Das Ja zum Leben und zum Menschen, Band 13 - Wolfgang Nein - E-Book

Das Ja zum Leben und zum Menschen, Band 13 E-Book

Wolfgang Nein

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Beschreibung

Für die Gestaltung unseres Lebens im Privaten wie im Gesellschaftlichen und Weltweiten sind wir auf Kriterien, auf Maßstäbe und Bewertungen, auf Interpretationen unserer Erlebnisse und Erfahrungen und Erkenntnisse angewiesen. Wir brauchen dabei nicht bei null anzufangen. In diesem Buch, wie überhaupt in der ganzen Predigtreihe, wird vor allem auf die christlich-jüdische Überlieferung zurückgegriffen. Die biblischen Texte sind aufs Ganze gesehen ein wahrer Schatz an hilfreichen Lebenserfahrungen und Glaubensüberzeugungen. Sie können recht verstanden zu einer Offenbarung und einer wertvollen Lebens- und Entscheidungshilfe werden. Als solche sind diese Predigten gemeint.

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Jesus Christus – die gute Erfahrung

7. April 1980

Ostermontag

Einführung in St. Markus

1. Korinther 15,19-28

Jetzt leben – mit einem Ziel vor Augen

15. Mai 1980

Himmelfahrt

Apostelgeschichte 1,9-11

Pfingsten verhilft uns zur ersehnten Einheit

26. Mai 1980

Pfingstmontag

1. Korinther 12,4-11

Mit Jesus Christus Grenzen überwinden

15. Juni 1980

2. Sonntag nach Trinitatis

Epheser 2,17-22

Ein letztes Gericht über uns?

29. Juni 1980

4. Sonntag nach Trinitatis

Römer 14,10-13

Gemeinde vor 2000 Jahren und heute

20. Juli 1980

7. Sonntag nach Trinitatis

Apostelgeschichte 2,41a.42-47

Die verschlungenen Wege Gottes und der Menschen

10. August 1980

10. Sonntag nach Trinitatis

Römer 11,25-32

Wie kommen wir zum christlichen Glauben?

24. August 1980

12. Sonntag nach Trinitatis

Apostelgeschichte 9,1-9(10-20)

Können wir uns ändern?

12. Oktober 1980

19. Sonntag nach Trinitatis

Epheser 4,22-32

Das Böse bekämpfen, nicht den Menschen

26. Oktober 1980

21. Sonntag nach Trinitatis

Epheser 6,10-17

Suche nach dem Heil im Heillosen

30. November 1980

1. Advent

Jeremia 23,5-8

„Was sollen wir denn tun?“

14. Dezember 1980

3. Advent

Lukas 3,1-14

Zwei Engel unterhalten sich über die Menschen

24. Dezember 1980

Heiligabend

Lukas 2,10-11

Der Heiland provoziert das Unheil

28. Dezember 1980

1. Sonntag nach Weihnachten

Matthäus 2,13-18(19-23)

Gott bleibt ein Geheimnis, damit wir leben können

18. Januar 1981

2. Sonntag nach Epiphanias

Exodus 33,18-23

„Hab keine Angst, ich bin bei dir!“

1. Februar 1981

4. Sonntag nach Epiphanias

Matthäus 14,23-33

Liebesmüh ist nicht vergebens

22. Februar 1981

Sexagesimae

(2. Sonntag vor der Passionszeit)

Markus 4,26-29

Sich selbst Grenzen setzten um des Lebens willen

8. März 1981

Invokavit

(1. Sonntag der Passionszeit)

1. Mose 3,1-19

Leben, als wäre er gegenwärtig

20. April 1981

Ostermontag

Lukas 24,36-45

Die Liebe zum Leben und zum Menschen

3. Mai 1981

Misericordias Domini

(2. Sonntag nach Ostern)

Konfirmation

1. Johannes 4,16b

Würde den Unwürdigen!

17. Mai 1981

Kantate

(4. Sonntag nach Ostern)

Matthäus 21,14-17

Das Vordergründige und das Hintergründige

28. Mai 1981

Himmelfahrt

1. Könige 8,22-24.26-28

Das geistliche Gespräch miteinander nicht aufgeben

8. Juni 1981

Pfingstmontag

Matthäus 16,13-19

Kämpfen mit dem geistlichen Wort

19. Juni 1981

Kirchentag

Feierabendmahl

Epheser 6,10-17

Josef und Jesus

12. Juli 1981

4. Sonntag nach Trinitatis

1. Mose 50,15-21

Mit wenigen Schritten hatte es begonnen

19. Juli 1981

5. Sonntag nach Trinitatis

Johannes 1,35-42

Zukunft ist mehr als Fortsetzung der Vergangenheit

9. August 1981

8. Sonntag nach Trinitatis

Jesaja 2,1-5

Die zwei Söhne in uns

30. August 1981

11. Sonntag nach Trinitatis

Matthäus 21,28-32

An der inneren Einstellung arbeiten

11. Oktober 1981

17. Sonntag nach Trinitatis

Markus 9,17-27

Sich zur Hilfe inspirieren lassen

25. Oktober 1981

19. Sonntag nach Trinitatis

Markus 1,32-39

Den Tod vorwegnehmen

14. November 1981

Geistliche Musik zur Friedenswoche

Ebenezer (ev.-meth.)

Psalm 90,12

Der Glaube ist nicht nur für das stille Kämmerlein

15. November 1981

Volkstrauertag

1. Petrus 3,8-17 / Matthäus 5,38-48

Ohne Illusionen, aber mit Hoffnung in die Zukunft

29. November 1981

1. Advent

Offenbarung 5,1-5(6-14)

Die Figuren der Weihnachtsgeschichte

20. Dezember 1981

4. Advent

Familiengottesdienst

Lukas 2,4-14

Das Ja Gottes zu uns Menschen

22. Dezember 1981

Weihnachtsfeier im Seniorenheim

Lukas 2,10-11

Eine zarte Blume in einer steinigen Wüste

24. Dezember 1981

Heiligabend

Lukas 2,10-11

Leiden um des Glaubens willen - himmlischer Trost

26. Dezember 1981

2. Weihnachtstag

Offenbarung 7,9-12(13-17)

Der volle und der leere Kalender

31. Dezember 1981

Altjahrsabend

Psalm 103,8

Umstrittene Lehren – Paulus ist enttäuscht

14. Februar 1982

Sexagesimae

(2. Sonntag vor der Passionszeit)

2. Korinther (11,18.23b-30;)12,1-12

Wir sind befreit – wovon, wofür?

14. März 1982

Okuli

(3. Sonntag der Passionszeit)

1. Petrus 1,18-21

Wie umgehen mit den Problemen des Lebens?

28. März 1982

Judika

(5. Sonntag der Passionszeit)

4. Mose 21,4-9

Jesus Christus hat stellvertretend für uns gehandelt

9. April 1982

Karfreitag

Hebräer 9,15.26b-28

Auferstehung – Wie können wir Paulus verstehen?

12. April 1982

Ostermontag

1. Korinther 15,50-58

Ein wertvolles Buch für den weiteren Lebensweg

2. Mai 1982

Jubilate

(3. Sonntag nach Ostern)

Konfirmation

Johannes 15,1-8; 1. Petrus 4,8-11

Wenig Gutes zählt mehr als viel Unerfreuliches

9. Mai 1982

Kantate

(4. Sonntag nach Ostern)

Goldene Konfirmation

Psalm 103,2

Können wir das Wort Gottes als solches erkennen?

