Das Ja zum Leben und zum Menschen, Band 8 - Wolfgang Nein - E-Book

Das Ja zum Leben und zum Menschen, Band 8 E-Book

Wolfgang Nein

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Beschreibung

Welches sind die Kräfte, die unser Leben bestimmen? Von außen und von innen wirken Kräfte auf uns ein. Es sind zum einen die äußeren Umstände, die Anforderungen des täglichen Lebens und Überlebens. Es sind zum anderen die physischen Bedürfnisse und Triebe und die Kräfte, die aus unserem Hirn und unserem Herzen heraus wirken. Kraft unseres Bewusstseins können wir nachdenken über das, was uns bewegt. Diese Predigtsammlung verbindet unser Nachdenken mit einem Einblick in das Denken, Fühlen und Glauben der biblischen Generationen.

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Eine Botschaft für alle Menschen

10. Januar 1993

1. Sonntag nach Epiphanias

Matthäus 4,12-17

„Fleisch Jesu“ ist schwer verdaulich

21. März 1993

Laetare

(4. Sonntag der Passionszeit)

Johannes 6,55-65

Werbung für christlichen Glauben und Kirche

4. April 1993

Palmarum

(6. Sonntag der Passionszeit)

Konfirmation

1. Johannes 4,16

Wir sind ihm sympathisch

5. April 1993

Passionsandacht mit Senioren

Lukas 22,19-20

Jesu Leiden und unser Leiden

7. April 1993

Passionsandacht

Philipper 2,5-8

Vorbereitung auf den leidvollen Weg zur Freude

2. Mai 1993

Jubilate

(3. Sonntag nach Ostern)

Johannes 16,16(17-19)20-23a

Bitten ohne Anspruch auf Erhörung

16. Mai 1993

Rogate

(5. Sonntag nach Ostern)

Lukas 11,5-13

Eine Sprache, die jeder versteht

31. Mai 1993

Pfingstmontag

1. Mose 11,1-9

Angebot, das Gute zu entdecken

20. Juni 1993

2. Sonntag nach Trinitatis

Matthäus 22,1-14

Freude statt Vorhaltungen

27. Juni 1993

3. Sonntag nach Trinitatis

Lukas 15,1-3.11b-32

Suchen und gefunden werden

11. Juli 1993

5. Sonntag nach Trinitatis

Johannes 1,35-42

Vorsicht mit dem biblischen Text!

22. August 1993

11. Sonntag nach Trinitatis

Matthäus 21,28-32

Wir sind eine große Familie

5. September 1993

13. Sonntag nach Trinitatis

Markus 3,31-35

Kranken menschlich beistehen

12. September 1993

14. Sonntag nach Trinitatis

Markus 1,40-45

Ohne Hoffnung geht es nicht

26. September 1993

16. Sonntag nach Trinitatis

Klagelieder 3,22-26.31-32

Gottesdienst: Medizin für Leib und Seele

17. Oktober 1993

19. Sonntag nach Trinitatis

Markus 1,32-39

Was mir am Glauben schwerfällt

31. Oktober 1993

Reformationsfest

Trialogpredigt - Johannes 1,14b

Die Nacht der Nächte

24. Dezember 1993

Heiligabend

Christnacht

Lukas 2,1-20

Bescheiden und grenzenlos hoffnungsvoll

2. Januar 1994

2. Sonntag nach dem Christfest

Jesaja 61,1-3(4.9)10-11

Das Leben als Gottesdienst

9. Januar 1994

1. Sonntag nach Epiphanias

1. Korinther 1,26-31

„Dienst“ in der Gemeinde

16. Januar 1994

2. Sonntag nach Epiphanias

Verabschiedung von Pastor O. Reinke

Römer 12,11

Bibel, Lebenspraxis, Feier

23. Januar 1994

Letzter Sonntag nach Epiphanias

Gemeindeversammlung

Johannes 1,14

Gottesdienst, Alltag und die Glaubwürdigkeit

13. Februar 1994

Estomihi

(Sonntag vor der Passionszeit)

Amos 5,21-24

Die Schlange, der Revolver und das Kreuz

20. März 1994

Judika

(5. Sonntag der Passionszeit)

4. Mose 21,4-9

Eine Gemeinschaft, die noch keine ist

31. März 1994

Gründonnerstag

1. Korinther 10,16-17

Abenteuer „Liebe“

17. April 1994

Misericordias Domini

(2. Sonntag nach Ostern)

Konfirmation

1. Johannes 4,16

Wahre Propheten?

5. Juni 1994

1. Sonntag nach Trinitatis

Jeremia 23,16-29

Unterschiede auf gemeinsamer Grundlage

19. Juni 1994

3. Sonntag nach Trinitatis

Partnerschaft St. Markus – Uyole, Tansania

1. Korinther 9,19-23

Als Erwachsener Christus entdecken

10. Juli 1994

6. Sonntag nach Trinitatis

Apostelgeschichte 8,26-39

Die Rechtfertigungslehre aus viererlei Sicht

14. August 1994

11. Sonntag nach Trinitatis

Galater 2,16-21

Wer viel hat, hat auch eine Verantwortung

2. Oktober 1994

18. Sonntag nach Trinitatis

Erntedankfest

Begrüßung der neuen KonfirmandenLukas 12,16-21

Lukas 12,16-21

Urgemeinde und Gemeinde in der Großstadt

9. Oktober 1994

19. Sonntag nach Trinitatis

Jakobus 5,13-16

Lebensplanung christlich

16. Oktober 1994

20. Sonntag nach Trinitatis

1. Korinther 7,29-31

Täglich umkehren

16. November 1994

Buß- und Bettag

Offenbarung 3,14-22

Das Träumen und Hoffen nicht aufgeben!

1. Januar 1995

Neujahr

Sprüche 16,1-9

Mahnung zur sozialen Gerechtigkeit

22. Januar 1995

3. Sonntag nach Epiphanias

Micha 6,8

Jesus Christus hat keine Leuchten installiert

5. Februar 1995

Letzter Sonntag nach Epiphanias

Johannes 12,34-36(37-41)

Gottes Dienst an uns und unser Dienst

2. April 1995

Judika

Einführung der Diakonin

Markus 10,45

Wer bin ich?

23. April 1995

Quasimodogeniti

(1. Sonntag nach Ostern)

Konfirmation

Jesaja 43,1b

Der Mensch – gut gemacht?

