Das Ja zum Leben und zum Menschen, Band 14 - Wolfgang Nein - E-Book

Das Ja zum Leben und zum Menschen, Band 14 E-Book

Wolfgang Nein

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Beschreibung

Die Predigt bleibt weiterhin eine bedeutsame Herausforderung. Sie hat für die existentiellen Grundsituationen des menschlichen Seins aus der christlich-jüdischen Tradition Wertvolles anzubieten. In dieser Predigtsammlung "Das Ja zum Leben und zum Menschen" sind die Bemühungen aus ca. vier Jahrzehnten zusammengestellt.

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Das Christliche kann gesellschaftlich brisant sein

7. Januar 1979

1. Sonntag nach Epiphanias

Matthäus 2,1-12

Jesus – menschlich mit göttlicher Absicht

14. Januar 1979

2. Sonntag nach Epiphanias

Johannes 2,1-11

Jesus Christus – ewiges Leben jetzt

21. Januar 1979

3. Sonntag nach Epiphanias

1. Johannes 5,9-13

Wie in einem Traum: Drei Personen – drei Konzepte

4. Februar 1979

Letzter Sonntag nach Epiphanias

Matthäus 17,1-9

Auf welchen Boden fällt bei uns das Wort Gottes?

18. Februar 1979

Sexagesimae

(2. Sonntag vor der Passionszeit)

Lukas 8,4-8(9-15)

Unglaubliche Hoffnung?!

11. März 1979

Reminiszere

(2. Sonntag in der Passionszeit)

Markus 12,1-12

Jesus nachfolgen – aber wie?

18. März 1979

Okuli

(3. Sonntag in der Passionszeit)

Lukas 9,57-62

Von Herzen dienen

1. April 1979

Judika

(5. Sonntag in der Passionszeit)

Matthäus 20,20-28

Leibhaftige Liebe, Vergebung, Hoffnung

12. April 1979

Gründonnerstag

Markus 14,22-24

Auferstehung: Mut und Hoffnung fürs Leben stärken

15. April 1979

Ostersonntag

Markus 16,1-8

Skepsis, aber auch Offenheit für das gute Angebot

22. April 1979

Quasimodogeniti

(1. Sonntag nach Ostern)

Johannes 20,19-29

Christliche Inhalte – schwer verdauliche Kost?

6. Mai 1979

Jubilate

(3. Sonntag nach Ostern)

Konfirmation

Markus 9,24

Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges

19. Mai 1979

Samstag vor Rogate

Konfirmandenabendmahl

Lukas 22,19-23

Kirche hat mit grundsätzlichen Fragen zu tun

20. Mai 1979

Rogate

(5. Sonntag nach Ostern)

Konfirmation

Psalm 86,11

Christsein – verheißungsvoll und gefährlich

27. Mai 1979

Exaudi

(6. Sonntag nach Ostern)

Johannes 15,26-16,4

Ein persönliches Verhältnis zum Dasein macht Sinn

4. Juni 1979

Pfingstmontag

Matthäus 16,13-19

Das Unverfügbare und der Geist Gottes

10. Juni 1979

Trinitatis

Johannes 3,1-8(9-15)

Niemanden aufgeben!

1. Juli 1979

3. Sonntag nach Trinitatis

Lukas 15,1-7

Selbstkritisch urteilen und erziehen

8. Juli 1979

4. Sonntag nach Trinitatis

Lukas 6,36-42

Gnade und Friede allen Menschen!

26. August 1979

11. Sonntag nach Trinitatis

Lukas 18,9-14

Die Abgründe des menschlichen Wesens

2. September 1979

12. Sonntag nach Trinitatis

Matthäus 5,9

Demut entspricht der Wahrheit unseres Lebens

7. Oktober 1979

17. Sonntag nach Trinitatis

Matthäus 15,21-28

Liebe zu Gott und zum Menschen sind untrennbar

14. Oktober 1979

18. Sonntag nach Trinitatis

Matthäus 12,28-34

Gesetze spiegeln die menschlichen Schwächen

28. Oktober 1979

20. Sonntag nach Trinitatis

Markus 10,2-9

Nichtmilitärische Friedensarbeit stärken!

18. November 1979

Volkstrauertag

(Vorletzter Sonntag des Kirchenjahres)

Andachten an Gedenksteinen in Gudendorf und Franzenburg

Matthäus 5,9

Sich zusammensetzen und sich auseinandersetzen

21. November 1979

Buß- und Bettag

Ökumenischer Gottesdienst in St. Marien

1. Korinther 13,12

Dem Tod begegnen mit der Liebe zum Leben

25. November 1979

Totensonntag / Ewigkeitssonntag

(Letzter Sonntag des Kirchenjahres)

Offenbarung 21,4

In liebevoller Verantwortung der Zukunft entgegen

2. Dezember 1979

1. Advent

Römer 13,8-12(13-14)

Auch für uns unerfüllbare Wünsche haben ihren Sinn

9. Dezember 1979

2. Advent

Jakobus 5,7-8

Das Menschliche ist die göttliche Botschaft

24. Dezember 1979

Heiligabend

Titus 2,11-14

Das Christkind hat uns viel zu geben

25. Dezember 1979

1. Weihnachtstag

Lukas 2,15-20

Dieses Jahr und die Jahrzehnte des Lebens

31. Dezember 1979

Altjahrsabend

Römer 8,31b-39

Das flüchtige und notwendige Gefühl des Neubeginns

1. Januar 1980

Neujahr

2. Korinther 5,17

Wir leben von menschlicher Nähe

13. Januar 1980

1. Sonntag nach Epiphanias

Kolosser 2,8-15

Von Herzen lieben!

