Das Kanonenboot - Michael Schenk - E-Book

Das Kanonenboot E-Book

Michael Schenk

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Beschreibung

Action-Thriller um eine Gruppe verwegener Abenteurer, die im Jahr 1900 mit einem alten Kanonenboot den Kampf gegen Piraten im chinesischen Meer aufnehmen und dabei manches Abenteuer zu bestehen haben. Neben Action und Spannung kommt auch der Humor nicht zu kurz.

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Seitenzahl: 686

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Michael Schenk

Das Kanonenboot

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel 1Die Entdecker

Kapitel 2Ein unangenehmer Fund

Kapitel 3Die junge Lady

Kapitel 4Entdeckung auf der Hörner-Insel

Kapitel 5Wyatt Duncan

Kapitel 6Lady Samantha´s Entschluss

Kapitel 7Die Vereinigung der patriotischen Fäuste

Kapitel 8Endlich unterwegs

Kapitel 9Am Äquator

Kapitel 10Der Überlebende

Kapitel 11Sturm auf hoher See

Kapitel 12Hongkong

Kapitel 13Überlegungen

Kapitel 14Eine nachdrückliche Befragung

Kapitel 15Auf der Suche nach Informationen

Kapitel 16Der eiserne Fisch

Kapitel 17Im „Neptun´s Rest“

Kapitel 18Unliebsame Überraschung

Kapitel 19Die Beratung

Kapitel 20Der Bann

Kapitel 21„Wir brauchen ein Schiff!“

Kapitel 22H.M.S. Blackhorse

Kapitel 23Die Geschichte vom eisernen Fisch

Kapitel 24Die Kapitänin

Kapitel 25Männer der See

Kapitel 26Instandsetzungen

Kapitel 27Die Nacht der langen Messer

Kapitel 28Konsequenzen

Kapitel 29Zähne für den Tiger

Kapitel 30Mit harter Faust

Kapitel 31Anker auf!

Kapitel 32Im kleinen Horn

Kapitel 33Auf der Suche

Kapitel 34Bewährungsprobe

Kapitel 35Der Gefangene

Kapitel 36Die Insel des Drachen

Kapitel 37Kurs auf die Hörnerinsel

Kapitel 38Rauch am Horizont

Kapitel 39Landung

Kapitel 40Schüsse in der Nacht

Kapitel 41Ein Wiedersehen und ein gefährlicher Plan

Kapitel 42Unter Wasser

Kapitel 43Die Rückeroberung

Kapitel 44Das Duell der Eisenschiffe

Kapitel 45Wieder zuhause

Impressum neobooks

Kapitel 1Die Entdecker

Das Kanonenboot

- Gegen Piraten im chinesischen Meer -

Roman

© 2018 Michael H. Schenk

„Verdammt, jetzt sagen Sie schon, Captain,… Ist diese Insel nun auf den Karten verzeichnet oder ist sie es nicht?“

Sie hatten die Insel inzwischen umrundet, um ihre Größe und Form zu bestimmen und mit den Eintragungen auf der Seekarte vergleichen zu können. Sie wies eine ungefähr ovale Grundform auf, war rund siebzehn Kilometer lang und bis zu acht Kilometer breit. Auf der dem Schiff zugewandten Seite erhoben sich zwei ungewöhnliche kleine Berge. Der nördlich gelegene kleinere mochte an die dreihundert Meter hoch sein, der andere ragte rund fünfhundert Meter auf. Die Beschaffenheit ihrer Hänge und der Umstand, dass ihre einander zugewandten Seiten steil abfielen, deuteten darauf hin, dass sie einst die Begrenzung eines vulkanischen Kraters bildeten. Aus der derzeitigen Sicht des Schiffes ähnelten sie einem kleinen und einem großen Horn, die leicht geneigt waren und deren Spitzen aufeinander zu wiesen. Der Vulkan musste schon lange erloschen sein, denn es gab keine Anzeichen von Asche und die Insel war üppig bewachsen. Sie war ringsum von einem Strand umgeben, der mit feinem weißen Sand bedeckt schien. Vor den Beobachtern lag eine kleine geschützte Bucht, die sich als Ankerplatz anbot.

Sie hatten das Eiland vor ein paar Tagen entdeckt und Lord Ambrosius George Cornelius Fenshaw, der Eigner der Brigg Harmony, hoffte darauf, sie als erster Mensch zu betreten.

Wie üblich sah der englische Lord untadelig aus. Der weiße Tropenanzug war ihm förmlich auf den Leib geschneidert und betonte die hochgewachsene und schlanke Gestalt. Das von der Sonne gebräunte Gesicht und die Mundpartie wurden von einem dichten Bart eingerahmt, der jedoch das Kinn frei ließ. Trotz seines Alters wirkte der Mann überraschend jugendlich, was auch daran liegen mochte, dass er jeden Morgen vor einem Spiegel sorgfältig jedes weiße Haar entfernte, dass er vorfand.

„Verdammt, Captain, ist sie auf der Karte verzeichnet?“

Captain Horatius Bullmer, Kapitän der Harmony, blickte zögernd von der Seekarte auf und schob seine abgenutzte Mütze in den Nacken. „Wir sind nun gut zweihundert Seemeilen von jeder bekannten Landmarke entfernt. Soweit ich es sehe, Euer Lordschaft, ist sie es wohl nicht und…“

„Ha! Ich wusste es!“ Erregt schlug Fenshaw mit der geballten Faust in die freie Handfläche. „Eine unentdeckte Insel. Ein neues Land. Und ich bin sein Entdecker.“

Eigentlich hatte der Ausguck, oben im Hauptmast, die Insel als Erster entdeckt, aber durch derlei Schönheitsfehler ließ sich der englische Lord seine Entdeckung, und die damit verbundene Anerkennung der königlichen wissenschaftlichen Gesellschaft in London, nicht nehmen.

Erneut schlug sich der Adlige in die Handfläche. „Wahrhaftig, Bullmer, das wird in der Royal Society mehr Aufsehen erregen, als die Entdeckung einer neuen Schildkrötenart oder von ein paar Fischen“, triumphierte er.

In gewisser Weise konnte Bullmer den Lord verstehen. Dieser war der Eigentümer der Brigg und hatte sie nur erwoben, um auf Forschungsreise in chinesische Meer aufzubrechen. Die Entdeckung neuer Länder oder Lebensformen wurde im Jahr 1869 immer schwieriger. Die weißen Flecken auf den Karten der Welt wurden zunehmend mit Farbe und Wissen ausgefüllt. Fenshaw war sehr vermögend und besaß einen Adelstitel, doch wenn man in den Büchern der Geschichte herausragend erwähnt sein wollte, dann war die Eigenschaft des Entdeckers durchaus hilfreich. Der Wunsch des Lords, in den Geschichtsbüchern ausreichend gewürdigt zu werden, glich einer Obsession.

Seit fast zwei Jahren waren die Harmony und ihre Besatzung unterwegs. Eine lange und anstrengende Seereise, die bislang die Mühen und den finanziellen Aufwand kaum rechtfertigte. Lord Fenshaw hatte nicht nur das Schiff erworben und nach seinen Erfordernissen umbauen lassen, sondern bezahlte natürlich auch die Mannschaft aus eigener Tasche.

Die Harmony war 1861 in der königlichen Werft in Pembroke für die Royal Navy erbaut worden. Ursprünglich sollte sie als kleiner und schneller Segler gegen die Schmuggler vor der irischen Küste eingesetzt werden. Sparmaßnahmen führten dazu, dass man das Schiff nicht in Dienst stellte. Der Lord erwarb es für 11.800 britische Pfund. Rund fünftausend weitere verschlangen die Umbauten und die endgültige Ausstattung.

Der Zweimaster war rund vierzig Meter lang, zehn Meter breit und hatte einen Tiefgang von dreieinhalb Metern. Der gesamte Rumpf war weiß gestrichen, ebenso wie der lange Bugspriet und die beiden Masten, die bis zu einer Höhe von fünfzig Meter aufragten. Der Bugspriet, der wie ein Stoßzahn schräg nach vorne ragte, trug eine wunderschön geschnitzte Galionsfigur. Die umlaufende Reling war rot gestrichen. Im abgeschrägten Heck befanden sich die große Kajüte des Lords und die Kabinen der Offiziere. Bleiverglaste Fenster liefen um das Heck herum und waren von Schnitzereien umgeben, die Motive aus der Seefahrt zeigten. Diese Motive waren ursprünglich gelb bemalt gewesen, jedoch, wie der Name des Schiffes am Heck und die Galionsfigur, von Lord Fenshaw nachträglich vergoldet worden. Bei seiner Konstruktion war das Deck glatt und durchgängig gewesen. Fenshaw hatte dort, wo sich das große Ruderrad des Schiffes befand, ein verglastes Brückenhaus errichten lassen, welches Schutz vor der grellen Sonne und der Witterung bot.

Die Brigg benötigte als Kriegsschiff eigentlich eine Besatzung von sechs Offizieren und hundertzweiundvierzig Matrosen. Da Fenshaw es für Forschungsreisen nutzte, konnte er auf die Bewaffnung verzichten, mit Ausnahme von zwei kleinen 6-Pfündern. Dies reduzierte die Mannschaft auf drei Offiziere und vierzig Seeleute, die erforderlich waren, die Segel zu bedienen und jene Arbeiten auszuführen, die auf einem Schiff erforderlich waren. Da er auf Kanonen und viele Besatzungsmitglieder verzichten konnte, gewann der Lord zusätzlichen Raum. Für Trinkwasser und Nahrungsmittel, die für eine lange Reise notwendig waren sowie für bequeme Quartiere, zumindest seiner Lordschaft und der Offiziere, und jene Räume, in denen die Exponate der Reise aufbewahrt wurden. Zusätzlich heuerte Lord Fenshaw einen Biologen, einen Maler und einen Fotografen an, die ihn auf der Reise begleiten und das Erlebte dokumentieren sollten. Vor allem der neue und recht kostspielige Fotoapparat wurde reichlich genutzt. Dieser erregte inzwischen kaum noch die Aufmerksamkeit der Mannschaft. Fotograf Karl Weber hütete die Glasplatten mit den Aufnahmen wie seinen Augapfel.

