Das Ja zum Leben und zum Menschen, Band 4 - Wolfgang Nein - E-Book

Das Ja zum Leben und zum Menschen, Band 4 E-Book

Wolfgang Nein

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Beschreibung

Predigten sind der Versuch, in Worte zu fassen, was viel größer und höher und tiefer ist, als dass wir es jemals mit Worten beschreiben könnten. Sie sind der Versuch, in Worte zu fassen, was so schön und so gut und so großartig ist, dass es uns durch ungläubiges Staunen sprachlos macht, oder was so schrecklich ist, dass es uns vor Entsetzen die Sprache verschlägt. Vor dem Unbegreiflichen und den Ungereimtheiten des Seins dürfen wir nicht kapitulieren. Wir müssen das Unsagbare kommunikabel machen. Die Predigten nehmen dabei Bezug auf die christliche Tradition, die biblischen Texte insbesondere.

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Lebenszelle Gemeinde

12. Januar 2003

1. Sonntag nach Epiphanias

Einführung des neugewählten Kirchenvorstands

Römer 12,3-8

Das Böse mit Gutem überwinden

26. Januar 2003

3. Sonntag nach Epiphanias

Bibelsonntag und Aktion gegen den Irakkrieg

Römer 1,16

Drei Konzepte fürs Leben

9. Februar 2003

Letzter Sonntag nach Epiphanias

Matthäus 17,1-9

Himmlische Gerechtigkeit

16. Februar 2003

Septuagesimae

(3. Sonntag vor der Passionszeit)

Matthäus 20,1-16

Gute und ungute Saat

23. Februar 2003

Sexagesimae

(2. Sonntag vor der Passionszeit)

Lukas 8,4-15

Natur und Kultur

30. März 2003

Laetare

(4. Sonntag der Passionszeit)

Johannes 12,20-26

Das Heil kommt nicht aus der Gewalt

13. April 2003

Palmsonntag

(6. Sonntag der Passionszeit)

Johannes 12,12-19

Innere Befreiung

16. April 2003

Tag vor Gründonnerstag

Abendmahl mit Senioren

Matthäus 26,21.25;27,3-5

Überfordert und entlastet

18. April 2003

Karfreitag

2. Korinther 5,17-21

Neues Leben aus dem Grab

20. April 2003

Ostermorgen

Markus 16,1-8

Mit dem Herzen glauben

27. April 2003

Quasimodogeniti

(1. Sonntag nach Ostern)

Johannes 20,19-29

Geist und Materie

9. Juni 2003

Pfingstmontag

Apostelgeschichte 2,1-13

Noch einmal geboren werden

15. Juni 2003

Trinitatis

Partnerschaft St. Markus – Uyole, Tansania

Johannes 3,1-8

Das Gute nicht vergessen

22. Juni 2003

1. Sonntag nach Trinitatis

Goldene Konfirmation

Psalm 103,2

Kirche und Krieg

27. Juli 2003

6. Sonntag nach Trinitatis

Aktion Gomorrha

Matthäus 28,20a

Aus wenig kann viel werden

3. August 2003

7. Sonntag nach Trinitatis

Johannes 6,1-15

Hören und sehen – nicht nur mit Ohren und Augen

7. September 2003

12. Sonntag nach Trinitatis

Markus 7,31-37

Auch anderen Gutes zutrauen

14. September 2003

13. Sonntag nach Trinitatis

Lukas 10,25-37

Ein schöner Tag

27. September 2003

Samstag vor dem 15. Sonntag nach Trinitatis

Abendandacht nach dem Straßenfest

Psalm 63,6-9

Gott und den Menschen lieben

19. Oktober 2003

18. Sonntag nach Trinitatis

Markus 12,28-34

Kirchentür zwischen vita und scriptura

31. Oktober 2003

Reformationstag

Epheser 5,1

Mann und Frau

2. November 2003

20. Sonntag nach Trinitatis

Markus 10,2-9

Der Schatten kommt vom Licht

23. November 2003

Totensonntag

Psalm 90,2

Geduld

7. Dezember 2003

2. Advent

Jakobus 5,7-8

Göttliche Sehhilfe

21. Dezember 2003

4. Advent

Pfadfinder bringen das Friedenslicht von Bethlehem

Philipper 4,4-7

Ein göttlicher Mensch

25. Dezember 2003

1. Weihnachtstag

Johannes 1,14a

Am Ende Freude und Frieden

31. Dezember 2003

Jahresschluss

Internationales Taizé-Treffen in Hamburg

Lukas 2,14

Leben ist mehr als der Alltag

4. Januar 2004

2. Sonntag nach Weihnachten

1. Johannes 5,11-13

Wollen, aber oft nicht können

18. Januar 2004

2. Sonntag nach Epiphanias

Römer 12,9-16

Bestleistung um des Guten willen

8. Februar 2004

Septuagesimae

(3. Sonntag vor der Passionszeit)

1. Korinther 9,24-27

Guter Boden

15. Februar 2004

Sexagesimae

(2. Sonntag vor der Passionszeit)

Dank an Ehrenamtliche

Lukas 8,4-8

Zuspruch der Freiheit durch Schuldspruch

29. Februar 2004

Invokavit

(1. Sonntag der Passionszeit)

Hebräer 4,14-16

Ende des Opferkultes

28. März 2004

Judika

(5. Sonntag der Passionszeit)

Hebräer 5,7-9

Das Ja zum Leben und zum Menschen

4. April 2004

Palmsonntag

(6. Sonntag der Passionszeit)

Philipper 2,5-11

Jesus vor Gericht

5. April 2004

Passionsandacht in der Karwoche

Bild „Italienreise“ von Dorothea Chazal

Matthäus 26,57-68;27,24

Liebe geht durch den Magen

8. April 2004

Gründonnerstag

Johannes 1,1.14

Wir brauchen gute Nachrichten

11. April 2004

Ostersonntag

1. Korinther 2,12-16

Gebet: Wir bekennen unsere Grenzen

16. Mai 2004

Rogate

(5. Sonntag nach Ostern)

1. Timotheus 2,1-6a

Verabschiedung in die Selbstständigkeit

20. Mai 2004

Himmelfahrt

Apostelgeschichte 1,3-4(5-7)8-11

Vielfalt auf gemeinsamer Grundlage

31. Mai 2004

Pfingstmontag

Gäste aus Tansania mit Bischof Mwakyolile

1. Korinther 12,4-14

Wer ist Gott? Wer bin ich?