7. Mai 1995

Jubilate

(3. Sonntag nach Ostern)

1. Mose 1,1-4a.26-31a;2,1-4a

Es hängt nicht alles an uns

4. Juni 1995

Pfingstsonntag

4. Mose 11,11-12.14-17.24-25

Der dreifache Segen des einen Gottes

11. Juni 1995

Trinitatis

4. Mose 6,22-27

Schwangerschaft: Gott zieht beim Menschen ein

16. Juni 1995

Feierabendmahl zum Kirchentag in Hamburg

Lukas 1,39-56

Kinder – leibhaftige Beweise der Liebe

25. Juni 1995

2. Sonntag nach Trinitatis

Gottesdienst mit Taufen

Matthäus 11,28

Hoffnung ist nicht Illusion

23. Juli 1995

6. Sonntag nach Trinitatis

Jesaja 43,1-7

Krankheit – Herausforderung zur Liebe

6. August 1995

8. Sonntag nach Trinitatis

Johannes 9,1-9

Die liebevolle Prostituierte

27. August 1995

11. Sonntag nach Trinitatis

Lukas 7,36-50

Glauben macht stark!

24. September 1995

15. Sonntag nach Trinitatis

Lukas 17,5-6

„Ich bezahl euch auch dafür“

22. Oktober 1995

19. Sonntag nach Trinitatis

Begrüßung der neuen Konfirmanden

Apostelgeschichte 8,14-24

Die sanfte Gewalt des lieben Gottes

29. Oktober 1995

Abendkirche am Basar

Gute-Nacht-Geschichte

Zeitgemäße Antworten auf die ewigen Fragen

5. November 1995

Reformationsfest

Psalm 86,11

Unverschämt hoffen

12. November 1995

Drittletzter Sonntag des Kirchenjahres

Lukas 18,1-8

Spiel der Hoffnung

3. Dezember 1995

1. Advent

Hebräer 10,23-25

Das Himmlische kehrt ins Irdische ein

25. Dezember 1995

1. Weihnachtstag

Johannes 3,31-36

Bibelstellen

Vorwort

„Geld regiert die Welt“, sagt der Volksmund. „Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon“, steht in der Bibel, und: „Wo dein Schatz ist, da ist auch dein Herz.“

Welches sind die Kräfte, die inneren und die äußeren, die uns regieren? Aus beiden Richtungen wirken sie auf uns ein. Es sind zum einen die äußeren Umstände, die Anforderungen des täglichen Lebens und Überlebens. Aber auch die inneren Kräfte sind mächtig, physische zum einen und solche, die aus unserem Hirn und unserem Herzen heraus wirken.

Es sind diese letztgenannten Kräfte, die uns vom Tier unterscheiden. Unser Bewusstsein macht den Unterschied. Wir können denken, nachdenken über „Gott und die Welt“. Das ist zum einen erhebend. Es ist zum anderen belastend.

„Gott und die Welt“ – diese Redewendung bringt die beiden Dimensionen auf den Begriff, in denen wir leben und aus denen heraus Kräfte auf uns einwirken, zwei Dimensionen, die zu unterscheiden sind und zugleich zusammengehören wie die „zwei Seiten einer Medaille“. Alles Äußere hat auch etwas Inneres. Die Existenz hat auch ihre Essenz. Was war zuerst da: das Huhn oder das Ei? Eine unbeantwortbare Frage. Die Bibel sagt: „Am Anfang war das Wort“. Und an anderer Stelle: „Das Wort ward Fleisch.“

Die materielle Existenz und die Transzendenz sind verschieden und zugleich eins und wirken wechselseitig. Die verschiedenen Religionen haben dafür Worte und Bilder und Geschichten. Sie haben inzwischen viele Jahrhunderte an Geschichte hinter sich und haben sich in vielfältiger Weise institutionalisiert. Sie haben das Leben von vielen Milliarden von Menschen beeinflusst. Sie üben weiterhin einen großen Einfluss aus, weil sie dem Ineinander von „Gott und Welt“ Gestalt geben. Sie prägen damit zum einen ganze Gesellschaften und helfen zum anderen dem einzelnen Menschen, zu einer persönlichen Lebensgestaltung zu finden.

Die verschiedenen Religionen sind unterschiedliche Angebote. Jeder denkende und fühlende Mensch hat die Wahl und steht vor der Aufgabe, aus den komplexen Angeboten das für ihn persönlich Passende für die eigene Lebensgestaltung zu verwerten. Erleichtert wird die Wahl dadurch, dass wir in der Regel schon von Kind auf in bestimmten religiösen Kontexten sozialisiert worden sind.

Diese Predigtsammlung vermittelt das Angebot der christlichen Religion. „Das“ Angebot darf nicht dahin gehend missverstanden werden, als würde es sich hierbei um etwas Eindeutiges handeln. Die Grundlage der christlichen Religion ist die Bibel in ihren zwei Teilen, dem Alten und dem Neuen Testament. Diese Texte sind in einem Zeitraum von etwa tausend Jahren entstanden und enthalten das Denken und Fühlen und Glauben vieler Generationen von Menschen. Da gibt es viele Unterschiede. Jeder aufmerksame Leser steht vor der Aufgabe, sich den roten Faden selbst zu erarbeiten. Der Prediger hilft ihm dabei mit seiner – auch seinerseits subjektiven – Auslegung.

Seine Auslegung ist mit dem Titel dieser Predigtsammlung knapp zusammengefasst. Gemeint ist zum einen das „Ja des Schöpfers“ zu dieser seiner Welt und dem Menschen. Der Prediger gibt dieses „Ja des Schöpfers“ weiter, um nun den Hörer und Leser ebenfalls zu einem „Ja zum Leben und zum Menschen“ zu ermutigen.

Die konkreten Lebenserfahrungen scheinen dieses „Ja“ oftmals nicht zu rechtfertigen. Insofern ist diese Ermutigung im wahrsten Sinne des Wortes „vonnöten“. Das Leben ist nicht einfach, und der Mensch ist nicht einfach. In der bildhaften Sprache der Theologie formuliert: Der Schöpfer hat sein Geschöpf Mensch mit diesem Dasein überfordert. Darum ist er mit ihm barmherzig und bietet ihm auf Dauer seine Unterstützung an – in Gestalt jenes „göttlichen Menschen“, nach dem die christliche Religion benannt ist. Viel Freude beim Lesen!

Wolfgang Nein, März 2017

Eine Botschaft für alle Menschen

10. Januar 1993

1. Sonntag nach Epiphanias

Matthäus 4,12-17

Am vergangenen Donnerstag war ich hier in unserer Kirche zu einem Gottesdienst. Im Anschluss daran reichten mir einige der Gottesdienstbesucher die Hand und wünschten mir frohe Weihnachten. Wir hatten unseren Tannenbaum bereits am Morgen abgeschmückt und in den Hintergarten befördert. Weihnachten war aus unserem Bewusstsein schon gestrichen. Der Blick war schon mehr auf die Aufgaben des neuen Jahres gerichtet.