Lord Fenshaw trat neben Captain Bullmer und sah auf die Karte hinunter. „Eine neue Insel braucht auch einen Namen“, murmelte er versonnen. „Die Bezeichnung Fenshaw´s Island würde meinen Namen natürlich künftig auf allen Karten dieser Welt verewigen.“ Er zog ein Leinentuch aus der Tasche seines weißen Tropenanzugs und wischte sich etwas Schweiß vom Nacken. „Aber das wäre natürlich zu gewöhnlich. Da fehlt der Esprit, Bullmer, Sie verstehen?“

Dem Captain war ziemlich gleichgültig, ob und mit wie viel Esprit die Namensgebung erfolgen würde. Er sah die nahe Insel eher unter dem Aspekt, dass sich dort vielleicht brauchbares Trinkwasser finden lassen würde und das dort hoffentlich keine Eingeborenen lebten, die Vorbehalte gegen die fremden Besucher hegten.

„Ich werde mir etwas einfallen lassen müssen“, seufzte der Lord. „Ich werde ein wenig an Deck spazieren, da kommen mir die besten Ideen.“ Er hing sich das Fernglas um und machte Anstalten, die Brücke zu verlassen, verharrte dann aber kurz. „Bereiten Sie alles für unsere Landung vor, Mister Bullmer. Und lassen Sie eine der Fahnen aus meinem Gepäck holen. Ich werde die Insel für die britische Krone in Anspruch nehmen.“

„Gewiss, Euer Lordschaft“, stimmte Bullmer zu. Er war stets erleichtert, wenn der Eigner der Harmony das Brückenhaus verließ. Bullmer kannte den Lord nun seit fast drei Jahren. Für einen Adligen war Fenshaw ein recht verträglicher Mensch. Fraglos sehr reich und sehr gebildet, aber mit der fatalen Neigung zu sehr impulsiven Entschlüssen, was den Kurs des Schiffes betraf, sowie der unangenehmen Eigenschaft, sich immer wieder in die Belange der Schiffsführung einzumischen. Fenshaw war nun einmal kein Seemann. Es hatte Bullmer einige Mühe gekostet, den Lord davon zu überzeugen, dass ein Schiff nicht beliebig an einem Strand anlegen konnte, ohne in Gefahr zu laufen, sich aufgrund der Tide, der Strömungen oder der Winde den Kiel aufzureißen oder zu stranden.

Bullmer folgte dem Lord mit den Blicken, während der über die Eichenplanken des Decks schlenderte und immer wieder das Glas vor die Augen nahm, um die Insel zu betrachten.

Zugegeben, es war eine hübsche und recht große Insel, und sie lag fernab aller Schiffsrouten. Dennoch bezweifelte der Kapitän der Harmony, dass sie nicht längst von irgendeinem Seefahrer entdeckt worden war. Aber sie war in den Karten nicht verzeichnet und die Seekarten der Royal Society galten als sehr genau. Es war also durchaus möglich, dass der Lord nun doch endlich seine „eigene“ Insel gefunden hatte.

Die Brigg machte nur langsame Fahrt, obwohl alle Segel gesetzt waren. Der Wind war sehr schwach und Bullmer dachte für einen Moment an die neuen Dampfmaschinen, die ein Schiff vom Wind unabhängig machten. Doch nach seiner Meinung wurde dieser Vorteil durch den Gestank und den Lärm einer solchen Maschine aufgehoben. Seefahrt hatte etwas Majestätisches an sich und dies nur dank Wind und vollen Segeln. Nein, Bullmer würde niemals auf einem stinkenden Kohleschiff fahren, auch wenn es ein paar Phantasten gab, die im Dampfschiff die Zukunft sahen. Ebenso liebte er den klassischen runden Bug, den die Harmony noch aufwies, auch wenn er insgeheim zugab, dass der neue spitze „Klipperbug“ ein Schiff schneller machte, da dieser die Wellen förmlich zerteilte.

Der Kapitän trat vom Kartentisch zurück und stellte sich neben den Rudergänger, der mit unbewegt scheinendem Gesicht den Kurs der Brigg hielt. Der Matrose war es gewohnt, von Fenshaw ignoriert zu werden. Dem Mann war das durchaus recht war, denn so wurde er zu einer der wichtigsten Informationsquellen der einfachen Mannschaft, über die Absichten des Lords.

„Zwei Strich Steuerbord“, ordnete Bullmer an. „Der Wind steht auf das Land zu und ich denke, seine Lordschaft wird es eilig haben, den Fuß auf das neue Land zu setzen.“

„Zwei Strich Steuerbord, aye aye“, bestätigte der Matrose. Er bewegte das große Rad, das über ein starkes Seil mit dem Steuergeschirr und dem Ruderblatt des Schiffes verbunden war. „Kurs liegt an, Captain.“

„Recht so“, murmelte Bullmer.

Der Kapitän blickte auf das Meer hinaus. Die See war ruhig. Das Wasser schimmerte blau und zeigte nur an den Spitzen der Wellen einen zartgrünen Schimmer. Man konnte die Fische im Wasser sehen und hier, in der Nähe der Insel, kreisten sogar ein paar Vögel am Himmel. Es roch nach Meer. Nicht nach dem brackigen Wasser und vermoderndem Tang, was die Landraten an der Küste für Seeluft hielten. Für einen Moment fragte er sich, was wohl sein älterer Bruder machte, den es nach Hongkong verschlagen hatte. Peter hatte wirklich Pech gehabt. Sein Handelsschoner war im Sturm gesunken. Obwohl sich die meisten Männer der Besatzung hatten retten können, wartete Peter seit langem erfolglos auf ein neues Schiff. Das mit dem Sturm war einfach Pech gewesen, aber die Handelshäuser bevorzugten nun einmal Seeleute, die Glück hatten und Gewinne einfuhren.

Ein Schatten fiel auf die verglaste Tür der Brücke. Die stämmige Gestalt von Grosner schob sich hereine. Der Erste Offizier der Harmony hielt das altmodisch wirkende Teleskop in der Hand, mit dem er gelegentlich zum Mastkorb aufenterte. Wie alle Offiziere an Bord trug er eine blaue Uniform mit weißer Schirmmütze. Die übrigen Besatzungsmitglieder trugen weiße Hosen sowie blauweiß karierte Hemden mit weiten Seemannskragen.

„War oben beim Ausguck, Cap“, meldete der Erste. „Das unbekannte Segel ist wieder am Horizont.“

„Der Fremde? Das gefällt mir nicht.“ Bullmer nahm seine Kapitänsmütze ab und wischte über den Schweißrand. „Ich hatte gehofft, wir wären ihn endlich los. Aber das war wohl kaum zu erwarten. Der Kerl folgt uns jetzt schon seit… seit vier Tagen, nicht wahr?“

„Kommt hin, Cap“, antwortete Grosner. „Mir gefällt das ebenfalls nicht und der Mannschaft ebensowenig.“

Eher unbewusst beugte sich Bullmer wieder über die Seekarte. „Wir sind weit von jeder Schifffahrtsroute entfernt. Hierher verirrt sich kein Handelsschiff, und die Kriegsschiffe patrouillieren in jenen Gewässern, die von Piraten bedroht sind. Selbst die treiben sich nicht so weit draußen herum. Wollen schließlich lohnende Beute.“

„Eine andere Forschungsexpedition?“

Der Kapitän schüttelte den Kopf. „Im Grunde möglich, aber die hätte keinen Grund, seit Tagen Abstand zu uns zu halten. Die würden herankommen und nach Neuigkeiten fragen. Nein, ich fürchte, der Unbekannte führt nichts Gutes im Schilde.“

„Wie Sie schon sagten, Cap, die Insel ist selbst für einen Piraten zu abgelegen.“

„Es sei denn, er sucht ein Versteck oder will Trinkwasser aufnehmen. Vielleicht ein paar Reparaturen am Schiff durchführen.“

Grosner blickte dem Kapitän über die Schulter. „Dafür gäbe es viel günstigere Möglichkeiten. Hier zum Beispiel. Eine Vielzahl von großen und kleinen Inseln, die wie Perlen auf eine Schnur aufgereiht sind. Jede Menge geschützter Buchten, in denen sich auch ein Großsegler verbergen kann.“

„Wie dem auch sei, wir müssen den Unbekannten im Auge behalten. Ich glaube nicht an einen harmlosen Segler.“

„Wenn wir gut achtgeben, dann wird er uns nichts anhaben können“, meinte Grosner. „Der Fremde hat drei Masten und ist somit ein großes Schiff. Wir sind kleiner, wendiger und schneller.“

„Wahrscheinlich“, stimmte Bullmer seufzend zu.

„Achtung an Deck“, murmelte der Rudergänger. „Seine Lordschaft sind im Anmarsch.“

Lord Fenshaw bemerkte sofort die angespannte Stimmung von Kapitän und Erstem Offizier. „Gibt es Probleme, Captain?“

„Wir haben gerade über das fremde Schiff gesprochen, das uns seit Tagen folgt.“

„Ah, verstehe.“ Der Lord lächelte zufrieden. „Er kommt in jedem Fall zu spät. Die Entdeckung der Insel kann er uns nicht mehr streitig machen.“

„Vielleicht will er das gar nicht“, wandte der Erste ein. „Zudem müssten wir die neue Insel erst bei den Behörden melden.“

„Was wir natürlich tun werden.“ Fenshaw schien nicht zu verstehen, welche mögliche Gefahr die anderen in dem fremden Schiff sahen.

