Das Ja zum Leben und zum Menschen, Band 6 - Wolfgang Nein - E-Book

Das Ja zum Leben und zum Menschen, Band 6 E-Book

Wolfgang Nein

0,0

Beschreibung

Seit Längerem wird versucht, das Gemeinsame in den verschiedenen Religionen herauszuarbeiten. Das ist wichtig, gerade angesichts der zahlreichen gewalttätigen Auseinandersetzungen aus Gründen religiöser Verschiedenheit. Wie weit aber sind wir uns - noch - der Besonderheit, des Wertes und der Bedeutung des christlichen Glaubens bewusst? Wissen wir, was wir haben und was uns ggf. verloren zu gehen droht? Wer auf der Suche ist, wird in den biblischen Texten einen Schatz an Gedanken, Worten und Bildern finden, die für den eigenen Glauben und die Lebensgestaltung hilfreich sein können. Sie lassen sich zusammenfassen mit dem Titel dieser Predigtsammlung: "Das Ja zum Leben und zum Menschen".

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 333

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Beziehungspflege durch gelebte Wertschätzung

11. Januar 1998

1. Sonntag nach Epiphanias

Römer 12,1-3(4-8)

Fortbestand der Gemeinde durch menschliche Nähe

14. Januar 1998

Pastorenkonvent

Römer 12,1

Eine Schatzkiste guter Worte

1. Februar 1998

Letzter Sonntag nach Epiphanias

2. Korinther 4,6-10

Wettkampf in religiösen Dingen?

8. Februar 1998

Septuagesimae

(3. Sonntag vor der Passionszeit)

1. Korinther 9,24-27

Zurück ins Paradies?

22. Februar 1998

Estomihi

(Sonntag vor der Passionszeit)

1. Korinther 13,1-13

Christus – Priester und Opfer zugleich

1. März 1998

Invokavit

(1. Sonntag der Passionszeit)

Hebräer 4,14-16

Jesus leidet an uns, mit uns, für uns

29. März 1998

Judika

(5. Sonntag der Passionszeit)

Hebräer 5,7-9

Pilatus: Was soll ich machen?

7. April 1998

Passionsandacht

Matthäus 27,15-26

Brot und Wein für ein Leben in Freiheit

9. April 1998

Gründonnerstag

1. Korinther 11,23-26

Interkulturelle Begegnung – ein Lernprozess

21. Juni 1998

2. Sonntag nach Trinitatis

Epheser 2,17-22

Kritik ja, aber mit Respekt

58

5. Juli 1998

4. Sonntag nach Trinitatis

Römer 14,10-13

Kulturelle und konfessionelle Grenzen überwinden

64

20. September 1998

15. Sonntag nach Trinitatis

Kanzeltausch mit Eben-Ezer (ev.-method. Gem.)

Epheser 2,13-22

Wie wichtig sind Regeln und Rituale?

11. Oktober 1998

18. Sonntag nach Trinitatis

Römer 14,17-19

Einfach wegwerfen?

1. November 1998

Reformationsfest

Römer 3,21-28

König der Herzen

20. Dezember 1998

4. Advent

Lukas 1,26-38

Wer wurde uns an Heiligabend geboren?

3. Januar 1999

2. Sonntag nach dem Christfest

Johannes 1,43-51

Uns ist „ein anderer Mensch“ geboren

10. Januar 1999

1. Sonntag nach Epiphanias

Matthäus 4,12-17

Gibt es Gott oder gibt es ihn nicht?

17. Januar 1999

2. Sonntag nach Epiphanias

2. Mose 33,17b-23

Vom guten Ziel her denken

28. Februar 1999

Reminiszere

(2. Sonntag der Passionszeit)

Matthäus 12,38-42

Wissen wir, was wir tun?

2. April 1999

Karfreitag

Lukas 23,33-49

Ostern, das geistige Weihnachten

11. April 1999

Quasimodogeniti

(1. Sonntag nach Ostern)

Johannes 21,1-14

Für den Frieden – ohne Krieg!

13. Mai 1999

Himmelfahrt

Kosovokrieg

Apostelgeschichte 1,9-11

Im Glauben erwachsen werden

16. Mai 1999

Exaudi

(6. Sonntag nach Ostern)

Johannes 7,37-39

Wir bringen nicht alles auf einen Nenner

30. Mai 1999

Trinitatis

Jesaja 6,1-13

Einladung, das Leben zu bedenken und zu feiern

13. Juni 1999

2. Sonntag nach Trinitatis

Partnerschaft Uyole – St. Markus

Matthäus 22,1-14

Gottes Kinder sind die Menschen

11. Juli 1999

6. Sonntag nach Trinitatis

5. Mose 7,6-12

Wir brauchen Zeichen der Hoffnung

18. Juli 1999

7. Sonntag nach Trinitatis

Johannes 6,30-35

Christliche Verantwortung in der Gesellschaft

22. August 1999

12. Sonntag nach Trinitatis

Jesaja 29,17-24

Jesus heilt an Leib und Seele

10. Oktober 1999

19. Sonntag nach Trinitatis

Markus 1,32-39

Das Leben bleibt ein wunderbares Geschenk

21. November 1999

Totensonntag

Hiob 1,21b

2000 Jahre – was gleich geblieben ist!

31. Dezember 1999

Altjahrsabend

Lukas 15,11-32

Das Schwache kann stark, das Törichte weise sein

9. Januar 2000

1. Sonntag nach Epiphanias

1. Korinther 1,26-31

Frieden unter den Religionen

23. Januar 2000

3. Sonntag nach Epiphanias

2. Könige 5,(1-8)9-15(16-18)19a

Zum Selbstlob herausgefordert

27. Februar 2000

Sexagesimae

(2. Sonntag vor der Passionszeit)

2. Korinther (11,18.23b-30;)12,1-10

Liebevolle Zuwendung statt Gold und Silber

26. März 2000

Okuli

(3. Sonntag der Passionszeit)

1. Petrus 1,(13-17)18-21

Die Schlange, der Revolver und das Kreuz

9. April 2000

Judika

(5. Sonntag der Passionszeit)

4. Mose 21,4-9

Brot und Wein – Zeichen des Todes und des Lebens

20. April 2000

Gründonnerstag

Matthäus 26,26-27

Christus lebt – und wir mit ihm

23. April 2000

Osterfrühgottesdienst

Johannes 20,11-18

Zwischenbilanz in der zweiten Hälfte des Lebens

18. Juni 2000

Trinitatis

Goldene Konfirmation

Psalm 103,2

Machen wir uns nichts vor über uns selbst!