20. Januar 1980

(2. Sonntag nach Epiphanias)

St. Markus, Hamburg-Hoheluft

Vorstellungsgottesdienst

Römer 12,9-16

Das christliche Ziel seines Lebens

3. Februar 1980

Septuagesimae

(3. Sonntag vor der Passionszeit)

1. Korinther 9,24-27

Scheinbare und wahre Liebe

17. Februar 1980

Estomihi

(Sonntag vor der Passionszeit)

1. Korinther 13,1-13

Jesus – menschlich und göttlich zugleich

2. März 1980

Reminiszere

(2. Sonntag der Passionszeit)

Hebräer 2,14-18

Lassen wir uns befreien vom Tod in unserem Leben!

23. März 1980

Judika

(5. Sonntag der Passionszeit)

Hebräer 5,7-9

Erstaunlich: Die Menschenfreundlichkeit Gottes

30. März 1980

Palmarum

(6. Sonntag der Passionszeit)

Philipper 2,5-11

Versöhnung statt Hass und Rache

4. April 1980

Karfreitag

2. Korinther 5,(14b-18)19-21

Wir brauchen gute Erfahrungen

6. April 1980

Ostersonntag

1. Korinther 15,19-28

Liebe zum Leben und zum Menschen – mit Hingabe

4. Mai 1980

Kantate

(4. Sonntag nach Ostern)

Konfirmation

Johannes 3,16

Sündenbekenntnis – Zeichen menschlicher Würde

17. Mai 1980

Samstag vor Exaudi

Konfirmandenabendmahl mit Beichte

Matthäus 26,26-28

Das große Ja und das große Dennoch

18. Mai 1980

Misericordias Domini

(2. Sonntag nach Ostern)

Konfirmation

1. Johannes 4,16b

Bibelstellen

Vorwort

Das Thema „Predigt“ lässt sich in zwei große Bereiche unterteilen: „Was predigen?“ und „Wie predigen?“ Es geht um den Inhalt und um die Form.

Die Predigt soll inhaltlich eine Botschaft vermitteln, die geeignet ist, als Lebenshilfe zu dienen. Es soll eine frohe Botschaft sein und insbesondere „die Frohe Botschaft“, das Evangelium, die biblischen Texte des Alten und des Neuen Testaments. Die Predigt soll den Inhalt verständlich und glaubwürdig vermitteln und zwar so, dass sie Herz und Verstand anrührt und anregt und für das eigene Verhältnis zum Leben und zum Menschen praktisch nutzbar gemacht werden kann.

Sowohl inhaltlich als auch formal ist die Predigt keine leichte Aufgabe.

Eine frohe Botschaft zu vermitteln ist schon angesichts der vielen unerfreulichen Erfahrungen mit dem Leben und dem Menschen nicht so einfach. Auch nicht einfach – oder besser gesagt: sogar recht schwierig – ist es, aus den biblischen Texten das Frohe herauszufinden. Das Kreuz als zentrales Symbol des christlichen Glaubens ist ursprünglich ein Todeswerkzeug. Und die Auferstehung? Es ist zwar einerseits schön, wenn einer aus dem Tod ins Leben zurückkehrt; aber die Berichte von der Auferstehung wirken andererseits einfach allzu unglaublich. Auch die sonstigen vielen Wundergeschichten sind schwer verdauliche Kost, ebenso die vielen Kriegsschilderungen und Erzählungen über Untaten von Menschen, über Streit in den ersten Gemeinden, über Verfolgungen und Ähnliches.

Die sich an die Zeit der biblischen Texte anschließende Entwicklung der Kirchengeschichte bietet ebenfalls viel Unerfreuliches. Diesbezüglich sieht sich der Prediger oft mit kritischen Einwänden konfrontiert. Und Stirnrunzeln und Unwillen ruft der Prediger hervor, wenn er die Verkündigung des Frohen seiner Botschaft mit dem Aufruf zur Selbstkritik verbindet. Den Begriff „Sünde“ zum Beispiel trauen sich manche Prediger schon kaum noch in den Mund zu nehmen. Solche inhaltlichen Probleme haben inzwischen zu einer gewissen Ratlosigkeit in der Theologie geführt.

Die formellen Schwierigkeiten der Predigt sind kaum geringer als die inhaltlichen. Mit der theologischen und kirchlichen Sprache sind immer weniger Menschen vertraut. Dogmatische Aussagen stoßen eher auf Widerwillen. Man möchte verstehen und nachvollziehen können, was gesagt wird. Da biblische Texte immer weniger bekannt sind und vielfach eher mit Zurückhaltung betrachtet werden, versuchen Prediger zum Beispiel verstärkt Texte aus der weltlichen Literatur einzubeziehen. Diese sind freilich oft auch nicht leicht zu verstehen.

Zu den inhaltlichen und formellen Herausforderungen der Predigt kommt der Tatbestand hinzu, dass die Predigt nur eine von vielen Aufgaben desjenigen ist, der regelmäßig zu predigen hat. Mancher hat für andere Aufgabe ein größeres Talent als gerade für das Predigen. Und wer über das erforderliche Talent verfügt, hat vielleicht nicht die erforderliche Zeit und Ruhe für gerade diese Aufgabe, die vor allem im lutherischen Gottesdienst eigentlich eine besonders wichtige Rolle spielt.

So mag dann mancher Gottesdienstbesucher von der Predigt enttäuscht sein und seinen nächsten Gottesdienstbesuch weiter hinausschieben.

Die Predigt bleibt aber weiterhin eine bedeutsame Herausforderung. Sie hat für die existentiellen Grundsituationen des menschlichen Seins aus der christlich-jüdischen Tradition Wertvolles anzubieten. In dieser Predigtsammlung „Das Ja zum Leben und zum Menschen“ sind die Bemühungen aus ca. vier Jahrzehnten zusammengestellt. Viel Freude beim Lesen!

Wolfgang Nein, September 2018

Das Christliche kann gesellschaftlich brisant sein

7. Januar 1979

1. Sonntag nach Epiphanias

Matthäus 2,1-12

Der 6. Januar spielt in unserem kirchlichen Leben hier in Norddeutschland keine besonders wichtige Rolle. In südlichen katholischen Ländern und auch in der orthodoxen Kirche wird am 6. Januar das Epiphanienfest in besonderer Weise gefeiert, das Fest der Erscheinung Jesu Christi. Wir feiern die Erscheinung Jesu Christi als das Auftreten Gottes in menschlicher Gestalt zu Weihnachten als Fest der Geburt Jesu. Der 6. Januar verbindet sich für uns mit dem Auftreten der Weisen aus dem Morgenland oder, wie sie auch genannt werden, der Heiligen Drei Könige.