„Eure Lordschaft sollten berücksichtigen, dass das fremde Schiff uns feindselig gesonnen sein könnte.“

Der Adlige sah Kapitän Bullmer irritiert an. „Piraten? Hier draußen? So ein Unsinn.“

„Wir sollten mit allem rechnen“, erwiderte Bullmer.

Seine Lordschaft strich sich über den Nacken. „Selbst wenn… Chinesische Piraten würden es niemals wagen, ein britisches Schiff anzugreifen. Grundgütiger, Sie kennen doch selbst die Geschichte unseres ersten Panzerschiffes, der H.M.S. Nemesis. Sie hat 1841 in der zweiten Schlacht von Chuenpee ganz alleine zwölf chinesische Kriegsdschunken versenkt oder aufgebracht. Das steckt den Gelben noch in den Knochen, meine Herren. Sie fürchten die Rache der Royal Navy und das zu recht.“

„Sofern die Navy von einem Angriff erfahren würde“, schränkte Bullmer ein.

Nun zeigte sich doch ein Anflug von Unsicherheit im Gesicht des Adligen. „Nun, dann sollten wir das fremde Schiff wohl besser im Auge behalten.“

„Das ist bereits veranlasst, Euer Lordschaft.“ Kapitän Bullmer deutete durch das offene Fenster der Brücke in Richtung der Insel. „Wollen Sie trotzdem zur Insel hinüber?“

„Selbstverständlich. Ich hoffe, das Beiboot und die Flagge sind bereit?“

Der Erste Offizier nickte. „Ich habe ein paar gute Männer ausgesucht. Sie sind bewaffnet. Nur für den Fall, dass wir auf Schwierigkeiten stoßen.“

Mögliche Probleme schienen den Lord wenig zu interessieren. „Weber soll mit. Er muss das Ereignis fotografieren und dadurch für die Nachwelt erhalten. Ah, und natürlich unser Biologe. Nach der Besitznahme werde ich die Insel ein wenig erforschen.“

„Mit allem Respekt, Euer Lordschaft sollten keine sehr ausgedehnte Erkundung planen. Falls das fremde Schiff näher kommt, so könnte es sein, dass wir Sie rasch wieder an Bord nehmen müssen, um schnell von hier zu verschwinden.“

„Nun, wir sind doch bewaffnet“, wandte Lord Fenshaw ein. „Wir haben sogar zwei Kanonen an Bord und nicht nur eine. Damit…“

Es war sicherlich unhöflich, ihn zu unterbrechen, doch Bullmer konnte nur mühsam die Ruhe bewahren. „Mit den beiden Sechspfündern können wir sicher ein paar Seevögel oder Eingeborene erschrecken, aber wenn es sich um ein Piratenschiff handeln sollte, dann wird es gut bewaffnet und uns weit überlegen sein. Zudem ist die Harmony ein leicht gebautes Schiff und kann nicht viel einstecken. Wir können kein Gefecht riskieren, Euer Lordschaft. Unsere Brigg ist kein Kriegsschiff mehr, sondern wurde von Ihnen für diese Expedition umgerüstet.“

Fenshaw errötete ein wenig, da er diese Bemerkung als Kritik verstand, aber darauf nichts zu entgegnen wusste. So wich er einer Erwiderung aus und blickte stattdessen auf das Messinggehäuse des großen Schiffschronometers, der sich neben dem Steuerrad befand. „Ich wünsche baldmöglichst an Land zu gehen. Wann können wir ankern, Captain?“

Bullmer sah zum Hauptmast empor, an dessen Spitze der sogenannte Kieker montiert war. Ein breiter und mehrere Meter langer Stoffstreifen, der einem Seemann die Windrichtung und die Windstärke anzeigte. „Eine knappe Stunde, Euer Lordschaft. Erster, nutzen Sie die Zeit und lassen Sie das Beiboot wässern.“

„Aye, Cap.“ Grosner salutierte knapp, nickte Fenshaw zu und verließ die Brücke.

Der Erste Offizier murmelte einen leisen Fluch, den niemand hörte. Bullmer hatte ihm gerade einen kräftigen Rüffel verpasst, ohne das Fenshaw dies bemerken konnte.

Die Harmony verfügte über zwei Beiboote. Eines hing an seinen Davids hinten am Heck, knapp über den Fenstern der großen Kajüte. Das andere war mittschiffs an Deck festgezurrt. Da die Boote nicht im Wasser schwammen und die Sonne seit Tagen unbarmherzig schien, war das Holz durch die Hitze ein wenig geschrumpft und die Boote möglicherweise undicht geworden. Grosner würde ein paar Matrosen anweisen, das große Beiboot mit Wasser zu füllen, damit dessen Holz wieder quellen konnte und dicht wurde. Eigentlich wäre es Grosners Aufgabe gewesen, darauf zu achten, dass sich immer genug Seewasser in den Booten befand, um ein Austrocknen zu verhindern, aber er hatte das vergessen, weil er sich in Gedanken zu sehr mit dem fremden Segler befasste.

Der Erste wandte sich dem Obermaat der Brigg zu. „Bill, lassen Sie die Boote wässern und schicken Sie einen guten Lotgasten zum Bug. Er soll den Boden des Lotbleis mit Talg einreiben, damit wir feststellen können, aus was der Meeresgrund besteht.“

„Aye aye, Sir“, bestätigte der Obermaat. „Dann halten wir jetzt auf die Insel zu? Ist sie wirklich noch nicht auf den Seekarten?“

Grosner grinste. „Nein, ist sie nicht. Es sieht ganz so aus, als hätte seine Lordschaft doch noch ihre Entdeckung gemacht.“

Der Matrose nickte erfreut. „Dann geht es wohl sicher auch endlich wieder nach Hause, Sir. Nichts für ungut, aber zwei Jahre auf See…“

Der Erste konnte den Mann gut verstehen. Auch wenn der Lord eine hohe Heuer zahlte, würde die Mannschaft doch froh sein, wieder ein paar Wochen an Land zu verbringen, zumal einige von ihnen Frau und sogar Kinder hatten. „Ich vermute, dass wir bald heimkehren. Seine Lordschaft wird die Entdeckung möglichst schnell bei der Royal Society melden wollen.“

Nur wenige Minuten später trat Lord Fenshaw vorne an den Bug. Er sah immer wieder mit dem Fernglas zu der langsam näherkommenden Insel hinüber.

An jener Stelle, die Captain Bullmer als Ankerplatz ausersehen hatte, schob sich die kleine Bucht ins Land hinein. Allerdings ging der Kapitän davon aus, dass das Gewässer dort zu flach sein würde und man außerhalb ankern müsse. In jedem Fall war die Bucht jedoch ein guter Ort, um dort mit dem Beiboot anzulanden.

Während der Biologe und der Fotograf ihre Utensilien für den Landgang vorbereiteten, schritt Lord Fenshaw vom Bug über das Deck und zurück, blickte immer wieder angespannt zu „seiner“ Insel hinüber, die endlich größer wurde.

Das Deck bestand aus bestem Eichenholz und war, wie beim traditionellen Schiffsbau üblich, durch Teer in den Fugen abgedichtet. Dieser war aufgrund der Hitze weich geworden und quoll aus den Fugen hervor. Die feinen Lederstiefel des Lords klebten immer wieder an der schwarzen Masse fest. Fenshaw fragte sich unwillkürlich, wie die einfachen Matrosen damit zurechtkamen. Im Gegensatz zu manchen der modernen Seeleute, waren die der Harmony noch echte Seefüße, die sich an Bord barfuss bewegten und ihr Schuhwerk höchstens beim Landgang trugen. Ihre Fußsohlen waren voller Schwielen und Teerspuren, und dies galt ebenso für die Hände, denn bei einem Segelschiff bestand das sogenannte laufende Gut, also Leinen und Taue, überwiegend aus Hanf, den man, zum Schutz gegen Nässe und Verwitterung, mit Teer bestrich.

Der englische Lord seufzte leise. Ihm war es unverständlich, dass es Seeleute immer wieder hinaus aufs Meer zog. Geringe Heuer, keinerlei Komfort, schlechte Verpflegung, harte Arbeit und allgegenwärtige Gefahren… Nein, für ihn war diese Seereise nur das Mittel zum Zweck, um seinen Namen unsterblich mit einer bedeutsamen Entdeckung zu verknüpfen.

„Drei Faden unter dem Kiel“, sang der Lotgast vom Bug aus. Der Mann zog das Seil mit dem Blei aus dem Wasser und strich mit den Fingern über die mit Talg eingeriebene Unterseite. „Sandiger Grund.“

Kapitän Bullmer schätzte die Entfernung und die Geschwindigkeit seines Schiffes ein. Bis auf das Hauptsegel hatte er inzwischen alle reffen lassen. Sie lagen nun festgezurrt an den Rahen, die wie lange Arme seitlich von den Masten über die See ragten. Oben, wo das Hauptsegel von seiner Rah hing, standen Matrosen in den sogenannten Fußleinen, um die große Leinwand schnell einholen und festlegen zu können. Zwei Gruppen Matrosen bedienten unten an Deck jene Leinen und Rollen, mit denen man das Segel verstellen konnte. Ein Segelschiff brauchte den Druck des Windes im Segel, damit man es mithilfe des Ruderblatts am Heck steuern konnte.

Die Harmony kroch nun förmlich über ihrem Spiegelbild dahin.

Erneut klatschte das Lot ins Wasser. Die Leine schnurrte durch die Finger des Matrosen.