Diejenigen, die am vergangenen Donnerstag und auch schon am Mittwochabend zum Gottesdienst zusammengekommen waren, feierten an diesen Tagen ihr Weihnachtsfest. Der 6. Januar ist der Tag der Heiligen Drei Könige. Es waren unsere mazedonischen Gäste, die sich seit eineinhalb Jahren in unserer Kirche zu Gottesdiensten versammeln. Es sind orthodoxe Christen. In der orthodoxen Kirche wird der 6. Januar als Fest der Geburt Jesu begangen. Stroh lag hier in der Kirche auf dem Boden. So war die Kirche zeichenhaft verwandelt in den Stall von Bethlehem. Wenn wir am Vorabend, am 5. Januar abends, direkt in Mazedonien selbst hätten sein können, dann hätten wir viele Feuer beobachten können, die erinnern sollen an die Feuer der Hirten auf den Feldern von Bethlehem.

In der vergangenen Woche fragte mich einer der Konfirmanden: „Wann ist denn Jesus eigentlich geboren? Stimmt denn das mit dem 24. Dezember überhaupt - oder war es vielleicht ein anderes Datum?“ So genau weiß das keiner. In der Kirche haben sich unterschiedliche Traditionen eingebürgert, wann der Geburtstag Jesu gefeiert wird.

Dass Jesus in der Nacht vom 24. auf den 25. Dezember geboren sein soll, geht auf eine römische Tradition zurück. Die Vorstellung von der Geburt am 6. Januar beruht auf einer ägyptischen Tradition. Das will ich jetzt im Einzelnen aber nicht darstellen. Was ich deutlich machen möchte, ist dies: Unsere Art, die Geburt Jesu zu feiern, ist nur eine von mehreren in der christlichen Welt. Es ist faszinierend zu sehen, welch unterschiedliche Formen sich auf dem einen gemeinsamen Fundament, unserem Glauben an Jesus Christus, ausgebildet haben. Dies betone ich nicht nur, weil wir heute in diesem Gottesdienst mazedonische Gäste unter uns haben, die ich hiermit herzlich begrüße - nachher werde ich dazu noch ein paar Worte sagen -, sondern auch weil Matthäus in unserem heutigen Predigttext den universalen, den weltweiten Charakter der christlichen Botschaft hervorhebt. Schon Jesus selbst hat die Grenzen seiner israelitisch-jüdischen Herkunft überschritten und ist auf Menschen jenseits der Grenzen zugegangen.

Als einen Grund für diese Grenzüberschreitung finden wir bei Matthäus die immer erneuten Hinweise darauf, dass Jesus in seiner engeren Heimat nicht wohlgelitten war. Mit der Geburtsgeschichte fängt das schon an. Matthäus überliefert als einziger der Evangelisten die Legende von den sog. Heiligen Drei Königen. Es waren Magier, Astrologen aus dem Osten, die von weither angereist waren, um das neugeborene Christkind anzubeten. Der Landsmann Jesu, der einheimische König Herodes, dagegen wollte das Christkind umbringen. Da er es nicht finden konnte, ließ er alle männlichen Neugeborenen töten. Dieser Kindermord des Herodes wurde der erste Anlass für eine Grenzüberschreitung Jesu. Seine Eltern, Maria und Josef, flohen mit dem Kind nach Ägypten und kehrten erst wieder zurück, nachdem Herodes verstorben war. Einige Darstellungen der Flucht nach Ägypten finden Sie im Clubraum im Gemeindehaus ausgelegt. Frau Riewe aus unserer Gemeinde hat die Bilder zusammengestellt. Ich empfehle sie im Anschluss an diesen Gottesdienst Ihrer Aufmerksamkeit.

„Ein Prophet gilt nichts in seinem eigenen Land“ - wir erinnern uns an dieses biblische Wort. So muss denn der Prophet zu den Fremden gehen, um Gehör zu finden. Das Unverständnis im eigenen Haus ist eine der Wurzeln für die Ausbreitung des christlichen Glaubens. Aber es ist nur eine Wurzel. Die andere liegt im Charakter der christlichen Botschaft selbst. Die Liebe Gottes ist grenzenlos im mehrfachen Sinn des Wortes.

„Das Volk, das in Finsternis saß, hat ein großes Licht gesehen; und denen, die saßen am Ort und im Schatten des Todes, ist ein Licht aufgegangen.“ Mit diesen bildhaften Worten, Licht und Finsternis, beschreibt Matthäus, was sich in Jesus Christus ereignet hat. Seine Geburt war nicht nur die Geburt eines Menschen zur Freude seiner Eltern, auch nicht die Geburt eines Königssohnes nur zur Freude seines eigenen Volkes. Es war die Geburt eines Kindes, das in sich eine göttliche Botschaft für alle Menschen verkörperte, eine Botschaft für den Menschen schlechthin, ganz gleich, wo er lebt, welcher Nation und Volksgruppe und Rasse und Hautfarbe er zugehört, egal auch wie alt, welches Geschlecht, ob arm oder reich, gesund oder krank, intelligent oder nicht - eine Botschaft an den Menschen in seiner existentiellen Situation, die ihn mit allen Menschen verbindet: dass er sterben muss, dass er den Unbillen der Natur unterworfen ist, dass er verletzlich ist, dass er krank werden kann, dass er schuldig werden kann, dass er auf Zuwendung und Liebe angewiesen ist. In diesen und in einigen weiteren Punkten sind sich alle Menschen gleich.

An diesen Menschen - den Menschen mit all den Problemen, die jeder Mensch hat, wendet sich Gott in Jesus Christus.

Die Situation des Menschen beschreibt Matthäus als Finsternis. Das, was wir durch Jesus Christus empfangen, beschreibt er als Licht.

Diese Bilder bedürfen der Interpretation. Matthäus meint mit Finsternis die Gottesferne des Menschen. Vielleicht denkt er an die Paradiesesgeschichte und an den Sündenfall. Das Paradies als Ort der Gottesnähe, der Einheit von Gott und Mensch. Dieser Ort ist dem Menschen verloren gegangen durch schuldhaftes Verhalten. Adam und Eva verstießen gegen das Gebot Gottes; so wurden sie zur Strafe des Paradieses verwiesen. Seitdem irrt der Mensch durch die Welt, ist sterblich und auf sich selbst gestellt, muss mit der Freiheit leben, die er sich gegen Gottes Gebot selbst herausgenommen hat.