Um diese Geschichte von den Heiligen Drei Königen soll es heute gehen. Wer sie waren, wissen wir nicht so genau. Vielleicht waren es Astrologen, Sterndeuter. Auf jeden Fall waren sie Nichtjuden, also – von den Juden aus gesehen – Heiden. Und da liegt sicherlich eine wesentliche Aussage dieser Geschichte von den Heiligen Drei Königen. Als Nichtjuden bringen sie dem jüdischen Kind ihre Verehrung dar. Als Heiden erkennen sie in dem jüdischen Kind den Erlöser auch für sie.

Diese Erzählung sagt uns: Jesus Christus ist nicht nur für die Juden gekommen, sondern auch für die Heiden. Er ist für alle Menschen gekommen. Das ist für uns heute selbstverständlich. Aber in der Anfangszeit des Christentums, zur Zeit seiner ersten Ausbreitung, war das gar nicht selbstverständlich. Die ersten Anhänger Jesu waren Juden. Und sie verlangten von den Heiden, dass sie erst Juden werden müssten, wenn sie sich zu Jesus Christus als ihrem Herrn bekennen wollten.

Erst durch den Apostel Paulus ist hier eine Änderung eingetreten. Er, der selbst Jude war, machte deutlich, dass Jesus Christus für alle Menschen gekommen ist, und begann im großen Stil die Heidenmission. Ihm ist es letztlich zu verdanken, dass auch wir Christen sind.

Die Erzählung von den Weisen aus dem Morgenland hat uns aber noch mehr zu sagen. Wir erleben, wie Jesus in eine bestimmte geschichtliche Situation hineingeboren wird und Spannungen erzeugt, politische Spannungen. Er wird zum Stein des Anstoßes. Die einen sind über sein Erscheinen zwar erfreut, die Weisen aus dem Morgenland. Sie kommen von weit her, ihm zu huldigen und bringen wertvolle Geschenke mit. Aber der König im Lande, der jüdische König Herodes, sieht in dem neugeborenen Kind eine Gefahr, eine Bedrohung seiner eigenen Macht. Er fürchtet, vom Thron gestürzt zu werden.

Wir wissen, dass Herodes falsche Vorstellungen vom Zweck des Auftretens Jesu hatte. Jesus wollte nicht ein König mit politischer Macht sein. Allerdings – und da mochte Herodes das Richtige gespürt haben – konnte Jesus auch ohne staatliche Machtstellung zu einer politischen Bedrohung werden, nämlich durch die Lehren, die er verbreitete, und die Weise, wie er mit Menschen umging. Jesus vermochte es, zahlreiche Menschen um sich zu versammelt, sie anzusprechen und für seinen Ruf zur Umkehr, zur Neubesinnung und zur Neugestaltungen ihres Lebens zu gewinnen. Weil sein Einfluss zu groß wurde, musste er schließlich sterben.

Es ist auch heute noch so, dass der Glaube an Jesus Christus zu einer politisch bedeutsamen Macht werden kann. In unserem Land, mögen wir das gegenwärtig kaum spüren. Das liegt wohl einerseits an unserer lauen Haltung als Christen. Den Ruf zur Umkehr, der von Jesus her an uns ergeht, vernehmen wir nur mit halbem Ohr. Er bewirkt bei uns im Allgemeinen nur wenig. Wir leben durchweg als angepasste Christen, die ihren eigenen besonderen Standpunkt kaum kennen, und kompromissbereit sind bis zu dem Punkt, dass wir als Christen kaum noch zu erkennen sind.

Denn, fragen wir uns einmal selbstkritisch: Wo setzten wir uns tatkräftig dafür ein, dass mehr geliebt statt gehasst wird, das vergeben, statt angeklagt wird, dass Gemeinschaft geschaffen statt menschliche Isolierung gefordert wird, das Grenzen zwischen den Völkern, den Rassen, den Glaubensrichtungen abgebaut statt aufgebaut werden, dass Freude vermehrt und die Trostlosigkeit vermindert, dass Not gelindert wird und die Hoffnung wachsen kann? Wo bekennen wir uns klar zu Jesus Christus als dem, der uns von unseren Irrwegen erlöst und befreit zu einem neuen Leben in Liebe und zum Vertrauen in eine gute Zukunft? Wir sind wohl durchweg mittelmäßige Christen, und darum ist die Kraft des christlichen Glaubens, auch die politische Sprengkraft, in unserem Land selten zu spüren.

Aber noch einen anderen Grund mag es dafür geben. Und das ist ein erfreulicher. Es ist wohl so, dass in unserer Gesellschaft vieles, was wir christlich nennen können, zu einer Selbstverständlichkeit geworden ist, zu einem verbreiteten Allgemeingut. Wenn Menschen sich selbstlos für Behinderte einsetzen – und viele tun das –, so tun sie es oftmals nicht bewusst aus christlichem Glauben heraus. Oder wenn eine Frau geduldig ihren schwierigen Ehemann erträgt, so mag sie das ohne bewussten Bezug zum christlichen Glauben tun. Manchen ist in unserer Gesellschaft zu einer Selbstverständlichkeit geworden, was wir letztlich Jesus Christus verdanken.

Das gilt nicht nur für das Verhalten Einzelner und das Verhalten von Gruppen, sondern für unsere staatliche Struktur überhaupt, z. B. für die in unserem Grundgesetz festgelegten Grundrechte. Es gilt weitgehend auch für die konkrete Ausübung staatlicher Gewalt in unserem Land. Das mag sonderbar klingen, gerade weil es ja auch sehr viel Unmut, zu einem guten Teil sicherlich berechtigten Unmut, über unseren Staat gibt.