„An Deck!“, rief der Ausguck vom Mastkorb. „Felsiger Grund an Backbord voraus! Drei Strich!“

„Zwei Faden unter dem Kiel“, meldete der Lotgast. „Felsiger Grund und Sand.“

„Klar bei Anker, Bug und Heck!“, befahl Bullmer. „Bereithalten am Großsegel!“

Das Ausmaß der Tide, von Ebbe und Flut, war schwer einzuschätzen und er durfte nicht riskieren, bei ablaufendem Wasser auf dem Grund aufzusitzen. Er wollte wenigstens anderthalb Faden, also rund zweieinhalb Meter, freies Wasser unter dem Kiel der Harmony behalten. Der Kapitän musste sich auf Augen und Reaktion von Lotgast und Ausguck verlassen, da er, von der Brücke aus, den Bug zwar sehen, aber nicht erkennen konnte, was sich unmittelbar vor oder unter diesem befand.

Behutsam schien sich die Brigg dem Liegeplatz entgegen zu tasten, bis Bullmer den richtigen Augenblick für gekommen hielt. „Fallen Anker!“, rief er. „Großsegel einholen!“

Ein Matrose hieb den Holzpflock zur Seite, der das Ankertau fixierte. „Anker frei!“

Mit vernehmlichem Surren schoss das Tau durch die Öffnung am Bug. Der schwere Stockanker rauschte nach unten, klatschte auf das Wasser und sank in die Tiefe. Für einen Moment schleifte er über den sandigen Grund, bis er Halt fand und die Brigg mit einem sanften Ruck zum Halten brachte. Aufgrund seiner Eigenfahrt schwenkte das kleine Schiff ein wenig zur Seite, doch dann sank auch der Heckanker hinab und fixierte die Bewegung endgültig. Wie von Zauberhand wurde das Großsegel kürzer und an der Rah festgemacht.

Mit einem freudigen Lächeln im Gesicht eilte Lord Fenshaw zur Brücke.

„Captain Bullmer, tragen Sie bitte in das Logbuch ein, mit Datum und Uhrzeit, dass wir nun vor Fenshaw´s Island ankern“, forderte er seinen Kapitän auf. „Das wird das erste Dokument über meine neue Insel.“

„Fenshaw´s Island, aye“, bestätigte der alte Seemann. Offensichtlich hatte der Lord doch nicht viel Esprit auf die Namensgebung verschwenden wollen. „Grosner, lassen Sie den Ausguck ablösen. Schicken Sie einen ausgeruhten Mann hinauf und geben Sie ihm das Teleskop mit. Ihm darf nichts entgehen.“

Bullmer brauchte seinem Ersten Offizier gegenüber nicht erst erwähnen, dass der Ausguck sowohl die Insel, als auch die See beobachten sollte. Jetzt, vor Anker liegend, verfügte die Brigg nicht über den Schutz ihrer Beweglichkeit.

Das kleine Beiboot wurde hinter dem Heck abgefiert und zu den fest montierten Tritten in der Bordwand gezogen, die eine Strickleiter überflüssig machten.

Obwohl Captain Bullmer den Lord nun eindringlich an die mögliche Gefahr durch das fremde Schiff erinnerte, entschloss sich Fenshaw zu einer ausgedehnten Erkundung. „Gerade wegen des unbekannten Schiffes, Captain, gerade wegen des Unbekannten“, argumentierte der Adlige. „Wer weiß, ob ich nochmals die Möglichkeit zu einer Landexpedition erhalte, nicht wahr? Keine Sorge, ich werde lediglich auf den großen Berg steigen, mich von dort aus ein wenig umsehen, und dann wieder zurückkehren. Natürlich nach dem Aufpflanzen der Fahne.“

Der alte Seemann prüfte den Stand der Sonne. „Eure Lordschaft mögen bedenken, dass es nun später Nachmittag ist. Wenn Sie vor Einbruch der Dunkelheit wieder an Bord sein wollen, bleibt nur wenig Zeit.“

„Ich werde auf der Insel übernachten“, erwiderte Fenshaw entschieden. „Natürlich nur mit bescheidenem Gepäck. Heute werde ich den Strand und die nähere Umgebung erkunden und morgen, mit dem ersten Tageslicht, die Fahne des Empire auf dem Berg aufstellen.“

Bullmer hätte nun argumentieren können, dass er für die Sicherheit des Schiffes und der Menschen an Bord verantwortlich sei, und dass der Lord ihm diese Verantwortung nicht abnehmen könne, doch der alte Kapitän verzichtete. So sehr er es bedauerte, dies war seine letzte Fahrt und er wollte die großzügige Erfolgsprämie des Lords nicht durch eine Unstimmigkeit gefährden. „Halten Sie bitte nach einer Quelle Ausschau“, gab er schließlich nach. „Es wäre gut, wenn wir unsere Trinkwasservorräte auffrischen. Das Wasser in den Fässern wird langsam brackig.“

Einer der Maate und zwei bewaffnete Matrosen kletterten in das Beiboot hinab. Sie nahmen die kleine Kiste und die Taschen in Empfang, in denen sich die Ausrüstung des Adligen, des Biologen und des Fotografen befanden. Dann stiegen auch diese hinunter. Das Boot stieß ab und ruderte in Richtung des Strandes, der immerhin noch einen halben Kilometer entfernt war. Das kleine Beiboot war vollkommen weiß, mit Ausnahme des Dollbords, also seiner umlaufenden Oberkante, und der beiden Ruderbänke, die grellrot gestrichen waren. Die Ruder hoben und senkten sich wie Schwanenflügel und trugen die Insassen langsam dem ersehnten Ziel entgegen.

Fenshaw und der Biologe saßen vorne im Bug. Man konnte den sandigen Grund erkennen und eine Vielzahl von Felsen, die vereinzelt oder in Gruppen aus dem Boden ragten. Der Schatten des Bootes scheuchte ganze Schwärme von Fischen zu den Seiten.

„Muscheln“, meinte der Biologe erregt. „Sehen Sie sich das an, Mylord. Der Boden ist an einigen Stellen dicht mit Muscheln bedeckt. Das hier wäre sicher ein Paradies für Perlentaucher.“

Fenshaw überlegte kurz, ob er den Namen der Insel in „Fenshaw´s Pearl-Island“ ändern solle, entschied sich dann aber dagegen. Er änderte einen einmal gefassten Entschluss höchst ungern, da er so etwas für ein Zeichen von Unentschlossenheit und somit Schwäche hielt.

Der Maat saß im Heck und steuerte das Boot. Er betrachtete den größeren Felsen, den der Lord zum Aufstellen der britischen Fahne besteigen wollte. Fraglos war dieser nicht sehr hoch und kaum mehr als ein steiler und felsiger Hügel. Trotzdem erfüllte der Anblick den Mann mit Unbehagen. Seeleute bekamen aufgrund ihrer Arbeit zwar viel Bewegung, hatten jedoch nur wenig „Auslauf“. Längere Fußwege raubten ihnen schnell den Atem.

„Dort, wo die Harmony ankert, fällt der Meeresgrund steil ab“, meinte Fotograf Weber. „Hier steigt er in flachem Winkel zum Strand hin an. Ich denke, die Insel ist eine Art Plateau inmitten des Meeres.“

„Oder die Spitze eines gewaltigen Unterwassergebirges“, hielt der Biologe dagegen.

„Jedenfalls schwimmt sie nicht einfach auf dem Wasser und ist festes Land“, knurrte Fenshaw. „Ich bin froh, mir die Füße wieder richtig vertreten zu können.“

Wenig später knirschte der Kiel des Bootes über den Sand des Strandes.

Selbstverständlich gebührte seiner Lordschaft die Ehre, den Boden der Insel als Erster zu betreten. Doch kaum stand er auf festem Grund, winkte er Karl Weber zu. „Kommen Sie, Weber, kommen Sie. Die anderen bleiben noch im Boot. Kommen Sie mit Ihrem Apparat hierher.“ Der Lord deutete auf die Stelle, an der er sich befand.

„Ein Foto, Euer Lordschaft?“ Weber schulterte das Dreibein mit dem Kasten des Apparates und die Tasche mit Blitzpulver und den wertvollen Glasplatten.

„Das will ich wohl meinen“, erwiderte Fenshaw lächelnd. „Ich steige nochmals ins Boot. Sie machen ein Fotodokument von jenem erhabenen Moment, an dem ich die Insel für das Empire in Besitz nehme und sie erstmals betrete.“

Während Weber alles aufbaute, stellte sich Fenshaw, mit der britischen Flagge in den Händen, an den Bug. Matrosen Cullon legte die Stirn in Falten und überlegte, wie es wohl sein könne, dass der Fotograf, vom Land aus, ein Bild von seiner Lordschaft machte, bevor dieser, als „erster“ Mensch, das Eiland betrat. Die Beantwortung erschien dem Seemann zu kompliziert. Mit müdem Lächeln lehnte er sich auf die Ruderpinne.

Lord Fenshaw bemerkte dies und fuhr den Mann erbost an. „Grinsen Sie nicht so dämlich. Wir dokumentieren jetzt ein historisches Ereignis. Blicken Sie gefälligst ein bisschen heldenhafter.“

„Nicht bewegen!“, rief Weber. Das Blitzpulver brannte ab und der Fotograf zählte ein paar Sekunden, in denen sich die anderen Beteiligten nicht bewegen durften. Dann schützte er die fotografische Platte vor dem Licht. „Fertig, Euer Lordschaft.“

Endlich konnten alle die Insel betreten. Jeder von ihnen hatte in den ersten Augenblicken Mühe, das Gleichgewicht zu wahren. Die Monate auf See hatten den Gleichgewichtssinn daran gewöhnt, die Schwankungen des Schiffes auszugleichen und nun, da diese fehlten, brauchte es einen Moment, bis der Körper akzeptierte, dass er auf unbeweglichem Untergrund stand.

