Das Ja zum Leben und zum Menschen, Band 3 - Wolfgang Nein - E-Book

Das Ja zum Leben und zum Menschen, Band 3 E-Book

Wolfgang Nein

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Beschreibung

Die Macht des Wortes wird oft unterschätzt. Dabei können Worte die Welt bewegen - im Guten wie im Bösen. Das „Ja“ der Massen im Berliner Sportpalast 1943 unterstützte mit Jubel den Weg in die Katastrophe. Das ganz persönliche Ja-Wort bekräftigt eine Lebensentscheidung. Predigten geben Worte weiter, in denen sich Menschheitserfahrungen und Glaubensüberzeugungen verdichtet haben. Wer sie mit offenem Herzen und wachem Verstand hört oder in diesem Buch liest, kann ihnen manches Wertvolle für das eigene Leben entnehmen.

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Die Liebe, ein Angebot an alle

9. Januar 2005

1. Sonntag nach Epiphanias

Johannes 1,15-18

Unser Leben als Dank

23. Januar 2005

Septuagesimae

3. Sonntag vor der Passionszeit

Lukas 17,7-10

Maria und Martha

6. Februar 2005

Estomihi

(Sonntag vor der Passionszeit)

Lukas 10,38-42

Wir sind Adam und Eva

13. Februar 2005

Invokavit

(1. Sonntag der Passionszeit)

1. Mose 3,1-9(20-24)

Innere Freiheit

24. März 2005

Gründonnerstag

Markus 14,17-26

Das Leben ist stärker

27. März 2005

Ostersonntag

Matthäus 28,1-10

Eine schöne Ostergeschichte

28. März 2005

Ostermontag

Lukas 24,36-45

Fest des Lebens

3. April 2005

Quasimodogeniti

(1. Sonntag nach Ostern)

25 Jahre in St. Markus

1. Korinther 15,12-20

Im Alter weise werden?

1. Mai 2005

Rogate

(6. Sonntag nach Ostern)

Goldene Konfirmation

Lukas 21,33

Zwei Wesensarten – zwei Abschiede

5. Mai 2005

Himmelfahrt

Apostelgeschichte 1,3-4(5-7)8-11

Zwischenzeit zur Neuorientierung

8. Mai 2005

Exaudi

(6. Sonntag nach Ostern)

60 Jahre nach dem Ende des zweiten Weltkriegs

Johannes 7,37-39

Geistliche Energiezufuhr

15. Mai 2005

Pfingstsonntag

Apostelgeschichte 2,1-18

Völkerverständigung

16. Mai 2005

Pfingstmontag

1. Mose 11,1-9

Wenn der Geist leibhaftig wird

22. Mai 2005

Trinitatis

Dank an Ehrenamtliche

1. Mose 2,7

Einladen - Ablehnung respektieren

5. Juni 2005

2. Sonntag nach Trinitatis

Matthäus 22,1-14 (Paralleltext: Lukas 14,15-24)

Mut zum Abenteuer und zur Umkehr

12. Juni 2005

3. Sonntag nach Trinitatis

Uyole-Partnerschaftsgottesdienst

Lukas 15,11-32

Unser Stellvertreter

26. Juni 2005

5. Sonntag nach Trinitatis

Johannes 1,35-42

Israel, die Kirche und die Welt

31. Juli 2005

10. Sonntag nach Trinitatis

2. Mose 19,1-6

Ist der Mensch zur Besserung fähig?

7. August 2005

11. Sonntag nach Trinitatis

Matthäus 21,28-32

Kein Frieden ohne Unfrieden

16. Oktober 2005

21. Sonntag nach Trinitatis

Matthäus 10,34-39

Sanctus - Heilig bist du

23. Oktober 2005

22. Sonntag nach Trinitatis

Jesaja 6,1-3

Glaube, Hoffnung, Liebe

31. Oktober 2005

Reformationstag

1. Korinther 13,13

Hoffen und Handeln

13. November 2005

Volkstrauertag

1. Timotheus 2,1-4

Geduld

27. November 2005

1. Advent

Offenbarung 5,1-5(6-14)

Der Weg durchs Leben

31. Dezember 2005

Jahresschluss

2. Mose 12,20-22

Mit Mut und Vertrauen in ein neues Jahr

1. Januar 2006

Neujahr

Josua 1,1-9

Werbung für den christlichen Glauben?

15. Januar 2006

2. Sonntag nach Epiphanias

1. Korinther 2,1-10

Missionarische Herausforderung

19. Januar 2006

Andacht vor Ausschuss des Kirchlichen Entwicklungsdienstes

Lukas 14,13-24

Vertröstung aufs Jenseits?

5. Februar 2006

Letzter Sonntag nach Epiphanias

Offenbarung 1,9-18

„Du sollst nicht angeben!“

12. Februar 2006

Septuagesimae

(3. Sonntag vor der Passionszeit)

Jeremia 9,22-23

Gegengift als Heilmittel

2. April 2006

Judika

(5. Sonntag der Passionszeit)

4. Mose 21,4-9

Mitleiden und Helfen

9. April 2006

Palmsonntag

(6. Sonntag der Passionszeit)

Jesaja 50,4-9

Wir waren es ihm wert

13. April 2006

Gründonnerstag

1. Korinther 10,16-17

Gestorben, aber nicht tot

16. April 2006

Ostersonntag

1. Samuel 2,1-2.6-8a

Er lebt, weil er liebte

17. April 2006

Ostermontag

1. Korinther 15,50-58

Wohin nach der Auferstehung?

25. Mai 2006

Himmelfahrt

Lukas 24,50-52

Von Herzen wollen, was wir sollen

28. Mai 2006

Exaudi

(6. Sonntag nach Ostern)

Jeremia 31,31-34

Der Mensch: tierisch, geistig, geistlich

4. Juni 2006

Pfingstsonntag

1. Korinther 2,12-16

Geist und Kirche

5. Juni 2006

Pfingstmontag

Epheser 4,11-15

Ist soziale Ungleichheit akzeptabel?

18. Juni 2006

1. Sonntag nach Trinitatis

Partnerschaft St. Markus – Uyole, Tansania

Lukas 16,19-31

Kirche auf Ihrem Lebensweg

25. Juni 2006

2. Sonntag nach Trinitatis

Goldene Konfirmation

Matthäus 11,28

Enthüllendes und wärmendes Licht

2. Juli 2006

3. Sonntag nach Trinitatis

1. Johannes 1,5-2,6

Tun, was dem anderen guttut

30. Juli 2006

7. Sonntag nach Trinitatis

Philipper 2,1-4

Frei in Liebe und Verantwortung

6. August 2006

8. Sonntag nach Trinitatis

1. Korinther 6,9-14.18-20

Religion ist nicht nur Privatsache

13. August 2006

9. Sonntag nach Trinitatis

Jeremia 1,4-10

„In Gottes Hand geborgen“

27. August 2006

11. Sonntag nach Trinitatis

Tauferinnerung

Warum glauben?