6. Juni 2004

Trinitatis

Römer 11,33-36

Sich eines Besseren besinnen und umkehren

27. Juni 2004

3. Sonntag nach Trinitatis

1. Timotheus 1,12-17

Angebot der Gemeinschaft

25. Juli 2004

7. Sonntag nach Trinitatis

Apostelgeschichte 2,41a.42-47

Christlicher Glaube – und Lebenswandel

1. August 2004

8. Sonntag nach Trinitatis

Epheser 5,15-21

Unser Name – Muttermilch fürs Herz

22. August 2004

11. Sonntag nach Trinitatis

Tauferinnerung

Jesaja 43,1

Vielfalt der Schöpfung bewahren

29. August 2004

12. Sonntag nach Trinitatis

Gottesdienst mit Greenpeace

Psalm 104,10-18.24

Zeichen gegen die Ohnmacht

12. September 2004

14. Sonntag nach Trinitatis

Gedenken der Menschen in Beslan

Themengottesdienst „Liturgie, Rituale, Symbole“

Klagelieder 3,22-24.26.31.32

Werbung für den Glauben an den Heiland

3. Oktober 2004

17. Sonntag nach Trinitatis

Erntedankfest

Römer 10,9-17

„Empfange dich neu!"

17. Oktober 2004

19. Sonntag nach Trinitatis

Epheser 4,22-32

Abschied vom Exzeptionellen

21. November 2004

Totensonntag

1. Korinther 15,37-38

Der Allmächtige kommt als Kind

28. November 2004

1. Advent

Familiengottesdienst „Ein Licht geht um die Welt“

Jeremia 23,5

Friede auf Erden – wie schön wäre das!

5. Dezember 2004

Adventsfeier

Im Eppendorfer Bürgerverein

Lukas 2,14

Licht des Lebens und des Friedens

19. Dezember 2004

4. Advent

Friedenslicht von Bethlehem

Lukas 1,26-33.38

Die neue Schöpfung beginnt mit einem Kind

24. Dezember 2004

Heiligabend, 23.30 Uhr

Lukas 2,1-20

Freud und Leid liegen nahe beieinander

31. Dezember 2004

Jahresschluss

Römer 8,31-39

Bibelstellen

Vorwort

Wozu ist eine Predigt gut? Die Predigt ist Teil eines Gottesdienstes. Und wozu ist ein Gottesdienst gut?

Im Gottesdienst feiern wir das Leben mit all seinen schönen und schweren Seiten. Wir feiern das Leben als die wunderbare Gabe einer geheimnisvollen Quelle, deren Ursprung für uns weder verfügbar noch begreifbar ist. Wir beschreiben diesen Ursprung mit Worten und Bildern der jüdisch-christlichen Tradition in persönlichen Kategorien. Wir sprechen von Gott, dem Schöpfer allen Seins und Vater aller Menschen.

Ihm gegenüber verhalten wir uns wie Partner in einer persönlichen Beziehung. Wir sprechen ihn im Gebet an, wir danken ihm, bringen unsere Freude und unser Leid vor ihn, unsere Klagen und unsere Bitten. Wir singen ihm unseren Lobpreis. Wir bekennen uns zu unseren menschlichen Begrenzungen und gestehen unsere Schwächen, Fehler und Verfehlungen ein.

Ebenso bringen wir unsere Bereitschaft zur Besserung zum Ausdruck und unser Vertrauen auf Nachsicht und Vergebung. Wir erklären uns bereit, Verantwortung zu übernehmen für das, was wir mit unseren Möglichkeiten zu leisten im Stande sind.

Wir sind uns dabei stets dessen bewusst, dass wir die Geschöpfe sind und unser Gegenüber der Schöpfer ist. Wir halten es darum für angemessen, um Hilfe und Beistand zu bitten und das, was wir selbst nicht zu leisten vermögen, in die Hand dessen zu legen, der der letzte Urheber von allem ist.

Dieses persönliche Verhältnis zu dem Urgrund allen Seins hat durch das Erscheinen jenes Jesus von Nazareth, geboren in Bethlehem, eine besondere Gestalt angenommen. Ihn haben Menschen damals als das Erscheinen Gottes in menschlicher Gestalt erlebt. Sie beschreiben ihn als den Sohn Gottes.

Wenn wir im Gottesdienst die vielfältigen Erscheinungen des Seins bedenken, haben wir darum neben Gott, dem Allmächtigen, dem Schöpfer und Beweger allen Seins und Vater aller Menschen auch einen Menschen als Abbild Gottes vor Augen, dessen Teilnahme an unserem alltäglichen Leben uns die menschliche Seite Gottes erleben lässt und uns eine Ahnung davon geben kann, wie ein gottgewolltes Leben aussehen könnte.

Die Predigt hat nun die Aufgabe, im Rahmen des Gottesdienstes die Grundfragen unseres Lebens anzusprechen und dabei Bezug zu nehmen auf die Überlieferung der christlich-jüdischen Tradition, der biblischen Texte insbesondere. Dabei versucht die Predigt, unsere Beziehung zu Gott, dem Schöpfer, und seinem Erscheinen in Jesus, dem Christus, in Worte zu fassen, zu erklären, worum es geht, auch unsere Fragen und Zweifel zu formulieren und Informationen zu geben über die Grundlagen und Hintergründe und die Entstehung und Entwicklungsgeschichte der Überlieferung. Die Predigt soll auch unsere Gefühle ansprechen, die Lebensfreude stärken, zur Dankbarkeit und zur Wahrnehmung von Verantwortung aufrufen, Trost zusprechen und die Zuversicht und Hoffnung stärken.

Die Predigt nimmt stets auch Bezug auf aktuelle Geschehnisse im näheren Umfeld, in unserer Gesellschaft und weltweit. In der ersten Jahreshälfte von 2003 hat der Irakkrieg die Gemüter weltweit bewegt. Am Ende von 2003 fand in Hamburg das internationale Jugendtreffen von Taizé in Hamburg statt. Im September 2004 bewegte uns der Überfall auf eine Schule in Beslan in Südrussland. Ende 2004 erschütterte uns alle der Tsunami an den Küsten des Indischen Ozeans.

Die Predigt ist der Versuch, in Worte zu fassen, was viel größer und höher und tiefer ist, als dass wir es jemals mit Worten beschreiben könnten. Sie ist der Versuch, in Worte zu fassen, was so schön und so gut und so großartig ist, dass es uns durch ungläubiges Staunen sprachlos macht, oder was so schrecklich ist, dass es uns vor Entsetzen die Sprache verschlägt.