Während der Maat und die bewaffneten Matrosen misstrauisch die Umgebung musterten, nahm sich Fenshaw nun die Zeit, sich gründlich umzusehen.

Der Strand war mit feinem Sand bedeckt, der aus einer Mischung von weißen und hellbraunen Körnern bestand. Der Biologe interessierte sich sofort für eine Reihe von Kleinlebewesen und winzigen Krebsen. Einige dunkle Felsen ragten auf. Der Dung an ihren Flanken bewies, dass sie von Seevögeln genutzt wurden. Ein paar von diesen kreisten in einiger Entfernung, es war jedoch nicht genau zu erkennen, um welche Gattung es sich handelte.

Rund zweihundert Meter vom Ufer entfernt begannen die Bäume. Es waren überwiegend hohe Palmen und Farne. Auf den ersten Metern konnte man gut in den dichten Wald hinein sehen und es schien, als sei der Boden dort von Gräsern bedeckt. Rechterhand ragte jener Felsen auf, den der Lord zu besteigen dachte. Eigentlich war es kaum mehr als ein sehr steiler Hügel. An seinen Flanken ragten Sträucher auf und es gab Stellen, an denen Moos oder Gras sichtbar war. Links der Bucht, und wesentlich weiter entfernt, erhob sich der kleinere der beiden Berge.

Die beiden Matrosen schlenderten mit ihren Gewehren am Waldrand entlang und suchten nach Spuren. Doch sie fanden weder die größerer Tiere, noch die von Menschen. Ersteres bedauerten sie, da das Fleisch die Speisekammer der Harmony hätten bereichern können, Letzteres registrierten die Männer mit Erleichterung, da die meisten Eingeborenen recht unfreundlich auf ungeladene Besucher reagierten. Einer von ihnen entdeckte einen kleinen Bach, der in einiger Entfernung aus dem Wald hervortrat und über den Strand ins Meer floss. Vorsichtshalber bückte er sich und probierte, fand aber bestätigt, dass es sich um Süßwasser handelte.

„He, Maat, wir haben Trinkwasser gefunden!“, rief er zu seinem Vorgesetzten hinüber, der bei Fenshaw stand. „Wir sollten die Fässer vom Schiff holen.“

„Wir werden noch ein bis zwei Stunden Tageslicht haben, Euer Lordschaft“, meinte der Maat. „Die Zeit wird nicht reichen, die Wasservorräte aufzufüllen.“

Fenshaw nickte. „Ich hatte ja ohnehin vor, erst morgen auf den Berg zu steigen. Wir werden für die Nacht dort am Waldrand lagern. Lassen Sie uns einen Mann hier, Maat. Mit dem anderen können Sie zum Schiff. Am Morgen kommen Sie dann mit dem großen Beiboot zurück. Während ich mit meinen Begleitern auf den Berg steige, können Sie dann die Fässer füllen.“

„Aye, Mylord. Dann laden wir jetzt das Gepäck aus dem Beiboot und bauen das Lager auf. Dann fahre ich mit James zur Harmony hinüber. Ich lasse Ihnen Cullon hier. Er ist ein sehr erfahrener Mann.“

In der Zeit, in der Lord Fenshaw, der Biologe Western und Fotograf Weber den Strand und den Waldrand erkundeten, bauten die drei Seeleute das bescheidene Lager auf, welches aus zwei kleinen Zelten, Feldbetten und Decken bestand. Die kleine Kiste enthielt jenen Proviant, den der Lord vorzugsweise auf seinen Ausflügen mitnahm.

Schließlich ruderte das kleine Beiboot bei Anbruch der Dunkelheit zum Schiff zurück.

Es war ein malerischer Sonnenuntergang, als die Sonne langsam im Meer zu versinken begann. Der gesamte Himmel schien in Purpur zu versinken und der letzte rote Schein machte die Brigg Harmony zu einem Scherenschnittmodell vor der einsetzenden Nacht.

Matrose Cullon hatte den zurückrudernden Seeleuten bedauernd nachgesehen und dabei das moderne Gewehr umklammert. Cullon war der typische „Salzwasserbuckel“. Mit zehn Jahren hatte er als Schiffsjunge angeheuert und nun war er Dreiundfünfzig. Sein wettergegerbtes Gesicht trug die Spuren mancher Reise. Er war schon zweimal zum Maat befördert, aber aufgrund seiner Rauflust wieder zurückgestuft worden. Einmal hatte er sogar die Peitsche gespürt. Doch er war ein guter Seemann und liebte das Meer. Er war stämmig und muskulös. Wer ihn sah, der traute ihm kaum zu, wie behände Cullon in die Wanten aufentern und den Mastkorb erreichen konnte. Seine Augen waren noch immer die schärfsten an Bord und der Kapitän schätze Cullons Fähigkeiten und Zuverlässigkeit als Ausguck. Es gefiel Cullon nicht, alleine mit dem Lord und den Gelehrten zurückzubleiben, denn er ahnte, an wem die gewöhnlichen Arbeiten und die Aufgabe der Nachtwache hängenbleiben würden.

Der Biologe Western überraschte ihn jedoch. „Wenn Sie nichts dagegen haben, guter Mann, dann übernehme ich einen Teil der Wache. Auf diese Weise kann ich den Stimmen der Kreaturen der Nacht lauschen.“

Cullon gefiel es, eine Runde Schlaf zu bekommen, aber was Western da von Kreaturen der Nacht erzählte, beunruhigte den abergläubischen Seemann nicht unerheblich. Vielleicht war das der Grund dafür, dass er nur in einen unruhigen Halbschlaf fiel, als der Biologe die Wache übernahm. Einen Überfall Eingeborener brauchte man sicher nicht zu fürchten. Selbst wenn es solche gegeben hätte, so wären sie sicher vom Schnarchen seiner Lordschaft vertrieben worden.

Es war ein schwaches Geräusch, dass Cullon aus dem Schlaf schrecken ließ.

Unsicher, ob er wirklich etwas gehört hatte, stemmte sich der Matrose auf die Ellbogen hoch und sah sich um. Der Mond war nur eine schmale Sichel. Inzwischen waren Wolken aufgezogen, welche die meisten Sterne verdeckten. Die Sicht war bescheiden und auf wenige hundert Meter beschränkt.

Cullon erkannte Western, der an einem Baum lehnte und offensichtlich eingeschlafen war. Dann war da der Strand. Jenseits des Sandes gelegentlich ein sanfter Schimmer, wie er von heranbrandenden Wellen hervorgerufen wurde. Die Harmony lag in der Dunkelheit verborgen. Cullon konnte selbst die beiden Ankerlichter an Bug und Heck nicht erkennen, die eigentlich gesetzt wurden, wenn ein Schiff vor Anker lag. Aber vielleicht hatte Captain Bullmer auch auf sie verzichtet. Immerhin trieb sich ja ein geheimnisvolles Schiff in der Nähe herum.

Dieses fremde Schiff gefiel ihm nicht. Es gefiel keinem von der Mannschaft. Seit die Handelsschifffahrt zugenommen hatte, hörte man immer wieder von den Überfällen malaysischer, indonesischer oder chinesischer Piraten. Sie überfielen die Schiffe, raubten sie aus und schlachteten Mannschaft und Passagiere ab, um keine Zeugen zu hinterlassen. Die Royal Navy und Kriegsschiffe anderer Nationen taten ihr Bestes, um die Seeräuber zu stellen, aber die See war groß und es gab nie genug Schiffe, um die Mordbanden zu stellen. Ab und an gelang es und meist hing man die gefangenen Piraten zur Abschreckung in den Häfen an die Galgen. Nein, das fremde Schiff, von dem man nur am Horizont nur gelegentlich die Segel gesehen hatte, gefiel Cullon ganz und gar nicht. Er hoffte, dass es eine harmlose Erklärung dafür gab. Immerhin war man weitab jener Handelsrouten, die den Mördern lohnende Beute versprachen.

Der erfahrene Seemann lauschte angestrengt und glaubte schon, sich getäuscht zu haben, als er abermals ein Geräusch hörte. Ein leises Platschen, welches sich kaum über das sanfte Rauschen der Dünung erhob. Cullon war nicht sicher, doch es hörte sich ein wenig danach an, als tauchten die Riemen eines Ruderbootes ins Wasser. Dann war da ein Poltern, wie es entstand, wenn ein Boot gegen den hölzernen Rumpf eines Schiffes stieß. Ein erneutes Platschen folgte, doch nun hörte es sich an, als stürze etwas Schweres ins Wasser.

Jetzt war der Matrose endgültig alarmiert.

In der Nähe des Schiffes ging etwas vor sich.

Cullon erhob sich und ging zu Western hinüber, stieß den Biologen unsanft an. „Aufwachen, Mann. Da tut sich was.“

Der Forscher blickte in dem Augenblick auf, als aus Richtung des Schiffes ein Schuss zu hören war.

„Verdammt, was geht da vor sich?“, wurde die verschlafene Stimme Lord Fenshaw´s hörbar. „Was soll diese Unruhe?“

„Ruhe, verflucht!“, zischte Cullon.

Die respektlose Aufforderung ließ den Lord verwirrt verstummen. Er verließ das kleine Zelt und kam zu Cullon, der nun das Gewehr wieder an sich nahm. „Herrgott, Mann, was ist hier los? Was soll der Lärm?“

Als sei es die Antwort auf die Frage des Adligen, wurde nun aus Richtung der Harmony Geschrei hörbar. Das Klirren von Stahl auf Stahl, gelegentlich ein Schuss.

„Das Schiff wird überfallen“, ächzte Fenshaw.

„Aber wir hätten doch bemerkt, wenn das fremde Schiff herangekommen wäre“, murmelte Karl Weber ungläubig.