Gewiss sind das mit dem Paradies und dem Sündenfall und der Strafe Gottes auch alles Bilder, biblische Bilder. Sie beschreiben aber doch recht eindrücklich die Situation des Menschen. Tragen wir nicht alle in uns eine Ahnung von einer heilen Welt, die uns verloren gegangen ist und auf die wir nun sehnsuchtsvoll zustreben? Erleben wir nicht manche Vorgänge unseres Lebens wie eine Strafe? Und tragen wir nicht in der Tat in vielfacher Weise Schuld an den Zuständen unserer Welt, an den Missständen um uns herum und in unserem eigenen Leben? Und ist nicht die Freiheit, die wir haben, tatsächlich ein zweischneidig Ding? Erhebend zum einen, aber auch sehr belastend zum anderen?

Matthäus ist in der Bilderwelt des Alten Testaments groß geworden. Er kannte auch die darin beschriebenen Versuche - sowohl die Versuche des Menschen, wieder mit Gott ins Reine zu kommen, als auch die Versuche Gottes, dem Menschen zu helfen. Da weder die Gebote, weder Lohn noch Strafe noch die Ermahnungen der Propheten sich als geeignet erwiesen hatten, den Bruch zu heilen, den der Mensch schuldhaft in sein Leben gebracht hat, bietet Gott ein letztes Mittel der Heilung an: Es ist das Angebot seiner Liebe in der Gestalt eines Menschen.

Die Liebe hat heilende und verbindende Kraft. Sie ist zu allererst ein Geschenk, sie schenkt dem Geliebten, was dieser sich selbst nicht zu geben vermag. Sie gleicht dessen Schwächen und Fehler aus, sie trägt die Lasten mit, sie vergibt und gewährt einen immer neuen Anfang. Adam und Eva wären vielleicht nicht aus dem Paradies hinausgeworfen worden, hätte Gott zu ihnen von Anfang an die Position bezogen, die er in Jesus Christus eingenommen hat. Er hätte ihnen vergeben und sie hätten eine neue Chance in behüteter Umgebung gehabt. Aber dann hätten die beiden und wir alle nicht die Chancen und Risiken der Freiheit und der Selbstverantwortung erfahren.

So dürfen wir es wohl auch als einen Akt göttlicher Liebe ansehen, dass wir als selbstständige und selbstverantwortliche Wesen durch das Leben gehen, die die Freiheit der Wahl haben zwischen Gut und Böse. Mit den Lasten dieser Freiheit sind wir nicht alleingelassen. Christus trägt sie mit. Er trägt sie mit, indem er uns von unserem Versagen immer wieder neu entlastet. Jesus Christus, das Licht in der Finsternis, das ist der Inbegriff an Menschlichkeit im besten Sinne des Wortes. Solche wirkliche Menschlichkeit hat es in unserer Welt nicht leicht. Im Johannesevangelium ist das so formuliert: „Das Licht scheint in der Finsternis und die Finsternis hat‘s nicht ergriffen.“ Die Kräfte der Unmenschlichkeit sind stark. Wir erleben oft genug, dass wir ihnen ohnmächtig gegenüberstehen. Allerdings kennen wir auch die Regungen in uns selbst, das zu tun und zu sagen, was einer wahren Mitmenschlichkeit widerspricht. Auch gegenüber solchen Regungen in uns sind wir oftmals ohnmächtig und sagen und tun, was wir selbst missbilligen.

Aus dem Paradies ist der Mensch hinausgeworfen worden, auf das Himmelreich gehen wir zu. Was das Himmelreich ist, wird in Christus anschaubar. In ihm hat sich der Himmel zur Erde geneigt, und mit ihm haben wir einen Zipfel des Himmels in der Hand. Wir werden uns den Himmel auf Erden wohl kaum selbst bereiten können. Aber wir sind dazu aufgerufen, das Unsre an uns und in uns selbst zu tun: „Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen“, ruft Johannes den Menschen mit Blick auf den kommenden Christus zu. Derselbe Aufruf ergeht durch Christus an uns mit Blick auf die Vollendung des Reiches, das in seiner Person den Anfang genommen hat.

„Fleisch Jesu“ ist schwer verdaulich

21. März 1993

Laetare

(4. Sonntag der Passionszeit)

Johannes 6,55-65

Sie wissen vielleicht, dass es für die sonntäglichen Predigttexte eine Vorschlagsliste gibt, eine Liste mit Texten für sechs Jahre. Jeder Sonntag ein anderer Text, dann geht es wieder von vorn los. Das ist eine Vorschlagsliste. Man muss als Pastor die vorgeschlagenen Texte nicht nehmen. Man kann sich auch selbst einen Text aussuchen. Das ist aber mühselig. Und Sie werden sich denken können, dass dann auch die Gefahr besteht, dass sich unsereins immer wieder die Lieblingstexte aussucht, Texte, die einem gefallen, zu denen einem auch gleich was einfällt, und Texte, von denen man meint, die kommen an, die sind verständlich, die gehen gut ein.

Bei dem heutigen vorgeschlagenen Predigttext habe ich überlegt, ob ich nicht doch lieber einen anderen wählen sollte. Denn der Text ist schwer verdaulich, und auch die geübteren Ausleger haben sich, wie ich beim Lesen der Literatur feststellen konnte, damit abgequält. Aber nun werde ich Ihnen den Text doch vortragen, und wir werden sehen, wie wir damit zurechtkommen. Der Text steht im Johannesevangelium im 6. Kapitel in den Versen 55-66.

Von Fleisch und Blut ist hier die Rede, von Fleisch und Geist, vom Brot, vom Brot des Himmels, vom ewigen Leben, vom Ärger und Unverständnis der Jünger, vom Glauben und vom Unglauben.

Diejenigen unter Ihnen, die sich mit Bibeltexten auskennen und des Öfteren den Gottesdienst besuchen, Sie werden gemerkt haben, dass es hier u. a. um das Abendmahl geht. Ihnen fällt es vielleicht leichter, diesen Text auf- und anzunehmen.

Wer diese Übung mit den Bibeltexten und dem Gottesdienst jedoch nicht hat, der wird vielleicht schon bei den ersten Sätzen seine Schwierigkeiten haben: „Mein Fleisch ist die wahre Speise, und mein Blut ist der wahre Trank. Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt, der bleibt in mir und ich in ihm.“ Das sagt Jesus zu der um ihn herum stehenden Bevölkerung. Und die das hörten, fragten: „Wie kann der uns sein Fleisch zu essen geben? Wie kann der uns sein Blut zu trinken geben?“ Das muss wohl die Frage eines jeden sein, der an solche Formulierungen noch nicht gewöhnt ist.