17. September 2006

14. Sonntag nach Trinitatis

1. Thessalonicher 1,2-10

Sich sorgen im rechten Maß

24. September 2006

15. Sonntag nach Trinitatis

Matthäus 6,25-34

Dank dem Geheimnis des Seins

1. Oktober 2006

Erntedankfest

Familiengottesdienst

Abschied vom Küster

Matthäus 14,13-21

Pflänzchen der Hoffnung hegen

19. November 2006

Volkstrauertag

Micha 4,3

Leitbilder unserer Sehnsucht

10. Dezember 2006

2. Advent

Jesaja 35,3-10

Freispruch zur Bewährung

31. Dezember 2006

Jahresschluss

Johannes 8,31-36

Bibelstellen

Vorwort

Christliche Predigten sind seit zweitausend Jahren der immer neue Versuch, über das Leben und den Menschen Hilfreiches zu sagen. Sie greifen dabei zurück auf das, was sich in Menschen in und um Israel in den tausend Jahren bis zum ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung an Lebenserfahrungen zu Lebensweisheiten und Glaubensüberzeugungen verdichtet hat.

Warum Hilfreiches? Sind wir denn der Hilfe bedürftig? Wenn wir allen falschen Stolz ablegen, können wir wohl sagen: „Ja.“ Wir sind nicht nur als Neugeborene und Kleinkinder und Heranwachsende hilfsbedürftig, bis wir zu eigenständiger Lebensführung fähig sind. Wir bleiben auch im weiteren Verlauf unseres Lebens in vielfältiger Weise auf materiellen, menschlichen und geistigen Beistand angewiesen. Und nicht zuletzt auch auf geistlichen Beistand!

„Geistlich“ meint all das, was mit den Grundfragen unserer Existenz zu tun hat. Wir sind ungefragt in diese Existenz hineingesetzt worden, in einen Kosmos von unüberschaubaren Dimensionen mit unbegreifbaren Vorgängen und Erscheinungen, voller Schönheiten und Schrecklichkeiten. Wir sind mit einer begrenzten Lebenszeit ausgestattet, in der wir im besten Fall für die Dauer einiger Jahrzehnte mit Bewusstsein erfahren, bedenken und erfühlen können, was um uns herum und in uns geschieht. Wir sind mit einem Leib ausgestattet, der uns Wohlbefinden und höchste Glücksmomente vermitteln, uns aber auch Schmerzen bis zur Unerträglichkeit zumuten kann.

Das alles bewegt uns in unseren Hirnen und Herzen, erfüllt uns mit Staunen, mit Freude und Schrecken und bedrängenden Fragen. So ist es Menschen von Anfang an ergangen. Einige haben aufgeschrieben, was sie erlebt und gedacht und empfunden haben und zu welchen Schlussfolgerungen sie gekommen sind. Vieles davon ist uns im Buch der Bücher, der Bibel, überliefert.

Die Bibel ist kein einfaches Buch. Aber sie ist, in rechter Weise gelesen, eine Schatzkiste voller guter Worte.

Der uns vorliegende biblische Text ist in einem Zeitraum von etwa tausend Jahren aus mündlicher und schriftlicher Überlieferung entstanden. Viele Generationen haben an der Entstehung mitgewirkt. Vielen Aussagen ist das Zeit- und Kulturbedingte unmittelbar abzuspüren. Auch das Allzumenschliche ist oftmals nicht zu übersehen. Manche biblischen Texte sind mit Vorsicht zu gebrauchen. Sie sind allesamt interpretationsbedürftig. Diese Aufgabe gehört zur Predigt.

Die biblischen Texte sind in weiten Teilen aus sehr konfliktiven Situationen heraus entstanden. Es ist legitim, sogar geboten, die Bibeltexte selektiv zu lesen. Manches dürfen wir nicht einfach nachsprechen. Wir könnten sonst großen Schaden anrichten, wie in der Kirchengeschichte nicht selten geschehen.

Durch alles Allzumenschliche hindurch vermitteln die Texte aber doch das, was über unseren Alltag hinweist: Das Staunen über die Wunder der Schöpfung, die Dankbarkeit für das Geschenk des Lebens, den offenen Blick auch auf die Problemseiten des Lebens und des Menschen und die liebevolle Einstellung zu allem Geschöpflichen, zum schwachen Geschöpf Mensch insbesondere.

Aufgabe der Predigt ist es, das Hilfreiche der biblischen Texte so weiterzugeben, dass es uns für unser Leben hier und heute dient.

Wolfgang Nein, Juli 2016

Die Liebe, ein Angebot an alle

9. Januar 2005

1. Sonntag nach Epiphanias

Johannes 1,15-18

Sie können hier auf dem Fußboden in der Kirche noch ein paar Reste von Stroh wahrnehmen, Stroh aus dem Stall von Bethlehem. Die mazedonisch-orthodoxen Christen haben hier am Donnerstag ihr Weihnachtsfest gefeiert und am Freitag den ersten Weihnachtstag und gestern den zweiten Weihnachtstag. Die orthodoxen Christen haben ihre eigene Tradition und ihre eigenen Rituale.

Sie feiern Weihnachten am 6. Januar, dem Dreikönigstag, dem Tag der Erscheinung des Herrn oder Epiphanias.

Ist es nicht ein sehr schönes Zeichen, dass Menschen aus einem anderen Land in unserer Kirche dem christlichen Glauben auf ihre besondere Art Ausdruck verleihen?! Das ist doch ein Zeichen dafür, dass uns der christliche Glaube weltweit über die nationalen und kulturellen Grenzen hinweg verbindet. In Israel, in Bethlehem, hat es angefangen. Von da aus hat sich der christliche Glaube über den ganzen Erdball verbreitet. Das kommt symbolisch auch in den sog. Heiligen Drei Königen zum Ausdruck. Die kommen auch von weither, von weit jenseits der Grenzen Israels, aus einer anderen Kultur, aus einer anderen Religion, und machen sich auf den Weg nach Bethlehem. Man hat in den drei Königen, den drei Weisen, Sterndeuter waren es eigentlich, Vertreter des afrikanischen, europäischen und asiatischen Kontinents gesehen.

Wir haben vorhin die Epistellesung gehört: Auch die Heiden, heißt es da - und damit sind die Nichtjuden gemeint, auch die Nichtjuden gehören zum Leib Christi. Auch ihnen gilt das Evangelium von Jesus Christus.