Aber denken wird nur einmal an andere Staaten, etwa an das Dritte Reich, das ja manche von Ihnen noch aus eigener Erfahrung kennen. Die Grundlage jenes Staates und seine konkrete Anwendung staatlicher Gewalt hatte mit Christlichem nichts mehr zu tun. Es war ein Unrechtsstaat, der einen Politiker als Heilsbringer verkündete, der den Glauben an eine staatliche Ideologie als höchster Heilslehre erzwingen wollte, der Grenzen zwischen Menschen aufrichtete und das Unrecht mit roher Gewalt in aller Welt unendlich vergrößerte. Damals fühlten sich Christen zum klaren Bekenntnis ihres Glaubens aufgerufen. Und ihr Bekenntnis besaß politische Sprengkraft, weil es den staatlichen Ansprüchen widersprach.

Für Adolf Hitler wurden Christen zu einer Bedrohung, wie Jesus eine Bedrohung für Herodes gewesen ist – und für die Pharisäer mit ihrer Gesetzesfrömmigkeit. Er hat deshalb viele Christen wegen ihres nach ihrem Glauben ausgerichteten Verhaltens umbringen lassen. In jener geschichtlichen Situation war die Sprengkraft, die politische Sprengkraft des christlichen Glaubens unmittelbar zu spüren.

Auch heute ließen sich dafür Beispiele finden. In dem mittelamerikanischen Staat Nicaragua etwa, der schon seit Jahrzehnten von einer Familie diktatorisch mit großem Unrecht regiert wird, ist das christliche Reden und Schreiben und Leben des katholischen Priesters Ernesto Cardenal immer eine Bedrohung des Regimes gewesen.

Unsere heutige Geschichte von den Weisen aus dem Morgenland regt uns an, die Wirkung Jesu Christi in der damaligen konkreten geschichtlichen Situation zu bedenken.

Nun ergibt sich für uns aus dieser Geschichte noch eine Frage. Diese drei Männer, die hohen Persönlichkeiten aus dem Ausland, bringen dem eben geborenen Kind wertvolle Geschenke dar: Gold, Weihrauch und Myrrhe. Wenn wir zu denen gehören, die sich über die Geburt Jesu Christi, über das Erscheinen Gottes in menschlicher Gestalt freuen, was würden wir ihm als Ausdruck unserer Freude und unseres Dankes schenken?

Wir befinden uns gegenüber den Heiligen Drei Königen in einer besseren Situation. Während sie nur das kleine Kind kannten, kennen wir die ganze Lebensgeschichte Jesu und können unsere Geschenke also noch gezielter auswählen. Ich meine, das schönste Geschenk ist sicherlich dies, dass wir unser Leben ganz nach dem ausrichten, was er uns zu sagen hat. Das heißt, dass wir uns von ihm zu einem neuen Leben führen lassen, dass wir unsere Schuld erkennen, uns vergeben lassen und unser Leben so ändern, dass darin ein wenig von der Liebe verwirklicht wird, die Jesus Christus uns allen erzeigt hat.

Gott ist in Jesus Christus als Mensch erschienen und ist menschlich mit uns umgegangen. So sollen auch wir es miteinander tun.

Wir feiern in diesem Gottesdienst das Heilige Abendmahl. Im Abendmahl lassen wir an uns zeichenhaft das geschehen, dessentwegen Jesus Christus erschienen ist: nämlich uns zur Umkehr zu rufen, zum Bekenntnis unserer Schuld und um uns die Vergebung Gottes zuzusprechen und uns so freizumachen zu einem neuen Anfang, zu neuer Freude, neuem Lebensmut, neuer Hoffnung. Das Abendmahl macht deutlich, dass Jesus Christus uns nicht aus der Ferne ruft, sondern ganz nahe bei uns ist, mitten unter uns. Er lädt uns an seinen Tisch.

Jesus – menschlich mit göttlicher Absicht

14. Januar 1979

2. Sonntag nach Epiphanias

Johannes 2,1-11

Wer der Kirche, dem christlichen Glauben, der Bibel mit Vorbehalten gegenübersteht, der mag sich durch diese Geschichte in seinen Vorbehalten bestätigt fühlen. Hier wird schier Unglaubliches berichtet: die Verwandlung von Wasser in Wein. Man fragt sich unwillkürlich: Was soll diese Geschichte? Will uns der Evangelist Johannes auf den Arm nehmen? Will er uns zum Narren halten? Hält er uns für Kinder, die noch naiv an Märchen glauben, als wären sie die Wirklichkeit selbst?

Ich glaube nicht, dass uns der Evangelist Johannes für dumm verkaufen will. Mit dieser Wundererzählung von der Hochzeit zu Kana hat er auch kritisch denkenden Menschen Ernstzunehmendes und Wesentliches zu sagen.

Nun nehmen manche gläubige Christen diese Geschichte so wörtlich, wie sie hier steht, d. h. sie sagen: „Es ist wirklich so passiert: Jesus hat Wasser in Wein verwandelt.“ Ich meine, das so wörtlich zu glauben, darauf kommt es nicht an. Davon hängt die Bedeutung dieser Geschichte für uns nicht ab. Ich möchte sogar sagen, dass, wer zu sehr darauf herumreitet, dass diese Verwandlung von Wasser in Wein wörtlich zu nehmen sei, dass der die Sicht für die eigentlich wichtige Aussage dieser Erzählung zu versperren droht.

Der Evangelist Johannes will ja nicht, dass wir an einen Zauberer glauben, an einen, der uns verblüfft mit sensationellen Kunststückchen, die grad das richtige Material für die erste Seite der Bildzeitung wären: „Hochzeit in letzter Minute gerettet: Jude verwandelte Wasser in Wein!“ Nicht einen Zauberkünstler will Johannes uns vorstellen, von dem uns der Mund vor Staunen offenbleibt. Was hätten wir auch davon? Ein wenig das prickelnde Gefühl der Sensation, der Bewunderung.