Die Predigt ist ein Versuch, ein behelfsmäßiger, manchmal hilfloser Versuch. Manchmal hilft es, einfach Musik zu hören oder ein Kunstwerk zu betrachten. Manchmal erscheint es angemessen zu schweigen. Aber wir sollten es nicht beim Schweigen belassen. Wir dürfen vor den Ungereimtheiten und dem Unbegreiflichen nicht kapitulieren. Wir müssen das Unsagbare kommunikabel machen. Predigten sind dafür ein Versuch. Einige sind hier abgedruckt. Es sind alle, die ich 2003 und 2004 gehalten habe. Viel Freude beim Lesen.

Wolfgang Nein, August 2016

Lebenszelle Gemeinde

12. Januar 2003

1. Sonntag nach Epiphanias

Einführung des neugewählten Kirchenvorstands

Römer 12,3-8

Die Gemeinde ist die Lebenseinheit der Kirche. Kirche besteht aus Gemeinden. Gemeinden sind für die Kirche wie die Lebenszellen des Körpers.

Gemeinden sind für die Kirche das, was Familien für die Gesellschaft sind. Die Familie ist die Lebenszelle der Gesellschaft: Vater, Mutter, Kind - das ist die Lebenseinheit. Ich spreche jetzt nicht davon, wie das organisiert sein muss; das wäre ein weiteres Thema. Aber diese Einheit „Vater, Mutter, Kind“ oder „Kinder“ ist die Lebenseinheit. Nur wenn diese Einheit existiert und als Verantwortungsgemeinschaft besteht, ist das Leben und der Fortbestand des Lebens einer Gesellschaft gewährleistet.

Für das Leben und den Fortbestand von Kirche ist grundlegend, dass Gemeinden existieren und als Verantwortungsgemeinschaft bestehen.

Kirche ist nicht einfach die Summe einzelner Christen. Das Bild vom Körper, wie wir es in der Lesung gehört haben, bringt das ganz gut zum Ausdruck. Der Körper ist auch nicht einfach die Summe einzelner Körperteile. Der Körper ist ein Gemeinschaftswerk. Er kann nur existieren im Zusammenwirken vieler einzelner Körperteile.

So kann auch Gemeinde nur im Zusammenwirken der einzelnen Christen existieren. Dabei geht es nicht - wie beim Körper - um ein biologisches Zusammenwirken, sondern um ein bewusst gestaltetes Miteinander, um eine Verantwortungsgemeinschaft eben. Da, wo Gemeinden als Verantwortungsgemeinschaft existieren, da ist Kirche.

Vielleicht klingt Ihnen das jetzt alles sehr schematisch. Mir geht es um Folgendes: In einer Zeit der Krise und der Veränderung kirchlicher Strukturen zum Zwecke der Überlebenssicherung stellt sich die Frage: welches ist die Lebenseinheit der Kirche? Welches ist die Keimzelle, aus der heraus sich das Leben der Kirche entfaltet? Wo ist im strukturellen Sinne - ich rede jetzt nicht vom Inhaltlichen, sondern vom Strukturellen - wo ist im strukturellen Sinne die Lebenszelle der Kirche?

Die Lebenszelle ist die Gemeinde, das möchte ich unterstreichen. Die Lebenszelle ist nicht der einzelne Christ. Die Lebenszelle ist auch nicht die Region, die Lebenszelle ist auch nicht der Kirchenkreis, auch nicht die Landeskirche, auch nicht die Evangelische Kirche in Deutschland. Das sind alles eher Organisations- und Verwaltungseinheiten. Lebenszelle ist die Gemeinde als Verantwortungsgemeinschaft der Christen vor Ort.

Was macht nun die Gemeinde zur Lebenseinheit der Kirche? Zum Leben bedarf es materieller Nahrung. Wenn es um mehr als Leben im biologischen Sinne geht, um ein Leben in Verantwortung miteinander zum Beispiel, dann bedarf es auch geistiger Nahrung.

Die Möglichkeit, geistige und geistliche Nahrung aufzunehmen, setzt allerdings voraus, dass ein Körper im biologischen Sinne da ist. Verantwortung füreinander können wir nur wahrnehmen, wenn wir überhaupt - im materiellen, im körperlichen Sinne - existieren. Das klingt vielleicht banal, muss aber trotzdem immer mal wieder deutlich gesagt werden.

Das sagen auch die Fluggesellschaften. Wenn vor dem Start die Passagiere in die Sicherheitsvorkehrungen eingewiesen werden, heißt es zum Beispiel: „Bei Druckabfall in der Kabine halten Sie zuerst sich selbst die Sauerstoffmaske vors Gesicht, dann helfen Sie anderen.“

„Wie unchristlich!“, ist jedes Mal meine spontane Reaktion. „Zuerst an sich selber denken, gehört sich nicht!“ Aber doch, das ist hier unbedingt erforderlich: Christliche Nächstenliebe kann ich nur ausüben, wenn ich selbst überhaupt existiere, wenn ich selbst überhaupt noch am Leben und lebensfähig bin.

Das gilt auch für die Gemeinde. Wenn wir Gottesdienst halten wollen, in Bibelkreisen zusammenkommen wollen, seelsorgerlich tätig werden wollen, Besuche machen wollen, diakonisch handeln wollen, dann müssen wir überhaupt erstmal existieren als Gemeinde. Bevor wir also geistige und geistliche Nahrung aufnehmen können und dann im geistigen und geistlichen Sinne tätig werden können, müssen wir erst einmal die materielle Nahrungszufuhr an uns selbst geregelt haben.

Diese materielle Nahrungszufuhr, nämlich in Form der Kirchensteuer und zunehmend auch kirchensteuerunabhängiger Mittel, ist im Augenblick für Kirchengemeinden keineswegs gesichert. Sie sicherzustellen, ist eine der grundlegenden Aufgaben des Kirchenvorstands als verantwortliches Leitungsgremium der Gemeinde. Wie diese Sicherung stattfinden kann, dafür gibt es unterschiedliche - auch widerstreitende - Konzepte. Diese sind auch unter uns in der Gemeinde und im Kirchenvorstand insbesondere immer wieder diskutiert worden. Und die Diskussion wird weitergehen.

Die grundsätzliche Frage dabei wird immer zu beantworten sein: Welches ist die Lebenseinheit der Kirche? Welche Einheit, welche Größe muss lebensfähig bleiben, damit von dort das Leben der Kirche insgesamt gesichert ist? Diese Lebenseinheit ist für mein Verständnis die Gemeinde.

Gemeinden sind verschieden, so, wie Menschen verschieden sind und wie Familien verschieden sind. Wer ist St. Markus? Wer sind wir? Was ist unsere Identität? Diese Frage ist für unsere Gemeinde genauso wichtig wie für jeden einzelnen Menschen. Es ist ein gewisser Prozess, bis man sich als einzelner Mensch selbst erkannt hat, zu sich selbst gefunden hat und mit sich selbst im Einklang sein Leben gestalten kann. Im Verlauf einer Biographie kann es Veränderungen geben. In einer Gemeinde mit einer Vielzahl von Menschen um so mehr. Die Frage der Identität stellt sich von daher immer wieder neu. Sie aber auch immer wieder neu zu beantworten, stärkt die Gemeinde.