Vorhin sagte ich: „Dieser Text ist schwer verdaulich.“ Das ist ja auch eine bildhafte Formulierung. Vielleicht ist Ihnen aufgefallen, dass wir hier auch einen Begriff vor uns haben, der mit Essen und Trinken zu tun hat: „Verdauen“. Einen Text verdauen. Ja, essen wir denn den Text? Geht denn der Text durch den Magen? Der Text geht doch eher durch das Gehirn. Wir sehen an dieser Redewendung, dass wir uns auch in der Umgangssprache einer bildhaften Ausdrucksweise bedienen. Wir vergleichen den Text mit einer Speise, und unsere Verständnisschwierigkeiten vergleichen wir mit Verdauungsproblemen. Das ist eine bildhafte Ausdrucksweise. Wir wissen gleich, was gemeint ist. Und keiner nimmt solche Formulierungen wörtlich. Erst dann würden sie unsere Verwunderung auslösen.

Beim biblischen Text ist das so ähnlich. Wenn Jesus hier sagt: „Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt“, dann ist das natürlich überhaupt nicht wörtlich gemeint. Gemeint ist - auch das ist wieder ein Bild: „Wer mich in sich aufnimmt“, oder: „Wer sich meine Worte und Taten zu Herzen nimmt“ - wiederum ein Bild, jetzt nicht der Magen, sondern das Herz. Oder noch anders gesagt: „Wer an mich glaubt, wer mich ernst nimmt, wer sich leiten lässt durch mein Reden und Handeln, mit dem wird das und das geschehen, der wird“, so heißt es hier, „das ewige Leben haben“ - auch ein schwieriges Bild.

Also noch einmal: Jesu Fleisch essen und sein Blut trinken - das ist eine bildhafte Redeweise. Das dürfen wir nicht wörtlich nehmen. Wo die Bilder herkommen, lässt sich noch zurückverfolgen. Sie gehen auf das jüdische Passahmahl zurück, das sich auf Handlungen beim Auszug der Israeliten aus Ägypten bezieht, die allerdings wiederum an noch frühere vorisraelitische Gebräuche angeknüpft haben. Wer die Auszugsgeschichte kennt, weiß, dass da ein Lamm geschlachtet wurde. Die Israeliten aßen das Lammfleisch, mit dem Blut wurden die Türpfosten bestrichen. Das sollte ein Zeichen für den Todesengel sein, dass er die Bewohner des Hauses am Leben lassen sollte. Das alles diente dazu, dass die Israeliten aus der Knechtschaft in die Freiheit gelangen konnten.

Und um dieses Letzte geht es auch im Zusammenhang mit Jesus. Es geht um Befreiung. Nicht unbedingt um eine politische Befreiung wie im Falle der Israeliten, die ja in einem fremden Land unterdrückt waren, obwohl es auch im Zusammenhang mit Jesus um politische Befreiung gehen kann. Gemeint ist aber zunächst eine innere Befreiung, eine Befreiung von inneren Zwängen, von Ängsten und von Einstellungen, mit denen wir uns selbst und anderen das Leben erschweren, Befreiung von Sorgen und Süchten, von Selbstsucht, von Neid und Hass, von Selbstüberschätzung, aber auch von Kleinmut, Befreiung zum fürsorglichen, liebevollen Umgang miteinander, zu Geduld und Nachsicht, zu Aufmerksamkeit und Hilfsbereitschaft und Freigiebigkeit, Befreiung zu Friedfertigkeit und Versöhnungsbereitschaft.

Wir sind in gewisser Weise Gefangene unserer selbst. Und Jesus Christus kommt als Befreier auf uns zu. So, wie im Märchen der Prinz die Prinzessin zu neuem Leben wachküsst, so erlöst uns Jesus Christus durch seine liebevolle Zuwendung zu einem neuen Leben.

Bei den alten Israeliten verbanden sich also mit Fleisch und Blut des Lammes die Erinnerungen an die Befreiung aus der Knechtschaft in Ägypten. Entsprechend ist dann auch Jesus als das Lamm Gottes bezeichnet worden, der sein Leben lassen musste zur Befreiung der Menschen von ihren inneren und äußeren Zwängen. So sind für uns nicht Fleisch und Blut des Lammes, sondern Fleisch und Blut Jesu die Elemente der Befreiung. Allerdings sind Fleisch und Blut noch einmal durch neue Elemente ersetzt worden: das Fleisch durch das Brot und das Blut durch den Wein.

Wenn wir im Gottesdienst im Abendmahl unsere Befreiung durch Jesus Christus feiern, dann haben wir hier auf dem Altar nicht Fleisch und Blut, sondern Brot und Wein. Wenn es in den Einsetzungsworten heißt: „Dies ist mein Leib“, also mein Fleisch, dann zeigen wir das Brot, und wenn es heißt: „Dies ist mein Blut“, dann zeigen wir den Wein. Dabei handelt es sich beim Brot in der Regel nicht einmal um richtiges Brot, sondern um eine trockene Oblate, und statt des Weins kann es sich um Traubensaft handeln.

Wir sehen also, so wörtlich dürfen die Worte nicht genommen werden. Wir müssen immer hinter die Worte und Bilder zurückfragen, was denn gemeint ist. Es sind nicht die Elemente selbst – das Fleisch, das Blut, das Brot, der Wein – dasjenige, was die Befreiung bringt. Das wäre ein magisches Missverständnis.

Darum fügt Jesus, als er das Unverständnis der Umherstehenden – auch das Unverständnis seiner Jünger – bemerkt, hinzu: „Der Geist ist's, der lebendig macht, das Fleisch ist nichts nütze.“

Es ist wichtig, diesen Satz mitzubedenken, um sich vor einem magischen Missverständnis des Abendmahls zu schützen. Es sind die Worte Jesu, auf die es ankommt und die den Elementen erst ihre Bedeutung geben. Jesus sagt: „Die Worte, die ich zu euch geredet habe, die sind Geist und sind Leben.“

Noch einmal anders gesagt: Im Abendmahl haben wir konkrete Elemente, die man anfassen kann, Brot und Wein. Das ist die eine Ebene. Dann haben wir die Einsetzungsworte, die diesen Elementen ihre Bedeutung geben. Das ist die nächste Ebene. Die Einsetzungsworte sind aber sehr bildhaft. Sie sprechen von Fleisch und Blut Jesu. Darum müssen wir von dieser Ebene noch auf eine dritte steigen, auf die Ebene der Bedeutung dieser Bilder. Von der Bedeutung habe ich gesprochen: Es geht um unsere Befreiung. Dies ist die Ebene des Geistes.