9. Juli 2000

3. Sonntag nach Trinitatis

Partnerschaft Uyole – St. Markus

1. Johannes 1,5-2,6

Wir sind zu vorbildlichem Verhalten berufen

16. Juli 2000

4. Sonntag nach Trinitatis

1. Petrus 3,8-15a(15b-17)

Als christliche Gemeinde füreinander da sein

6. August 2000

7. Sonntag nach Trinitatis

Philipper 2,1-4

Unser Sosein annehmen

17. September 2000

13. Sonntag nach Trinitatis

1. Mose 4,1-16a

Mit dem Kirchenjahr das Leben durchleben

3. Dezember 2000

1. Advent

Lukas 1,67-79

Bibelstellen

Vorwort

Der christliche Glaube ist ein hohes Gut. Er ist in Abgrenzung zu Denkungs-, Glaubens- und Lebensarten seiner Entstehungszeit entstanden. Es ist wichtig, sich die Eigenarten des christlichen Glaubens bewusst zu machen.

Seit Längerem wird versucht, das Gemeinsame in den verschiedenen Religionen herauszuarbeiten. Das ist auch wichtig, gerade angesichts der zahllosen gewalttätigen Auseinandersetzungen aus Gründen religiöser Verschiedenheit. Religionskriege, Terroranschläge, gegenseitige Diffamierungen und die Gefahren für zwischenmenschliche Beziehungen sind ausreichend Gründe für Bemühungen um das, was uns über religiöse Unterschiede hinweg verbinden kann.

Diese Bemühungen und das gegenseitige Tolerieren sollten allerdings den Blick für die Unterschiede nicht verstellen. Die Unterschiede sind nicht belanglos. Sie sind auch nicht nur folkloristischer Natur. Sie sind vielmehr grundlegend für das Welt- und Menschenbild und für die konkrete Lebensgestaltung einzelner Menschen und von Gruppen und ganzen Gesellschaften.

Wie weit sind wir uns der Besonderheit, des Wertes und der Bedeutung des christlichen Glaubens – noch – bewusst? Wissen wir, was wir haben und was uns ggf. verloren zu gehen droht?

Was macht das Profil des christlichen Glaubens im Unterschied zu anderen Religionen aus – im Unterschied zum Judentum, zum Islam, zu den asiatischen Religionen? Die Behauptung, wir glaubten doch alle an denselben Gott, sieht über grundsätzliche Unterschiede hinweg.

Wenn wir uns über die grundlegenden Unterschiede im Klaren sind, haben wir eine Grundlage für eine persönliche Entscheidung. Wichtig ist, dass wir uns in den unterschiedlichen Entscheidungen gegenseitig respektieren. Das bedeutet nicht, dass wir uns nicht kritisch über Unterschiede auseinandersetzen könnten. Wichtig wäre, dass solche Auseinandersetzungen stets von gegenseitigem Respekt geprägt wären und mit friedlichen Mitteln vollzogen werden.

Welche wesentlichen Merkmale machen das Profil des christlichen Glaubens aus? Diese Frage lässt sich nicht eindeutig beantworten. Das zeigt sich schon an den vielen verschiedenen Theologien, den Konfessionen und christlichen Gruppierungen. Die biblischen Texte selbst lassen unterschiedliche Interpretationen zu. Jede Generation, jede Kultur, jeder einzelne Mensch steht vor der Aufgabe, sich den roten Faden aus den vielfältigen biblischen Texten, Traditionen und Theologien selbst zu erarbeiten.

Die Predigten dieses Buches wie der gesamten Predigtsammlung gehen von den allen Menschen gemeinsamen Rahmenbedingungen des menschlichen Seins aus: Wir werden geboren und werden sterben, wir haben das Sein und uns selbst nicht selbst geschaffen, wir müssen uns mit Vorgegebenheiten zurechtfinden, wir haben Gestaltungsmöglichkeiten, unsere Fähigkeiten sind jedoch begrenzt, wir erleben Freud und Leid, wir sind abhängig von anderen, wir müssen bewusst Entscheidungen fällen usw. Hinzu kommt die „Ambivalenz des Seins“: Je mehr wir haben, desto mehr haben wir zu verlieren, je mehr wir können, desto größer wird unsere Verantwortung, je mehr wir wissen, desto mehr wissen wir, wie wenig wir wissen, usw.

In den biblischen Texten können wir nachlesen, wie die Menschen vieler Generationen eines bestimmten Volkes sich zu den Rahmenbedingen des Seins verhalten haben. Wir lesen von ihren Erfahrungen, ihrem Denken und Glauben und ihren Entscheidungen. Wir lesen von unterschiedlichen und sich wandelnden, auch einander widersprechenden Konzepten.

Wer auf der Suche ist, wird in den biblischen Texten einen Schatz an Gedanken, Worten und Bildern finden, die für den eigenen Glauben und die Lebensgestaltung hilfreich sein können. Sie lassen sich zusammenfassen mit dem Titel dieser Predigtsammlung: „Das Ja zum Leben und zum Menschen“.

Die Predigten dieses Buches und der ganzen Serie versuchen, davon ein wenig weiterzugeben. Viel Freude beim Lesen!

Wolfgang Nein, Januar 2017

Beziehungspflege durch gelebte Wertschätzung

11. Januar 1998

1. Sonntag nach Epiphanias

Römer 12,1-3(4-8)

Zum Jahreswechsel hat sich vielleicht jeder von uns zumindest für einige Augenblicke Gedanken gemacht über das eigene Leben, über das, was gewesen ist, und das, was nun kommen könnte, was gelungen, was nicht so gut gelungen war und was man vielleicht besser machen könnte - die guten Vorsätze eben.

