etwas wächst, wo der Regen hinfällt, wenn er denn nicht auf blanken Stein fällt.

Und wenn jemand in die Kirche kommt, dann geht er auch anders raus, als er hineingekommen ist. Das ist jedenfalls meine Hoffnung. Eine solche Hoffnung bringt auch der Prophet Jesaja zum Ausdruck, wenn er Gott sagen lässt: „Das Wort, das aus meinem Munde geht, wird nicht leer wieder zu mir zurückkommen, sondern wird tun, was mir gefällt, und meinem Wort wird gelingen, wozu ich es sende.“

Das Geheimnis des Daseins wird natürlich bleiben. Wir werden Gott in seiner ganzen Größe niemals erfassen. Aber wir haben in diesem Buch eine wahre Hilfe. Diese sollten wir nutzen, solange sie so einfach für uns verfügbar ist. Hier ist das Buch, hier ist die Kirche. Und die Organisation Kirche funktioniert noch. Die Hilfsmittel sind alle greifbar. Wie sagt Jesaja?: „Sucht Gott, solange er zu finden ist; ruft ihn an, solange er nahe ist.“

Durchgeistigte Nahrung

25. März 2001

Laetare

(4. Sonntag der Passionszeit)

Johannes 6,47-51

Als ich mir diesen Predigttext ansah und dann im Gemeindebrief in die Gottesdienstliste schaute und feststellte, dass für heute ein Predigtgottesdienst vorgesehen war, war mir klar: Das müssen wir ändern. Und das haben wir auch getan. Wir feiern heute einen Gottesdienst mit Abendmahl. Ihr Einverständnis setze ich voraus.

Der Predigttext handelt vom Abendmahl. Ich kann jetzt nicht vom Essen reden und Sie dann hungrig nach Hause gehen lassen.

Wer sich in kirchlichen Dingen gar nicht auskennt, der wird vielleicht fragen: „Was gibt es denn hier heute Morgen zu essen?“

Viel für den Magen ist es nicht. Der leibliche Hunger könnte dadurch nicht gestillt werden. Brot kann man das eigentlich auch nicht nennen. Aber ein Zeichen für das Brot soll die Oblate sein. Auch wenn es richtiges Brot wäre, dann wäre das trotzdem weniger für den Magen bestimmt. Auch das Brot wäre als Zeichen gemeint - als Zeichen für Fleisch. Aber selbst wenn ich Ihnen heute Morgen Fleisch, sagen wir Lammfleisch, zu essen gäbe, wäre auch dies weniger für den Magen bestimmt. Auch das Fleisch wäre als ein Zeichen zu verstehen, als ein Zeichen für den Leib Christi, dessen Hinrichtung am Kreuz einmal mit der Schlachtung eines Lammes verglichen worden ist.

Wenn wir jetzt noch einmal wieder rückwärtsgehen, zurück zur Oblate, die ich Ihnen nachher anbieten werde, dann ist also die Oblate letztlich ein Hinweis auf den Tod Jesu am Kreuz. Aber das ist noch nicht das Letzte, was zu sagen ist. Die Speise, wenn sie auch noch so wenig ist, soll nicht bloß ein Zeichen des Todes sein. Nahrung dient dem Leben. Und so ist denn tatsächlich die kleine, runde, dünne, trockene Oblate, die Sie nachher empfangen können, am Ende ein Hinweis auf die Auferstehung Jesu, ein Zeichen für das Leben, für das ewige Leben.