Was macht heute die Identität von St. Markus aus? Aus meiner Sicht: Zur Identität von St. Markus heute gehört, dass wir für alle Menschen in der Gemeinde und im Stadtteil da sind, für alle Generationen und für alle Lebenssituationen; dass wir wie eine Familie im erweiterten Sinne sind - über die leibliche Familie hinaus, Gemeinde als Großfamilie, in der jeder seinen Platz finden kann, wo jeder mit seinen Anliegen und Problemen Beachtung finden kann und wo sich jeder mit seinen Gaben einbringen kann.

Wir sind als Gemeinde für das ganze Leben da. Ich sage das ganz bewusst, weil das in Hamburg favorisierte Regionalisierungskonzept vorsieht, dass sich Gemeinden spezialisieren und Arbeitsbereiche und damit Lebensbereiche ausgliedern - im Sinne von: Die eine Gemeinde befasst sich mehr mit den Jugendlichen, die andere mehr mit älteren Menschen, die dritte sorgt für die Kirchenmusik usw. Das ist nach unserem Verständnis von Gemeinde wie eine Amputation.

Zur Identität von St. Markus gehört, dass hier das ganze Leben Berücksichtigung findet und Menschen in all ihren Lebenslagen Beachtung finden. Das ist eine große Aufgabe, ein großes Ziel.

Wir sind eine große Gemeinde mit 5.100 Gemeindegliedern und einer Wohnbevölkerung von über 16.000 Menschen. Das Gemeindekonzept kann nur aufgehen, wenn sich immer mehr Gemeindeglieder und überhaupt Menschen im Stadtteil bewusst sagen: „Ich möchte St. Markus, ich möchte, dass St. Markus Bestand hat und lebt; da kann ich etwas empfangen, da kann ich etwas geben“, wenn also jeder im Rahmen seiner Möglichkeiten bewusst mitwirkt. Allein mit hauptamtlich Beschäftigten lässt sich dieses Gemeindekonzept nicht realisieren, sondern nur mit dem Zugehörigkeits- und Verantwortungsbewusstsein vieler Menschen.

Die Frage muss darum für jeden geklärt sein: Was bedeutet mir Kirche, was bedeutet mir die Gemeinde? Will ich, dass St. Markus weiterbesteht und was kann mein Beitrag dazu sein? Gemeinde als Verantwortungsgemeinschaft - und übrigens nicht nur die Gemeinde, sondern der Stadtteil insgesamt. Es tut uns allen gut, wenn wir uns im Stadtteil Hoheluft als Verantwortungsgemeinschaft verstehen.

Also lange Rede kurzer Sinn: Lassen Sie uns alle miteinander diese Lebenseinheit „Gemeinde St. Markus“ so gestalten, dass in ihr das Leben blüht und sie das Leben des Stadtteils bereichert und ihre Lebenskraft ausstrahlt - bis nach Tansania und in die weite Welt hinein.

Das Böse mit Gutem überwinden

26. Januar 2003

3. Sonntag nach Epiphanias

Bibelsonntag und Aktion gegen den Irakkrieg

Römer 1,16

„Ich schäme mich des Evangeliums nicht“, sagt Paulus. Das ist fast schon etwas zu defensiv. Er hätte auch sagen können: „Ich bin stolz auf das Evangelium“ oder „Ich bin begeistert, ich bin fasziniert vom Evangelium.“ Das hat er in Wirklichkeit auch gemeint. Paulus war ja so erfüllt von den Worten Jesu, von seiner Art, die Welt und den Menschen zu sehen, dass er in die umliegenden Länder gereist ist - nach Syrien, in die Türkei, nach Griechenland, bis hin nach Italien, nach Rom, um weiterzugeben, was sein Leben so radikal verändert hatte.

Reisen war damals ziemlich beschwerlich und gefährlich. Aber Paulus hat keine Mühen und keine Gefahren gescheut. Denn ihm waren im wahrsten Sinne des Wortes die Augen aufgegangen. Was er erkannt hatte, wollte er nicht für sich behalten. Wenn er dann etwas sagte - und in seinen Briefen schrieb - von dem, was ihm Jesus Christus bedeutete, war das wiederum so bedeutungsschwer, dass auch seine Worte, Paulus’ Worte, Teil der Schrift geworden sind, die für viele Menschen, für Milliarden von Menschen, zur Heiligen Schrift geworden ist.

Die Bibel ist eine Schatzkiste guter Worte. Es sind nicht nur Worte voller Lebensweisheit - die gibt es auch in der Bibel, einige sind zum Schmunzeln: „Wem eine tüchtige Frau beschert ist, die ist viel edler als die köstlichsten Perlen“ zum Beispiel. Aber Lebensweisheit ist oftmals recht pessimistisch: „Wer anderen eine Grube gräbt, fällt selbst hinein.“ In der Bibel stehen aber nicht nur - und überhaupt nicht in erster Linie - Lebensweisheiten. Vielmehr ist uns mit den Texten der Bibel in vielfältiger Entfaltung ein grundlegendes Lebensverständnis und ein Menschenbild gegeben, das geprägt ist von der „Liebe zum Leben“ und der „Liebe zum Menschen“.

Was in dieser Hinsicht in der Bibel formuliert ist, erschien und erscheint manchen Menschen allerdings nicht als Lebensweisheit, sondern eher als Torheit. Eine oftmals als weltfremd belächelte Aufforderung Jesu lautet: „Liebt eure Feinde!“ Ein solches Wort macht uns besonders nachdrücklich deutlich, dass uns die Bibel mit einem offenbar radikal alternativen Lebens- und Menschenbild konfrontiert. Man mag das belächeln. Aber ein auch nur oberflächlicher Blick in die Menschheitsgeschichte bis in den heutigen Tag hinein kann auch die Frage nahelegen, ob da nicht vieles so grundlegend falsch gelaufen ist, dass eine radikale Überprüfung und Änderung unserer Denk- und Verhaltensmuster eigentlich schon immer nötig gewesen ist.

Die Bibel ist eine Schatzkiste guter Worte. Einige dieser Worte haben wir auf Spruchbänder geschrieben und draußen aufgehängt. Vielleicht kommen nachher noch ein paar dazu, Worte des Zuspruchs und des Anspruchs. „Friede auf Erden allen Menschen“ - ein göttlicher Zuspruch, den einlösen zu helfen ein hoher Anspruch an uns alle ist.