Es ist immer nützlich, mal innezuhalten, ein wenig nachzudenken über sich selbst und die Dinge des Lebens. Mit einer solchen Anregung zum Nachdenken ist auch jeder Gottesdienst verbunden. Den Anstoß zum Nachdenken gibt uns in der Regel ein Text aus der Bibel, heute ein paar Sätze aus dem Brief des Apostels Paulus an die Gemeinde in Rom. Paulus sagt - ich verkürze das mal: „Gebt euren Leib hin als ein Gott wohlgefälliges Opfer; das sei für euch der wahre Gottesdienst.“

Dieser Satz hat, wie ich finde, eine ganz wunderbare Aussage. Das merkt man vielleicht nicht beim ersten Hören.

Es fällt hier das Wort „Gottesdienst“ - den haben wir ja gerade. Es kommt das Wort „Opfer" vor, also etwas, was wir geben unter einem gewissen Aufwand, und hier steht das Wort „Leib", euer Leib, also unser Leib - und das sind doch wir, mit unserer ganzen Person.

Das Stichwort „Opfer“ im Zusammenhang mit „Gottesdienst“ erinnert uns an alte Zeiten, an altertümliche Zeiten, als Opfer gebracht wurden auf dem Altar. Da wurden Gaben des Feldes auf den Altar gelegt und verbrannt, es wurden Tieropfer dargebracht, es gab sogar Menschenopfer; auch dafür gibt es in der Bibel Hinweise. Das Verbrennen hatte den Sinn, die Gaben aufsteigen zu lassen zu demjenigen, für den sie bestimmt waren.

Das Alte Testament enthält viele Seiten mit Vorschriften über den Opferkult: Was da abzuliefern sei und wie bei der Opferung vorzugehen sei - das ist wirklich aus unserer Sicht alles sehr altertümlich. Es wäre aber verkehrt, das zu belächeln. Es ging ja um etwas außerordentlich Bedeutsames. Es ging um das Verhältnis „Gott-Mensch“. Und wo es um dieses Verhältnis geht, da geht es um unser Verhältnis zum Leben, zum Dasein, zu dem Urgrund unserer Existenz.

Das heißt doch, dass das hinter dem Opferkult stehende Grundthema auch unser Thema ist: Wie stehen wir zu Gott, wie stehen wir zu unserem Leben, zu unserem Dasein?

Der alte Opfergedanke ist, obwohl er einerseits sehr altertümlich ist, unter uns immer noch sehr lebendig, wenn auch nicht in der Form, dass wir ein Opfer auf den Altar legen und es anzünden würden. Aber dass z. B. jemand etwas Wertvolles von sich gibt in der Hoffnung, Gott möge dies wohlwollend zur Kenntnis nehmen und einen heißen Wunsch erfüllen, das kommt immer wieder vor.

Es ist und bleibt ja ein Problem, ein Dauerproblem für uns alle, ein existentielles Problem, dass so vieles in unserem Leben unverfügbar ist. Vieles in unserem Leben - und gerade manches besonders Wichtige - können wir uns nicht selbst geben. Wir können es z. B. nicht machen oder erarbeiten oder erzwingen, dass uns jemand gernhat. Was können wir dann aber tun? Da kommt eben mancher auf die Idee: Vielleicht hilft ein Opfer, vielleicht lässt sich Gott, der Herr über alles Unverfügbare, damit doch irgendwie auf unsere Seite ziehen.

Wir sollten auch dieses Vorgehen nicht belächeln. Denn dieses Vorgehen ist doch sehr gut nachvollziehbar. Das Problem ist ja ein gravierendes. Irgendwie wollen wir unsere Wünsche, unsere Sehnsüchte erfüllt sehen. Als ein Akt der Hilflosigkeit, der Verzweiflung vielleicht sogar, ist ein solches Vorgehen verständlich.

Aber bei näherem Nachdenken kommen wir dann vielleicht doch zu dem Ergebnis, dass die Gott-Mensch-Beziehung sich nicht auf dieser Ebene abspielen kann: dass sich diese Beziehung also wohl doch nicht über solche Gaben, über Opfer, über wertvolle Geschenke regeln lässt. Das wäre ja auch in unserer zwischenmenschlichen Beziehung bedenklich, wenn das Dingliche da eine allzu große Rolle spielen würde, wenn die Qualität einer Beziehung davon abhängen würde, was und wieviel man sich gegenseitig gibt.

Der Volksmund sagt zwar: „Kleine Geschenke erhalten die Freundschaft.“ Aber auch damit ist nicht gemeint, dass diese kleinen Geschenke der Grund, sondern eher der Ausdruck einer bestehenden Freundschaft sind.

Wenn z. B. Eltern ihren großgewordenen und vielleicht schon außer Haus lebenden Kindern ab und zu mal was zustecken, dann tun sie das ja wahrscheinlich nicht, um damit die Beziehung zu den Kindern aufrechtzuerhalten, sondern weil es einfach ihrer elterlichen Liebe entspricht, den Kindern auch auf diesem Wege ab und zu etwas Gutes zu tun. Die Liebe der Kinder quasi kaufen zu wollen, also durch materielle Gaben erhalten zu wollen, wäre eher problematisch und letztlich untauglich. Dann müssten die Eltern ja selbst den Verdacht schöpfen: „Unsere Kinder lassen sich bei uns nur noch blicken, wenn wir ihnen etwas geben.“ Das wäre ja gar nicht gut.

Die materielle Gabe für sich genommen ist nicht das Problem, sondern ihre Bedeutung, ihre Funktion. Wird sie eingesetzt, um eine Beziehung herzustellen und zu erhalten, oder ist sie der Ausdruck einer bestehenden Beziehung? Das ist im Einzelfall gar nicht so leicht zu entscheiden. Wenn eine reiche Frau und ein armer Mann heiraten, wird sie vielleicht lange die Frage in sich tragen: „Hat er nun mich oder mein Geld geheiratet?“

Beim gottesdienstlichen Opferkult, also der Mensch-Gott-Beziehung, war das sicherlich auch die Frage: War das Opfer Mittel zum Zweck, sich Gott gefügig zu machen, oder war es der Ausdruck einer dankbaren Gottesbeziehung?