Aber was will uns Johannes denn nun sagen? Nun, ich meine, er will uns durchaus dazu führen, in Jesus den zu sehen, der etwas fertigbringt, was wir zunächst für unmöglich halten, durch den etwas Wirklichkeit wird, was wir kaum zu glauben wagen. Johannes will uns Jesus vorstellen als die in einem Menschen Wirklichkeit gewordene vollkommene Liebe. Das wird aus seinem ganzen Evangelium deutlich. Und dass wir Jesus in diesem Sinne ganz ernstnehmen und unser Leben danach ausrichten, das ist das Ziel, das Johannes mit seinem Evangelium verfolgt. Wenn er Jesus den Sohn Gottes nennt, dann will er damit deutlich machen: Was dieser Jesus sagt und tut, das ist überhaupt das Allerwichtigste für uns, davon hängen für uns gewissermaßen Leben und Tod ab.

Im Johannesevangelium sagt Jesus einmal – und in dieser Stelle kommt die wesentliche Bedeutung Jesu für uns knapp zusammengefasst zum Ausdruck: „Gleich wie mich mein Vater liebt, so liebe ich euch auch. Das ist mein Gebot: dass ihr euch untereinander liebt, gleichwie ich euch liebe.“

In der Wundererzählung von der Hochzeit zu Kana wird diese Bedeutung Jesu noch nicht so gut deutlich, ja, die Art der Erzählung könnte uns auf Irrwege führen. Jesus soll uns hier als Sohn Gottes dargestellt werden. Die Verwandlung von Wasser in Wein soll dafür ein Zeichen, ein Erkennungszeichen sein. Wie gesagt: Es fällt uns schwer, an diesem Zeichen die eigentliche Bedeutung Jesu zu erkennen. Es ist für uns eher ein Hindernis auf dem Weg zum Glauben. Aber wir sollten uns den Blick für die Absicht des Johannes nicht versperren lassen.

Was in der Erzählung sehr schön zum Ausdruck kommt, ist, dass Jesus mit beiden Beinen in der Welt steht. Er wirkt hier sehr weltlich. Er ist mit seinen Jüngern auf eine Hochzeit eingeladen, bei der offenbar viel Wein getrunken wird. Das war sicherlich so üblich und wäre im Grunde nichts Bemerkenswertes. Nur dass eben Jesus bei einer solchen Veranstaltung dabei ist und auch noch einen Beitrag zum weiteren reibungslosen Ablauf der Feier leistet, das ist schon bemerkenswert. Ja, manche haben diese Geschichte als anstößig empfunden, umso mehr, als das Wasser, das Jesus in Wein verwandelt, eine ziemlich Menge ist, nämlich sechs Krüge a hundert Liter, also zusammen sechshundert Liter. Das ist selbst für eine größere Hochzeit eine unglaubliche Menge. Jesus ist sich offenbar nicht zu schade, in dieser reichlich weltlichen Notlage auszuhelfen. Jedenfalls passt das sehr gut zu der grundlegenden Aussage des Johannes über Jesus, wie er sie schon in den ersten Sätzen seines Evangeliums formuliert: „Am Anfang war das Wort. Und das Wort wurde Mensch und wohnte mitten unter uns.“

Das, was Jesus uns zu sagen hat, bringt er uns nicht von oben herab bei. Es ist keine abstrakte Lehre, in der er uns vom Rednerpult aus in Kapiteln, Absätzen, Paragraphen. Punkt 1, Punkt 2, Punkt 3 unterweist. Was Jesus uns beibringen will, das macht er durch sein Leben deutlich, durch die Weise, wie er mit Menschen umgeht.

Wir haben ja viele Geschichten von ihm, in den vier Evangelien vor allem, die von Begegnungen Jesu mit anderen Menschen berichten. Wenn wir die Geschichten lesen, dann kann man nur sagen, d. h. dann würde ich sagen: „Diesem Jesus wäre ich gern selbst mal begegnet.“ Denn nach dem Eindruck, den uns diese vielen Geschichten von ihm vermitteln, können wir uns sicher sein: Dieser Mensch, Jesus, nimmt uns ernst. Dem ist unsere Krankheit nicht egal. Der hält auch dann zu uns, wenn andere uns aus dem Wege gehen. Und wenn wir mal was ausgefressen haben, dann dreht er uns keinen Strick daraus, wenn wir bereit sind, uns eines Besseren zu besinnen. Und selbst wenn er mal streng wird, brauchen wir keine Angst zu haben, dass er uns klein kriegen will. Er hat immer etwas Gutes mit uns im Sinn.

Die Begegnung mit Jesus ist angenehm. Das ist der Eindruck, den uns die vielen Geschichten über ihn vermitteln. Er strahlt menschliche Wärme aus, allerdings nicht eine, die uns einlullt und uns in unserem eigenen Saft schmoren lässt. Sondern eine Herzlichkeit, die uns befreit – von uns selbst, die uns Mut macht, uns von uns selbst und von unserer ängstlichen verkehrten Art zu lösen und etwas Neues, ein neues Leben auszuprobieren.

In unserer Erzählung von der Hochzeit zu Kana begegnet uns Jesus durchaus sehr menschlich. Er hilft der Hochzeitsgesellschaft aus einer sehr menschlichen Notlage heraus. Allerdings ist ihm hier auch eine gewisse Erhabenheit abzuspüren. Erhabenheit ist vielleicht nicht der richtige Ausdruck. Jedenfalls begegnet uns Jesus hier nicht menschlich im Sinne von allzu menschlich, also in menschlicher Schwäche. Er gibt sich auch nicht menschlich in dem Sinne, dass er nun kumpelhaft wäre, dass er sozusagen jeden Blödsinn mitmachte. Wir spüren seiner Menschlichkeit einen tiefen Ernst ab. Er weiß, dass sein Leben den Sinn hat, Menschen etwas von der wirklichen Liebe spüren zu lassen. Und er weiß, dass er damit eine Aufgabe zu erfüllen hat, die. so schön sie einerseits ist und so glücklich sie manche Menschen machen wird, andererseits doch auch viel Unverständnis, Widerwillen, ja, Widerspruch hervorrufen wird. „Meine Stunde ist noch nicht gekommen.“ Jesus versteht sein Leben als einen Plan, in dem jedes Ding seine Zeit hat, in dem alles in einem sinnvollen Zusammenhang steht.