Oder dieser Satz: „Alles, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch!“ Ein geniales Wort Jesu, zurecht als die „Goldene Regel“ bezeichnet. Das bedeutet: „Behandle die anderen so, wie du von ihnen behandelt werden möchtest.“ Gegen dieses Wort lässt sich überhaupt nicht argumentieren, ohne dass man sich damit selbst gleich als Egoist entlarvt. Natürlich möchte ich von den anderen gut, ja bestmöglich, behandelt werden. Und muss ich den anderen dann nicht das gleiche Recht auf eine ebenso gute, bestmögliche Behandlung zubilligen?! Wenn wir diesen Satz zur Leitlinie unserer zwischenmenschlichen Beziehungen machen würden, dann wäre das doch wunderbar.

Oder dieser Satz: „Überwindet das Böse mit Gutem!“ Das müsste das Leitmotiv jeder Konfliktlösung sein. Wo Böses getan wird, da sollte nicht mit gleichen Mitteln oder noch Schlimmerem vergolten werden. Denn das führt - das zeigt doch alle Erfahrung - zur Spirale der Gewalt. Und diese findet oftmals erst dann ihr Ende, wenn die Gegner tot am Boden liegen. Es folgt dann die Versöhnung über den Gräbern.

Nein, es müssen im Konfliktfall sogleich Maßnahmen zur De-Eskalation ergriffen werden. Alle Fantasie und guter, bester Wille müssen aufgeboten werden, dem Gegner den Weg zur Umkehr zu eröffnen. Versöhnung muss das Ziel sein, bevor es nötig wird, Gräber auszuheben.

Natürlich ist das alles nicht einfach. Wir dürfen es uns aber auch nicht zu einfach machen. Vielleicht ist es erforderlich, dass wir uns immer wieder Gedanken machen, welches denn die Grundsätze unseres zwischenmenschlichen Verhaltens sind. Vielleicht fehlt es uns an inneren Leitlinien. Vielleicht denken wir, das regelt sich schon alles von allein. Oder andere werden’s schon richten. Die Wertefrage dürfen wir nicht unterschätzen, die Frage: „Nach welchen Werten richten wir uns?“

Wenn der Führer der mächtigsten Nation unseres Erdballs, der uns vor kurzem noch in eine Wertegemeinschaft einbezogen hatte, über seine Gegner sagt: „Wir werden sie vor uns hertreiben und wir werden sie zur Strecke bringen“, dann können wir doch gar nicht mehr anders, als dass wir uns noch einmal ganz intensiv auf unsere Werte besinnen und uns fragen, ob sich eine solche Äußerung wirklich mit unserem Menschenbild vereinbaren lässt.

Die Frage: „Wer ist der Mensch?“, war ja übrigens auch die Frage gewesen, die sich für Paulus nach seinem sog. Damaskuserlebnis ganz neu beantwortet hatte, und zwar in folgender Weise: „Der Mensch ist“, ich sage das jetzt mal theologisch, „der Mensch ist Sünder, der Mensch ist auf Vergebung angewiesen und der Mensch hat die tägliche Chance zur Umkehr.“ Das war sein Aha-Erlebnis. Eine Einsicht, die von da ab jegliche Selbstgerechtigkeit ausschloss und die Vorstellung, schuld seien immer nur die anderen.

Es verbot sich für Paulus künftig die Vorstellung, dort seien die Bösen und hier die Guten, dort seien die Schurken und hier die Engel, die anderen gehörten in die Hölle und wir in den Himmel. Das Aha-Erlebnis bestand für ihn in der Einsicht, dass die Grenze zwischen Gut und Böse direkt durch uns selbst verläuft, durch jeden von uns. Dass der Kampf gegen das Böse also zunächst in uns selbst stattfinden muss und dass, wenn wir das Böse im anderen bekämpfen wollen, es keinen Sinn macht, den anderen umzubringen; dann würden wir ja auch das Gute in ihm zu Tode bringen. Nein, wir müssen dem anderen helfen, vom Bösen frei zu werden, indem wir die guten Kräfte in ihm stärken. So machen wir das doch auch in der Kindererziehung. Und eben so kann es auch unter uns Erwachsenen gehen und auch im Miteinander der Nationen.

Paulus hat in seinem Leben eine radikale Kehrtwende vollzogen. Seine alte Lebensauffassung hatte er kurz zuvor noch mit den Mitteln staatlicher Gewalt durchzusetzen versucht. Doch nachdem ihm Jesus Christus erschienen war und es ihm wie Schuppen von den Augen gefallen war, machte er sich auf den Weg, um seine neue Einsicht durch das Wort zu verbreiten, durch das gute Wort, durch das „eu angelion“, die „gute Botschaft“ von der vergebenden Liebe Gottes zu allen Menschen.

Den Nationalsozialisten mit ihrem Herrenmenschengehabe erschien die christliche Art viel zu weichlich. Mit harten Waffen haben sie die Welt fast zugrunde gerichtet, aber auch mit harten Worten. Der morgige Gedenktag wird uns daran wieder erinnern.

Auch Worte sind Waffen. Worte können verletzen wie ein scharfes Schwert. Das Wort des amerikanischen Verteidigungsministers vom alten Europa hat Emotionen aufgewühlt und Gräben aufgerissen.

Worte sind eine Macht. Auch gute Worte sind eine Macht. Gute Worte sind so mächtig wie die Strahlen der Sonne, die das Leben wecken und zur Entfaltung bringen.

Paulus hatte es sich zur Lebensaufgabe gemacht, gute Worte in die Welt hinauszutragen, die guten Worte Jesu, das Evangelium. Er hat selbst viele gute Worte hinzugefügt.

„Ich schäme mich des Evangeliums nicht“, sagte er. Das war wirklich zu bescheiden. Das Evangelium ist eine große Kraft. Es ist die Kraft des Lebens. Es ist die Kraft der Liebe zum Menschen. Es ist eine göttliche Kraft.

Die Bibel ist eine wahre Schatzkiste guter Worte. Wir sollten da viel häufiger hineingreifen - sie steht uns ja offen. Ein paar Schätze haben wir herausgeholt und haben sie draußen aufgehängt.

Unsere Welt braucht gute Worte; böse Worte gibt es schon viel zu viele. Unsere Welt braucht gute Worte, Worte des Friedens, der Verständigung, des Vertrauens, der Vergebung, der Anerkennung, Worte der Barmherzigkeit, des Trostes, Worte der Hoffnung, Worte der Zuneigung, der Liebe, der Liebe zum Leben, der Liebe zum Menschen, der Liebe zu den Menschen aller Kulturen.