Wenn wir uns einmal fragen, was durch Jesus Christus anders geworden ist, was durch ihn Neues gekommen ist, dann ist die eine wichtige Aussage diese: dass der eine Gott der Gott aller Menschen ist - so, wie es im Alten Testament in der Schöpfungsgeschichte zum Ausdruck gebracht ist: „Gott schuf den Menschen.“ Entsprechend sind wir alle Geschöpfe des einen Schöpfers. So gilt auch nach dem zweiten Schöpfungsansatz, nach der Sintflut, der mit Noah geschlossene und mit dem Regenbogen besiegelte Bund Gottes allen Menschen.

Es hat dann aber in Israel eine Verengung gegeben. Die Abrahamsgeschichten - und dann die Mosegeschichten - schildern, wie sich Gott ein Volk besonders auserwählte und zu seinem Volk machte. Die anderen Völker waren demgegenüber Heiden.

Diese Engführung wird im Neuen Testament wieder aufgehoben. Durch Jesus Christus wird erneut deutlich, dass alle Menschen in gleicher Weise Gottes geliebte Kinder sind. Die Bildung der christlichen Kirche führte allerdings zu einer neuen Engführung. Heiden sind aus dieser Sicht die Nichtchristen. Dass dies eine unglückliche Kategorisierung ist, wird uns vielleicht dann besonders deutlich, wenn wir selbst z. B. aus der Sicht mancher Muslime als Ungläubige bezeichnet werden.

Juden, Christen, Muslime und auch die Menschen anderer Religionen haben zwar alle ihre eigene Art, ihre eigenen Traditionen, ihre eigenen Riten, ihr eigenes theologisches Verständnis, ihr eigenes Weltbild und Menschenbild und Gottesbild.

Für unseren christlichen Glauben ist aber etwas ganz besonders wichtig, was allen Menschen gemeinsam ist, nämlich: die Sehnsucht nach Liebe.

Das verbindende Element im Judentum ist die Tora - oder wie Luther auf Deutsch sagt: das Gesetz. Dieser Begriff „Gesetz“ sagt sicherlich nicht alles aus, was Tora bedeutet. Aber er bezeichnet doch Wesentliches. Die unter uns vor allem bekannten zehn Gebote sind von ganz grundlegender Bedeutung für unser Leben und Zusammenleben. Das rechtliche Regelwerk im Alten Testament, das ja die heilige Schrift des Judentums ist, geht aber weit über die zehn Gebote hinaus. Es gibt eine Vielzahl von Vorschriften - 613 sollen es genau sein, darunter auch Reinlichkeitsvorschriften z. B., die zu beachten für einen Juden zentraler Bestandteil seines religiösen Verständnisses und seiner Lebensführung ist.

Dieses umfassende Regelwerk, die Tora, hat sicherlich wesentlich dazu beigetragen, dass die Juden als Religionsgemeinschaft und Volk durch die Jahrhunderte bis auf den heutigen Tag trotz der Zerstreuung in viele Länder und trotz der vielen Anfeindungen und Verfolgungen und massenhaften Vernichtung weiterhin Bestand haben. Die Juden sind durch die als sehr verbindlich geltende Tora aber eine relativ geschlossene, exklusive Religions- und Volksgemeinschaft.

Das Evangelium von Jesus Christus hat die Grenzen dieser Religions- und Volksgemeinschaft überschritten und hat - wieder - jeden Menschen zum geliebten Kind Gottes gemacht, unabhängig davon, ob er oder sie sich an das umfangreiche Regelwerk hält. Wie weit Christen die Liebe Gottes zum Menschen als Leitfaden für ihre praktische Lebensführung genommen und sie als Nächstenliebe praktiziert haben und praktizieren, ist eine andere Sache und ein Thema für sich. Es geht an dieser Stelle um das Besondere des Evangeliums, um Jesus Christus selbst.

Jesus Christus hat die Bedeutung der Tora, des Gesetzes, zwar anerkannt, aber doch relativiert. Das Gesetz ist zwar wichtig, die zehn Gebote sind wichtig und viele andere Vorschriften sind wichtig. Aber über allem steht als das Allerwichtigste die Liebe. Sie verbindet alle Menschen untereinander als eine uns allen gemeinsame Sehnsucht.

Das Evangelium von Jesus Christus sagt uns, dass wir geliebte Kinder Gottes sind. Wir dürfen uns als geliebte Kinder des göttlichen Schöpfers verstehen. Das ist ein Zuspruch. Wenn wir diesen Zuspruch ernst nehmen, kann er in uns die vielen guten Kräfte freisetzen, die in uns angelegt sind. Dann werden Gesetze und Regeln und Vorschriften zweitrangig. Sie haben dann wirklich nur noch eine dienende Funktion und sind nicht mehr konstitutiv, nicht mehr grundlegend für uns als Religionsgemeinschaft und für unser Verhältnis zu Gott und für unsere Beziehungen untereinander. Augustinus soll gesagt haben: „Liebe und tue, was du willst.“

Mose hat das Gesetz gegeben und Jesus Christus hat die Liebe darübergestellt. So dürfen wir Johannes verstehen.

Dass der Mensch auf das Gesetz angewiesen ist, dass er Regeln braucht, um nicht im Chaos zu versinken, ist zwar wahr. Aber das ist noch nicht die ganze Wahrheit. Das Gesetz macht den Menschen weder gut noch besser. Unübersehbar und unleugbar ist vielmehr der Tatbestand, dass der Mensch trotz des Gesetzes geradezu unverbesserlich ist. Darum gehört zur ganzen Wahrheit die Einsicht, dass der Mensch auf Gnade angewiesen ist. Der Mensch ist auf Vergebung angewiesen. Diese wird dem Menschen im Neuen Testament durch Jesus Christus im Namen Gottes zugesprochen.

Diese liebende Vergebung kann jeder annehmen; jeder kann sie für sich nutzbar machen. Der Nutzen ist die innere Stärkung, die Stärkung des Ichs, die innere Verwandlung. Wer sich geliebt weiß, in dem werden innere Kräfte wach. Gute Kräfte entfalten sich und treten nach außen und können - und sollten - auch das Umfeld zum Guten verändern.

Es ist freilich gar nicht immer so leicht, sich lieben zu lassen. Sich selbst als geliebtes Wesen verstehen zu können, ist schon ein Akt des Glaubens. Auch die mit der Liebe verbundene Vergebung anzunehmen, ist nicht leicht. Denn sie setzt ein ehrliches, selbstkritisches Verhältnis voraus. Leichter ist es, andere kritisch zu sehen. Aber andere mit liebevollen Augen und liebevollem Herzen zu betrachten, ist oftmals ganz besonders schwierig. Auch das ist ein Akt des Glaubens. Aber darin sind wir uns als Menschen alle gleich: dass wir auf Liebe und Vergebung angewiesen sind, dass wir uns damit zwar schwertun, aber dass wir uns alle danach sehnen.