Paulus will unter Bezugnahme auf den Opferkult jedenfalls sagen: Euer Opfer soll nicht irgendein Ding sein, nicht irgendeine Frucht des Feldes, nicht irgendein Tier oder sonst irgendeine Sache, mag sie euch auch besonders viel wert sein, sondern gebt euch selbst mit eurer ganzen Person in die Beziehung ein. Das wäre der echte überzeugende Ausdruck einer guten Gott-Mensch-Beziehung. Das wäre so ähnlich wie, wenn jemand sagen würde: „Kommt mich besuchen, lasst eure Geschenke zu Hause, die sind unwichtig, Hauptsache ihr seid selbst da.“

Um diese Art der Beziehung geht es, die vor jeder materiellen Gabe bereits da ist. In der Eltern-Kind-Beziehung kann man im Allgemeinen davon ausgehen, dass Eltern ihr Kind bereits im Vorwege, sozusagen schon vor der Geburt, gernhaben, und dass dann alles, was sie dem Kind Gutes tun, was sie dem Kind geben, auch an Materiellem, eben Ausdruck dieser bereits vorhandenen guten Beziehung ist. So sollen wir uns, sagt Paulus, auch das Verhältnis Gottes zu uns vorstellen.

Es ist also eine Liebesbeziehung bereits da. Und darum brauchen wir nun unsererseits nicht zu meinen, wir müssten diese Beziehung erst bauen durch irgendwelche materiellen Gaben. Wir können diese Liebesbeziehung als gegeben hinnehmen. Die angemessene Antwort, wenn uns an der Beziehung liegt, wäre, mit unserer ganzen Person zu antworten, also mit allem was wir sagen und tun, mit unserem ganzen Verhalten zum Ausdruck zu bringen, dass wir diese Beziehung wertschätzen.

Um das noch einmal menschlich zu sagen: Das wäre z. B. so ähnlich wie, wenn sie zu ihm sagt: „Lass den Diamanten im Geschäft. Wenn du mich wirklich liebst, nimm dir doch ein bisschen Zeit für mich“ - oder so ähnlich.

Paulus drückt das natürlich alles viel theologischer aus: „Gebt euch selbst mit eurem Leib“, d. h. mit eurer ganzen Person in die Beziehung ein. Das ist das in Anführungszeichen „bessere" Opfer „und erweist euren Wunsch, mit Gott verbunden zu sein, dadurch, dass ihr euch darum bemüht, seinen Willen zu erkennen und zu tun, also so zu leben, euch so verhalten, wie es der Liebe Gottes zu euch entspricht.“

Wir dürfen unser Verhältnis zu Gott - und das heißt unser Verhältnis zu unsrem Dasein - gern mit dem Verhältnis zu einem Menschen vergleichen. So, wie wir in einer guten zwischenmenschlichen Beziehung nicht über den anderen verfügen können und es der guten Beziehung auch nicht angemessen wäre, über den anderen verfügen zu wollen, so ist es auch mit unserer Beziehung zu Gott, mit unserer Beziehung zu unserem Dasein: Da können und sollen wir nichts zwingen.

Das angemessene Verhältnis zu unserem Dasein, zur Tatsache unserer Existenz, ist zunächst einmal dies: dass wir unser Leben mit allem Drum und Dran, so, wie es nun einmal ist, mit Dankbarkeit annehmen - dass wir dankbar annehmen, dass wir beschenkt sind mit dieser Gabe Gottes an uns, mit den vielen Segnungen des Lebens. Ebenso wäre es unserer Beziehung zu Gott, unserem Schöpfer, angemessen, die Gabe des Lebens als eine Aufgabe annehmen, als eine Aufgabe, so zu leben, dass wir dieser Beziehung damit die Ehre erweisen.

Das wäre ja auch die optimale Eltern-Kind-Beziehung, wenn Kinder auf die Liebe der Eltern entsprechend antworten würden: in Dankbarkeit für das Geschenk des Lebens und für alles, was die Eltern für sie getan haben, und mit einem Leben, das diese Dankbarkeit zum Ausdruck bringt, das die Liebe also weiterführt und weitergibt.

Es geht im Gott-Mensch-Verhältnis also um eine Beziehung, um eine gute, angemessene Beziehung. Es ist völlig in Ordnung, dass wir immer wieder Vergleiche aus unseren zwischenmenschlichen und familiären Beziehungen heranziehen. Das machen auch die biblischen Texte so. In der Evangelienlesung von der Taufe Jesu sagt eine himmlische Stimme: „Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe.“ Da haben wir’s doch wieder. Gott, der Vater, Jesus, der Sohn. In eben diesen persönlichen Kategorien dürfen wir unser Gottesverhältnis verstehen. Wir sind alle Kinder Gottes.

Das könnte also zu unseren guten Vorsätzen für das neue Jahr gehören: dass wir dieser Beziehung zu Gott unserem Schöpfer, und dem Vater Jesu Christi die Ehre erweisen durch ein Leben in seinem Sinne. Das wäre eine besonders schöne Form des Gottesdienstes.

Fortbestand der Gemeinde durch menschliche Nähe

14. Januar 1998

Pastorenkonvent

Römer 12,1

Wir befinden uns, kirchlich gesehen, in einer Zeit des Umbruchs. Die Kirchensteuer wird kontinuierlich weniger. Das zwingt uns dazu, unser Gemeindeverständnis zu überdenken. Dabei erscheint es mir sinnvoll, schon jetzt, wo wir noch ein nennenswertes Kirchensteueraufkommen haben, zu überlegen, wie wir Gemeindearbeit machen können ohne Kirchensteuer oder mit einem minimalen Kirchensteueraufkommen.

Diese Überlegung verbinde ich mit einem Satz aus dem Predigttext des vergangenen Sonntags aus dem Römerbrief, Kap. 12: „Gebt euren Leib hin als ein gottwohlgefälliges Opfer, das sei für euch der wahre Gottesdienst.“

In die Gott-Mensch-Beziehung sollen wir uns selbst ganz hineingeben mit unserer ganzen Person, empfiehlt uns Paulus. Nicht nur irgendeine Opfergabe sollen wir geben, irgendein ein isoliertes Ding, sei es auch etwas besonders Wertvolles.

Diese Empfehlung übertrage ich auf das, was mir neben dem liturgischen Gottesdienst auch Gottesdienst ist - das Miteinander in der Gemeinde, die Mensch-zu-Mensch-Beziehung, die ja die andere Seite der Gott-Mensch-Beziehung darstellt.