13. Juni 1982

1. Sonntag nach Trinitatis

Jeremia 23,16-29

Jesus Christus – das Menschliche und das Göttliche

27. Juni 1982

3. Sonntag nach Trinitatis

1. Johannes 1,5-2,6

Das Schicksal und der persönliche Gott

11. Juli 1982

5. Sontag nach Trinitatis

1. Mose 12,1-4a

Kirche damals und heute

25. Juli 1982

7. Sonntag nach Trinitatis

Finkenwerder

Apostelgeschichte 2,41a.42-47

„Ich habe mir nie etwas zuschulden kommen lassen!“

15. August 1982

10. Sonntag nach Trinitatis

Römer 9,31-10,4

Für den Glauben lernen

29. August 1982

12. Sonntag nach Trinitatis

Begrüßung der neuen Konfirmanden

Apostelgeschichte 9,1-20

Den Tod annehmen, aber nicht den kollektiven

3. September 1982

Feierabendmahl

Hesekiel 33,11

Das Gebet: Mit wem reden wir eigentlich?

17. Oktober 1982

19. Sonntag nach Trinitatis

Jakobus 5,13-16

Keine Atomwaffen – „Ohne Wenn und Aber“

7. November 1982

Drittletzter Sonntag des Kirchenjahres

Friedensgottesdienst

Jesaja 41,10

Der Tod – Schicksal und Schuld

21. November 1982

Totensonntag / Ewigkeitssonntag

Jesaja 65,17-25

Jochen Kleppers „Die Nacht ist vorgedrungen“

12. Dezember 1982

3. Advent

Jesaja 40,1-8

Gott hat Mitleid mit den Menschen

24. Dezember 1982

Heiligabend

Johannes 3,16

Bleibt nach Weihnachten alles beim Alten?

25. Dezember 1982

1. Weihnachtstag

1. Johannes 1,1-4

Bibelstellen

Vorwort

Predigten haben mit dem Leben und dem Menschen zu tun, und zwar mit dem ganzen Leben und dem ganzen Menschen.

Der Mensch empfängt das Leben, er lebt, er ist dem Leben ausgesetzt, und sein Leben wird zu Ende gehen. Kraft seines Bewusstseins kann der Mensch über sich selbst und seine Gattung und über das Leben nachdenken. Er kann staunen und sich wundern, er kann fragen und forschen, er kann vieles entdecken. Aber viele Fragen werden ohne Antwort bleiben. Und trotz vieler Antworten und Entdeckungen wird das Leben – und der Mensch sich selbst – ein großes Geheimnis bleiben, ein schönes und schreckliches Geheimnis zugleich.

Wir sind Individuen und wir sind Teil einer Gemeinschaft, einer Gesellschaft, einer Kultur. Wir sind Teil der Menschheit – im weltweiten und im entwicklungsgeschichtlichen Sinne. Was und wie wir sind, hat sich in Jahrmillionen entwickelt. Die Informationen sind in kleinsten Zellen gespeichert. Aus der Kombination zweier Zellen sind wir als Individuen entstanden – mit gewissen individuellen Eigenheiten, im Großen und Ganzen aber mit den Wesensmerkmalen unserer Gattung.

Wenn wir heranwachsen, können wir nach einigen Jahren mit gewachsenem Bewusstsein über uns selbst nachdenken und über die Welt, in die wir hineingeborenen worden sind. Die Zeit unseres Nachdenkens ist begrenzt. Und die Möglichkeiten unseres Denkens sind begrenzt auf das, was unser Hirn und unsere Sinnesorgane und die von uns mit vorgegebenen Materialien erschaffenen Geräte ermöglichen. Wenn wir einiges an Wissen und Erkenntnissen angesammelt haben und meinen, etwas verstanden zu haben, müssen wir schon wieder davon.

Zu unseren Grundeinsichten gehört die Einsicht in unsere Begrenzungen. Wir haben zwar gewisse schöpferische Fähigkeiten, aber wir sind letztlich Geschöpfe und nicht der letztliche Schöpfer selbst. Viele Phänomene können wir weder erklären noch beeinflussen noch unter unsere Kontrolle bringen. Mit vielem müssen wir uns – wohl oder übel – abfinden.

Ein unentrinnbares Phänomen ist die „Ambivalenz des Seins“. Wir erleben sie in vielfacher und sehr unterschiedlicher Gestalt, zum Beispiel: „Wer geboren wird, wird sterben.“ – „Wer liebt, wird leiden.“ – „Je mehr wir wissen, desto mehr wissen wir, wie wenig wir wissen.“ – „Je höher wir gelangen, desto tiefer können wir fallen.“ – „Je mehr wir haben, desto mehr haben wir zu verlieren.“ – „Je mehr wir können, desto erdrückender wird unsere Verantwortung.“

Da wir in diese Existenz hineingekommen sind und ein gewisses Bewusstsein erlangen und folglich unser Verhältnis zu diesem Dasein bewusst gestalten und bewusste Entscheidungen fällen müssen, sind wir auf Kriterien, auf Maßstäbe, auf Bewertungen, auf Einschätzungen, auf Interpretationen unserer Erlebnisse und Erfahrungen und Erkenntnisse angewiesen. Wir brauchen dabei nicht bei Null anzufangen. Wir können auf die Überlieferungen früherer Generationen zurückgreifen.

Wir können zurückgreifen auf wissenschaftliche Erkenntnisse, auf die Angebote der verschiedenen Religionen, auch auf Literatur und Kunst.

In diesem Buch – wie überhaupt in der ganzen Serie – wird vor allem auf die christlich-jüdische Überlieferung zurückgegriffen. Die hier abgedruckten Predigten befassen sich mit dem ganzen Leben und dem ganzen Menschen. Ihr Anliegen ist die existentielle Situation des Menschen. Die Predigten nehmen dabei immer wieder Bezug auf die biblischen Texte und die aus ihnen entwickelten Theologien.

Die Texte des Neuen wie des Alten Testaments sind zwar nicht leicht zu lesen. Sie sind gelegentlich auch nicht unproblematisch. Sie sind aufs Ganze gesehen aber ein wahrer Schatz an hilfreichen Lebenserfahrungen und Glaubensüberzeugungen. Sie können recht verstanden zu einer Offenbarung und einer wertvollen Lebenshilfe werden. Als solche sind die Predigten gemeint. Viel Freude beim Lesen!

Wolfgang Nein, April 2018

Jesus Christus – die gute Erfahrung

7. April 1980

Ostermontag

Einführung in St. Markus

1. Korinther 15,19-28

Wenn monatelang, wie es ja bei uns manchmal der Fall ist, wenn monatelang der Himmel bedeckt ist und dann plötzlich warm und hell vom Himmel herab die Sonne scheint, dann bricht in uns eine Lebensfreude auf, die lange verborgen war. Wir könnten plötzlich Bäume ausreißen, wo wir doch am Tag zuvor vielleicht kaum die Kraft aufgebracht hätten, im Garten ein wenig Unkraut zu jäten. Wir haben Lust, etwas zu unternehmen, wir drängen hinaus, unsere Phantasie überschlägt sich fast.