Darauf nimmt die frohe Botschaft des Neuen Testaments Bezug. Sie spricht uns die Liebe und Vergebung Gottes zu. Sie gilt allen Menschen und verbindet uns zu einer großen Familie. Wer will, kann seine persönliche Annahme der Liebe Gottes zeichenhaft zum Ausdruck bringen, indem er sich taufen lässt. Er gehört dann im engeren Sinne zur Kirche. Die Taufe ist aber nicht konstitutiv für die Liebe Gottes zum Menschen. Sie begründet nicht die Liebe Gottes, sondern bringt sie nur rituell zum Ausdruck. Der Mensch nimmt in der Taufe, zeichenhaft gesprochen, die ihm liebevoll entgegengestreckte Hand Gottes an.

Indem sich der Mensch taufen lässt, antwortet er auf den liebevollen Zuspruch Gottes und bekennt sich ausdrücklich und öffentlich dazu, dass er sich als von Gott geliebtes Wesen verstehen möchte und dass er aus dieser Liebe heraus sein Leben gestalten möchte. In diesem Sinne handeln Eltern stellvertretend, wenn sie ihr kleines Kind taufen lassen.

Jesus selbst lässt sich durch Johannes taufen. Johannes wehrt sich zunächst gegen das Taufbegehren Jesu, weil er meint, Jesus habe die Vergebung - als Sündloser - nicht nötig. Jesus besteht aber auf der Taufe. Durch die Schilderung der Taufe Jesu machen uns die Evangelien deutlich, dass Jesus in besonderer Weise der Sohn Gottes ist. „Du bist mein lieber Sohn. An dir habe ich Wohlgefallen.“ Diese liebevolle Zusage dürfen wir dann aber auf jeden neugeborenen Menschen beziehen. Das haben wir durch Jesus Christus gelernt, durch sein Leben, sein Leiden und Sterben und Auferstehen. Wenn wir das anzunehmen und zu leben in der Lage sind, dann ist es um uns selbst und um unsere Gesellschaft ganz gewiss um ein Vielfaches besser bestellt.

Die Taufe Jesu ist auch ein Anlass für die Feier des Epiphanienfestes am 6. Januar, dem Weihnachtsfest der orthodoxen Christen. In den unterschiedlichen Traditionen wird der Beginn des Wirkens Jesu in dieser Welt unterschiedlich beschrieben. Beim Evangelisten Lukas beginnt es im Stall von Bethlehem, und es sind die Hirten, die als erste zur Anbetung kommen. Bei Matthäus beginnt die irdische Geschichte Jesu auch im Städtchen Bethlehem; in seiner Schilderung kommen aber nicht die Hirten, sondern die Weisen aus dem Morgenland, um dem Gotteskind zu huldigen. Bei Markus beginnt das Wirken Jesu mit seiner Taufe als Erwachsener. So ist es auch bei Johannes, der zudem noch unterstreicht, dass dem irdischen Wirken Jesu ein göttlicher Plan vorausgeht. Im Plan Gottes war Jesus, so Johannes, schon präexistent.

Wie unterschiedlich die Traditionen im Einzelnen auch sein mögen - für uns ist die gemeinsame zentrale inhaltliche Aussage wichtig: Gottes Liebe zu allen Menschen. Diesen Zuspruch darf jeder Mensch für sich annehmen. Wo immer Menschen diesen Zuspruch dann auch als Anspruch verstehen und ihn zum Leitfaden der eigenen Lebensführung machen, da beginnt das Reich Gottes unter uns konkrete Gestalt anzunehmen.

Unser Leben als Dank

23. Januar 2005

Septuagesimae

3. Sonntag vor der Passionszeit

Lukas 17,7-10

Wenn jemand allmonatlich ein gutes Gehalt auf sein Konto überwiesen bekommt und der Betreffende bei allem, was er an Arbeit tut, dick herausstreicht, was er wieder alles getan hat, wie fleißig er war usw., dann müsste man dem Betreffenden wohl sagen: „Hör mal zu. Das ist doch deine Pflicht und Schuldigkeit, dass du ordentlich arbeitest. Dafür bekommst du doch schließlich dein monatliches gutes Gehalt aufs Konto.“

In diesem Sinne müssen wir wohl die Worte Jesu in unserem Predigttext verstehen. Die Frage ist allerdings, warum Jesus gerade seine Jünger in diesem Sinne anspricht. Bekommen sie denn ein gutes Gehalt - und wofür? Sind sie denn etwas Bestimmtes zu tun schuldig? Und brüsten sie sich denn mit dem, was sie tun? Aus dem Zusammenhang unseres Textes lässt sich diesbezüglich nichts Konkretes erschließen.

Vielleicht gibt Jesus hier eine Empfehlung zur Einstellung gegenüber dem Leben schlechthin. Vielleicht will er seinen Jüngern - und uns - sagen: Betrachtet euer Leben als einen Arbeitsauftrag Gottes. Und betrachtet alles, was ihr im Leben empfangt, als euren reichlichen Lohn, angefangen von der Tatsache, dass ihr überhaupt das Leben empfangen habt, über die vielerlei Begabungen, mit denen ihr ausgestattet seid und über die Fürsorge und Hilfe, die euch von Eltern, Lehrern und vielen anderen Menschen zuteil wird, bis hin zu der Tatsache, dass täglich die Sonne aufgeht, die Natur blüht und euch überhaupt dieser ganze schöne Erdball als Lebensraum zur Verfügung steht.

Wenn ihr dann, nachdem ihr großgezogen und ausgebildet worden seid, selbst tätig werdet, dann gebt das nicht gönnerhaft als eure großartige Leistung aus, sondern betrachtet euer eigenes Tun als eure Schuldigkeit, ein wenig von dem zurückzugeben, was ihr so reichlich empfangen habt und täglich neu empfangt.

In diesem Sinne können die Worte Jesu eine große Hilfe sein, bezogen nämlich auf unsere Einstellung zum Leben und die Einschätzung unseres eigenen Tuns. Er empfiehlt uns, unser Leben als Dank zu verstehen.

Was er wohl nicht gemeint haben kann, ist, dass wir anderen den Dank für das vorenthalten, was sie tun und leisten. In diesem Sinn könnten wir seine Worte leicht missverstehen. Wir sollen unseren Dank schon zum Ausdruck bringen für das, was andere Menschen tun. Es wäre nicht in Ordnung, wenn wir die Leistungen anderer hinnehmen würden, als wären sie das Selbstverständlichste auf der Welt. Auch wenn der andere etwas für seine Arbeit als Lohn bekommt, ist es trotzdem gut und wichtig, sich bei ihm zu bedanken. Die Leistung eines anderen Menschen sollen wir genauso wenig als selbstverständlich, sondern vielmehr genauso dankbar annehmen, wie alles, was wir im Leben und durch das Leben an Gutem empfangen.