Also nicht eine isolierte Leistung sollen wir anbieten, sondern uns selbst, so lautet die Empfehlung. Als ganze Menschen sollen wir uns einbringen, nicht bloß unsere einzelnen Dienstleistungen, seien sie im Einzelnen auch noch so gekonnt. Als Gemeinde sollen wir uns anbieten nicht durch einzelne Leistungen, sondern durch Menschen, die sich als jeweils ganze Person in das gemeindliche Miteinander hineingeben.

Von daher wäre dann eine Gemeinde eher einer Familie zu vergleichen als einer Firma. Während die Beziehung der Firma zu ihren Kunden sich darin ausdrückt, dass sie den Kunden bestimmte Produkte und Dienstleistungen anbietet, leben die familiären Beziehungen von der ganzheitlichen Hingabe der Familienmitglieder. Zwar werden da auch Dinge und Dienstleistungen ausgetauscht: Es gibt Taschengeld, es wird gekocht und abgewaschen, der Garten gepflegt usw., aber diese einzelnen Leistungen sind Ausdruck eine ganzheitlichen Beziehung. Wenn die Mutter kocht, (es kann natürlich auch der Vater kochen), hat das einen anderen Stellenwert für das Familienleben, als es die Leistung des Kochs im Restaurant für die Gäste hat.

Und wenn in der Gemeinde nach dem Gottesdienst eine Suppe angeboten wird, hat das in der Beziehung zu den Gemeindegliedern eben auch einen Stellenwert, der eher dem in der Familie entspricht. Es kommt dabei nicht auf die Leistung an sich an, sondern darauf, dass diese Ausdruck einer bereits vorhandenen Beziehung ist.

Ich trete diesen Gedanken etwas breit, um deutlich zu machen, dass Gemeinde Menschen braucht, die als ganze Menschen für die Gemeinde da sind. Natürlich können nicht alle Gemeindeglieder so gemeindebezogen sein. Aber in einigen Personen - einigen wenigen zumindest - müsste doch dieses Konzept verkörpert sein - wenn man dieses Konzept denn für sinnvoll hält -, das darin besteht, ich sag’s noch einmal kurz: dass die gemeindliche Beziehung in der Hingabe des ganzen Menschen - wie eben in der Familie - und nicht in einer isolierten Leistung besteht.

Dabei kommt es mir im Augenblick noch gar nicht auf die Realität an, sondern auf das Konzept. Das familiäre Konzept wird auch noch nicht dadurch hinfällig, dass die Familienmitglieder eine mangelhafte Beziehung zueinander haben und z. B. die herangewachsenen Kinder ihr Zuhause ggf. nur noch wie ein Hotel in Anspruch nehmen und es ihnen vielleicht nur noch darum geht, dass das Essen auf dem Tisch steht und ihre Wäsche gewaschen wird.

Es gibt auch in der Familie gute Phasen und schlechte Phasen. Es gibt Zeiten, wo sich alle um ein gutes Familienleben bemühen, und andere Zeiten, wo einer den Geist der Familie hochhält und die anderen dies vielleicht ignorieren oder einfach vor allem nehmen und kaum etwas geben.

Um auf die Finanzlage der Kirche zurückzukommen und das durch sie erzwungene Nachdenken über unser Gemeindekonzept: Ich sehe - in diesem familiären Konzept - eine Zukunft, zumindest für St. Markus. Wir sind uns hier, wenn ich das recht sehe, im Kirchenvorstand und unter den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, den haupt- und ehrenamtlichen, diesbezüglich auch weitestgehend einig. Mit diesem Konzept ist die Aufgabe verbunden, Menschen dazu einzuladen, sich in der Gemeinde zuhause zu fühlen und sich für den Bestand und die Ausgestaltung dieses Zuhause mitverantwortlich zu fühlen. Wenn dies in nennenswertem Umfang gelingt, dann können sich nach meiner Einschätzung die wirtschaftlichen Probleme wie von selbst erledigen. Dann kann es am Ende notfalls auch ohne Kirchensteuer gehen.

Ich möchte mit diesem Konzept übrigens nicht von der Volkskirche Abschied nehmen. Ich meine, dass es durchaus gut ist, wenn dieses kirchlich-familiäre Angebot flächendeckend besteht und für jedermann offen ist, auch für die wachsende Zahl der - im kirchensteuerlichen Sinne - Nichtmitglieder. Ein Zuhause braucht jeder Mensch. Und viele - und vielleicht immer mehr - Menschen haben dies in ihrer leiblichen Familie nicht mehr in ausreichendem Maße.

Die menschlichen Beziehungen zu stärken, persönliche Beziehungen zu pflegen, scheint mir für die Gemeindearbeit besonders wichtig zu sein - und vielleicht heute wichtiger denn je, nicht zuletzt auch als Alternative zu einer Beziehung Mensch-Bildschirm.

Wir gehen in St. Markus davon aus, dass die persönliche Ansprache auch die Bereitschaft zur Wahrnehmung persönlicher Mitverantwortung für den Erhalt unserer Kirchengemeinde fördert. Um persönlich arbeiten zu können, brauchen wir Menschen, auch hauptamtlich Tätige. Diese wegzusparen würde dem Bemühen, die Gemeinde zu erhalten und weiter aufzubauen, möglicherweise eher entgegenstehen.

Also versuchen wir es hier weiter mit unserer ganzen Hingabe im Sinne von Paulus: „Gebt euren Leib hin als ein gottwohlgefälliges Opfer, das sei für euch der wahre Gottesdienst.“

Eine Schatzkiste guter Worte

1. Februar 1998

Letzter Sonntag nach Epiphanias

2. Korinther 4,6-10

Ich machte mal bei einer nicht mehr ganz jungen Dame einen Geburtstagsbesuch. Sie setzte in der Küche den Kaffee auf, und ich ließ meine Blicke im Zimmer ein wenig umherschweifen. Neben dem Telefon, das gleich vor ihrem Sessel auf dem Wohnzimmertisch stand, sah ich eine Art Postkarte oder Ansichtskartekarte liegen - oder was mal eine Karte gewesen war. Sie sah aus, wie gerade von der regennassen Straße aufgelesen und wieder getrocknet, fleckig, eingerissen, zerknittert und wieder glattgemacht. Ein etwas unansehnliches Stück, aber es musste wohl eine Bedeutung haben. Ich konnte sehen, dass da ein Spruch aufgedruckt war.