Cullon schüttelte den Kopf. „Die sind nicht mit dem Schiff gekommen. Das wäre bei der miesen Sicht viel zu gefährlich. Nee, die haben ihre Beiboote genutzt, sind im Schutz der Nacht herangerudert und dann mit einem Enterkommando an Bord.“

„Wir müssen unseren Leuten helfen.“ Fenshaw straffte sich entschlossen.

„Wir müssen hier verschwinden.“ Cullon hielt dem Lord die Waffe entgegen. „Damit können wir nichts ausrichten. Außerdem haben wir kein Boot, mit dem wir übersetzen könnten.“ Er spuckte ungeniert in den Sand. „Und wenn die Drecksäcke da drüben herausfinden, dass hier noch ein paar Leute am Strand sind, dann kommen sie zu uns. Man kann sich ja wohl denken, was uns dann blüht.“

Western wurde bleich. „Er hat Recht, Mylord. Wir müssen hier verschwinden.“

„Ich weiche nicht vor irgendwelchen Banditen“, hielt der Adlige mit grimmiger Stimme dagegen. „Wer immer das ist, er wird ohnehin kommen und uns suchen.“

„Vielleicht, aber das wird eine Weile dauern.“ Cullon leckte sich über die Lippen. „Mag sein, dass die Piraten gar nicht ahnen, dass wir hier sind. Schließlich sind alle Beiboote bei der Harmony. Ein Landtrupp würde aber ein Boot mitnehmen. Kann also sein, dass wir Glück haben und die nicht ahnen, dass sich ein paar Seelen an Land befinden.“

Ein langgezogener schriller Schrei tönte über das Wasser, der abrupt endete.

Western stierte mit schreckgeweiteten Augen in die Dunkelheit hinaus. „Die werden kommen. Irgendeiner von der Mannschaft wird reden und von uns berichten.“

„Sollen sie nur kommen“, knurrte Fenshaw. „Dann werden sie erleben, wie Engländer kämpfen.“

Cullon verdrehte die Augen. „Da drüben sind auch Engländer und trotzdem haben unsere Leute keine Chance gegen die Piraten.“

Karl Weber zog am Ärmel des Lords. „Wir müssen weg vom Strand und uns verstecken. Herrgott, Mylord, wir können uns doch nicht einfach abschlachten lassen. Denkt an Eure Tochter Samantha!“ Weber dachte eigentlich eher an seine Familie, doch deren Schicksal mochte den Adligen weniger berühren.

Die Erinnerung an die Tochter schien den Lord aus seiner Unentschlossenheit zu reißen. Erneut reckte er sich und schien mit dieser Bewegung eine innere Lähmung abzuschütteln. „Wir müssen die Zelte abschlagen und im Grünzeug zwischen den Bäumen verstecken. Cullon, geben Sie mir die Waffe. Ich habe manche Trophäe bei der Jagd gewonnen und bin sicher der bessere Schütze. Sie nehmen eine Decke und verwischen unsere Spuren hier am Strand. Dann nehmen wir unseren Proviant und die Fahne, und ziehen uns auf den Berg zurück. Er ist eine gute Verteidigungsstellung und von dort haben wir bei Tageslicht einen guten Überblick.“

Cullon händigte das Gewehr nur ungern aus, da es ihm ein wenig Sicherheit vermittelte. Die Männer folgten den Anweisungen des Lords bereitwillig und in großer Hast. Gelegentliche Schreie vom Schiff trieben sie zu noch größerer Eile.

Während der Matrose eine Decke nahm und damit über den Sand wischte, rissen der Fotograf und der Biologe die beiden kleinen Zelte nieder, rafften sie zusammen und versteckten sie, so gut es bei der herrschenden Dunkelheit möglich war, unter den Bäumen.

Minuten später hastete die Gruppe in Richtung des größeren Felshügels.

Ihre Flucht verlief keineswegs lautlos. Gräser und Farne raschelten, Äste zerbrachen unter ihren Füßen und gelegentlich war ein Fluch zu hören, wenn einer von ihnen stolperte oder sogar stürzte. Sie konnten sich nur ungefähr orientieren. Sie bewegten sich zwischen den Bäumen und die Kuppe des Ziels tauchte nur gelegentlich zwischen den Baumkronen auf. Die Dunkelheit erschwerte ihr Vorankommen, dennoch kamen sie dem kleinen Berg näher und näher.

Aus Richtung des Schiffes war nichts mehr zu hören, was auch daran liegen mochte, dass der von ihnen verursachte Lärm alles andere übertönte.

Als sie den Fuß des Berges erreichten, legten sie eine kurze Rast ein. Auch wenn der Weg nicht lang gewesen war, so hatte er sich doch als beschwerlich erwiesen. Glücklicherweise war der Hang, den sie erklimmen wollten, nicht zu steil und zudem mit kleinen Bäumen und Sträuchern bewachsen, an denen sie sich festklammerten. Ihre Füße traten immer wieder auf loses Gestein. Das Gepolter erschien ihnen unnatürlich laut.

„Leise, verdammt“, fluchte Cullon schließlich, „und tretet nicht so viele Steine los. Ich habe keine Lust, erschlagen zu werden.“

Die Kritik des Seemanns war berechtigt, da er hinter den anderen kletterte. Western und Weber trugen die kleine Vorratskiste mit den Leckereien des Lords und unter ihren Füßen lösten sich immer wieder Steine, die Cullon trafen.

„Es reicht“, kam schließlich die Bemerkung des Lords, der sichtlich außer Atem war. „Dies ist eine gute Stelle.“

Fenshaw hatte eine kleine Mulde erreicht, die sich in die Flanke des steilen Hügels schmiegte, den seine Lordschaft gerne in die Kategorie Berg eingeordnet sah. Als Cullon die anderen erreichte, stellte er erleichtert fest, dass diese Mulde genug Platz für sie alle bot. Wenn ihn seine Orientierung nicht trog, musste ihre Deckung der See und dem Ankerplatz der Harmony zugewandt sein.

Es war noch zu dunkel, um dort etwas erkennen zu können, dennoch nahm der Lord sein Fernglas, wischte über die Linsen und spähte dann in Richtung der Brigg.

„Etwas zu sehen, Mylord?“, fragte Cullon wider besseres Wissen.

Wie erwartet schüttelte Fenshaw den Kopf. „Nichts. Wir werden bis zum Anbruch des Tages warten müssen. Wir sind zum Nichtstun verdammt.“

Cullon suchte sich eine Position, in der er halbwegs bequem auf dem Bauch liegen konnte und versuchte dabein die Härte der Steine zu ignorieren. „Ein Schluck Wasser wäre nicht schlecht.“

Western räusperte sich. „Nun, äh, ich fürchte, damit können wir nicht aufwarten.“

Der Seemann unterdrückte einen Fluch. Natürlich hatten sie kein Wasser dabei. Sie waren ja davon ausgegangen, sich an dem kleinen Bach bedienen zu können, der nun unerreichbar unter ihnen am Strand floss.

„In meiner Kiste müsste sich noch Wein befinden.“ Lord Fenshaw lächelte schwach. „Ein weißer Rheinwein. Die Temperatur wird nicht optimal sein, aber er wird den gröbsten Durst stillen. Nehmen Sie ruhig, Matrose, es ist genug da.“

Das bezweifelte Cullon. Vielleicht war den anderen die Lage noch nicht bewusst, aber dem alten Seebär war nur zu klar, in welcher Gefahr sie sich befanden. Ohne Vorräte würden sie wahrscheinlich bald Hunger leiden und im Moment war es sehr unwahrscheinlich, nochmals auf die der Harmony zugreifen zu können. Größere Tiere schien es hier ja nicht zu geben und Cullon fragte sich, wie lange sie hier überleben konnten, wenn die Piraten wieder verschwanden. Über das, was ihn erwartete, wenn sie in die Hände der Piraten fielen, gab er sich keinen Illusionen hin. Vielleicht würde man den Lord am Leben lassen, weil man hoffte, von ihm ein Lösegeld zu erpressen, doch alle übrigen waren nur gefährliche Zeugen.

Western drückte Cullon ein Stück kalte Leberpastete in die Hand und der Matrose spürte erst jetzt, wie hungrig er war. Dennoch empfand er einen Anflug von schlechtem Gewissen. Da lag er hier oben, in relativer Sicherheit der Mulde, und aß kalte Pastete, während er kaum Hoffnung für seine Gefährten an Bord der Harmony empfand. Man hörte ja so einiges über die Piraten im chinesischen Meer. Die Schreie, die sie bislang gehört hatten, gaben kaum Anlass zur Hoffnung.

Die Zeit schien lähmend langsam zu verstreichen, endlich erschien am Horizont ein sanftes Glühen.

„Die Sonne geht auf“, kommentierte Weber. So merkwürdig es auch war, aber der Fotograf hatte seine Ausrüstung mit heraufgebracht. Cullon wusste, dass sie sehr wertvoll war, dennoch empfand er das neumodische Zeug als unnötigen Ballast, wenn es darum ging, die nackte Existenz zu retten.

Die Mastspitzen der Harmony schienen aufzuglühen, als sie in das erste Licht des Tages getaucht wurden. Das rote Leuchten breitete sich mit der typischen Schnelligkeit eines Sonnenaufgangs über dem Meer aus. Die Brigg lag noch immer an ihrem Ankerplatz, doch jetzt hatten drei große Ruderboote an ihr festgemacht. Im Wasser trieben mehrere Leichen. Zwei von ihnen waren von der schwachen Dünung bis zum Strand getragen worden. An Deck der Harmony waren Fremde zu sehen und eine Handvoll Besatzungsmitglieder. Fraglos handelte es sich bei den Unbekannten um Piraten. Ihre Kleidung war bunt gemischt, die meisten trugen Kopftücher oder Stirnbänder. Jeder der Männer war bis zu den Zähnen bewaffnet.