Nun möchte ich aber noch einmal den Weg umgekehrt gehen. Es soll nämlich nicht der Eindruck entstehen, das Entscheidende spiele sich im Kopf ab, in unserem Gehirn. Das würde den Absichten des Evangelisten Johannes widersprechen. Er hat ja den schönen Satz gesagt, den ich besonders liebe: „Das Wort ward Fleisch.“ Hier haben wir wieder das Wort Fleisch. Gemeint ist: Das Wort wurde Mensch. Und damit ist wiederum gemeint: Das Wort Gottes hat in Jesus Christus menschliche Gestalt angenommen. Das wiederum ist so ähnlich zu verstehen, wie es in dem modernen Kirchenlied heißt: „Liebe ist nicht nur ein Wort, Liebe das sind Worte und Taten. Als Zeichen der Liebe ist Jesus geboren, als Zeichen der Liebe für unsere Welt.“ Und weiter: „Freiheit ist nicht nur ein Wort. Freiheit, das sind Worte und Taten. Als Zeichen der Freiheit ist Jesus gestorben, als Zeichen der Freiheit für unsere Welt.“ Und als drittes: „Hoffnung ist nicht nur ein Wort. Hoffnung, das sind Worte und Taten. Als Zeichen der Hoffnung ist Jesus lebendig, als Zeichen der Hoffnung für unsere Welt.“ Das Lied werden wir gleich singen.

Worte allein sind noch nicht das Eigentliche. Die allerletzte und bedeutsamste Ebene ist die des gelebten Lebens: Den Kranken heilen, dem Verletzten die Wunde verbinden, dem Hungrigen zu essen, dem Dürstenden zu trinken geben, den Einsamen besuchen, den Gefangenen befreien, dem Schuldigen vergeben, dem Feind die Hand zur Versöhnung reichen.

Diese Lebenswirklichkeit ist das, worauf alles andere hinzielt. Weil aber diese Lebenswirklichkeit nicht so ist, wie sie sein sollte, sind so viele Worte nötig und sind so viele zeichenhafte Handlungen erforderlich, die auf die noch nicht vorhandene Wirklichkeit hindeuten.

In diesem Sinne ist das kirchliche Abendmahl zu verstehen. Das Abendmahl wäre nicht nötig, wenn es die gelebte Gemeinschaft von Mensch zu Mensch, die Harmonie zwischen Schöpfer und Geschöpf gäbe. Aber da es an dieser Realität mangelt, kommen wir auf Einladung Jesu Christi zusammen und feiern die Wirklichkeit, die in Christus zwar real anschaubar geworden ist, deren Vollendung aber noch vor uns liegt.

Das Abendmahl ist ein Fest der Verheißung, der Hinweis auf eine Welt, auf die wir uns zubewegen, die wir als Sehnsucht in uns tragen, die wir zwar in Ansätzen erfahren und selbst gestalten können, die wir in Vollkommenheit aber erst aus der Hand Gottes empfangen werden. Im Geiste dieser Verheißung jetzt zu leben, das ist die Herausforderung unseres Glaubens.

Werbung für christlichen Glauben und Kirche

4. April 1993

Palmarum

(6. Sonntag der Passionszeit)

Konfirmation

1. Johannes 4,16

Liebe Konfirmandinnen und Konfirmanden!

Ihr gebt heute dem christlichen Glauben Euer Ja-Wort. Ihr fällt damit eine persönliche Entscheidung. Ihr sagt - ich formuliere das einmal etwas um: „Ja, ich möchte nun aus eigenem Entschluss der Kirche angehören, und ich möchte in dem Glauben bleiben, in den mich meine Eltern durch die Taufe hineingestellt haben, als ich noch nicht mitreden konnte.“ Diejenigen unter Euch, die noch nicht getauft sind, sagen heute: „Ja, ich möchte mich taufen lassen. Ich möchte mich auf den christlichen Glauben einlassen und möchte zur Kirche gehören.“

Der christliche Glaube und die Kirche - für beides möchte ich noch einmal Werbung machen, und zwar gern und aus vollem Herzen und mit voller Überzeugung. Denn es handelt sich hier um etwas wirklich Gutes und Wichtiges und Lohnendes.

Das zentrale Thema des christlichen Glaubens und der Kirche ist - die Liebe. Und das ist doch, wenn wir es recht bedenken, auch das zentrale Thema unseres Lebens. Vielleicht ist das nicht gerade ein Thema für eine so große Versammlung. Liebe ist ein Sache des Herzens, etwas eher Intimes - jedenfalls auf den ersten Blick.

Falls ihr Euch gerade verliebt haben solltet und Euch jemand fragt: „Wie heißt er denn?“ oder: „Wie heißt sie denn?“, dann werdet Ihr den Namen vielleicht nicht einmal gern preisgeben wollen. Solche Zurückhaltung hat ihren guten Grund. Man möchte sich erst einmal einigermaßen sicher sein, dass die eigene Liebe auf Gegenliebe gestoßen ist, sonst gibt man sich eine Blöße. Stellt Euch vor, Ihr seid verliebt in jemanden und dieser andere oder diese andere empfindet gar nichts für Euch und macht sich über Eure Gefühle vielleicht sogar lustig. Das kann ziemlich verletzen. Ich kenne welche, die haben solche Erfahrung gemacht. Und wenn die dann mal wieder verliebt sind, dann wehren sie sich geradezu gegen ihre eigenen Gefühle, weil sie sich sagen: „Ich möchte nicht noch einmal enttäuscht werden.“

Hieran sehen wir, dass die Liebe zum einen eine wunderbare, eine großartige und schöne Sache ist, dass sie zum anderen aber auch mit einigen - und nicht gerade kleinen - Risiken verbunden ist.

Und das gilt nicht nur für das Verliebtsein, für die Liebe in der Zweierbeziehung. Das gilt auch für das, was wir die Nächstenliebe nennen. Damit ist ja z. B. Hilfsbereitschaft gemeint, eine Art der Beziehung gegenüber jedermann, dem Nachbarn gegenüber, dem Mitschüler oder Arbeitskollegen oder dem Fremden auf der Straße gegenüber. Diese Art der Beziehung hat nichts mit Verliebtsein zu tun, sondern eher mit dem Gefühl, dass wir alle aufeinander angewiesen sind, dass es wichtig ist, dass wir füreinander da sind, dass wir einander beistehen, auch wenn wir uns vielleicht gar nicht persönlich kennen. Diese Beziehung besteht dann nicht im Austausch von Intimitäten, sondern eben z. B. in Hilfsbereitschaft, in Rücksichtnahme, in Geduld, in Nachsicht und darin, den anderen in seiner je besonderen Art zu akzeptieren, auch seine Schwächen und Fehler zu ertragen und den anderen z. B. gegen Angriffe in Schutz zu nehmen.