Aber wenn sich der andere seiner Leistung brüstet und den Dank vielleicht sogar einfordert und den Eindruck erweckt, er hätte eigentlich noch mehr verdient, weil er doch mehr und besser arbeite als andere, dann mag uns der Dank vielleicht im Halse stecken bleiben und wir würden gern im Sinne Jesu sagen: „Hör zu, du hast doch nur deine Schuldigkeit getan.“

Es könnte dann das Aufrechnen der Leistungen beginnen. Das wäre ein ganz schwieriges Unterfangen. Die Lohnstruktur für die in unterschiedlichen Arbeitsbereichen und Berufen erbrachten Leitungen kann wohl niemals gerecht sein. Dass der eine ein paar hundert Euro monatlich aufs Konto überwiesen bekommt, der andere ein paar tausend und der dritte eine Million, das hat oftmals - in dem unterschiedlichen Maße - weder mit der tatsächlich erbrachten Arbeitsleistung noch mit der Leistungsbereitschaft zu tun. Das kann mit der Marktlage zu tun haben, der Arbeitsmarktlage, das kann mit dem übernommenen Vermögen, mit einer Erbschaft, zu tun haben, das kann mit Glück und Pech zusammenhängen. In gewissem Maß kann es natürlich auch mit unterschiedlichen Fähigkeiten, unterschiedlichem Arbeitseinsatz und unterschiedlicher Leistungsbereitschaft zu tun haben. Aber aus einer bestimmten Sicht könnte das Aufrechnen dennoch als unangemessen erscheinen, wenn wir nämlich die Leistung und die Voraussetzungen der Leistung einmal ganz grundsätzlich betrachten.

Und das ist es, was Jesus in unserem Predigtabschnitt tut und was er auch im Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg macht. Da ist allen Arbeitern im Vorwege der gleiche Lohn zugesagt. Hinterher wollen aber die, die länger gearbeitet haben, doch mehr Lohn als die anderen. Das ist nach den Spielregeln unserer kapitalistischen Marktwirtschaft und auch rein menschlich betrachtet zwar nachvollziehbar. Aber ganz grundsätzlich betrachtet, könnten wir auch Folgendes sagen: Jeder hat das Leben geschenkt bekommen. Und dafür können wir gar nicht genug dankbar sein. Um den Dank dafür zum Ausdruck zu bringen, sollte sich jeder maximal engagieren - den ihm gegebenen Gaben und Möglichkeiten entsprechend, die ja auch letztlich jedem geschenkt worden sind.

Wenn der eine z. B. Arbeit hat, dann sollte ihn das zu um so größerer Dankbarkeit bewegen. Denn das haben wir doch inzwischen begriffen: dass es ein großes Geschenk ist, Arbeit zu haben. Das ist mitnichten nur und schon gar nicht vor allem das eigene Verdienst. Wir können uns heutzutage noch so sehr um Arbeit bemühen und finden eventuell trotzdem nichts.

Wer also das Glück hat, Arbeit zu haben, der sollte sich seiner Arbeitsleistungen nicht brüsten, sondern sollte sich eher um so mehr zu guter, sorgfältiger Arbeit verpflichtet fühlen und seine Dankbarkeit durch um so intensiveres Engagement zum Ausdruck bringen und nicht noch mehr Lohn und Anerkennung verlangen.

Dass Sie mich bitte nicht missverstehen: Ich rede hier jetzt nicht arbeitsmarktpolitisch, obwohl der biblische Text auch mal für die Arbeitsmarktpolitik zu bedenken wäre. Ich nehme die Arbeit als Beispiel für das Leben schlechthin, wie Jesus das in seinen Äußerungen getan hat: das Leben als Arbeitsauftrag Gottes, als Geschenk und Verpflichtung. Und unsere Antwort: unser Leben als Dank.

Diesen Dank sollen wir natürlich nicht zähneknirschend als eher lästigen Job abliefern. Der Dank sollte schon von innen heraus kommen, sonst ist er irgendwie wertlos. Ich zitiere in diesem Zusammenhang Paulus, der in seinem Römerbrief im 8. Kapitel gesagt hat: „Ihr habt nicht einen knechtischen Geist empfangen, sondern einen kindlichen Geist, durch den wir rufen Abba, lieber Vater.“

Hier ist nämlich auch - wie in unserem Predigtabschnitt - vom Knecht die Rede, aber nun im Unterschied zum Kind. Das kann uns in unseren Gedanken noch einen Schritt weiterhelfen.

Wenn wir jetzt noch einmal das Verhältnis Gott-Mensch bedenken und unser Leben als einen Arbeitsauftrag Gottes an uns begreifen, dann, so sagt uns Paulus, betrachtet euch in diesem Arbeitsverhältnis nicht als Knechte - oder wie wir heute sagen würden: als irgendwelche Angestellte, die man anheuern und feuern kann und die für einen fremden Arbeitgeber arbeiten, die vielleicht schon unruhig auf die Uhr gucken, wenn der Feierabend naht und dann ggf. beim Glockenschlag alles stehen und liegen lassen bis zum nächsten Arbeitsantritt. Nein, sagt Paulus, betrachtet euch als Kinder, als Kinder Gottes, als Kinder eures göttlichen Arbeitgebers. Betrachtet die Firma als Familienbetrieb, der euch mitgehört, und arbeitet darin, als würdet ihr den Betrieb demnächst erben. Gott, der Schöpfer, euer Vater, seine Schöpfung, die - verzeihen Sie - globale Firma: Behandelt sie liebevoll als euer Eigen in Verantwortung vor dem Firmengründer und guckt dabei nicht auf die Uhr. Lasst euch euren grenzenlosen Einsatz das Selbstverständlichste sein, denn die Firma ist euer Eigen. Lasst euren Lohn der sein, dass es hier und da gut läuft. Lebt euer Leben als Arbeit im Familienbetrieb, im großen weltweiten göttlichen Familienbetrieb.

Wir können das Leben so oder so sehen. Die biblischen Texte öffnen uns die Augen für Sichtweisen, die sich vom Alltäglichen unterscheiden. Es gibt da kein Falsch oder Richtig. Es ist eine Frage der inneren Entscheidung, eine Frage des Glaubens. Im Lebensvollzug werden wir merken, ob wir mit den biblischen Hinweisen leben können, mit den Worten Jesu, mit den Worten des Neuen Testaments - ob sie uns persönlich guttun und unserem Miteinander mit anderen und ob sie uns helfen, demjenigen die Ehre zu geben, von dem wir das Leben mit allem, was dazugehört, empfangen haben.