Gerade wurde ein Mann an Deck gezerrt und Cullon war sich sicher, dass es sich dabei um Kapitän Bullmer handelte.

„Verdammt, was können Sie sehen, Mylord?“ Western, dessen Augen nicht so gut waren, schob sich näher an Lord Fenshaw, der die Szenerie durch sein Glas betrachtete. „Sind das Piraten?“

„Selbstverständlich sind das Piraten“, stieß Fenshaw grimmig hervor.

„Mylord?“

Der Adlige begriff, dass Western und Weber nicht erkennen konnten, was da unten geschah. Er entschloss sich, zu schildern, was er durch das Fernglas erkennen konnte. „Mehrere Boote liegen am Schiff. Das Deck wimmelt nur so von diesen chinesischen Seeräubern. Na ja, falls es Chinesen sind. Ich kann diese Gelben nicht auseinanderhalten.“ Er setzte das Glas kurz ab, um sich über die Augen zu wischen. Dann spähte er erneut hindurch. „Da sind mehrere Tote im Wasser und an Deck. Verdammt, diese Bastarde müssen die Mannschaft völlig überrumpelt haben. Einer von ihnen spricht gerade mit Bullmer. Deutet zur Insel herüber, aber Bullmer schüttelt den Kopf. Vermutlich… Grundgütiger…“

Der Lord verstummte und Western stieß ihn unbewusst an. „Was, Mylord? Was sehen Sie?“

Cullon hatte es erkennen können. „Sie haben dem Kapitän den Hals durchgeschnitten“, antwortete er mit tonloser Stimme. „Einfach so. Haben ihn einfach umgebracht.“

Der Matrose war leichenblass. Wenn man das mit dem Kapitän machte, dann gab es für die anderen Offiziere und Mannschaftsmitglieder erst recht keine Hoffnung.

„Umgebracht? Den Kapitän?“ Weber schüttelte benommen den Kopf. „Aber warum?“

Lord Fenshaw ließ ein leises Knurren hören. „Na, warum wohl? Seien Sie kein so verdammter Narr. Die wollen unser Schiff… Die Besatzung nutzt ihnen nichts. Die haben genug Leute und beseitigen jeden unliebsamen Zeugen.“

„Die laden Sachen in ihre Boote.“ Cullon zwang sich, wieder zur Harmony zu sehen. Er hätte lieber darauf verzichtet, denn so musste er mit ansehen, wie man auch die anderen Besatzungsmitglieder umbrachte. Er glaubte nicht, dass die Piraten das Schiff nutzen wollten, denn sie ließen die Leichen einfach liegen, statt sie über Bord zu werfen.

Kisten, Geräte und ein paar Besitztümer wurden an Deck gebracht. Scheinbar beratschlagte man, was man wohl mitnehmen solle. Offensichtlich gab es Streit, denn für einen Moment war eine Prügelei zu sehen, die einer der Piraten, wohl deren Anführer, mit einem Warnschuss beendete. Dann wurden die Boote beladen und die Piraten stiegen hinein.

„Was soll das?“ Fenshaw kratzte sich verwirrt im Nacken. „Sie verlassen das Schiff? Warum nehmen sie es nicht als Prise?“

„Ja, und wo ist das verdammte Piratenschiff?“, fügte Weber hinzu. „Von dem Ding ist nichts zu sehen und die Mordbande wird ja wohl von ihm gekommen sein.“

„Wahrscheinlich liegt es hinter der Landzunge verborgen“, vermutete Cullon. „Jenseits des anderen Berges. Dicht unter Land, so dass man es nicht leicht erkennen kann. Die Bande ist sicher die ganze Nacht gerudert, um unsere Harmony zu erreichen.“

„Schön, und sie haben das Schiff erobert. Aber warum verlassen sie es jetzt wieder?“ Der Fotograf strich sich über das bärtige Kinn. „Ich meine, wenn die auf Beute aus sind… Das Schiff ist doch wertvoll. Dafür fände sich sicherlich ein Käufer. Soweit ich hörte, fragt man hier nicht sehr neugierig nach dem Ursprung eines Schiffes, wenn es angeboten wird.“

In der Luke, die zum unteren Deck der Brigg führte, stieg Rauch auf, der sich rasch zu dickem Qualm verdichtete.

„Grundgütiger, sie haben das Schiff in Brand gesetzt!“, keuchte Weber schockiert.

„Die Harmony ist ja kein beliebiges Schiff“, versuchte Cullon eine Erklärung zu finden. „Nachdem Seine Lordschaft das Schiff für die Expedition hat umbauen lassen, gibt es eine Menge Aufbauten und Details, die eine normale Brigg nicht aufweist. Früher oder später wird die Navy aber nach uns suchen. Na ja, wenigstens nach seiner Lordschaft. Wenn man dann auf die Harmony stößt, dann könnte sie ein Hinweis sein, der zu den Piraten führt. Also versenken die das Schiff lieber.“

Western begriff. „Mein Gott, wir sind gestrandet.“

„Aber am Leben“, entgegnete Cullon bissig. „Unsere Jungs hatten nicht das Glück. Die sind alle hin.“

„Und sie bekamen nicht einmal eine ordentliche Bestattung“, murmelte Weber.

Cullon sah das pragmatisch und entschloss sich, bei nächster Gelegenheit einen Becher Rum auf die Verstorbenen zu heben. Seine Sorge galt nun dem eigenen Überleben.

Die drei Boote mit den Piraten verschwanden langsam, hielten sich aber dicht an der Insel. Scheinbar ankerte das Piratenschiff tatsächlich, wenn auch außerhalb des Sichtfeldes, in unmittelbarer Nähe.

In dem Qualm an Bord der Harmony waren nun Flammen zu erkennen. An dem trockenen Holz und dem Teer von Rumpf und Takelage fanden sie reichliche Nahrung. Es war unglaublich, wie schnell sich das Feuer über das Schiff ausbreitete.

„Sie wird bis zur Wasserlinie herunterbrennen und versinken.“ Cullon presste enttäuscht die Lippen aufeinander. „Dort, wo der Strand steil zum Meeresgrund abfällt. Wäre sie näher am Strand, könnten wir darauf hoffen, noch irgendetwas aus dem Wrack zu bergen, aber so…“

Sie alle zuckten zusammen, als eine dumpfe Explosion ertönte und die Mitte der Brigg auseinander riss. Das Feuer musste ein von den Piraten zurückgelassenes Fass Pulver erreicht haben. Einer der Masten knickte und sein Gewicht zog das sinkende Schiff auf die Seite. Die See strömte durch die aufgerissenen Planken, die Harmony drehte sich noch weiter und schnitt unter. Ein Strudel aus Blasen bildete sich, dann verschwand die Brigg überraschend schnell unter Wasser. Nur ein paar Trümmerteile kündeten noch davon, dass sie überhaupt jemals existiert hatte.

„Wir sind verloren“, stellte Fotograf Weber resigniert fest.

„Ich bin englischer Lord, Mitglied der Royal Society und des Oberhauses.“ Fenshaw starrte grimmig auf die Stelle, an der die Brigg verschwunden war. „Man wird nach mir suchen. Nach uns suchen“, korrigierte er sich.

„Klar, Euer Lordschaft.“ Cullon spuckte über die Felsen hinab. „Nur leider weiß man nicht, wo man suchen soll. Wir haben ja keinem auf die Nase gebunden, wohin die Reise ging.“

„Verdammt.“ Der Lord schloss die Augen. „Ich fürchte, das ist wahr.“

Fotograf Weber stieß einen verblüfften Laut aus. „Seht mal dort!“

Sie wandten sich um und sahen in die Richtung, in die der Deutsche wies.

Ihre Aufmerksamkeit hatte bislang nur der Seeseite gegolten, um verfolgen zu können, was mit ihrem Schiff geschah und wie sich die Piraten verhielten. Weber hatte nun einen neugierigen Blick zur anderen Seite geworfen und was er dabei sah, überraschte sie alle.

In Blickrichtung auf das „kurze Horn“ der Insel bemerkten sie nun eine Stelle, an der sich eine Lichtung im ansonsten üppigen Grün ausbreitete.

„Dort, Mylord, zwischen den Bäumen.“ Weber deutete erregt nach unten. „Zwischen den Bäumen.“

„Das ist eine Hütte“, ächzte Western überrascht.

„Ja, eine Hütte“, stimmte Lord Fenshaw zu. „Was für eine Entdeckung!“ Dann erblasste der Adlige, als er die Konsequenzen begriff. „Verdammt, ich bin nicht der Erste auf dieser Insel.“

Kapitel 2Ein unangenehmer Fund

Li-Mian war nicht besonders wählerisch, was seine Besatzung betraf. Er hatte Chinesen, Malaien, Philippinos und ein paar Javaner an Bord. Der chinesische Kapitän nahm fast jeden Mann, der gesund und kräftig sowie ein guter Seemann und rücksichtsloser Mörder war. Bei einer derartigen Zusammensetzung waren Streitigkeiten an Bord nicht selten, doch Li-Mian und seine Offiziere setzen die Disziplin rücksichtslos und mit drakonischen Strafen durch.

Der Kapitän achtete darauf, dass seine Männer keine Familien an Land besaßen. Männer wurden geschwätzig, wenn sie das Bett mit ihrer Frau teilten und prahlten gerne mit ihren Taten, um ihre Männlichkeit zu betonen. Solche Informationen konnten zu leicht an die falschen Ohren gelangen. Daher durfte seine Mannschaft auch nur in wenigen Häfen an Land gehen. Dort, wo es die „verschwiegenen Häuser“ gab. Häuser, in denen Frauen ihre Dienste anboten, denen man jedoch, zum Garant ihrer Verschwiegenheit, die Zunge entfernt hatte.