Wenn wir Jesus verstehen wollen, müssen wir deshalb auch versuchen, das Ganze zu sehen, sein ganzes Leben, alles, was er gesagt und getan hat, alles, was über ihn berichtet ist. In uns wird sich dann der Eindruck verstärken, dass er es ernst mit uns meint, dass seine Menschlichkeit wirklich göttlich, von Gott ist.

Vorhin sagte ich, dass der Evangelist Johannes uns dazu führen will, in Jesus den zu sehen, der etwas fertigbringt, was wir zunächst für unmöglich halten, durch den etwas Wirklichkeit wird, was wir kaum zu glauben wagen. Dass er uns Jesus vorstellen will als die in einem Menschen Wirklichkeit gewordene vollkommene Liebe.

Es wird einer vielleicht sagen wollen, dass die Liebe doch im Grunde gar nicht so etwas Unmögliches, Unglaubliches ist, dass Menschlichkeit, Selbstlosigkeit doch Dinge sind, die uns überall irgendwie begegnen. Das mag stimmen. Aber es bleibt doch richtig, dass wir der Liebe nur einen sehr engen Raum einräumen, dass wir sie uns nur da gestatten, wo wir meinen, sie uns leisten zu können. Sie aber zur alles bestimmenden Grundlage unseres Lebens zu machen, dazu ermutigt uns erst Jesus Christus. Er hat immerhin sein Leben dafür lassen müssen, dass er die Liebe nicht verraten wollte. Dass er ihr einen solchen Stellenwert beigemessen hat, müsste uns zu denken geben.

In der Erzählung von der Hochzeit zu Kana begegnet Jesus der Hochzeitsgesellschaft sehr menschlich. Wenn wir ihn ernstnehmen, uns von ihm ansprechen lassen und in seine Nachfolge eintreten, kann sich in unserem Leben manches ändern.

Der Apostel Paulus hat in seinem Brief an die Römer beschrieben, wie ein solches neues Leben konkret aussehen kann: „Wenn ihr im Sinne Jesus Christi leben wollt, dann sei eure Liebe ohne Falsch. Hasst das Böse, haltet fest am Guten. Eure brüderliche Liebe sei herzlich. Seid fröhlich in der Hoffnung, geduldig in Bedrängnis, beharrlich im Gebet. Nehmt euch der notleidenden Brüder an. Freut euch mit den Fröhlichen und weint mit den Weinenden. Haltet euch nicht selber für klug.“

Ich wünsche uns allen, dass die Geschichten über Jesus Christus uns nicht umsonst überliefert worden sind, sondern uns ansprechen und uns verändern in dem Sinne, wie es der Apostel Paulus hier beschreibt.

Jesus Christus – ewiges Leben jetzt

21. Januar 1979

3. Sonntag nach Epiphanias

1. Johannes 5,9-13

Johannes stellt in ganz knappen Worten die Beziehung her zwischen Gott, Jesus Christus und den Menschen. Johannes sagt – lassen Sie mich das einmal mit eigenen Worten formulieren: Jesus Christus ist der Ausweis Gottes. Wenn wir diesen Ausweis aufschlagen und einen Blick hineinwerfen, was lesen wir da? Wer ist Gott? Da steht unter Name: „Der den Menschen das ewige Leben schenkt.“

Gott ist also einer, der den Menschen das ewige Leben schenkt. Und dass er so ist, das können wir nur, aber tatsächlich nur, an Jesus Christus, dem Ausweis Gottes ablesen, nur durch ihn wissen und erfahren. Johannes bringt das ganz klar zum Ausdruck: „Wer den Sohn hat, der hat das Leben, wer den Sohn nicht hat, der hat das Leben nicht.“

Es gibt eine ganze Reihe von Menschen, die sagen: „Gott kann man nicht sehen.“ Für sie ist das Problem damit erledigt. Gott existiert für sie nicht. Sie fügen vielleicht noch hinzu – wie es eine anarchistische Gruppe in Portugal auf eine Wand gemalt haben soll: „Wenn es Gott gibt, das ist das sein Problem.“ Aber so leichtfertig und radikal können die meisten Menschen Gott wohl nicht beiseiteräumen.

Häufiger schon gibt es solche, die meinen: „Gott kann man zwar nicht sehen, aber dass es ihn oder so etwas Ähnliches geben muss, das kann man ja an der Natur, überhaupt an der ganzen Welt erkennen. Irgendwie muss das ja alles entstanden sein, irgendjemand muss das erschaffen haben. Und dass alles nach einer bestimmten Ordnung abläuft, im Kleinsten wie im Großen, in der kleinen Ameise wie im unendlichen Weltall, dass da alles nach Gesetzmäßigkeiten abläuft, das muss doch jemand so geordnet haben. Dieser letzte Ursprung aller Dinge aller Ordnung und Gesetzmäßigkeiten – der könnte wohl Gott sein“, sagen sie. Für sie ist die Natur, die äußere Erscheinung unserer Welt, der Ausweis Gottes. Und sie fügen oftmals noch hinzu: „Ich brauche weder die Kirche noch Jesus Christus. An Gott glauben kann ich auch so.“