Es ist gewaltig, was für Aktivitäten ein paar Sonnenstrahlen von einem Tag zum anderen in Millionen von Menschen gleichzeitig auslösen können. Da werden Energien frei – und ich sage es noch einmal: Da bricht eine Lebensfreude auf, wie wir sie nicht jeden Tag erleben.

Wenn wir in dem Augenblick erstaunt innehalten und uns dieses Vorgangs bewusst werden, dann mag uns dämmern, dass in uns Lebenskräfte schlummern, die sich im wahrhaft grauen Alltag nicht entfalten. Wenn der Himmel dann wieder bedeckt ist, denken wir mit Wehmut an den Sonnenschein zurück und hoffen auf die nächsten Strahlen.

Denn so ist das Leben: Wir können nicht so ohne Weiteres künstlich in uns erzeugen, was der Sonnenschein auszurichten vermag. Wir sind auf den Anstoß von außen angewiesen. Das können alle möglichen Erfahrungen sein. Wo wir gerade bei den Naturereignissen sind: Nach den trüben Wintermonaten zeigt sich nun an den so lange schmucklosen Bäumen und Büschen das erste zarte Grün. Aus dem eintönig braunen Boden sprießen überall bunte Blumen hervor. Gerade die ersten Blüten sind so zart, dass wir zur Freude geradezu verführt werden.

Aber es gibt auch andere Erfahrungen, z. B. im zwischenmenschlichen Bereich. Wenn wir uns ärgern, wenn in einer Woche nichts mehr zu laufen scheint, überall nervenaufreibende Störungen, tagsüber im Betrieb und abends in der Familie, wenn wir dann einen guten Bekannten treffen und der sich einfach freundlich mit uns unterhält, dann kann die Welt schon wieder ganz anders aussehen.

Oder noch eine Erfahrung. In einem Film, der Titel tut nichts zur Sache, da gab es eine Szene, die mich besonders beeindruckt hat: Da wurde ein Gefangener von einer Horde Soldaten tagelang in brütender Hitze durch eine wüste Gegend geschleppt. Und immer, wenn die Truppe in einem Dorf Rast machte, ließen sich die Soldaten von den Bewohnern des Dorfes zu trinken geben. Auch die Pferde wurden getränkt. Nur der Gefangene durfte nicht trinken. Aus Angst vor den Soldaten wagte es niemand, sich ihm mit einem Wasserkrug zu nähern.

Dann kommt die Szene, wo der Verdurstende kraftlos im Sand liegt und man nicht mehr als zwei Hände sieht, mit Wasser gefüllt. Ein Unbekannter gibt dem Gefangenen zu trinken. Man sieht dann, wie die Soldaten über die Furchtlosigkeit dieses Mannes selbst so erstaunt sind, dass sie es nicht wagen, ihm Gewalt anzutun. Dieser fast verdurstende Gefangene muss die unerwartet mutige Hilfe wie ein wahres Wunder empfunden haben. Das Bild, das er sich vielleicht in den letzten Tagen unter dem Eindruck der grausame Behandlung von seinem Leben und vom Leben überhaupt gemacht hat, wird durch diese Erfahrung eine entscheidende Korrektur erfahren haben.

Wir sind, was unsere Lebensgefühle, was unsere Einstellung zum Leben anbetrifft, zutiefst abhängig von unseren täglichen Erfahrungen. Erfahrungen prägen unsere Einstellungen. Es ist leider so, dass die mehr negativen Erfahrungen so viel zahlreicher zu sein scheinen als die positiven. Das ist uns im Grunde schon biologisch vorgegeben. Wenn wir nur daran denken, dass wir als sterbliche Wesen zur Welt kommen und nach einer verhältnismäßig kurzen Zeit des Aufblühens schon wieder an Kräften verlieren und für Krankheiten immer anfälliger werden! Oder bedenken wir, wie schutzlos unser Körper überhaupt den Unbillen des Daseins ausgesetzt ist!

Aber nicht nur unsere biologischen Vorgegebenheiten sind schuld an unseren schlechten Erfahrungen, sondern durch unser Verhalten tun wir ein Übriges. Wir machen uns das Leben gegenseitig schwer. Es erübrigt sich, die Untaten aufzuzählen, mit denen wir uns gegenseitig zusetzen. Es ist jedenfalls eine betrübliche Tatsache, dass dem Menschen das größte Leid nicht durch Kräfte der Natur, sondern durch die Gewalt von Menschen zugefügt wird.

Diese negativen Erfahrungen prägen unsere Einstellung zum Leben. Aus dem phantasievollen, mutigen, kraftvollen Idealismus Jugendlicher wird bald der fade, ängstliche, rücksichtslose, gewalttätige Realismus Erwachsener. „Wie du mir, so ich dir“, und „Jeder ist sich selbst der Nächste“ – das sind Parolen, die uns die täglichen Erfahrungen gelehrt haben.

Mit anderen Worten: Wir gehen in Hab-Acht-Stellung, wir legen uns einen Verteidigungspanzer zu, wir igeln uns ein oder wir werden empfindlich wie Mimosen, krümmen uns in uns selbst hinein. Wir resignieren, ziehen uns in die Privatsphäre, in die Innerlichkeit zurück. Wir sterben einen langsamen Tod. Unser Leben reduziert sich auf das Pochen des Herzens.

Es bedarf dann schon kräftiger Sonnenstrahlen, um uns in unserer ganzen Persönlichkeit wieder zu entfalten, um das an Lebenskräften aus den Tiefen unseres Ichs wieder hervorzulocken, was da verschütt gegangen ist. Manchmal, wie gesagt, bei bestimmten Erfahrungen, spüren wir die verborgenen, fast verloren Kräfte in uns, und wie verändert – glücklich – sind wir, wenn sie uns erfassen. In unserer geheimen Sehnsucht versuchen wir dem Glück ein wenig nachzuhelfen: Wir jetten da hin, wo die Sonne garantiert scheint, wir arbeiten hart und sparen für die Wochenenden, für den Urlaub, für den Ruhestand, in der Hoffnung, dann – frei von der Zwängen des Täglichen – aus uns herauszukommen. Und manche versuchen, sich die verborgenen Lebenskräfte durch Drogen zu entlocken.

Wir tragen durchaus die Sehnsucht in uns nach einem erfüllten Leben, nach einem vollen, einem hingebungsvollen Leben. Wir würden uns dem Leben gern hingeben, voll eintauchen – jeden Tag leben, nicht nur an bestimmten Tagen, in ausgegrenzten Zeiträumen.

Aber das Leben ist nicht einfach eine Frage unseres Entschlusses. Genauso wenig wie wir uns das Leben selbst gegeben haben, genauso wenig können wir uns die Kraft für ein erfülltes Leben selbst geben. Wir brauchen Erfahrungen, gute Erfahrungen, schöne Erfahrungen, jeden Tag neu. Wir brauchen den Sonnenschein am Himmel, wir brauchen die Schönheiten der Natur, aber wir brauchen vor allem das freundliche Wort, die liebevolle Geste unseres Mitmenschen.

Wenn Paulus so nachdrücklich die Auferstehung von den Toten verkündigt, dann deshalb, weil er uns eine lebenspendende Erfahrung vermitteln möchte. Er will uns sagen: Jesus Christus ist derjenige, der im vollen Sinn des Wortes gelebt hat, der sich durch keine noch so negative Erfahrung, nicht einmal durch seinen gewaltsamen Tod, in die Resignation hat treiben lassen. Damit ist Jesus Christus selbst zur lebenspendenden Erfahrung für andere geworden. Sein vorbehaltloses Ja zum Leben und seine bedingungslose, unerschütterliche Liebe zum Menschen haben ansteckend gewirkt.