Lassen Sie uns der Kraft guter Worte vertrauen und wie Paulus das Evangelium in die Welt hinaustragen - ohne falsche Scham, sondern mit Begeisterung. Wir werden sehen: Neues Leben wird erblühen.

Drei Konzepte fürs Leben

9. Februar 2003

Letzter Sonntag nach Epiphanias

Matthäus 17,1-9

Mose, Elia und Jesus - drei Männer, drei Epochen, drei Konzepte. Wie im Zeitraffer, als Lichtgestalten, begegnen sie einander auf einem Berg. Sie sprechen miteinander.

Petrus, Jakobus und Johannes, drei der Jünger Jesu, hätten wohl gern gewusst, worüber sich die drei unterhielten. „Lass uns doch hier drei Hütten bauen“, sagt Petrus, „für dich, Jesus, für Mose und für Elia.“ Er hätte das erlesene Trio wohl gern für etwas länger festgehalten.

Mose, Elia und Jesus - sie verkörpern drei Konzepte, drei Konzepte für den Umgang mit dem Menschen, für den Umgang mit den Problemseiten des Menschen insbesondere.

Mose bringt das Gesetz, die Gebote: Das darfst du, das darfst du nicht. Nun weißt du, Mensch, wie du dich zu verhalten hast.

Elia, der Prophet, mahnt. Er droht Unheil an bei Fehlverhalten und stellt Heil in Aussicht bei Wohlverhalten.

Jesus bringt Liebe und Vergebung als Geschenk und Auftrag.

Die drei Männer handeln im Auftrag Gottes, ja, Gott selbst spricht und handelt durch sie, so schildern es uns die biblischen Texte. Und wenn sie es so schildern, dann wollen sie uns damit sagen: Die Botschaft, die durch diese drei an uns ergeht, ist von sehr grundsätzlicher Art, diese Botschaft ist von existentieller Bedeutung, sie beansprucht höchste Aufmerksamkeit, größten Respekt, hat den höchsten Grad der Verbindlichkeit.

Drei Männer, drei Konzepte; es sind nicht alternative Konzepte im Sinne von „entweder - oder“. Vielmehr ergänzen sie einander. Sie sind eine Fortentwicklung.

„Kein Tüttelchen vom Gesetz soll verloren gehen“, sagte Jesus einmal. Aber das Gesetz ist nicht alles. Es reicht einfach nicht als Antwort auf das fortgesetzte Fehlverhalten des Menschen.

Wenn wir ein Kind zu erziehen haben und das Kind lügt, werden wir sagen: „Du sollst nicht lügen.“ Das entspricht dem 8. Gebot des Mose. Für das Kind ist es wichtig zu wissen: Ich darf nicht lügen. Es wird allerdings trotz dieses Wissens möglicherweise doch noch einmal lügen. Dann mag es für das Kind eine weitere Hilfe sein, wenn wir es ermahnen und es auf die problematischen Folgen des Lügens hinweisen: „Wenn du lügst, verlierst du das Vertrauen des Menschen, den du anlügst. Der glaubt dir künftig auch dann nicht mehr, wenn du die Wahrheit sagst. Also lass das Lügen, dann bewahrst du dir das Vertrauen deiner Mitmenschen.“

Ein solcher mahnender Hinweis ist für das Kind gewiss eine zusätzliche Hilfe - über die bloße Kenntnis des Gebotes hinaus.

Aber trotz der Kenntnis des Gebotes und trotz des mahnenden Hinweises auf die Folgen des Lügens, wird das Kind möglicherweise doch noch einmal lügen. Was dann?

Was tun, wenn weder die Kenntnis von Gut und Böse noch die Folgen des Verhaltens - im Guten wie im Bösen - zu einem generellen Wohlverhalten führen? Wenn sich also herausstellt, dass das Kind in seinem Wesen letztlich unbelehrbar und unverbesserlich ist?

Dann werden wir vielleicht zu der Einsicht gelangen, dass wir die Beziehung zu unserem Kind nur fortsetzen können, wenn wir uns zweierlei sagen:

1. Es gibt für uns noch etwas Wichtigeres als das Wohlverhalten unseres Kindes. Wichtiger ist uns nämlich, dass es unser geliebtes Kind ist, unser liebes Kind - nicht ein liebes Kind, das ist es ja oftmals eben nicht, aber unser liebes Kind, unser, von uns geliebtes Kind. Das ist uns wichtig, erstens.

Und 2.: Da wir erkannt haben, dass konsequentes Wohlverhalten nicht zu erwarten ist, machen wir immer wieder einen Schnitt im Verlaufe der Beziehung zum Kind und sagen: „So, das war nicht gut. Aber morgen fangen wir noch einmal neu an.“ Und wir gehen davon aus, dass wir übermorgen auch wieder neu anfangen und überübermorgen auch, dass dies also eine fortwährende Sache sein wird.

In unserem Verhältnis zu unserem Kind werden wir also erstens immer wieder die Gebote des Mose zur Geltung bringen, wir werden zweitens immer wieder im Sinne des Elia mahnen und auf die Folgen des Tuns hinweisen und werden ggf. auch Strafen auferlegen. Aber wir werden drittens im Sinne Jesu nicht nachlassen, unserem Kind immer wieder unsere Liebe zu bezeigen und ihm die Chance zur Besserung zu eröffnen.

Mose, Elia, Jesus - drei Männer, drei Konzepte, die gleichzeitig ihre Gültigkeit haben. In Bezug auf den Umgang mit den eigenen Kindern und den uns ganz nahestehenden Menschen ist uns dieses dreifache Konzept geradezu eine Selbstverständlichkeit. Im Umgang mit uns fernerstehenden Menschen allerdings wird die Realisierung dieses Konzeptes zu einer enormen Herausforderung. An eben diesem Punkt erlangt das in Jesus Christus verkörperte Konzept seine große Bedeutung, seine Größe, seine Brisanz.

Der liebevolle, vergebende Umgang mit dem Fremden, mit dem Menschen schlechthin, ist das, was Jesus zum Christus macht. Denn in seinem Konzept steckt etwas Befreiendes, etwas Erlösendes. Es sprengt Fesseln und löst einen Knoten, an dem es bis dahin so schlecht weiterging. Denn Jesus, der Christus, macht mit seiner Art aus Fremden Freunde, macht aus Fremden Brüder und Schwestern. Er macht aus Fremden unsere Nächsten.