Die Nächstenliebe hat auch diese zwei Seiten, die ich eben schon vom Verliebtsein geschildert habe. Sie ist zum einen etwas sehr Schönes. Wo Nächstenliebe praktiziert wird, da geschieht etwas Gutes, und wir freuen uns darüber. Aber wenn wir mal selbst Nächstenliebe geübt haben, wenn wir zum Beispiel jemandem geholfen haben, und der oder die Betreffende lässt uns dann bei nächster Gelegenheit sitzen, wo wir die Hilfe bräuchten, dann stellen sich Gefühle ein wie: „Nächstenliebe lohnt sich nicht.“ Oder, wie man so sagt: „Undank ist der Welt Lohn.“ Wiederum kann ich sagen: Ich kenne einige, die vertreten darum den Standpunkt: „Warum sollte ich jemandem helfen? Mir hilft doch auch keiner!“

Als spontane Reaktion aus einer gerade erlebten Enttäuschung heraus finde ich eine solche Äußerung verständlich. Aber ich frage Euch: „Was wäre das für eine Gesellschaft, in der keiner mehr den Mut und die Lust hätte, für andere da zu sein? Und was würde das für den Einzelnen, für uns selbst bedeuten? Wäre das nicht eine unmenschliche, eine lieblose und freudlose Gesellschaft. Der Einzelne stünde dann wirklich allein da. Und wir müssten dann noch größere Angst davor haben, dass wir einmal in Not geraten könnten.

Nein, ohne Nächstenliebe geht es nicht. Und das bedeutet: Wir dürfen uns nicht von unseren Enttäuschungen leiten lassen. Wenn wir geholfen haben und Undankbarkeit erlebt haben, dann müssen wir uns an die guten Erfahrungen erinnern, die wir doch auch gemacht haben, auch wenn es vielleicht weniger waren. Oder wir müssen uns das Schreckensbild einer lieblosen Gesellschaft vor Augen halten und uns sagen: „Dazu darf es nicht kommen.“

Mir hilft in einer solchen Situation auch der Blick auf das Kreuz, das ich nachher jedem von Euch umhängen werde. Denn der, der vor 2000 Jahren ans Kreuz genagelt wurde, der hätte wirklich Grund genug gehabt, sich von den Menschen enttäuscht zurückzuziehen. Ihr habt ja einige Geschichten über Jesus Christus kennengelernt und habt gesehen, dass er Nächstenliebe in jeder Hinsicht praktiziert hat und dass er dennoch angegriffen, verfolgt, verhöhnt, verspottet und schließlich unschuldig hingerichtet worden ist. Aber Jesus Christus hat noch am Kreuz gebetet: „Herr, vergib ihnen.“ Und als er nach seiner Auferstehung seinen zweifelhaften Freunden wiederbegegnet war - sie hatten ihn bei seiner Gefangennahme alle fluchtartig im Stich gelassen -, versprach er ihnen: „Ich bleibe bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.“

Das ist Treue, das ist unerschütterte Nächstenliebe, das macht Hoffnung. In Jesus Christus ist nichts von Resignation zu spüren, nichts von diesem enttäuschten „Ihr könnt mich mal!“ Er hat an der Nächstenliebe festgehalten. Und darum blicken wir auf ihn. Wenn wir sagen: „Wir glauben an Jesus Christus“, dann heißt das: Wir glauben an die Kraft der Liebe, dass es ohne sie nicht geht, dass es sich lohnt, es immer wieder mit der Liebe zu versuchen - mögen wir auch noch so viele enttäuschende Erfahrungen gesammelt haben. Das gilt für die Nächstenliebe, und das gilt für das Verliebtsein.

Erst durch Liebe wird das Leben schön. Jesus Christus hatte die Vision von einer Welt, in der Liebe regiert, eine Vision vom Reich Gottes. Denn Gott ist die Liebe. Er hatte aber diese Vision nicht nur als etwas Fernes verkündet, sondern hatte in seiner Person schon ein Stück von dem verwirklicht, was im Reich Gottes dann vollendet werden sollte.

Viele Menschen haben sich in ihrem Leben von der Vision Jesu leiten lassen. Heute vor 25 Jahren, am 4. April 1968, ist Martin Luther King ermordet worden. Er hatte auch einen Traum gehabt, einen Traum von einer Welt, in der Menschen wie gute Geschwister in Frieden zusammenleben, Menschen aller Nationen, aller Rassen und Hautfarben. In seiner Person hatte auch er verkörpert, was er als Hoffnung für alle verkündete.

Es kann nicht jeder von uns ein Martin Luther King sein. Und schon gar nicht können wir wie Jesus Christus sein. Aber was sie gesagt und getan haben, das können wir uns zu Herzen nehmen; und mit unserem Verstand und mit unseren Händen können auch wir ein wenig tun.

Durch Euer Ja-Wort heute - durch die Konfirmation und durch die Taufe - entscheidet Ihr Euch für einen Glauben, dessen zentraler Inhalt die Liebe ist. Und Ihr entscheidet Euch für eine weltweite Gemeinschaft von Menschen, die sich leiten lassen von der Hoffnung auf das Reich Gottes, ein Reich des Friedens und der Menschlichkeit. Ihr trefft eine gute Entscheidung. Lasst Euch niemals von Enttäuschungen leiten. Behaltet das gute Ziel im Auge und habt immer einen offenen Blick für die guten Erfahrungen, die Ihr in Eurem Leben schon reichlich gemacht habt.

Wir sind ihm sympathisch

5. April 1993

Passionsandacht mit Senioren

Lukas 22,19-20

Also, um noch einmal auf die Passionszeit, die Leidenszeit, zurückzukommen: Es ist eine Zeit der Sympathie, eine Zeit der Sympathie Jesu für die Menschen, eine Zeit also, in der es um das Mitleiden Jesu mit den Menschen geht.

Da wir heute das Abendmahl miteinander feiern, können wir insbesondere die Sympathie Jesu für seine Jünger betrachten. Dass ihm seine Jünger sympathisch waren, ist uns, glaube ich, allen klar. Und dass er sie nicht nur nett fand, ist wohl auch klar. Er mochte seine Jünger, aber er litt auch an ihnen. Sie bereiteten ihm auch Schmerzen mit ihren diversen menschlichen Schwächen und Fehlern, ihrem Fehlverhalten. Aber er litt nicht nur an ihnen, dann hätte er vor allem über sie klagen müssen. Er ertrug auch ihre Schwächen und Fehler, er litt mit ihnen und nahm auch die Konsequenzen ihrer Verfehlungen auf sich.

Ich kann das immer wieder nur am besten durch den Vergleich mit dem Verhältnis zwischen Eltern und Kindern deutlich zu machen versuchen. Wenn Kinder Probleme haben, leiden die Eltern mit. Dann übernehmen die Eltern auch einen Teil der Lasten, die sich aus den Problemen ergeben, sie nehmen so einen Teil der Lasten aktiv auf sich.