Für uns liegt die Auferstehung Jesu Christi zwar weit zurück und wir können uns darüber streiten, ob sie als historische Tatsache anzusehen ist oder nicht, aber eines ist gewiss: Die lebenspendende Kraft, die Menschen von ihm empfangen haben, wirkt bis heute weiter und ist auch jetzt noch erfahrbar. Wir erleben sie insbesondere dort, wo z. B. ein Behinderter seine Benachteiligungen angenommen hat und sich mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln anderen Menschen fürsorglich zuwendet. Oder dort, wo einer nach immer neuem Streit zum soundsovielten Male die Hand zur Versöhnung austreckt.

Die Anstöße von außen, die uns aufschließen könnten, sind durchaus da. Wie viel eine gute Erfahrung an uns ausrichten kann, das hängt freilich davon ab, wie stark in uns der Glaube an die Möglichkeit von Leben noch ist. Wo der Glaube an den Tod schon stärker ist als der Glaube an das Leben, da sind wir, wie Paulus sagt, die elendesten aller Menschen.

Ostern ist das Fest des Lebens, des vollen, erfüllten Lebens. Ich wünsche uns Ostern an jedem Tag, die tägliche Erfahrung von Lebensfreude. Vielleicht kann es dann auch so kommen, dass wir durch unser freundliches Wort, durch unsere liebevolle Geste zu einer Leben entfaltenden Erfahrung für andere werden.

Jetzt leben – mit einem Ziel vor Augen

15. Mai 1980

Himmelfahrt

Apostelgeschichte 1,9-11

Christi Himmelfahrt ist theologisch schwer fassbar. Ich möchte einmal die menschliche Seite hervorheben. Schauen wir uns die Männer an, die da auf dem Berg stehen, die Jünger, die Jesus Christus nachschauen, wie er vor ihren Augen emporgehoben wird und in den Wolken verschwindet. Das ist für die Jünger die Stunde des Abschieds. Unter diesem Stichwort „Abschied“ möchte ich Himmelfahrt betrachten.

Der Abschied von einem Menschen, den wir gerngehabt haben, ist schmerzlich. Er kann bedrohlich, sogar lebensbedrohlich sein. Abschied bedeutet Krise.

Der Trennungsschmerz ist geradezu körperlicher Art, so, als ginge ein Teil unseres eigenen Leibes verloren. Ein Mensch, der uns verlässt, ist zwar der andere, einer außerhalb unserer selbst. Aber er ist zugleich doch auch ein Stück von uns. „So sind sie nun nicht mehr zwei, sondern eins“, heißt es im Neuen Testament. Das gilt nicht nur für zwei Menschen, die sich zu ehelicher Gemeinschaft zusammentun. Das gilt überhaupt für Menschen, die eine enge persönliche, liebevolle Beziehung zueinander haben. Sie wachsen zusammen, sie bilden, wenn es auch verschiedene Personen sind, doch auch eine leibliche Einheit. Das macht der heftige Trennungsschmerz deutlich.

Zum Schmerz kommt die Krise hinzu, die geradezu existentielle Verunsicherung. Durch den anderen erfahren wir ein gutes Stück Sinn unseres Lebens. Wenn wir jemanden gernhaben, wenn uns jemand gernhat, dann wissen wir, wozu wir da sind. Oder wenn wir es nicht wissen, empfinden wir es doch. Die Frage nach dem Sinn unseres Lebens, die sich uns gelegentlich aufdrängt und auf die wir mit unserem Verstand wohl kaum eine Antwort geben können, ist wie von selbst erledigt in der liebevollen Beziehung zu dem Menschen, der uns nahesteht. Wenn wir diesen Menschen verlieren, ist die Frage nach dem Sinn unseres Lebens wieder da. Alles, was uns eben noch selbstverständlich erschien, ist nun infrage gestellt.

Abschied also schmerzt und verunsichert.

Wie verhalten sich die Jünger beim Abschied von Jesus Christus? „Sie sehen ihm nach.“ In dieser kurzen Bemerkung ist viel zusammengefasst. Wir spüren die Betroffenheit. Wir sehen die wehmütigen Gesichter der Jünger vor uns. Eben noch war er da. Jetzt ist er vor ihren Augen entschwunden, so, wie ein Zug langsam und dann immer schneller abfährt oder ein Schiff ablegt und dann immer kleiner wird, bis der Blick der Zurückgebliebenen ins Leere geht. Es ist ein Augenblick der Leere, als wenn die Zeit für einen Moment ausgehakt wäre. Das Alte ist vergangen und das Neue ist noch nicht da.

Durch Jesus war ihr Leben anders geworden. Ihre Berufe hatten sie aufgegeben und waren ihm gefolgt. Ungewöhnliche Erfahrungen hatte sie mit ihm und durch ihn gemacht. Nicht alles, was er tat und sagte, hatten sie verstehen können. Aber doch hatten sie gespürt: Dieser Jesus hat die Kraft, Menschenherzen zu verwandeln. Sie sind ihm dann hoffnungsvoll nachgegangen. Durch Hochs und Tiefs sind sie ihm gefolgt. Aber bei allem – auch Unverstandenem – war dieser Jesus für sie zum Zentrum ihrer Gefühle, ihrer Sehnsüchte, Hoffnungen, zum Inbegriff von Leben geworden. Er war Teil ihrer selbst geworden.

Nun war er nicht mehr da, ein Teil ihrer selbst war dahin; amputiert waren sie am Lebensnerv. Wie gelähmt stehen sie da, den Blick starr ins Leere gerichtet.

Bevor die lähmende Wirkung des gerade vollzogenen Abschieds abgeklungen ist und die Gefühle und das Bewusstsein der Jünger die Wirklichkeit eingeholt haben, stehen da zwei Männer, die bieten Trost an: „Dieser Jesus, der gerade gegangen ist, wird wiederkommen.“ Der Blick in die Leere der endlosen Ferne fängt sich und lässt sich umleiten. Er erhält den Gegenstand wieder, der ihm eben entglitten ist. Freilich nicht auf den leibhaftigen Jesus vor ihnen können die Jünger nun blicken. Sie blicken auf den Christus in ihnen, den wiederkehrenden Christus ihrer Hoffnung.

Das, was die beiden Männer verkünden – „Er wird wiederkommen“ –, entspricht gewiss dem, was die Jünger im Augenblick des Abschieds – ich möchte sagen: verzweifelt – ersehnen. Die Realität der Trennung ist zu bitter, als dass sie – als dass wir – sie einfach hinnehmen könnten. Der Anblick des frisch aufgerissenen Grabens ist schwer zu ertragen. Wir decken ihn zu durch unsere Hoffnung, durch unsere Illusionen vielleicht.

Ich habe von einer Frau gehört, deren Mann im Krieg verloren ging, der schließlich für tot erklärt wurde – und dennoch bezieht sie sein Bett immer frisch. Sie blickt immer noch starr auf ihren Mann. Als er nicht mehr leibhaftig vor ihr stand, ersetzte sie ihn durch das Bild ihrer Sehnsucht.