Helmut Thielicke, der bekannte Hamburger Theologe, hat dazu einmal ungefähr Folgendes gesagt – und andere vor ihm werden das schon so ähnlich empfunden haben: „Wenn das alles ist, was Gott uns bedeutet: dass er der letzte Ursprung aller Dinge, der Schöpfer und Beweger des kleinsten Staubkörnchens und des riesigen Weltalls ist, dann sind wir Menschen arm dran. Wenn Gott ein solcher Supermanager ist, der sich um einen solchen Riesenladen wie dieses Weltall kümmern soll – wie wird der dann noch an mich denken können, an mich kleinen unbedeutenden Erdenbewohner, den einen von vier Milliarden, diesen winzigen Krümel in der Unendlichkeit des Weltraums? Eine solche riesige allgewaltige Gestalt könnte mir nur Furcht und Schrecken einjagen, mich mit Angst erfüllen. Vor einem solchen unpersönlichen Monstrum wäre ich ein Nichts. Ich käme mir überflüssig und verloren vor und wäre traurig über meine Einsamkeit.“

Die Natur, die Erscheinung unserer Welt – das ist nicht der Ausweis Gottes. In ihr allein können wir Gott noch nicht erkennen. Wohin aber sollen wir blicken? Wir schauen auf Jesus Christus. In ihm zeigt sich uns Gott, in ihm lesen wir alles, was wir zum Leben brauchen.

Und auch da gibt es wiederum Menschen, die sagen: „Ich kann an Jesus Christus glauben, ohne mich auf Gott einlassen zu müssen. Jesus Christus – das war ein Mensch, ein guter Mensch, ein besonderer Mensch, einer, der Kranke geheilt hat, der Lahme gehend, Blinde sehend und Aussätzige wieder rein gemacht hat, einer, der für soziale Gerechtigkeit eingetreten ist, der mutig war, sich selbst vor dem Tod nicht fürchtete, einer, von dem zwar auch manches Unmögliche erzählt wird – aber von welcher großen Persönlichkeit werden nicht immer auch Legenden erzählt! Jesus Christus also“, sagen sie, „ein großartiges Vorbild, dem sich nachzueifern lohnt. Gott kann man dabei aus dem Spiel lassen.“

Wenn das so wäre: Jesus Christus nur Mensch –, auch das könnte uns traurig stimmen. Was für eine Figur gäben wir ab im Vergleich zu einem so tadellosen Vorbild! Jesus Christus wäre für uns ein unerreichbares Ziel. Wir müssten erkennen: So wie er können wir nicht sein. Wir müssten uns schon selbst etwas vormachen, um das zu glauben. Jesus Christus wäre für uns ein ständiger Stachel, einer, der die Finger auf unsere Wunden legt, einer, bei dessen Anblick wir nur Schuldgefühle haben könnten. Er wäre der drohend erhobene moralische Zeigefinger über unserem Leben. So könnten wir nicht froh werden.

An Jesus Christus glauben, ja, aber als an den Sohn Gottes, und an Gott glauben, aber durch Jesus Christus – das ist christlicher Glaube. Erst so finden die Fragen, die uns das Leben aufgibt, ihre Antwort. Johannes sagt: Nur so erlangen wir das Leben, das ewige Leben.

Nun ist auch hiermit leicht ein Missverständnis verbunden. Ewiges Leben ist ja immer wieder verstanden worden als das Leben nach dem Tode. Und der Inhalt christlicher Hoffnung wird eben vielfach darin gesehen, dass mit dem leiblichen Tod noch nicht alles zu Ende ist, sondern sich später einmal, nach einer leiblichen Auferstehung, die Menschen wieder begegnen werden. Die Texte unserer Bibel legen diese Vorstellung ja sehr nahe.

Aber diese Bilder, die das ewige Leben anschaulich darzustellen suchen, wären dann für uns ja nichts weiter als z. B. die farbenfrohen und fröhlichen Bilder aus fernen Kontinenten in den Reiseprospekten für Menschen, die nicht einmal das nötige Geld für das tägliche Brot haben – gemeine Versprechungen also, die uns in unserem täglichen Elend verharren ließen, Versprechungen, die nur durch Selbsttäuschungen auszuhalten wären. Nein, die Hoffnung auf ewiges Leben lässt sich im christlichen Glauben schon hier und jetzt, in unserer Welt und Gegenwart einlösen. Und nur dadurch, meine ich, hat sie ihre ungeheure Kraft.

Ewiges Leben – was soll das also heißen? Doch dieses: Wir sind aller zeitlichen Begrenzungen enthoben. Unser Leben ist zwar zeitlich eingespannt zwischen Geburt und Tod und – wie Kaninchen auf die angriffswütige Schlange –, so blicken wir mit starrem Blick auf das sichere Ende. Unser Leben ist – selbst wenn wir uns dessen nicht immer bewusst sind –, durch die unausweichliche Tatsache des Sterbenmüssens bestimmt. Unsere Zeit ist begrenzt. Darum sind wir immer unruhig, suchen wir die Zeit zu nutzen, wollen wir keine Zeit verlieren, wollen wir noch etwas erreichen, bevor wir nicht mehr können. Wir trauern über Gelegenheiten, die wir verpasst haben, denn sie kommen nicht wieder. Unsere Gegenwart ist immer unvollkommen. Darum denken wir stets an morgen, wollen dafür sorgen, dass morgen alles besser ist. Wir fliehen aus der Gegenwart und fliehen doch nur dem Tod entgegen. Und wenn einer dann zurückblickt vom Ende seines Lebens, zurück auf den langen Weg, den er atemlos gelaufen ist – was wird er sehen? Vielleicht muss er dann erkennen, dass er sein Leben lang versucht hat, eine Rolltreppe hinaufzulaufen, die doch nach unten läuft, dass er immer noch an der alten Stelle steht, wo er angefangen hat und wo er nun abgeholt wird.

Zwar hat unser Leben einen Anfang und ein Ende. Aber dennoch können wir sagen: Gott schenkt uns das ewige Leben – das heißt: Er nimmt unseren Blick weg vom Ende, gibt uns Ruhe, lässt uns auf das blicken, was vor der Hand ist, lässt uns die Gegenwart leben. Jetzt leben wir. Und ewiges Leben heißt: In diesem Augenblick schon erfüllt sich das ganze Leben. Nichts Neues, nicht Schöneres, nichts Besseres kann dem hinzugefügt werden.