Ja, zunächst einmal - und das ist für uns das Schöne - zunächst einmal dürfen wir selbst uns seiner Freundschaft, seiner Liebe gewiss sein, dürfen wir selbst uns als seine Brüder und Schwestern verstehen, als seine Nächsten. Das ist sein Zuspruch an uns. Das ist entlastend für uns. Das befreit uns von der Fremdheit gegenüber dem Rest der Welt, die die Schöpfung des einen Gottes ist, des Vaters Jesu Christi, des Vaters aller Menschen.

Wir dürfen uns also zunächst selbst seiner Freundschaft und Liebe gewiss sein. Daraus erwächst dann auch ein Auftrag an uns, den Fremden als unseren Nächsten anzunehmen, dem Fremden so liebevoll zu begegnen, als wäre er einer unserer Lieben. Das ist natürlich ein ganz großer Auftrag. Dem können wir niemals gerecht werden. Das soll uns aber nicht erschrecken und kleinmütig machen. Mit diesem großen Auftrag ist uns die Richtung gewiesen auf ein Ziel hin, das zu erreichen nicht in unserer Hand liegt. Es geht um die Richtung, um den Weg.

Wir dürfen die liebevolle Art Jesu - und in ihr erkennen wir die Liebe Gottes zu uns - wir dürfen die liebevolle Art Jesu für uns selbst annehmen. Aber wir sollen sie nicht wie einen Raub festhalten. Wir sollen sie weitergeben. Wir sollen auch selbst Liebe üben. Das ist unser Auftrag für den Umgang mit den Menschen in unserem unmittelbaren Umfeld. Das ist unser gesellschaftlicher Auftrag. Das ist auch unser weltweiter Auftrag.

Auch auf die weltweite Dimension dieses Auftrags muss ich jetzt zu sprechen kommen. Das ist in diesen Wochen einfach immer wieder nötig.

Denn wir fragen uns ja: „Was sollen wir halten von dem, was da vor sich geht, wie sollen wir uns verhalten?“ Wir suchen nach Maßstäben, nach Orientierung. Das dreifache Konzept der drei Lichtgestalten Mose, Elia, Jesus Christus kann für uns eine Hilfe sein.

Das achte Gebot des Mose gilt unveränderlich: „Du sollst nicht lügen.“ Du sollst die Wahrheit sagen. Und das bedeutet ebenso: Wir sollen uns weder selbst etwas Unwahres vormachen, noch uns von anderen etwas Unwahres vormachen lassen. Wir müssen auf Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit dringen, auch und gerade in der Überlebensfrage von Krieg und Frieden. Ein Angriffskrieg ist ein Angriffskrieg. Ein Rechtsbruch ist ein Rechtsbruch. Das Gebot des Mose gilt. Und ebenso gelten die Gebote und Gesetze, auf die sich die Völkergemeinschaft aus jahrhundertelangen bitteren Erfahrungen heraus über viele Jahrzehnte hinweg in zähem Ringen verbindlich geeinigt hat. Das Recht des Stärkeren auf willkürliche Durchsetzung seiner eigenen Interessen ist durch die Satzung der Vereinten Nationen abgeschafft worden. Dazu haben sich auch die Vereinigten Staaten bekannt. Die derzeitige amerikanische Regierung nimmt aber das Recht des Stärkeren für sich in Anspruch. Da sollten wir uns nicht täuschen lassen. Das achte Gebot gilt.

Wir sollten uns auch nicht einreden lassen, dass es bei dem in die Wege geleiteten Krieg gegen den Irak um den Kampf gegen den Terrorismus ginge. Es geht um wirtschaftliche und militärische Interessen der Vereinigten Staaten. Das sollten wir deutlich sagen. Das achte Gebot gilt. Der Terrorismus erhält durch das Vorgehen der amerikanischen Regierung unendlich viel neue Nahrung.

Wir sollten auch Elia hören, der damals den König Ahab vor den Folgen seines Handelns warnte. Es weiß niemand, welche Folgen ein Krieg gegen den Irak haben wird. Die Warnung, dass es nicht nur dem irakischen Volk weiteres großes Leid zufügen wird, sondern auch andere Nationen und viele Menschen in aller Welt in Mitleidenschaft ziehen wird, dürfen wir nicht in den Wind schlagen.

Wir stehen vor dem Tatbestand, dass es ein Unrechtsregime in Bagdad gibt, dass es den Terrorismus gibt, dass es eine auf Krieg drängende Weltmacht gibt - und dass es weitere Atommächte gibt, dass es den Hunger in der Welt gibt, dass es allenthalben Not und Elend und Ungerechtigkeit gibt.

Da dürfen wir uns in unserer Erschrockenheit hinflüchten zu dem, der das ganze Elend dieser Welt zwar nicht beseitigt hat, der in seiner eigenen Person aber eine Gegenposition verkörpert hat. Seine Botschaft an uns ist: Die Gebote Gottes gelten und die prophetischen Warnungen gelten. Aber darüber hinaus gilt die Liebe Gottes zum Menschen, die uns alle zu einer weltweiten Familie vereint.

Unsere Freunde sind nicht nur die jenseits des Nordatlantiks. Unsere Freunde sind auch die Menschen im Irak, die seit vielen Jahren unter dem Embargo leiden. Unsere Freunde sind auch die Menschen, die zu Millionen und Abermillionen Hunger leiden. Unsere Freunde sind die Menschen in allen Teilen der Welt, die Armen und die Reichen, die Gerechten und die Ungerechten, alle, über die die Sonne Gottes täglich aufgeht.

Als die drei Jünger mit den drei Lichtgestalten noch auf dem Berg standen, verhüllte eine Wolke die Szene und eine Stimme aus der Wolke sprach: „Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe; den sollt ihr hören.“ Den sollt ihr hören!

Den sollen wir hören, Jesus Christus, Gottes Sohn, in dem die Liebe Gottes zu allen Menschen verkörpert ist.

Himmlische Gerechtigkeit

16. Februar 2003

Septuagesimae

(3. Sonntag vor der Passionszeit)

Matthäus 20,1-16

Das Himmelreich, das Reich Gottes, ist anders. Es ist anders als die Welt, wie wir sie kennen mit den Spielregeln, nach denen wir unser tägliches Leben gestalten. Das Himmelreich ist anders als das römische Reich, es ist anders als das Dritte Reich. Es ist anders als jegliches Reich, das auf unserem Erdball errichtet werden könnte.