Mir scheint, dass es eine christliche Tradition gibt, die in ähnlicher Weise starr auf Jesus Christus fixiert ist. Was die beiden Männer den Jüngern sagen – „Er wird wiederkommen!“ –, scheint sie – und uns – geradezu in diese Hoffnung hineinzutreiben. Die Hoffnung, die darin besteht, dass wir stur nach vorn blicken, dass jeder für sich oder auch wir gemeinsam, nach vorn blicken auf den ungewissen Tag, der uns das Verlorene wiederbringt, die Quelle der Liebe, das erfüllte Leben. Wir blicken nach vorn, und zwischen dem Jetzt und dem ungewissen Tag der Erfüllung liegt eine Zeit des Übergangs, eine Zeit minderer Qualität.

Das ist durchaus kennzeichnend für unser Leben, scheint mir, auch unabhängig von der christlichen Tradition. Wir blicken nach vorn, wir erwarten das Eigentliche unseres Lebens von der Zukunft: vom Feierabend, vom Wochenende, von den Ferien, vom Urlaub, vom Ruhestand oder gar von der Zeit nach dem leiblichen Tod. Der Weg dorthin ist jeweils mühselig. Wir gehen ihn geduldig. Denn es ist nur ein Übergang. Wir suchen das Verlorene in der Zukunft – das Verlorene, vielleicht noch vom Mutterleib her, die Ganzheit und Geborgenheit, die wir als Ahnung aus der Zeit, als wir im Mutterleib waren, noch in uns tragen.

Die Gegenwart erleben wir als den Graben zwischen Abschied und Wiedersehen. Wir überbrücken ihn durch unsere Hoffnung. Wir sind dabei geneigt, das Bild unserer Sehnsucht allzu sehr auszumalen. Der Feierabend erfüllt kaum jemals die Erwartungen, die wir an ihn richten. Auch nicht das Wochenende, die Ferien, der Urlaub, der Ruhestand. Wenn es jeweils so weit ist, merken wir, dass auch die Zeit unserer Sehnsucht unsere Wünsche und Hoffnungen weiterhin offenlässt.

Auch aus Jesus Christus haben wir in unserer Hoffnung eine geradezu kolossale Gestalt gemacht. Den armseligen Menschen, den die Jünger noch vor sich hatten, hat die christliche Tradition in einen Triumphator verwandelt. Sie hat ihn auf den Thron erhoben, zum König gekürt, zum Herrscher der Welt. „Jesus Christus herrscht als König, alles wird ihm untertänig. Fürstentümer und Gewalten, Mächte, die die Thronwacht halten, geben ihm die Herrlichkeit.“

Wir haben – mit der christlichen Tradition – Jesus Christus hochstilisiert zu einer grandiosen Figur, die unseren Blick zu fesseln vermag über die oft trostlose Gegenwart hinweg. Himmelfahrt verführt dazu, solche Vorstellungen zu bestärken.

Ich kann mir aber schlecht vorstellen, nach allem, was ich von Jesus Christus weiß, dass wir ihm dadurch gerecht werden, dass wir so starr und exklusiv auf ihn blicken, dass wir – wie die Jünger beim Abschied – ihm, dem Leibhaftigen, gebannt nachschauen und dann ebenso gebannt unseren inneren Blick auf den Zukünftigen richten lassen. Jesus Christus will unsere Liebe nicht unmittelbar für sich, schon gar nicht exklusiv. Wenn er uns zur Liebe herausfordert, dann in der Weise, dass wir Gottes Geschöpfe, seine ganze Schöpfung lieben.

Jesus Christus ist gekommen, um eben dies zu tun: „Ja“ zu sagen zu dieser unvollkommenen Welt, „Ja“ zu sagen zu diesem so unvollkommenen Menschen. Und dieses „Ja“ zu leben. Er hat die Gegenwart angenommen als eine Zeit, die schon jetzt des Lebens wert ist. Er hat die Gegenwart in ein Stück erfüllte Zeit verwandelt durch seine liebevolle Gegenwart. In ihm kamen darum menschliche Sehnsüchte an ihr Ziel.

Jesus Christus suchen heißt, den Menschen aufsuchen, sich Gottes Schöpfung zuwenden. Jesus Christus suchen heißt nicht, ihm nachschauen bis an den leeren Horizont, bis in den endlosen Himmel hinein. „Was steht ihr und seht gen Himmel?!“ Es heißt auch nicht, durch alle Zeit hindurchblicken auf das Ende. Jesus Christus suchen heißt, sich umblicken, jetzt und hier sich umschauen. Denn in Gottes Geschöpfen ist er lebendig. Wir können einander helfen, unsere Gegenwart anzunehmen als ein Stück erfülltes Leben, als ein Stück Ewigkeit.

Nachdem Jesus Christus gegangen ist und wir allein zurückgeblieben sind, ist es an der Zeit, dass wir uns untereinander anschauen.

Zwar bleiben wir weiterhin auf Christus bezogen. Er ist die Quelle unserer Erkenntnis Gottes und unsere Kraft. Durch ihn erfahren wir Sinn und Richtung unseres Lebens. Aber das, was er uns zu sagen und zu geben hat, verweist uns eben an unseren Mitmenschen und an unsere Welt, die Geschöpfe und die Schöpfung Gottes, für die er gelitten hat und gestorben und auferstanden ist, um unser aller Heil willen. Ihm auf diesem Weg zu folgen, ist gewiss nicht leicht.

Wenn wir Abendmahl feiern, dann stellen wir zeichenhaft dar, was uns im täglichen Umgang miteinander zu verwirklichen so schwerfällt: dass wir durch die Liebe Jesu Christi zu einem Leib verbunden sind.

Pfingsten verhilft uns zur ersehnten Einheit

26. Mai 1980

Pfingstmontag

1. Korinther 12,4-11

Bei uns im Pastorat an der Hoheluftchaussee sind in den letzten Wochen die Handwerker gewesen – und sie werden dort zum Teil wohl noch für einige Zeit sein: Maurer, Heizungsmonteure, Klempner, Tischler, Fußbodenleger, Elektriker, Maler. Es ist faszinierend zu beobachten, wie die Renovierung des Hauses im Zusammenspiel dieser verschiedenen Berufe erledigt wird. Ein Arbeitsgang ist auf den anderen abgestimmt. Da muss eine bestimmte Reihenfolge eingehalten werden. Die Handwerker sind voneinander abhängig. Das Zusammenspiel funktioniert ganz gut. Man kann sich fragen: Warum? Was ist es, dass dieses Zusammenwirken verschiedener Berufe so verhältnismäßig gut funktionieren lässt? Es ist vielleicht vor allem das Geld. Ist es das Geld, was die Welt im Innersten zusammenhält? Das kann man wohl nicht sagen. Aber das Streben nach Verdienst ist zumindest ein starkes Motiv für eine disziplinierte Zusammenarbeit der verschiedenen Berufssparten.

Mit der Zusammenarbeit in Korinth klappte das offenbar nicht so gut – jedenfalls zu einer bestimmten Zeit nicht. Paulus hatte davon gehört, dass in der Gemeinde in Korinth in Griechenland, die er selbst gegründet hatte, die verschiedenen Gruppen gegeneinander arbeiteten. Auch die Korinther sollten bauen, ausbauen, nicht ein Haus, viel mehr noch: die Gemeinde.