Unnütze Knechte, wie unser Predigttext sagt, sind wir nicht wirklich. Das dürfen wir nicht missverstehen. Geliebte Kinder Gottes sind wir. Wenn wir in diesem Bewusstsein unser Leben gestalten, dann wird es für uns und alle, für Gottes Schöpfung und seine Geschöpfe gut sein.

Maria und Martha

6. Februar 2005

Estomihi

(Sonntag vor der Passionszeit)

Lukas 10,38-42

Dies ist eigentlich ein ziemlich problematischer Text, weil er so leicht missverstanden und so furchtbar missbraucht werden kann. Missverstanden würde er z. B., wenn aus ihm eine Geringschätzung der Arbeit im Haushalt herausgelesen würde. Und missbraucht würde der Text z. B., wenn er den Frauen vorgehalten würde, die sich in Küche und Wohnung redlich bemühen, alles gut und schön zu machen.

Jesus zuzuhören, auf das Wort Gottes zu hören, die Bibel zu lesen, zum Gottesdienst zu gehen - das alles ist nicht grundsätzlich höher zu bewerten, als einem Gast ein schönes Essen zuzubereiten. Beides hat seinen eigenen großen Wert und sein eigenes gutes Recht. Allerdings hat auch jedes Ding seine Zeit.

In der Situation, die uns der Predigttext schildert, gibt es nun aber ein kleines Problem: dass nämlich zwei Dinge gleichzeitig vonnöten wären: nämlich dem Gast die rechte Gastfreundschaft zu erweisen und ihm zuzuhören. Meine Frau pflegt in dem Fall zu sagen: „Warte mit dem Erzählen, bis ich in der Küche fertig bin und dabeisein kann.“ Oder sie bittet den Gast: „Komm mit in die Küche. Dann kann ich weiter vorbereiten und kann dabei hören, was du zu erzählen hast.“

So ähnlich hat mal einer der Vikare in St. Markus diese biblische Geschichte von Maria und Martha umerzählt. Angeblich soll das so in einer Kinderbibel stehen: Da geht Jesus tatsächlich mit in die Küche und hilft den beiden Frauen bei der Hausarbeit, während er redet. Zensurenmäßig ist diese Idee unserem Vikar damals nicht gut bekommen. Aber ich finde, das wäre doch eine geniale und wirklich menschliche Lösung gewesen.

Jesus hat durch sein Vorgehen einen Konflikt heraufbeschworen. Beide Frauen wollen es ihm recht machen. Martha möchte ihm die rechte Gastfreundschaft erweisen, indem sie für sein leibliches Wohl sorgt. Maria möchte seinem Anliegen gerecht werden, indem sie ihm zuhört. In diesem Sinne dürfen wir beide Frauen einfach mal wohlwollend interpretieren.

Untereinander betrachten sich die Frauen allerdings nicht so wohlwollend. Martha bringt Jesus gegenüber ihren Ärger darüber zum Ausdruck, dass Maria nicht mithilft. Vielleicht hat es Martha schon häufiger gestört, dass Maria sich immer gern mit - in Anführungszeichen – „Höherem“ beschäftigte, wenn es im Haushalt mitzuhelfen galt.

Der Besuch Jesu führt also zu einer Missstimmung unter den Frauen. Das will ich Jesus jetzt aber nicht vorhalten.

Was will uns dieser Text eigentlich sagen? Es geht in diesem Text in der Tat um das Thema „Hören und Handeln“: Maria hört, Martha handelt. Beides gehört zusammen.

Schöne Worte ohne gute Taten sind letztlich nur schöne Worte und dann in Wirklichkeit nicht mehr schön, sondern schal. „Liebe ist nicht nur ein Wort, Liebe, das sind Worte und Taten“, heißt es in einem neueren Kirchenlied.

Umgekehrt braucht das Handeln aber auch Worte, eine Erklärung nämlich, einen Sinn, über den wir uns klarwerden müssen. So, wie Paulus in seinem Hohenlied der Liebe sagt - wir haben den Text vorhin als Epistellesung gehört: „Wenn ich den Armen helfe, aber ohne Liebe, dann taugt das Helfen nicht.“ In der Tat kann ich mit Hilfe jemandem Gutes tun oder jemandem letztlich schaden. Wenn ich jemanden mit meiner Hilfe z. B. von mir anhängig mache und mir gefügig mache, dann habe ich ihm nicht wirklich geholfen. Oder wenn ich etwas geschenkt bekomme, kann es mir zur Freude und Hilfe geschehen. Es kann aber auch z. B. ein Werbegeschenk sein, das weniger mein Wohlergehen im Blick hat, sondern eher den Wohlstands des Gebers mehren soll. Der innere Sinn einer Hilfe muss also schon offengelegt werden. Das Wort, die Erklärung, die Deutung gehört zur Tat dazu.

Jesus war nicht nur ein großer Prediger; denken wir z. B. an die Bergpredigt. Er war auch ein großer Helfer; denken wir an die vielen Heilungen, an die Speisungen, an die Besuche bei Randständigen, bei Zöllnern und Sündern. Was er geredet hat, hat er getan. Und was er getan hat, hat er erklärt.

Wenn wir im Lukasevangelium das Kapitel lesen, das unserem Predigtabschnitt vorausgeht, sehen wir: Da steht das Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Der Samariter leistet dem Verletzten am Wegesrand ganz praktische Hilfe. Warum? Was ist der Sinn seines Handelns? Darüber gibt der Samariter selbst keine Auskunft. Aber Jesus leitet das Gleichnis mit einer Erklärung ein und gibt dem Handeln des Samariters damit seinen besonderen Sinn. Jesus sagt nämlich als Antwort auf eine Frage der Schriftgelehrten: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst.“ Durch diese Einleitung macht Jesus uns klar, dass die Hilfe am Verletzten als Ausdruck der Liebe zu verstehen ist, als praktische Nächstenliebe. Und zu der werden auch wir aufgefordert.

Also, Wort und Tat, Tat und Wort gehören zusammen. Sie sind wie Schwestern. Es ist nicht gut, Wort und Tat gegeneinander auszuspielen. Es ist auch nicht gut, Maria und Martha gegeneinander auszuspielen. Die kleine Episode im Hause der Schwestern will einfach die Aufmerksamkeit auf die Bedeutung speziell des Hörens lenken, während im Abschnitt zuvor die Aufmerksamkeit des Lesers vor allem auf die Bedeutung des Handelns gelenkt worden ist. Beides müssen wir im Zusammenhang miteinander sehen.

Das gilt überhaupt ganz generell für den angemessenen Umgang mit den biblischen Texten: Wir müssen über die Einzelaussagen hinaus immer auch nach den großen übergreifenden, verbindenden Linien fragen, nach dem roten Faden.