Das Himmelreich ist aber nicht etwa nur eines im Jenseits oder eines in einer jenseitigen Zeit. Johannes der Täufer wandte sich an seine Zeitgenossen mit dem Aufruf: „Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen!“ „Das Himmelreich ist nahe herbeigekommen“, damit meinte er das Kommen Jesu, des Christus, der schon wenige Augenblicke später vor ihm stand und sich von ihm taufen lassen wollte und der sich dann bald darauf in die Wüste zurückzog, um sich auf seinen Auftrag in dieser Welt zu besinnen, und der in der Wüste vom Teufel versucht wurde, der ihn auf einen hohen Berg führte, ihm alle Reiche der Welt zeigte und ihn zu verführen versuchte mit den Worten: „Das alles will ich dir geben, wenn du niederfällst und mich anbetest.“

Dieser Versuchung hat Jesus widerstanden. Er entgegnete dem Teufel mit einem Zitat aus der Heiligen Schrift: „Du sollst anbeten den Herrn, deinen Gott, und ihm allein dienen!“

Das ist auch für uns heute die Frage: Auf wessen Stimme wollen wir hören, in wessen Dienst wollen wir uns stellen, wem wollen wir uns andienen und an welchem Reich wollen wir mitbauen?

„Das Himmelreich nahe herbeigekommen“, das verkündete Johannes mit Blick auf den kommenden Christus, das verkündete Jesus selbst, als er durch das Land zog und vom Himmelreich, dem Reich Gottes, predigte - und nicht nur davon predigte, sondern sich auch entsprechend verhielt. Jesus gab seinen Mitmenschen mit seinem Auftreten einen Vorgeschmack auf das Himmelreich. Er verkörperte in seiner Person selbst ein Stück Himmel auf Erden, eine Alternative zum Alltäglichen, zu dem Bekannten, zu dem, was uns schon immer unbefriedigend gelassen hat, was uns schon immer als eine allzu unzureichende Lösung erschienen war und was uns schon immer hat wünschen und hoffen lassen, dass da noch etwas anderes kommen müsste, eine Alternative zum Unfrieden, zur Unzufriedenheit, zur Unversöhnlichkeit und Vergeltungssucht, zur Eigensucht, zur Habgier, zur Selbstgerechtigkeit, zur Ungerechtigkeit, zur Rücksichtslosigkeit, zur Gleichgültigkeit, zur Lieblosigkeit.

In Jesus Christus ist das Himmelreich angebrochen, nicht als Hinweis auf etwas Jenseitiges und Zukünftiges, sondern als etwas Reales, etwas, das punktuell schon jetzt real sein kann, so, wie Verliebte für einen Moment im siebten Himmel schweben können - und das ist, wenn auch immer nur sehr zeitbegrenzt, sehr real gegenwärtig.

In vielen Bildern beschreibt Jesus, wie das Himmelreich aussehen könnte, wie es da zugehen könnte, welche Spielregeln dort gelten könnten. Er erzählt uns davon, um uns mit Zuversicht und Hoffnung zu erfüllen und um unserem Reden und Tun, unserem Leben ein Leitbild zu geben, eine Orientierung, ein Ziel, auf das hin wir unser Leben ausrichten können.

Das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg ist eine solche Beschreibung. Arbeitswillige Menschen warten darauf, dass ihnen jemand Arbeit gibt. Ein Weinbergbesitzer hat Arbeit für sie. Im Laufe des Tages stellt er immer wieder zusätzliche Arbeitskräfte ein - jeweils zum Lohn von einem Silbergroschen. Abends erhalten alle Arbeiter eben diesen einen Silbergroschen, unabhängig davon, wann sie im Laufe des Tages eingestellt worden waren. Gleicher Lohn für unterschiedlich lange Arbeit - ist das gerecht? Die spontane Antwort auf diese Frage lautet in der Regel: „Nein“.

Und doch praktiziert der Weinbergbesitzer eine Art von Gerechtigkeit, die sich allerdings nicht an der Regel „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ orientiert. Der Weinbergbesitzer hält sich eher an die Regel „Gleicher Lohn für gleiche Bereitschaft“ oder „Gleiche Hilfe für gleiche Not“.

Gleiche Bereitschaft: Sie waren alle bereit zu arbeiten. Aber ob sie jemand einstellen würde und wann und für wie lange und zu welchen Bedingungen, das hatten sie nicht in der Hand. Das zählte zu den Unverfügbarkeiten.

Arbeit zu haben und mit Arbeit Geld verdienen zu können, ist nur in begrenztem Maße verfügbar. Das hängt nur zu einem Teil von unserem eigenen Willen, von unseren eigenen Fähigkeiten und unserer Bereitschaft ab. Manche sagen über die Arbeitslosen: „Die wollen ja nicht arbeiten.“ Das ist gemein. Das kann zwar im Einzelfall stimmen. Aber aufs Ganze gesehen gibt es einfach zu wenig Arbeit - oder besser gesagt: zu wenig Geld, um die viele erforderliche Arbeit zu bezahlen.

Der einzelne Arbeitswillige hat es nur bedingt in der eigenen Hand, bezahlte Arbeit zu finden. Auch wer so mutig ist, sich als Selbstständiger um Arbeit zu bemühen, merkt, dass sich Aufträge weder herzaubern noch herzwingen lassen, oftmals auch durch größten Einsatz nicht. Ebenso wenig lässt sich die entsprechende Bezahlung erzwingen. Da ist sehr viel Unverfügbares mit dabei. Wer bezahlte Arbeit hat, kann dafür zunächst einmal nur sehr dankbar sein, dass er damit auch die Möglichkeit hat, seinen Lebensunterhalt selbst zu finanzieren.

Damit sind wir nämlich bei dem zweiten: Wer kein Geld verdient, leidet Not. Was soll denn derjenige auf den Tisch bringen, der kein Geld verdient, wovon soll er seine Familie ernähren? Das Problem haben viele Menschen: dass sie gern arbeiten würden, aber trotz besten Willens keine Arbeit finden und somit kein eigenes Geld verdienen, um sich und die eigene Familie selbst ernähren zu können? Vor diesem Problem stehen Millionen von Menschen in Deutschland. Sollen denn diese Menschen verhungern? Natürlich nicht! Bei uns brauchen sie auch nicht zu verhungern. Bei uns gibt es nämlich - das mag Ihnen jetzt pathetisch klingen - bei uns gibt es ein bisschen von dem Himmelreich, von dem in unserem Gleichnis so bildhaft die Rede ist. Aber weltweit verhungern Millionen und Abermillionen von Menschen, weil sie nicht haben, wovon sie essen könnten, weil nicht haben, womit sie etwas zu essen kaufen könnten, weil sie keine Arbeit haben, weil keiner sie zur Arbeit eingestellt hat. Für Millionen von Menschen ist das die Hölle.

Das ist ja auch Teil des Skandals dieses geplanten Krieges gegen den Irak, dass Unsummen Geldes zum Zwecke der Zerstörung bereitgestellt werden, die für den Aufbau einer menschenwürdigeren Lebensordnung auf unserem Erdball so dringend benötigt würden.