Wenn die Tochter verheiratet ist, ein Kind bekommen hat und dann die Ehe zerbrochen ist, und die Tochter schließlich arbeiten gehen muss, nimmt nicht selten die Mutter das Enkelkind, auch wenn es ihr schlecht passt. Aber sie will ihre Tochter mit ihrem Problem nicht allein sitzen lassen. Sie leidet mit ihrer Tochter mit. Sie leidet vielleicht auch an ihrer Tochter, weil sie vielleicht sieht, dass die Tochter Fehler gemacht hat, dass sie das Problem hätte vermeiden können. Aber aus Liebe zur Tochter nimmt sie ihr einen Teil der Lasten ab, die sich aus ihrem Fehlverhalten ergeben haben. Sie leidet mit, und leidet nun selbst ein wenig unter der Last, die die Situation der geliebten Tochter ihr auferlegt hat. Aber es ist ein Leiden zugunsten ihrer Tochter. Sie leidet an der Tochter, mit der Tochter und für die Tochter.

Diese Art von sympathischer Beziehung im Wortsinne finden wir nicht nur zwischen Eltern und Kindern, sondern überhaupt zwischen Menschen, die sich gern haben. Und sie ist eben die Art der Beziehung zwischen Jesus Christus und den Menschen. Insofern hat die Leidenszeit, die Passionszeit, so ernst und düster sie zum einen erscheint, zum anderen doch eine positive Seite. Sie hat das Positive, das ja auch vor allem in dem Wort Sympathie enthalten ist: dieses Freundliche der zwischenmenschliche Beziehung.

Wir sind Jesus Christus sympathisch, das können wir geradezu als Kernaussage der Passionszeit nehmen. Er mag uns, darum leidet er nicht nur an uns, sondern auch mit uns und für uns. Wir sind ihm ebenso viel wert wie seine Jünger, mit denen er am Abend vor seinem Tod zu einem letzten Festessen beisammen saß, eine Gruppe von Menschen, die keine Heiligen waren im Sinne vorbildlicher Persönlichkeiten, die vielmehr Menschen waren wie Sie und ich - mit allen möglichen kleinen und größeren Schwächen und Fehlern. Es war keine auserlesene Schar. Er hatte sie nicht ausgewählt und eingeladen nach dem Motto: Ihr seid die Besten, ihr seid die Würdigsten. Er hatte sie genommen wie sie waren, wie sie zu ihm gekommen waren. Wir wissen, dass unter ihnen zwei waren, die sich vorgedrängelt hatten, um die besten Plätze zu seiner Rechten und Linken im Himmelreich zu erlangen, dass einer unter ihnen war, der ihn verleugnen würde, und sogar einer, der ihn verraten würde, und dass alle ihn nach seiner Gefangennahme im Stich lassen würden.

All diese zweifelhaften Freunde hatte er zu einem letzten Festessen eingeladen. Schlechter als die Jünger Jesu sind wir auch nicht. So sind auch wir eingeladen zum Mahl Jesu. Auch wir sind Jesus sympathisch. Wenn er mit uns persönlich verkehren würde, würde er gewiss auch an uns leiden, aber eben nicht nur an uns, sondern auch mit uns und für uns. Das ist die Aussage der Passionszeit und der Karwoche insbesondere.

So feiern wir also heute gemeinsam das Abendmahl auf Einladung Jesu. Wir gehören zu ihm. Er nimmt uns, wie wir sind, er entlastet uns und baut uns auf durch seine Liebe zu uns. Nehmen wir also seine Einladung an. Lassen wir uns durch ihn stärken. Und wenn wir dann hinausgehen, dann werden wir von seiner Liebe weitergeben, so gut wir es vermögen. Das würde uns allen guttun, und damit würden wir Jesus Christus und Gott die Ehre erweisen.

Jesu Leiden und unser Leiden

7. April 1993

Passionsandacht

Philipper 2,5-8

Gott, man hat von dir gesagt:

„Du strafst die Sünder,

und den Gerechten schenkst du Wohlergehen.“

Wer leidet, so mutmaßte man,

der muss wohl gesündigt haben.

Und wem es gut geht,

der muss wohl auch ein guter Mensch sein.

Und immer noch fragen von Unglück Betroffene:

„Warum gerade ich?“

Und: „Womit habe ich das verdient?“

Und sie klagen dich an, Gott,

deiner Ungerechtigkeit wegen.

Und die Betrachter der Not rufen zu dir:

„Allmächtiger Gott: Bist du wirklich allmächtig,

dann mach ein Ende mit allem Elend!“

So bist du missverstanden worden,

Gott, und so wirst du missverstanden.

Auch durch Hiob sind nur wenige

eines Besseren belehrt worden –

durch Hiob, den Frommen und Guten und Gerechten,

der dennoch leiden musste.

Und die vielen Übeltäter, denen es gut ging –

sie haben Zweifel gesät,

aber sie haben uns nicht dich, Gott, neu sehen gelehrt.

So ist es gut, dass du gekommen bist, Jesus:

Du hast uns erlöst - von unserem Irrtum.

Gott, der Allmächtige?

In dir begegnet uns Gott in Schwachheit.

Der Leidende – ein Gestrafter Gottes?

Ein von Gott besonders Geliebter –

so lehrst du uns den Leidenden sehen.

Der Sünder – sündig ist ein jeder Mensch, sagst du.

Der Gute und Gerechte?

Du warnst vor Selbstgerechtigkeit und Hochmut.

Gottes Gerechtigkeit ist nicht, wie wir dachten:

„Als wollte er belohnen, so richtet er die Welt.“

Die Sünder hast du geladen – nicht vor Gericht,

eingeladen hast du sie an deinen Tisch.

Du hast sie nicht belastet mit Strafen,

du hast ihnen Lasten abgenommen – durch Vergebung.

So ist Gott, hast du gesagt, wie ich:

Schwach und zerbrechlich,

doch stark in der Liebe.

Dank sei dir, Jesus!

Durch dich sehen wir Gott in einem neuen Licht.

In seiner Allmacht schuf er die Welt – und den Menschen.

Doch er hielt seine Allmacht nicht fest wie einen Raub:

„Macht euch die Erde untertan!“

Auch uns gab er Macht.

„Seid fruchtbar und mehret euch!“

Auch uns gab er schöpferische Kraft.

Und die Freiheit der Entscheidung gab er uns:

„Du darfst essen von allen Bäumen im Garten,

aber von dem Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen

sollst du nicht essen.“

Der Mensch aß die verbotene Frucht.

Und Gott sprach:

„Siehe, der Mensch ist geworden wie unsereiner und weiß,

was gut und böse ist.“