Als die ältere Dame den Kaffee hereintrug, hielt ich meinen Blick noch für einen kurzen Moment auf diese unansehnliche Karte gerichtet. Sie hatte die Botschaft verstanden, denn sie begann gleich zu erzählen, was es mit der Karte auf sich hatte. „Die habe ich draußen vor der Tür gefunden“, sagte sie. „Eigentlich hatte ich sie nur aufgehoben, um sie in den Papierkorb zu werfen, aber dann sah ich, was da drauf steht - und dann habe ich sie mitgenommen und ein bisschen saubergemacht und habe sie mir neben das Telefon gelegt. Denn ich habe eine dumme Angewohnheit“, sagte sie weiter: „Wenn ich telefoniere, fange ich immer wieder von meinen ganzen Wehwehchen an, das geht mir selbst auf den Geist. Aber in meinem Alter zwickt es ja hier und da, und dann das mühselige Treppensteigen und dann das knappe Geld - und dann war der unfreundlich zu mir, und das Wetter war schlecht und die Heizung fiel aus und das Getrampel der Nachbarn über mir, das Kindergeschrei draußen ... Mein eigenes Gejammer hat mich eigentlich selbst noch elender gemacht. Da kam mir diese Karte ganz recht. Und ich habe sie extra neben das Telefon gelegt, damit sie mich bremst.“

Sie reichte mir die Karte herüber, damit ich lesen könnte, was da draufstand. Da war eine dicke Überschrift: „Probleme, die ich heute nicht habe“ - und darunter eine lange Liste: „Heute habe ich keine Kopfschmerzen. Heute habe ich mir den Arm nicht gebrochen. Heute brauche ich nicht zu frieren. Heute hat mir noch niemand ein schlechtes Wort gesagt, heute quält mich der Hunger nicht, heute gab es keinen Fliegeralarm ... Und so ging es weiter, eine Liste von Problemen, die man haben könnte. „Das hilft mir“, sagte sie, „zu lesen, was ich heute alles nicht habe an Problemen, das hebt meine Stimmung. Das hilft mir, leichter zu ertragen, was mich gerade doch bedrückt.“

„Gut, dass Sie die Karte nicht weggeworfen haben“, sagte ich. „Ja“, meinte sie, „die Karte sieht wirklich nicht mehr schön aus, aber das, was draufsteht, ist wunderbar.“

Sie erzählte mir noch von einigen weiteren Sprüchen, die sie gesammelt hat. Manches hat sie irgendwo und irgendwie gehört und sich dann selbst aufgeschrieben, auf irgendeinen Zettel und hat sie in einer alten Keksdose aufbewahrt. „Dies ist meine Schatzkiste“, sagte sie, „lauter nette und kluge und hilfreiche Sprüche, auch ein paar kirchliche“, fügte sie hinzu. „Die kenne ich alle auswendig“, sagte sie. „Die trage ich hier - in mir“, und sie zeigte da hin, wo das Herz sitzt. Ich konnte mir nicht verkneifen, ihr zu sagen: „Dann sind Sie ja sozusagen selbst eine Schatzkiste.“ „Aber ’ne ziemlich olle Kiste“, konterte sie schlagfertig. „Finde ich gar nicht“, entgegnete ich meinerseits - und das sagte nicht nur aus Höflichkeit. Denn in dem Augenblick war es, als funkelte ihr innerer Schatz in ihren Augen. Jung und lebendig erschien sie mir.

Mir war in dem Augenblick klar, wie wichtig und schön es ist, gute Worte in sich zu tragen. Ein gutes Wort kann wie ein Juwel sein. Es kann uns reich machen, wenn wir auch äußerlich arm sind. Es kann unserem Leben einen Glanz verleihen. Ein gutes Wort kann eine finstere Miene erhellen. Gute Worte haben eine enorme Kraft. Sie sind unzerstörbar, und sie können immer und überall gegenwärtig sein. Sie können auf Hochglanzpapier gedruckt sein, sie können in Leinen gebunden sein, sie können aber auch auf irgendeinem Papier stehen, das achtlos auf der Straße herumliegt. Oder sie können einfach in uns sein, einmal gelesen, einmal gehört, und sie sind in uns, ganz egal, wie wir gebaut sind, ganz egal, ob wir ein glänzendes oder heruntergekommenes Äußeres haben, ob wir jung oder alt sind.

Wir sind eh vergänglich, aber Worte sind unvergänglich. Wir haben sie auf Papier oder wir tragen sie in uns wie in einem Gefäß. Wenn wir mal nicht mehr sind, bleiben die Worte dennoch. Sie haben ein eigenes Leben, sie haben eine geistige Existenz, sie sind wie der Geist in unserem Körper, sie sind wie das Göttliche in unserem menschlichen Gehäuse.

„Wir haben einen Schatz in irdenen Gefäßen“, so hat Paulus das formuliert. Mit dem irdenen Gefäß hat er sich selbst gemeint. Die Kraft, die tragende und verwandelnde Kraft der Worte hat er in seiner speziellen Situation der Anfeindung und Verfolgung und Entbehrung so formuliert: „Wir sind von allen Seiten bedrängt, aber wir ängstigen uns nicht. Wir sind ratlos, aber wir verzagen nicht. Wir leiden Verfolgung, aber wir werden nicht verlassen, Wir werden unterdrückt, aber wir kommen nicht um.“

Paulus trug Worte Jesu in seinem Herzen. Er hatte das Bild des Gekreuzigten vor seinem inneren Auge. Und er sah, dass da zweierlei war: der Leib Jesu, die äußere Hülle, das war das eine, und die göttlichen Worte, die Jesus in sich trug und an die Menschen um ihn herum weitergab, das war das andere. Den Leib Jesu konnten seine Feinde wohl vernichten. Aber seine Worte konnten sie nicht zunichte machen. Die Worte hatten ihr eigenes Leben, und die entfalteten ihre Kraft sogleich und immer wieder in immer neuen Menschen. Bis heute sind sie unzerstört und lebendig und immer noch voller Kraft, fast als stünde er selbst, der Jesus von damals, lebendig vor uns und würde sie uns selbst zusprechen.