Li-Mian war nun Ende der Fünfzig, hatte viele Schiffe überfallen und noch mehr Menschen töten lassen oder selber umgebracht. Dabei wirkte er wie ein gütiger Patriarch und pflegte die Umgangsformen eines gebildeten Mannes. Er mordete nicht aus Leidenschaft, auch wenn ihm ein erfolgreicher Überfall stets ein Gefühl der Zufriedenheit vermittelte, sondern sah dies als Notwendigkeit seines Berufs als Pirat. Er war schon viele Jahre auf den Meeren unterwegs, doch in den letzten beiden war manches anders geworden. Er und seine Männer waren nun nicht mehr nur Piraten, die auf Beute aus waren, sondern kämpften zugleich für ein höheres Ziel. Nun, wenigstens galt dies für ihn selbst und seine Offiziere. Dem Rest der Mannschaft war es gleich, wofür oder für wen sie mordeten, solange die Beute stimmte.

Fang, sein erster Offizier, klopfte an die Tür der Kajüte. „Es ist soweit, Kapitän.“

Li-Mian nickte seinem Freund und Vertrauten zu. „Ich komme.“

Der Chinese sah sich in seiner Kajüte um, die einen guten Teil des Heckbereiches einnahm.

Fragil wirkende und reichverzierte Möbel standen hier, ein dicker Seidenteppich bedeckte den Boden. An den Seitenwänden hingen Regale und Erinnerungsstücke. Kunstvolle Schnitzereien waren zu sehen. Für den Geschmack eines Europäers mochte all dies ein wenig zu bunt und überladen wirken, doch für Li-Mian war es ein Stück seiner Heimat China, die er nun schon seit Jahren nicht mehr betreten hatte.

Im Gegensatz zu vielen seiner Landsleute, welche die traditionell niedrigen Schreibunterlagen nutzten, bevorzugte der Kapitän die Verwendung eines hochbeinigen Schreibtisches. Er besaß ein zierlich gearbeitetes Exemplar, mit kunstvoll herausgearbeiteten Strukturen und wertvollen Einlegearbeiten, für das sein ursprünglicher Besitzer keine Verwendung mehr hatte. Die Schreibfläche war mit feinstem grünem Leder bezogen und passte hervorragend zu den drei geschnitzten Jadefiguren, die Li-Mian an die Heimat erinnerten.

Er öffnete eine Schublade des Schreibtisches und zog seinen Revolver heraus. Eine englische Waffe, mit der man mehrere Schüsse hintereinander abfeuern konnte. Alle seine Offiziere besaßen solche Revolver, die bei Unstimmigkeiten mit Besatzungsmitgliedern weit hilfreicher waren, als die alten einschüssigen Pistolen. Er schob die Waffe hinter die seidene Schärpe seines langen Gewandes und vergewisserte sich, dass der Dolch in der Nackenscheide saß. Dann erhob er sich und nahm das breite gekrümmte Schwert aus dem Gestell neben der Tür, bevor er diese öffnete und hinaus aufs Deck trat.

Li-Mian war stolz auf sein Schiff.

Die Hâi-Niâo trug ihren Namen „Seevogel“ zu Recht. Sie war schnell, sehr schnell, obwohl sie für das Auge eines Europäers keine Eleganz zeigte. Die Dschunke besaß nicht die schlanke Form eines modernen Schiffes, mit dessen schnittigen spitzen Bug, sondern einen flachen Boden und eine kantige Grundform. Ihre Bordwände schienen senkrecht aus dem Wasser empor zu wachsen. Während das Heck weit hochgezogen war, erschien der breite Bug, selbst für eine Dschunke, ungewöhnlich niedrig. Hier stand eine flache Hütte, hinter deren Wänden sich die beiden schweren Kanonen verbargen, welche die Hauptwaffen der Seevogel waren.

Das Schiff besaß zwei Pfahlmasten, die jedoch nicht durch Wanten stabilisiert wurden. Ihr Holz war flexibel, was den Bruch bei einem Sturm nahezu ausschloss. An ihnen zog man die typischen viereckigen Dschunkensegel auf. In ihren Stoff waren, in Querrichtung, lange Bambusstangen eingearbeitet, die den Druck und die Belastung des Windes optimal verteilten.

Hinter dem zweiten Pfahlmast, kurz vor der sogenannten „Hütte“ des Kapitäns und seiner Offiziere, ragte ein dünnes schwarzes Rohr empor. Li-Mian verließ sich in seinem riskanten Beruf nicht ausschließlich auf die Kraft des Windes. Er hatte sich auch eine moderne Dampfmaschine zugelegt, deren Antriebspropeller bei Bedarf ins Wasser abgesenkt werden konnte. Dies war jedoch ausschließlich für einen Notfall gedacht. Oft genug wurden die Piraten gerade durch die Rauchsäule eines kohlegefeuerten Dampfantriebs auf lohnende Beute aufmerksam gemacht.

Die Bemalung des Schiffes hatte unter Seegang und Wetter gelitten und man sah die Stellen, an denen sie ausgebessert worden war. Li-Mian achtete als Kapitän und Eigentümer streng darauf, dass sein Schiff keinen heruntergekommenen Eindruck vermittelte. Ebenso, wie er auf die Reinlichkeit der Besatzung achtete, denn er duldete keine Krankheiten oder sogar Seuchen an Bord. Immer wieder erwarb er auf einer der zahllosen Inseln frisches Obst und hörte sich bei der Gelegenheit nach nützlichen Informationen um.

Entlang der Reling und auf Deck waren Kisten und Ballen mit gewöhnlicher Handelsware festgezurrt. Sie dienten seinen Männern im Gefecht als Deckung, vor allem aber der Täuschung, wenn ein Panzerkreuzer der europäischen fremden Teufel eine Kontrolle der Seevogel erzwang. Waren, die sie von einem geenterten Schiff erbeuteten, verbarg man im Laderaum und bot sie geeigneten Vertrauensleuten in einem der Häfen an. Zwei große Beiboote lagen rechts und links des kleinen Schornsteins. Ihre Rümpfe schimmerten feucht, da sie kurz zuvor gewässert worden waren.

Li-Mian trat aus dem Schatten des Heckaufbaus an Deck. Hier standen die zweihundert Männer seiner Besatzung versammelt. Im Gegensatz zu ihrem Kapitän und den Offizieren trugen sie an Kleidung, was ihnen gefiel. Oft waren es Beutestücke, die sie ihren Opfern abnahmen. Die Zusammensetzung war willkürlich und dem Geschmack des jeweiligen Trägers angepasst. Die Männer wirkten wild. An ihrem erregten Geschrei war zu erkennen, dass sie sich bereits um jene Beute zu streiten begannen, die noch gar nicht verteilt worden war.

Li-Mian´s Offiziere sahen dem Treiben zu. Sie griffen auch nicht ein, als eine Messerstecherei ausbrach. Jene, welche einen solchen Kampf überlebten, hatten an Erfahrung hinzugewonnen. Ersatz für die Verlierer fand sich überall. Erst als der Kapitän ein Zeichen gab, hob einer der Offiziere seinen Revolver und gab einen Schuss in die Luft ab.

Erwartungsvolles Schweigen senkte sich über die Menge.

„Ihr kennt das Gesetz“, erinnerte Li-Mian mit lauter Stimme. „Mein Gesetz. Die Beute wird erst eine Woche nach dem Überfall verteilt.“ Er breitete die Arme in einer theatralischen Geste aus. „Und heute ist dieser Tag!“

Jubel und gierige Rufe brandeten auf. Sie alle kannten den Grund für das unumstößliche Gesetz ihres Befehlshabers. Früher hatten sie sich bereits auf einem eroberten Schiff um die Beute gestritten, hatten sich am Alkohol berauscht, um den Sieg zu feiern. Bis sie eines Tages von einem Panzerkreuzer der fremden Teufel überrascht worden waren. Viele Kameraden waren gefallen. Nur durch den Schutz der Nacht war es ihnen gelungen, sich doch noch zu retten. Seitdem entfernten sie sich stets vom Ort eines Überfalls und teilten erst, wenn sieben Tage verstrichen waren.

„Wir haben Kurs auf Tsingtau und in drei Wochen werdet ihr euch in einem der verschwiegenen Häuser als wahre Männer erweisen!“, rief der Kapitän mit breitem Grinsen. „Und nun lasst uns wissen, was wir von den Geisterhäutigen erbeutet haben.“

Aberglaube war im einfachen Volk weit verbreitet und viele Chinesen bezeichneten die Europäer, aufgrund ihrer hellen Haut, als Geister oder Geisterhäutige.

Nun trugen Männer die Kisten und Körbe aus dem Lagerraum, in dem man die Beute bislang aufbewahrt hatte. Erneut schwiegen die Männer, als Li-Mian heran kam und die Behälter, einen nach dem anderen, mit dem Schwert öffnete. Blanke Gier funkelte in manchen Augen. Hände zuckten, um den eigenen Anteil endlich ergreifen zu können. Doch keiner trat vor, denn zuerst würde sich der Kapitän seinen Anteil sichern und ein paar wertvolle Stücke an jene geben, die sich beim Kampf hervorgetan hatten.

Li-Mian ahnte, dass die Ausbeute des Überfalls nur gering war. Sie hatten an der Hörnerinsel kein reiches Handelsschiff mit kostbarer Ladung aufgebracht. Keinen Frachtsegler oder Dampfer mit vermögenden Passagieren. Nicht einmal mit Weibern, die der Lust dienen konnten, bevor man sich ihrer entledigte. Nein, es war eine kleine Brigg gewesen, die er nur angreifen ließ, weil sie die Hörnerinsel erreicht hatte. Niemand außerhalb der Bruderschaft durfte die Insel kennen oder ihre Entdeckung überleben.