Auch für den Bau der Gemeinde wurden und werden – im übertragenen Sinne – Handwerker gebraucht, verschiedene Begabungen, nämlich für die Verkündigung, die Diakonie, die Seelsorge, die Organisation. Wir brauchen nur die zahlreichen Aufgaben in unserer Gemeinde anzusehen, die haupt- und nebenamtlich wahrgenommen werden.

Paulus hatte erfahren, dass unter den Korinthern Gruppen miteinander im Streit lagen, gegeneinander arbeiteten, weil sie theologisch unterschiedlich dachten und wohl auch, weil sie einander aus persönlichen Gründen nicht wohlgesonnen waren. Auch Paulus fragte sich: Was ist es eigentlich, das eine Gemeinde zusammenhält, das die Gemeindeglieder dazu bringen kann, an einem Strang zu ziehen, gemeinschaftlich mit den verschiedenen Begabungen an einer Sache zu arbeiten?

Seine Antwort war nicht das Geld. Das gemeinschaftliche Wirken einer Gemeinde kann und darf nicht durch das Geld, durch den Verdienst bestimmt sein, wenn auch die Diskussionen in der Kirche um die finanziellen Probleme manchmal das Gegenteil zu vermuten nahelegen.

Paulus verweist auf den einen Geist, den Heiligen Geist, den Geist der Liebe als das Band zwischen allen Gemeindegliedern. Er verweist auf den einen Herrn Jesus Christus, in dessen Namen die Gemeinde zusammenkommt. Und er verweist auf den einen Gott, den Schöpfer und Ursprung aller Dinge.

Es schmerzt Paulus, dass die Gemeinde in Korinth so sehr gespalten ist. Es geht ihm nicht darum, dass die Gemeinde „funktioniert“. Seine Sorge ist nicht, dass verschiedene Arbeitsgänge in der Gemeinde vielleicht nicht erledigt werden könnten. Ihn bekümmert vielmehr die Vorstellung, dass die wesentlichen Inhalte des christlichen Glaubens von ihnen nicht mehr wahrgenommen werden und in ihnen keine Wirkung mehr haben könnten.

Zu den wesentlichen Inhalten des christlichen Glaubens zählt der Glaube daran, dass alle Menschen geliebte Kinder Gottes, des einen Vaters, sind und dass alle Menschen Brüder und Schwestern sind. Das mit der Vaterliebe und der Geschwisterliebe ist natürlich kein unproblematisches Bild. Das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern und das Verhältnis von Geschwistern untereinander ist gar nicht immer so besonders gut, dass es als vorbildlich hingestellt werden könnte. Aber die Blutsverwandtschaft wird doch gemeinhin als das engste Band zwischen Menschen angesehen. Wenn ich meinen Vater oder meinen Bruder vor Gericht anzeigen würde, dann würde das als weit schäbiger empfunden werden, als wenn ich Gleiches mit Herrn X oder Y täte.

Der christliche Glaube zielt darauf ab, dass wir uns menschlich aufs Engste miteinander verbinden, dass wir alle uns trennenden Schranken übersteigen und aufeinander zugehen – bis in den persönlichen Bereich hinein. Das sage ich nicht nur so. Ich meine das ernst. Natürlich braucht jeder Mensch einen Bereich des ganz Privaten, zu dem kein anderer Zugang hat. Aber wir ziehen die Grenzen um uns herum sehr weit. Wir halten uns andere Menschen weit vom Leib.

Ich sage das jetzt mal ganz kritisch – vielleicht denken Sie anders. Wir messen dem Persönlich-Privaten eine beschämend hohe Bedeutung bei: Es macht uns gar nichts aus, lange darüber nachzudenken, ob wir für Leprakranke 50 Pfennig oder eine Mark spenden sollen. Aber wenn es darum geht, ob wir uns selbst eine Stereoanlage für 500 DM oder für 1000 DM anschaffen sollen, ist der Fall klar. Für uns selbst ist das Beste geradegut genug. Zu unserem Selbst zählt im allgemeinen noch die Familie.

Der Bereich unserer Wohnung, unseres Hauses ist ein Heiligtum. Da haben Außenstehende so leicht keinen Zutritt. Aus einem Besuch machen wir eine Zeremonie, die das Ungewöhnliche des Ereignisses unterstreicht. Vielleicht übertreibe ich, vielleicht klingt das auch alles moralistisch. Ich finde jedenfalls, dass uns Geschichten wie die von Zachäus, wo Jesus sich bei dem verrufenen Zöllner zum Essen eingeladen hat, oder die von der Samariterin am Jakobsbrunnen, die Jesus so ganz persönlich anspricht, uns noch eine Menge zu sagen haben.

Wir sind eine Gesellschaft passionierter Einzelner und Kleinstgrüppchen. Es sind gar nicht einmal erst Streitigkeiten, die uns voneinander trennen. Es scheint überhaupt tief in uns verwurzelt zu sein, in uns Menschen schlechthin, dass uns jede Äußerlichkeit willkommen ist, um uns voneinander zu distanzieren: die fremde Sprache des Ausländers, die geringe Position des Arbeitskollegen, aber auch das ungewaschene Auto des Nachbarn.

Wir trennen uns voneinander, aber wir leiden auch unter der Trennung und tragen eine geheime Sehnsucht nach Einheit in uns. Im Alten Testament spricht sich in mythologischen Bildern die Ahnung davon aus, dass wir eine ehemals vorhandene Einheit verloren haben, ja, dass wir sie durch menschliche Schuld verspielt haben.

Im Paradies lebten Adam und Eva noch in enger Gemeinschaft mit Gott. Als Strafe für ihren Eigensinn wurden sie hinausgeworfen. Die brüderliche Gemeinschaft zwischen Kain und Abel zerbrach, als Kain sich Abel gegenüber zurückgesetzt fühlte und sich gegen die schicksalhafte Ungerechtigkeit auflehnte. Er musste zur Strafe unruhig in der fremden Welt umherirren. Die Einheit der Gesellschaft zerbrach, als die Menschen im Größenwahn einen Turm bis an den Himmel zu bauen versuchten. Zur Strafe wurde die Verständigung unter ihnen gestört. Sie begannen verschiedene Sprachen zu sprechen.

Die Geschichte des Menschen ist zunächst, so beschreibt es das Alte Testament, eine Geschichte der Trennung, der Loslösung, des Verlustes einer einstigen Einheit. Die Einheit ließe sich über die Sünderfallgeschichte hinaus noch ein oder zwei Stationen weiter vordatieren. Denn zu allererst war der Mensch auch eins mit der Erde, bevor Gott sich einen Erdenkloß nahm und daraus einen Menschen formte. Und nachdem er so einen Menschen geschaffen hatte, trennte er von diesem einen einen zweiten. Aus einer Rippe des ersten Menschen erschuf Gott einen zweiten, die Frau. So beschreibt es uns das Alte Testament.

Jeder von uns hat diesen Prozess der Trennung, der im Alten Testament mythologisch beschrieben ist, am eigenen Leibe – biologisch durchgemacht. Im Mutterleib war noch die Einheit da. Dann wurden wir hinausgestoßen, die Nabelschnur zerschnitten. Für Jahre noch klammerten wir uns von außen her an den Mutterleib. Doch dann nahmen wir mehr und mehr Abstand. Wir wurden uns unserer selbst bewusst. Wir entwickelten unsere eigenen Fähigkeiten und wurden selbstständig. Was biologisch mit uns geschehen war, begannen wir dann willentlich zu unterstützen. Wir entdeckten, dass wir anders waren als andere Menschen und wir begannen, die Unterschiede herauszustreichen, immer so, dass dabei unsere besonderen Stärken sichtbar wurden. So haben wir uns gegen die Einsicht verteidigt – und tun es noch, dass wir in vielem anderen unterlegen sind.