Wir haben an der alten Dame gesehen, was Worte bedeuten können. Ähnliche Beispiele wird vielleicht jeder von Ihnen erzählen können. Als ich noch zur Schule ging, gab es ein paar Lehrer, die immer mal gern von ihren Kriegserlebnissen erzählten. Da berichtete einer auch davon, wie ein Soldat immer, auch im Schützengraben, das Vaterunser bei sich trug. Anderen ist der 23. Psalm ein ständiger Begleiter: „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.“

Natürlich gibt es heute auch eine Inflation der Worte. Es wird viel geredet. Und vieles rauscht an uns vorüber - zurecht, möchte ich hinzufügen. Worte sind eben nicht Worte. Sie sind nicht alle gleichwertig. Da steht auch vieles auf Hochglanzpapier, das man gut und gerne vergessen kann. Aber um solche Worte, die eigentlich selbst nur Hülsen sind, Hülsen ohne rechten Inhalt, um solche Worte geht es uns heute Morgen ja nicht. Wie kann man die einen Worte von den anderen unterscheiden? Das kann ganz einfach sein. Das kann ohne Nachdenken gehen - wie bei der alten Frau: ein zufälliger Blick auf das durchnässte schmuddelige Papier, das sie gerade in den Müll werfen wollte, und schon war sie im Herzen getroffen, schon hatte sie verstanden, schon trug sie eine neue Kraft in sich.

Manche Worte offenbaren ihre Kraft allerdings nicht so leicht und offensichtlich. Über manche Worte muss man tatsächlich etwas länger nachdenken. Und manche Worte erschließen sich uns erst in einer bestimmten Situation. Manche Sätze können wir unser Leben lang gekannt haben, und dann plötzlich sagen sie uns etwas.

Worte, göttliche Worte sind in jenem Menschen damals Fleisch geworden, wie Johannes sagte, und haben jenen Jesus von Nazareth, geboren in Bethlehem, verwandelt zu einer göttlichen Gestalt. Göttliche Worte haben ihn zum Leuchten gebracht. „Ich bin das Licht der Welt“, lässt Johannes ihn sagen. Der Leib Jesu wurde zu Grabe getragen, aber die Worte blieben lebendig und voller Kraft. Sie erfassten auch Saulus und verwandelten ihn in Paulus. Sie öffneten ihm die Augen und führten ihn durch viele schwierige Situationen hindurch.

Paulus formulierte seine Lebenserfahrungen, seine Einsichten, seinen Glauben selbst in vielen guten Worten und schrieb sie auf und ließ sie aufschreiben. Paulus ist nicht mehr da, sein irdisches Gefäß, wie er es nannte, ist längst verfallen. Das Pergament, auf das er schrieb, existiert nur noch in vereinzelten Fetzen. Aber seine Worte sind weiterhin kraftvoll lebendig und haben auch uns heute Morgen bewegt.

Wir haben dieses ganze dicke Buch voller guter Worte, auch ein irdisches Gefäß, aber zugleich doch auch eine wahre Schatzkiste. Mögen sich möglichst viele dieser Worte möglichst vielen von uns erschließen und wie ein Licht im Dunkeln unseren Weg durchs Leben erleuchten.

Wettkampf in religiösen Dingen?

8. Februar 1998

Septuagesimae

(3. Sonntag vor der Passionszeit)

1. Korinther 9,24-27

Es ist, als hätte jemand mit der Auswahl des heutigen Predigttextes besonders aktuell sein wollen - nach dem Motto: „Nehmen wir doch zu Beginn der Winterolympiade in Nagaro, Japan, mal einen sportlichen Text.“ Skilaufen kommt in der Bibel zwar nicht vor. Aber bei Paulus findet sich doch etwas einigermaßen Passendes zum Stichwort „Sport“, ein Thema, um das sich im Sport vieles dreht, um den Wettkampf nämlich, um den Sieg, was ja heißt, besser sein zu wollen als die anderen, und dass man sich auch ganz schön anstrengen muss, um zu gewinnen: „Wisst ihr nicht“, fragt Paulus rhetorisch, „dass die Läufer in der Kampfbahn zwar alle laufen, aber dass nur einer den Siegespreis empfängt? Lauft so, dass ihr ihn gewinnt.“

Was hat Paulus hier im Sinn? Das frage ich jetzt ein wenig skeptisch - mit Blick auf die hier angesprochene Konkurrenzsituation. Sport kann ja zum einen schön und unterhaltsam sein. Aber in mancher Hinsicht haben die sportlichen Wettkämpfe, wie ich finde, auch eine etwas sonderbare Seite. Der Erste sein zu wollen, das ist im Sport zwar einerseits die natürlichste Sache der Welt, das gehört zum Wettkampf dazu, aber in manchen Augenblicken finde ich dieses Ansinnen schon fast etwas unhöflich: Ich lasse dem anderen doch lieber den Vortritt, ich drängele mich nicht gerne vor - und dann noch so mit äußerster Kraftanstrengung. Ist das nicht schon fast unchristlich? Es ist doch schön, wenn der andere gewinnt. Darüber kann ich mich auch freuen.

Sie werden diese Einwendungen jetzt nicht ganz ernst nehmen, weil sie dem Anliegen des Sports nicht gerecht werden. Aber was doch auch etwas sonderbar ist, ist, dass es ein so großes Ding sein soll, dass man fünf hundertstel Sekunden schneller gewesen ist als der andere. Und dafür soll man sich dann aufs Siegerpodest stellen. Und der andere, der ja eigentlich genauso schnell gewesen ist, steht eine Stufe tiefer. Das wäre mir ehrlich gesagt, peinlich. „Komm doch auch mit nach oben!“, müsste man dann doch eigentlich sagen.

Aber so ist das nun mal im Sport. Und wenn man das nicht so tierisch ernst nimmt, ist das ja auch o. k. Es geht ja eigentlich ums Spielen, um den spielerischen Wettkampf. In dieser Hinsicht kann man das ja gelten lassen.

Nun möchte ich fragen, worauf Paulus eigentlich hinaus will mit seinem Beispiel aus dem Sport. Ihm geht es ja nicht um den Sport an sich. Das ist für ihn nur ein Bild, mit dem er etwas anderes deutlich machen will - aber was?