Das Wort z. B. „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern auch vom Wort Gottes“ dürfen wir auch nicht isoliert hören. Denn auch das Umgekehrte gilt und ist auch von Jesus gemeint: Der Mensch lebt nicht vom Wort Gottes allein. Er braucht auch Brot für den Magen. Wenn beides zusammenkommt, dann ist es gut, so, wie der Volksmund z. B. sagt: „Liebe geht durch den Magen.“ In diesem Sinne hat Martha Jesus die Ehre geben wollen.

Betrachten wir unseren Predigtabschnitt also einfach mal als literarische Provokation, die uns anregen soll, uns mit dem Verhältnis von Hören und Handeln zu beschäftigen. Der Evangelist Lukas wählt für sein Anliegen eine Geschichte, in der Martha sich über ihre untätige, Jesus zuhörende Schwester beschwert und Jesus dazu Stellung bezieht.

Wenn wir die Geschichte umschreiben wollten, dann könnten wir das wie unserer damaliger Vikar machen: Wir verlegen die Szene in die Küche. Da können sich Hören und Handeln gleichzeitig vollziehen. Aber wenn uns das als die biblische Geschichte überliefert worden wäre, dann hätten wir vielleicht gar nicht gemerkt, um welches Thema es hier eigentlich geht.

Also lassen wir die Geschichte wie sie ist. Aber hüten wir uns davor, in unserem Lebensumfeld Frauen in wertender oder gar abwertender Weise in Marthas und Marias einzuteilen.

Hören und Handeln sind Geschwister - die liegen manchmal im Streit miteinander. Es ist ja auch wirklich nicht immer leicht zu entscheiden, was denn jeweils das Richtige und Gute zu tun wäre - sonntags morgens zum Beispiel: Gehe ich nun zum Gottesdienst und höre mal zu oder erledige ich noch dieses und jenes andere Schöne oder Dringende? Diese Frage brauchen wir nicht dogmatisch und auch nicht mit schlechtem Gewissen zu beantworten.

Es ist einfach grundsätzlich gut, sich regelmäßig zu besinnen auf das, was man eigentlich tut, und sich zu fragen: Was mache ich da eigentlich, warum mache ich das, mache ich das eigentlich richtig und kann ich das vor meinem Gewissen und vor meinen Mitmenschen und vor meinem Schöpfer verantworten?

Solche Nachdenklichkeit tut jedem von uns gut und ist auch für unsere Gesellschaft insgesamt wichtig. Es ist wichtig, dass wir im Sinne einer kontinuierlichen Übung zuhören und uns immer wieder ins Gewissen reden lassen - als Einzelne ganz persönlich und gemeinschaftlich, auch in unserer Berufsausübung, auch in der Politik, auch in der Wirtschaft.

Wir sind ja alle miteinander auf der Suche nach Orientierung. Wir wollen etwas hören. Wir wollen etwas hören von den Werten der Gerechtigkeit, der Menschlichkeit, des mitmenschlichen Anstands, der Barmherzigkeit, der Versöhnung, des Friedens, der Bescheidenheit, der Demut, der Wahrnehmung von Verantwortung, der Liebe. Wir wollen etwas hören und wir müssen - das gehört auch zu unserem kirchlichen Auftrag -, wir müssen diese Werte auch zu Gehör bringen - in der Nachfolge Jesu. Unser Reden ist dann auch wichtig: dass wir weitersagen, was wir gehört und gelesen haben, dass wir also den Schatz an guten Worten weitergeben - in Wort und Tat.

Maria und Martha, Hören und Handeln - zwei Schwestern, zwei Aufgaben - sie haben beide ihr Recht. Wenn sie im Streit miteinander liegen, vielleicht in uns selbst, helfen wir mit, dass sie beide zu ihrem Recht kommen - undogmatisch und versöhnlich!

Wir sind Adam und Eva

13. Februar 2005

Invokavit

(1. Sonntag der Passionszeit)

1. Mose 3,1-9(20-24)

Was wir im Predigttext für den heutigen Sonntag aus dem 1. Buch Mose im 3. Kapitel gehört haben, ist die bildhafte Darstellung dessen, was sich tagtäglich in uns und um uns herum abspielt. Die Erzählung über Adam und Eva, die Geschichte vom Sündenfall, ist nicht nur eine Erzählung über Adam und Eva. Sie handelt vielmehr vom Menschen schlechthin. Sie handelt vom Menschen aller Zeiten und aller Orten. Sie handelt von uns.

Da ist etwas, was wir nicht dürfen. Eine innere Stimme fragt uns etwas hinterhältig: „Darfst du das wirklich nicht?“ Eine zweite Stimme in uns antwortet ähnlich unaufrichtig: „Das darf man doch wirklich nicht so eng sehen.“ Und schon tun wir, was wir nicht tun dürfen. Dann setzt doch die Scham ein über das, was wir getan haben. Wir haben Sorge, dass wir durchschaut werden. Wir versuchen unsere Blöße zu bedecken. Wenn wir merken, dass man uns auf die Schliche kommt, versuchen wir, uns zu verstecken, und wenn das nicht mehr geht, versuchen wir, uns zu rechtfertigen. Das versuchen wir besonders gern dadurch, dass wir die Schuld auf andere schieben. Am Ende ereilt uns die Strafe doch.

Dies spielt sich wirklich täglich in uns und um uns herum ab - im Kleinen wie im Großen.

Der Steuererklärung fügen wir eine Restaurantquittung als Geschäftsausgabe bei, obwohl das Essengehen eigentlich privat war. Steuerbetrug wird geradezu als Volkssport betrieben. Hier und da lassen wir etwas mitgehen, was uns nicht gehört, etwas Kleines vielleicht nur oder etwas ganz Großes, in der Annahme jeweils, dass es keiner merken wird. Man darf sich eben nicht erwischen lassen!

Die Medien berichten Beispiele genug von Lug und Betrug auf allen Ebenen. Das hat schon fast etwas Beruhigendes. Denn so schlimm wie die anderen treiben wir selbst es ja nicht. Das ist schon einer der Rechtfertigungsmechanismen.

Sind es nur bestimmte Leute, die sich ethisches Fehlverhalten leisten? Gibt es andere, die sich nie etwas haben zu schulden kommen lassen?

Die biblischen Texte sagen uns: Der Mensch war von Anfang an ethisch schwach - von Adam und Eva an. Das Alte Testament drückt sich wenige Kapitel später sehr drastisch aus: „Der Mensch ist von Grund auf böse.“ Dies ist eine bittere Einsicht des Schöpfers selbst. Führt sein zweiter Versuch, der Versuch einer Neuschöpfung mit der Familie Noah nach der Sintflut zu einem besseren Ergebnis? Keineswegs. Auch die später folgenden Versuche, die Menschen auf den rechten Weg zu bringen, haben nur mäßigen Erfolg. Korrekturversuche durch Gebote und durch Mahnungen und Drohungen der Propheten bringen keine nachhaltige Verbesserung. Auch Jesus Christus hat den Menschen nicht besser gemacht.