Wir kennen aus unserem Leben vielleicht einige Augenblicke, in denen wir uns einmal gesagt haben: Jetzt müsste die Zeit stillstehen! Wo wir so zufrieden, so vollkommen glücklich waren, uns so eins mit uns selbst und mit der Welt fühlten, dass wir nichts weiter wünschten, als dass es so bliebe. Solche Augenblicke sind, wenn wir unser Leben einmal überdenken, sehr selten. Aber sie kommen wohl dem nahe, was, wie ich meine, mit ewigem Leben gemeint ist: dass wir voll in der Gegenwart stehen, dass sich in ihr unser Leben erfüllt, dass in jedem Augenblick Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eins werden.

Das ist das Angebot Gottes in Jesus Christus: dass er uns zur Ruhe führt, sodass wir wirklich leben können. In Jesus Christus begegnet uns das Ziel. Das Ziel ist zu uns gekommen. Wonach wir blind unser Leben lang suchen, das hat Gott vor uns hingestellt. Es ist der Mensch, der liebt, und geliebt werden will. Wir brauchen nicht weiterzuhetzen. Wir sind schon angekommen, wenn wir nur die Augen und Ohren und das Herz öffnen und uns dem Menschen zuwenden, der vor uns steht.

Jesus Christus ist der schwache Mensch, in dem wir uns als die leidenden Geschöpfe wiedererkennen können. Und er ist Gottes Sohn, weil dieser Mensch unser Leben tatsächlich neu machen und es durch die Liebe verwandeln kann, sodass wir nicht mehr zu fliehen brauchen, sondern verharren und wahrhaft leben können.

Gott hat sich durch einen Menschen ausgewiesen. Sein Ausweis ist Jesus Christus. Ihn müssen wir erkennen, wenn wir Gott kennen wollen. Und wenn wir Jesus Christus als den Sohn Gottes haben, dann haben wir das Leben.

Wie in einem Traum: Drei Personen – drei Konzepte

4. Februar 1979

Letzter Sonntag nach Epiphanias

Matthäus 17,1-9

Auf der Reise durch Lateinamerika trug der Papst, zumindest zeitweise, ein leuchtend weißes Gewand. Vielleicht trägt er es auch sonst. Das weiß ich nicht. Als ich ihn mit dieser Kleidung auf dem Fernsehbildschirm sah, fragte ich mich unwillkürlich: Wer sonst könnte sich so schneeweiß gekleidet sehen lassen? Stellen wir uns vor, ein hoher deutscher Politiker würde in einer solchen Bekleidung öffentlich auftreten! Das wäre unpassend. Und ich meine, nicht nur, weil das bei uns nicht üblich ist.

Als ich den Papst in seinem leuchtend weißen Gewand sah, kam mir der Gedanke: Dieses Weiß bedeutet etwas. Das bringt eine Botschaft zum Ausdruck. Die weiße Kleidung kennzeichnet ihren Träger als Botschafter einer anderen Welt, einer anderen Wirklichkeit. Das Weiß deutet auf Überirdisches, auf Jenseitiges. Das Bunte, Konkrete, Anschaubare, an dem sich das Auge festhalten könnte, ist abgelegt. Das farbenfrohe Lebendige ist nicht mehr da. Aber Weiß ist ja nicht die Farbe des Todes, eher die Farbe von etwas, das jenseits von Leben und Tod zu suchen ist.

Dieser leuchtend weiße Papst kam mir wieder in Erinnerung, als ich den Predigttext für heute las. Hier wird berichtet, wie sich die leibliche Gestalt Jesu verwandelt. Die Kleider Jesu werden weiß wie das Licht. Er leuchtet wie die Sonne. Es ist der Leib des Auferstandenen, in den er sich verwandelt. Die Auferstehung Jesu ist in dieser Vision vorweggenommen. Die drei Jünger, die kleine auserlesene Schar, Petrus, Jakobus und Johannes, sie haben das Privileg, das bevorzugte Recht, durch diese sonderbare Erscheinung schon einen Blick in die Zukunft tun zu dürfen. Sie erleben schon jetzt – für einen kurzen Augenblick – Jesus Christus in der Gestalt des Auferstandenen.

Die Jünger sind Zeugen eines sonderbaren Geschehens, aber im Grunde wissen sie nicht, wie ihnen geschieht. Was sich da auf dem Berg abspielt, spielt sich nicht nur z. T. über ihren Köpfen ab, es geht auch über ihre Köpfe hinweg – sie begreifen es nicht. Und auch wir, die wir uns mit diesem Text auseinandersetzen sollen, stehen angesichts dieser seltsamen Ereignisse wohl eher vor Fragen als vor Antworten.

Vielleicht ist es eine Arbeitshilfe, wenn wir diesen Text mal für einen Augenblick als die Schilderung eines Traumes verstehen. In Träumen, das weiß jeder von uns, passieren sonderbare Dinge. Da sind die Gesetze der Wirklichkeit außer Kraft gesetzt. Da gibt es den Zeitraffer – die Ereignisse verschiedener Zeiten gehen ineinander über, auch verschiedene Orte vermischen sich miteinander. Personen begegnen sich, die in Wirklichkeit nie zusammengetroffen sind. Und viele Dinge und Ereignisse nehmen eine symbolische Bedeutung an. Während des Traumes spielen wir das seltsame Spiel mit und wundern uns erst hinterher.

Mit dem Gang auf den Berg beginnt der Traum. Schon der Berg ist ein aussagekräftiges Symbol. Der Berg hebt sich aus der alltäglichen Wirklichkeit heraus. Wer ihn erklommen hat, der ist dem Normalen entrückt. Der kann sich auf Geheimnisvolles gefasst machen. Primitive Völker haben eine heilige Scheu vor Bergen. Da oben herrscht eine andere Wirklichkeit. Im Alten und im Neuen Testament lesen wir mehrfach: Der Berg ist ein Ort der Begegnung mit Gott, ein Ort der Erscheinung, ein geheimnisvoller, offenbarungsträchtiger Ort.