Er macht dann doch einen Unterschied zwischen dem Sport und dem, worum es ihm geht - und zwar z. B. hinsichtlich des Ziels, auf das die Wettkämpfer zulaufen: „Ich jedenfalls“, sagt er, „laufe nicht auf ein ungewisses Ziel.“ Auf welches Ziel läuft denn Paulus zu? Und wieso ist das Ziel der Wettläufer ungewiss? Da möchte man doch sagen: Die haben ein ganz klares Ziel vor Augen, das Zielband eben, da hundert Meter weiter vorn, das sie schneller erreichen möchten als die anderen.

Um das Ziel jedenfalls geht es Paulus. Das, was die Sportler als Ziel im Sinn haben, scheint ihm nicht sehr bedeutsam zu sein, das scheint ihm ein sehr vergängliches Ziel zu sein. Da kann man ihm in gewisser Weise zustimmen: Wenn heute einer der Schnellste war und dafür groß gelobt wird, dann kann er morgen schon wieder vergessen sein, weil ein anderer es noch ein paar hundertstel Sekunden schneller geschafft hat. Insofern hat der sportliche Sieg wirklich etwas sehr Flüchtiges an sich.

Paulus geht es offensichtlich um ein höheres Ziel. Das formuliert er in diesem kurzen Predigtabschnitt zwar nicht ausdrücklich. Aber das wissen wir aus der Lektüre all dessen, was er sonst noch geschrieben hat. Ihm geht es um die Dinge des Lebens - um unser Verhältnis zum Leben, um unsere menschliche Art, um unser menschliches Miteinander. Es geht ihm um die Werte unseres Zusammenlebens, um das Woher und Wohin. Da geht es also um viele grundsätzliche Fragen. Paulus hat da so seine Gedanken. Er ist immer ein nachdenklicher Mensch gewesen - und ein Mensch mit Überzeugungen und Zielen. Das Interessante ist, dass er im Verlaufe seines Lebens auch zu neuen Erkenntnissen gekommen war.

Sie erinnern sich an das sog. Damaskuserlebnis: Paulus war überzeugter Jude gewesen. Dann hatte er eine Offenbarung Jesu, und sein ganzes Denken und Glauben, seine ganze Lebensperspektive änderte sich radikal. Was er vorher für bedeutsam gehalten hatte, das wurde ihm plötzlich völlig unwichtig. Andere Einsichten wurden ihm wesentlich, und für die wollte er sich künftig einsetzen. Das hat Paulus dann auch mit dem ihm eigenen Engagement getan.

Da wird mir auch klar, warum er das Bild vom Sport gewählt hat: Paulus hat sich wirklich wie in einer Wettkampfsituation gefühlt, einem Wettkampf nämlich zwischen dem Judentum und dem damals neuen christlichen Glauben. Das war für ihn schon so eine Art Kampfsituation - und Paulus selbst war ein kämpferischer Typ. Zuerst hatte er für die jüdischen Traditionen gekämpft - bis dahin, dass er die Christen verfolgt und auszuschalten versucht hatte. Und dann hat er sich mit der Hingabe seiner ganzen Person für die neuen Überzeugungen eingesetzt - mit dem Ziel, nun aller Welt zu zeigen, dass es sich hier wirklich um bedeutsamere Ziele handelte.

Da hat sich Paulus wirklich mit der Hingabe seiner ganzen Person engagiert. Er hat sich, wie Sportler ja auch, einer harten, auch körperlichen Disziplin unterworfen, um möglichst gute Ergebnisse zu erzielen und um den anderen zu zeigen, dass er es wirklich ernst meinte mit dem, was er nun Neues zu verkünden hatte.

Paulus sah sich also in einem Wettstreit der religiösen Überzeugungen. Da können wir uns an dieser Stelle fragen: Wie halten wir es denn in dieser Hinsicht? Wir leben heute in einer Zeit und einer Gesellschaft mit sehr vielen verschiedenen religiösen Überzeugungen. Haben auch wir das Gefühl, uns in einer Wettkampfsituation zu befinden? In gewisser Weise vielleicht schon - und vielleicht haben wir dabei auch das Gefühl, zu den „Loosern“ zu zählen, zu den Verlierern, weil sich schon so viele der Kirche abgewandt haben und weil manche andere religiösen Gruppierungen verstärkt Zulauf erhalten haben. Da ist auch für uns die Frage: „Wie empfinden wir das, wie verhalten wir uns da? Sollen wir versuchen, die anderen, die religiösen Mitbewerber sozusagen, auszustechen, besser zu sein als die anderen im Sinne eines Wettkampfes?“ Da hinkt der Vergleich mit dem Sport wohl etwas.

Was wir in dieser Situation tun können, ist einfach, dass wir versuchen, möglichst glaubwürdig für unsere eigenen Überzeugungen einzutreten. Das regt ja auch Paulus an - im Respekt allerdings vor den anderen Überzeugungen. Wählen und entscheiden müssen dann letztlich diejenigen selbst, die noch auf dem Weg sind, sich eine eigene Überzeugung zu bilden.

Die Situation ist dann tatsächlich doch etwas anders als im Sport. Es gibt keine Schiedsrichter - die als außenstehende Betrachter den Erfolg der einen oder der anderen religiösen Überzeugung messen könnten. Woran wollte man das auch messen? An den Mitgliederzahlen, an den Zahlen der Gottesdienstbesucher, an dem Kirchensteueraufkommen, an dem Spendenaufkommen - oder was?

Schiedsrichter ist, wenn man dieses Wort überhaupt verwenden will, Schiedsrichter ist jeder für sich, jeder, der sich für sich selbst eine religiöse Überzeugung zu bilden versucht, der muss sich aus der Vielzahl der Angebote etwas heraussuchen, was ihm zusagt. Und das ist auch gar nicht so einfach.

Es kann manch einer dann zu der Überzeugung kommen: Für mich ist der christliche Glaube eine tragfähige Grundlage für meine ganze Lebensgestaltung, der christliche Glaube, vielleicht in der lutherischen Fassung. Ein anderer mag sich anders orientieren. Da müssen wir, finde ich, uns gegenseitig respektieren, wobei es natürlich auch Grenzen gibt. Extremistische, lebens- und menschenfeindliche Einstellung müssen wir nicht respektieren und tolerieren. Aber es gibt doch eine große Band