Hat die Behauptung, der Mensch sei ein ethisch schwächliches Wesen, wirklich eine reale Grundlage? Oder beruht diese Behauptung nur auf der Erfindung von Wertesystemen, von Geboten und Verboten, die man vielleicht genauso gut nicht hätte zu erfinden brauchen? Gibt es Gut und Böse nur, weil sich irgendwelche Leute so etwas ausgedacht haben? Hätten sie sich die Einteilung in Gut und Böse nicht ausgedacht, gäbe es dann das Problem der Schuld vielleicht gar nicht, und könnten wir dann nicht immer ein gutes Gewissen haben?! Warum denn bloß hat der Schöpfer Adam und Eva verboten, von dem einen Apfelbaum zu essen? War das nicht ein willkürliches Verbot? Ist damit nicht der Schöpfer selbst die Ursache für die dann folgenden Probleme geworden? Und hat nicht die Mutter einer Konfirmandin recht, die mir vor Jahren mit Blick auf den bevorstehenden Konfirmandenunterricht sagte: „Aber reden Sie meiner Tochter keine Schuldgefühle ein!“?

Wir können die Herkunft von Wertesystemen erforschen. Wir können über die Entstehung der zehn Gebote forschen und philosophieren. Wir können hinterfragen, wie es zu Geboten und Verboten, zu Gesetzen und Vorschriften und Moralvorstellungen gekommen ist. Wir werden dann vielleicht zu unterschiedlichen Schlüssen kommen - und werden vielleicht viele ganz menschliche Entstehungsgründe finden.

Aber wie immer die Erkenntnisse über die Entstehung von Wertesystemen sein werden, eine Schlussfolgerung werden wir daraus wohl nicht ziehen können: dass es auch ohne Werte ginge. Ohne eine Unterscheidung von - grob formuliert – „gut und böse“, von „das darfst du“ und „das darfst du nicht“, wird es nicht gehen.

Denn Wertesysteme haben den Zweck, unser menschliches Miteinander zu regeln im Kleinen wie im Großen. Für dieses Miteinander brauchen wir Regeln, und auf die müssen wir uns untereinander verständigen. Da muss ein gewisser Konsens hergestellt werden. Wenn einer versuchen wollte, einfach das zu tun, was ihm gefällt, würden sich die anderen das nicht gefallen lassen. Er würde ganz schnell Probleme bekommen, eventuell ganz handgreiflicher Natur.

Unterschiedliche Gemeinschaften haben sich bezüglich ihrer Werteordnung unterschiedlich entschieden. In unserem Kulturkreis orientieren wir uns ganz wesentlich an dem, was der jüdisch-christlichen Tradition entstammt, aber auch der abendländischen Kultur. Das ist natürlich im Laufe der Jahrhunderte, der Jahrtausende alles vielfach hin- und hergewendet, hinterfragt, verworfen und wieder aufgegriffen worden. Dieser Prozess setzt sich auch in der Gegenwart fort.

Aber im Grundsatz bleibt es dabei: Ohne eine Werteordnung und ohne Ethik geht es nicht. Auf die Werteordnung müssen wir uns gemeinsam verständigen. Das Alte Testament führt die Gebote und Verbote auf Gott selbst zurück. Darin drückt sich aus, welch hoher und grundlegender Stellenwert den Werten beigemessen wurde. Der 119. Psalm besingt in aller Ausführlichkeit die Segnungen des göttlichen Gesetzes: „Ich danke dir mit aufrichtigem Herzen, dass du mich lehrst die Ordnungen deiner Gerechtigkeit ... Öffne mir die Augen, dass ich sehe die Wunder an deinem Gesetz ... Wenn dein Gesetz nicht mein Trost gewesen wäre, so wäre ich vergangen in meinem Elend.“ Ohne eine Werteordnung würden wir im Chaos versinken.

Es ist allerdings nicht gleichgültig, welcher Art das Wertesystem ist. Wenn wir uns z. B. am heutigen Gedenktag der Zerstörung Dresdens vor 60 Jahren daran erinnern, welche - das setze ich jetzt in Anführungszeichen -, welche „Werteordnung“ die Nationalsozialisten aufgestellt hatten, dann sehen wir, dass eine - angemessener formuliert – „Unwerte“-ordnung zu Tod und Zerstörung in weltweitem Ausmaß führen kann.

Die Art des Wertesystems ist also von fundamentaler Bedeutung. Ebenso bedeutsam ist es, dass sich jeder Einzelne mitverantwortlich weiß, die Werte zu achten und zu unterstützen. Das ist Ethik, ethisches Verhalten, dass wir ein Stück unserer persönlichen Willkür aufgeben und wir unser Verhalten nach gemeinschaftlich anerkannten Regeln ausrichten.

An diesem Punkt haben wir als Menschen ganz grundsätzlich das Problem, auf das uns die Erzählung von Adam und Eva aufmerksam macht: dass wir - von unserem menschlichen Wesen her - immer wieder den Drang haben und dem Drang nachgeben, gegen die Werteordnung zu verstoßen. Und zwar nicht, weil wir in der Werteordnung irgendein Unrecht sähen, das wir nicht mittragen wollen und gegen das wir uns zur Wehr setzen wollen. So etwas wäre ja eher wünschenswert und sollten wir uns auch noch viel mehr wünschen: dass mehr Zivilcourage geübt werde. Das hätte im Laufe der Geschichte sicherlich manches Unglück verhindern können.

Nein, der Drang, gegen die Werteordnung zu verstoßen, hat oft ganz - verzeihen Sie - ganz niedere Gründe, nämlich die, sich persönliche Vorteile zu verschaffen unter Missachtung der Werteordnung, die wir im Grund bejahen und die zu respektieren wir von anderen uneingeschränkt erwarten.

Es fällt uns einfach schwer, der Versuchung zu widerstehen, doch zu dem leckeren Apfel zu greifen.

Es gibt nur einen Menschen, der der Versuchung widerstanden hat, das ist der, von dem das Neue Testament sagt: Ecce homo – „Seht, welch ein Mensch!“, Jesus Christus. Der Chor hat uns vorhin aus dem Matthäus-Evangelium die Geschichte von der Versuchung Jesu vorgetragen.

Es geht beim Übertreten von Geboten, von Regeln und Gesetzen nicht allein um den Rechtsbruch. Dafür gibt es im Rahmen unserer Rechtsordnung und unserer gesellschaftlichen Konventionen bestimmte Sanktionen, Strafen, die jeweils im Verhältnis zum Ausmaß des Rechtsvergehens stehen.