So ist die Betonung des Trennenden für uns zu einer Frage des Überlebens geworden. Wir suchen unser Heil in der Stärkung und Sicherung unseres eigenen Ichs. Zugleich empfinden wir den Verlust der Einheit aber als belastend und bedrohlich. Wir sehnen uns nach der Überwindung alles Trennenden. Wir sehnen uns danach, die Einheit wiederzuerlangen. Wir sehnen uns nach Liebe.

Der Mensch ist, so sehr er biologisch einerseits auf Trennung hin angelegt ist, so sehr ist er biologisch zum anderen auf Einheit hin angelegt. Nur zwei verschiedene Menschen können neues Leben schaffen – Mann und Frau. Wir sind biologisch aufeinander bezogen. Wir können diese Vorgabe als Hilfestellung empfinden, wieder zueinander zu finden.

Es fällt uns schwer, den Weg aufeinander zu in bewusster Entscheidung zu gehen. Dazu sind wir einfach zu sehr um uns selbst besorgt. Wir haben Angst davor, uns in dem anderen ganz zu verlieren, und halten darum an uns fest. Der Weg, den wir gehen müssten, um wieder Einheit zu erleben, und den wir gehen wollen, aber nicht recht zu gehen wagen, für diesen Weg bereitet uns Pfingsten zu.

Pfingsten ist das Fest der Einheit. Die babylonische Sprachenverwirrung wird aufgehoben. Kommunikation wird wieder hergestellt. Menschen können wieder miteinander sprechen, einander verstehen. Es ist der Heilige Geist, der Geist der Liebe, der dies in Szene gesetzt hat.

Natürlich gibt es noch die vielen Sprachen in der Welt. Aber sie können da nicht mehr trennen, wo Menschen vom Geist Jesu Christi erfasst sind. Jesus Christus hat nicht sich selbst gesucht. Er hat auch nicht seinesgleichen gesucht. Er hat die zahllosen Grenzen, die zwischen Menschen aufgerichtet werden, überschritten. Er hat aus Fremden Freunde gemacht. Er hat seine Mitmenschen als sein eigen Fleisch und Blut behandelt. Da wir alle uns nach Einheit sehnen, und zwar nicht erst nach Rückkehr in die Erde, von der wir genommen sind, und auch nicht erst nach der mystischen Einheit in einem Jenseits, sondern nach lebendiger Einheit in menschlicher Gemeinschaft, kommt es für uns auf Zweierlei an: zum einen, dass wir uns befreien lassen von der übermäßigen Sorge um uns selbst, indem wir uns lieben lassen, d. h. daran glauben, dass wir geliebte Kinder Gottes sind. Zum anderen kommt es darauf an, dass wir selbst lieben im Vertrauen darauf, dass der Heilige Geist, der gute Geist Gottes, so durch uns wieder verbinden hilft, was zerrissen ist.

Ich wünsche uns, dass der Heilige Geist in uns und durch uns sein gutes Werk vollbringen möge.

Mit Jesus Christus Grenzen überwinden

15. Juni 1980

2. Sonntag nach Trinitatis

Epheser 2,17-22

Jesus Christus ist eine Integrationsfigur. Was ist das – eine Integrationsfigur? Unser Text sagt: „Jesus Christus hat in sich selber aus zwei Menschen einen neuen Menschen geschaffen und so Frieden zwischen beiden gestiftet.“ Mit den beiden Menschen sind die Juden einerseits und andererseits die Nichtjuden bzw. Heiden, wie sie im Neuen Testament genannt werden, gemeint.

Paulus sagt: „Jesus Christus hat den Zaun zwischen Juden und Nichtjuden abgerissen. Er hat die Feindschaft zwischen ihnen beendet.“ Er hat die ehemaligen Feinde zusammengeführt, hat Freunde aus ihnen gemacht.

Paulus muss es wissen. Er hatte als strenggläubiger Jude die vom rechten Glauben abgefallenen Juden, nämlich die Christen, verfolgt. Das sind für ihn Ketzer gewesen, bis ihm eines Tages die Augen aufgingen. Er lernte Jesus Christus als denjenigen kennen, der auch noch seinen ärgsten Feind als Bruder anzusprechen bereit war. Das hatte ihn, Paulus, zutiefst angesprochen. Das hatte ihn im Innersten so gepackt, dass er nicht weitermachen konnte wie bisher. Er kehrte um. Aus einem Feind der Christen wurde ein Freund der Christen. Paulus ließ sich taufen und wurde selbst Christ. Er hatte seitdem besonderes Verständnis für diejenigen, die dem christlichen Glauben fernstanden, die vom christlichen Glauben nichts wussten oder auch nichts wissen wollten.

Er machte es sich zur Lebensaufgabe, auf solche Menschen, solche Außenstehenden zuzugehen. Er war bei diesem Unternehmen von der Zuversicht erfüllt, dass er mit der Botschaft von Jesus Christus die Grenzen zwischen sich und den Fremden, den Andersdenkenden würde überwinden können.

Für Paulus ist Jesus eine Integrationsfigur, ein Mensch, der andere Menschen zusammenführen kann, auch und gerade ganz gegensätzliche Menschen, Menschen unterschiedlichen Herkommens, unterschiedlicher Denkweise. Ein Mensch, der nicht nur andere zusammenführen kann, sondern das auch ausgiebig getan hat, der dies zu seiner Lebensaufgabe gemacht hat, der sich dafür aufgeopfert hat, der für dieses Werk der Versöhnung sogar gestorben ist.

Es gibt Menschen, die keine Integrationsfiguren sind. Die verschärfen schon vorhandene Gegensätze oder schaffen gar noch neue. Es gibt Menschen, die polarisieren, die rufen bei den einen stürmische Begeisterung, bei den anderen totale Ablehnung hervor. Vielleicht kennen Sie solche Menschen aus ihrem privaten Bereich, aus dem Bereich der Kirche oder vielleicht am ehesten aus dem Bereich der Politik.

Wir können noch einmal kritisch zurückfragen, ob Jesus Christus wirklich eine Integrationsfigur ist. Er hat in gewisser Weise auch polarisiert. An ihm schieden und scheiden sich die Geister. Er hat ja immerhin einen Teil der damaligen Bevölkerung, eine einflussreiche Schicht, mit seinem Auftreten so sehr provoziert, so starke Ablehnung hervorgerufen, dass man ihn für die Gesellschaft nicht mehr für tragbar hielt und ihn beseitigte.

Wir kennen ja auch so harte Sätze von ihm wie diese: „Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin, Frieden zu bringen, sondern das Schwert. Denn ich bin gekommen, den Menschen mit seinem Vater zu entzweien und die Tochter mit ihrer Mutter und die Schwiegertochter mit ihrer Schwiegermutter. Und des Menschen eigene Hausgenossen werden seine Feinde sein.“ Und es wird gesagt, dass durch ihn die Spreu vom Weizen getrennt wird.

Das sind Töne, die in erheblichem Widerspruch zu dem zu stehen scheinen, was uns Paulus über Jesus Christus als Integrationsfigur mitteilt.

Was also, so müssen wir noch einmal fragen, ist eine Integrationsfigur? Ist das ein Mensch ohne eigene Position, ohne eigene Persönlichkeit, einer, der sich an jeden anpassen kann, der die Kunst beherrscht, es allen recht zu machen, vielleicht einer, der jedem nach dem Munde redet, der sich geschickt mit dem Wind in jede beliebige Richtung drehen kann, einer, der die Kunst des Kompromisses beherrscht, einer, der alles gelten lässt, dem alles recht ist, einer, für den die äußere Ruhe oberste Bürgerpflicht ist?

Wir spüren gleich: Auf Jesus Christus wollen diese Merkmale jedenfalls nicht passen: Er ist nicht diese schwammige, anpassungsfähige, jedem Druck nachgebende Gestalt. Er ist nicht eine gesichtslose Knetmasse, die jeder nach Herzenslust formen kann. Er ist kein unverbindlicher Schönwetteredner.

Aber diese Merkmale machen eben auch nicht die Integrationsfigur aus. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein solcher „Herr für jedermann“ wirklich Menschen unterschiedlicher Art zusammenführen kann.

Eine Integrationsfigur muss schon eine starke eigene Persönlichkeit, eine klar erkennbare, überzeugend dargebotene Eigenart haben. Und diese Eigenart muss zur Identifikation herausfordern. Für die Jugendlichen von gestern waren die Beatles als Gruppe eine Integrationsfigur. Diese Gruppe hatte gewiss eine stark ausgeprägte Eigenart, in ihrer Musik, aber auch in ihrem ganzen Auftreten. Jugendliche in aller Welt und aus allen gesellschaftlichen Schichten fühlten sich durch ihre Art im Innersten angesprochen. Wo es um das Thema Beatles ging, wo ihre Musik erklang, wo ihr Bild zu sehen war, da wurde unter Jugendlichen ein Gefühl der Verbundenheit wach, z. T. ist es ja noch jetzt so. Gewisse bei Jugendlichen überall vorhandene Empfindungen, Sehnsüchte, Hoffnungen fanden in dieser Gruppe ihren Ausdruck. Sie ist damit zum Symbol geworden, zu einem Symbol, das die Kraft hatte, Menschen, Jugendliche, dies sich ansonsten in vielem unterscheiden, zusammenzuführen.

Es gibt noch eine andere Art von Integrationsfigur, die uns auch gut bekannt ist, nämlich eine Person, die in der Lage ist, Menschen zu vereinen durch ein gemeinsames Feindbild. Wenn eine Person überzeugend den Antikapitalismus vertritt, kann es sein, dass viele Menschen, die sich ansonsten in vielem unterscheiden, durch das Auftreten dieser Person geeint werden. Genauso kann es gehen mit Personen, die ganz ausgeprägt den Antikommunismus verkörpern oder überhaupt ein sonstiges „Anti“.

Eine Integrationsfigur muss also schon eine starke Eigenpersönlichkeit, eine stark ausgeprägte eigene Position haben, die dann zur Identifikation herausfordert.

Dies trifft auch für Jesus Christus zu. Er ist aber eine Integrationsfigur in einem viel umfassenderen Sinne als die beiden bisher genannten. Ihm geht es nicht um eine Teilintegration. Er will nicht nur Jugendliche zusammenführen. Und er will Menschen nicht dadurch zusammenführen, dass er sie gegen andere abgrenzt. Er möchte alle Menschen, Jung und Alt, Freund und Feind zusammenbringen. Wie ist so etwas überhaupt möglich? Wie ist dies durch Jesus Christus möglich? Ist dies nicht überhaupt unmöglich, zumal mit einer so umfassenden Vereinigung ein Stück Aufgabe der eigenen Art verbunden ist?

Ich möchte vier Merkmale nennen, die zu einer umfassenden Integration führen können – und ich sehe sie in Jesus Christus erfüllt:

Erstens ist es erforderlich, dass jeder Mensch in seiner besonderen Eigenart und jede von ihm vertretene Position ernst genommen wird. Die Respektierung des anderen und seiner persönlichen Einstellungen ist das Erste. Erst wenn das sichergestellt ist, kann als Zweites über die Unterschiede oder gar Gegensätze offen gesprochen werden, ohne dass einer das Gefühl haben muss, von dem anderen herabgesetzt zu werden.

Als Drittes der Aufruf zur Veränderung. Er darf nur so ergehen, dass dem anderen die Freiheit belassen wird, sich selbst zu entscheiden. Er darf nicht moralisch gezwungen werden. Die Entscheidung zur Veränderung muss eine ganz persönliche Entscheidung bleiben, die auf eigenen Empfindungen, Gefühlen, Überlegungen und Einsichten beruht. Und die Entscheidung zur Veränderung bei vielen ist überhaupt nur möglich, wenn als Viertes die Integrationsfigur Werte verkörpert, auf die sich alle gern zu einigen bereit sind, über alle sonstigen Unterschiede hinweg.

In Jesus Christus ist die Liebe zum Menschen verkörpert, die Annahme jedes Einzelnen ungeachtet seines gesellschaftlichen Standes, seines Geldbeutels, seiner körperlichen und geistigen Fähigkeiten, seiner moralischen Qualitäten und auch seines religiösen Herkommens. Er versteht diese Liebe zum Menschen als eine bedingungslose Vorgabe. Der Mensch findet sich als geliebtes Wesen vor, so, wie er sich schon als lebendes Wesen vorfindet. Und so, wie er sich das Leben nicht selbst gegeben hat, so hat er sich auch die Liebe nicht verdient. Sie ist ihm von vornherein gegeben. Sie ist in Jesus Christus verkörpert. Sie als Grundlage des Lebens überhaupt anzunehmen, ist der Anspruch, der von Jesus Christus ausgeht.

Jesus Christus richtet sich an jeden Menschen. Was er zu sagen hat, scheint mir geeignet, Menschen jeder Art zusammenzuführen und zu einer großen Gemeinschaft zu verbinden.

Es hat freilich immer Menschen gegeben, die an ihm Anstoß genommen haben, und vielleicht wird das so bleiben. Juden zur Zeit Jesu empfanden es als unerhört, dass plötzlich die Gnade wichtiger sein sollte als das Recht, dass die Vergebung den Vorrang haben sollte vor der Befolgung des Gesetzes. Sie empfanden die Verkündigung Jesu als umstürzlerisch und beseitigten ihn. Ebenso wurden später seine Anhänger immer wieder verfolgt.

Dennoch, die Kraft der Liebe ist stärker. Sie führt Menschen zusammen und wird es weiter tun: Juden und Nichtjuden, Christen und Nichtchristen, Schwarze und Weiße, Deutsche und Ausländer, Kommunisten und Kapitalisten, Arm und Reich, Mann und Frau, Jung und Alt. Daran glaube ich. Und daran möchte ich mitwirken, mitbauen an dem Haus, dessen Eckstein Jesus Christus ist, der alles zusammenhält, an dem Haus, in dem aus Gästen und Fremden alle zusammen Gottes Hausgenossen geworden sind.

Ein letztes Gericht über uns?

29. Juni 1980

4. Sonntag nach Trinitatis

Römer 14,10-13

In unserem Predigttext heißt es: „Wir alle werden vor den Richterstuhl Gottes gestellt werden. Jeder wird für sich selbst Gott Rechenschaft geben.“